Seite 2 - Mirjam Schmitt

Transcription

Seite 2 - Mirjam Schmitt
Porträt 23
der Freitag | Nr. 32 | 7. August 2014
„Wir berichten über alles,
auch über die Tabus“
■ Mirjam Schmitt
M
it jeder Olive, die Ömer
Madra isst, spuckt er eine
neue Idee aus. Es ist zehn
Uhr morgens in Istanbul,
Madra frühstückt am
Konferenztisch und plant mit Kollegen die
nächste Sendung. „Wir müssen unbedingt
mit den entlassenen Journalisten sprechen“, sagt er und greift zum Telefonhörer.
Mindestens vier Redakteure der liberalen
Zeitung Radikal haben vor kurzem ihren
Job verloren – Madra treibt das um. Er will
herausfinden, wie es den Kollegen geht,
was sie jetzt machen, wie sie weiterarbeiten. Die Presse- und Meinungsfreiheit ist
sein großes Thema, sein Lebensthema. Madra und seine Kollegen von Açık Radyo zählen zu den wenigen Journalisten in der Türkei, die nicht fürchten müssen, zensiert zu
werden – und die sich auch nicht selbst
zensieren. „Wir sind nur den Hörern verpflichtet, sonst niemandem“, sagt Madra.
Eine solche Einstellung muss man sich
leisten können. Und sie funktioniert auch
nur, weil viele Journalisten ehrenamtlich
für den Sender arbeiten. „Offenes Radio“
lautet die deutsche Übersetzung des Sendernamens, jeder kann mitmachen. Über
200 Menschen arbeiten an den Sendungen
mit, nur 22 Mitarbeiter kriegen aber ein Gehalt. Madra hat den Sender vor 19 Jahren als
gemeinnützige Gesellschaft gegründet. 92
Eigentümer halten gleiche Anteile daran,
einzelne Sendungen werden von Sponsoren finanziert. Das macht das Radio unabhängig vom Einfluss der Regierung und von
den Wirtschaftsinteressen von Konzernen.
Mit seinem 40 Jahre jüngeren Kollegen
Murat Can Tonbil geht Madra jeden Tag
zweimal auf Sendung. Morgens um 8 Uhr
und abends um 18 Uhr. Sie vergleichen internationale und nationale Presse, diskutieren über Politik, tagesaktuelle Themen
– und, wie Madra betont, „über das, was wir
für wichtig halten. Die Regierung verbietet
ja ständig, über irgendetwas zu berichten.“
Listen mit verbotenen Themen
Madra schiebt das Häufchen Olivenkerne
auf seinem Teller zusammen. Er kramt eine
ausgedruckte Mail hervor und blinzelt Tonbil über den Tisch an. „So kann ich das besser lesen“, sagt er halb entschuldigend, halb
belustigt über seine Affinität fürs Analoge.
Twitter, Facebook, Internetzensur sind Themen, die ihn als neue Formen von Öffentlichkeit interessieren, die Details überlässt
er hier aber lieber den jüngeren Kollegen.
Auf Twitter hat er trotzdem fast 10.000 Follower, auch wenn er in den vergangenen
drei Jahren nur 49 Tweets gesendet hat.
Er liest die Mail vor. Es ist eine Liste mit
Themen, über die in der Türkei nicht berichtet werden darf. Die Regierung ließ
etwa über das Bombenattentat von
Reyhanlı an der syrischen Grenze im Mai
2013 eine Nachrichtensperre verhängen.
Damals starben mindestens 50 Menschen,
die Hintergründe sind noch immer unklar.
Erst Mitte Juni entschied ein Gericht, dass
Berichte über die von ISIL entführten 49
Türken im Irak tabu sind. Madra schüttelt
den Kopf: „Wie kann man komplett verbieten, über ein Thema zu berichten? So funktioniert keine Demokratie.“ Dann grinst er.
„Wir sprechen natürlich trotzdem drüber.“
Madra ist 69 Jahre alt. Er hat hellgraue
Haare, trägt ein khaki-grünes Hemd und
eine Brille mit runden Gläsern. In Istanbul
geboren, ist er im Geist der 68er-Bewegung
aufgewachsen, die er „eine Revolution für
den Frieden“ nennt. Sein Abitur hat er am
englischsprachigen Robert College absolviert, der heutigen Bosporus-Universität.
Später studierte er an der Ankara-Universität Politik und internationales Recht. Anschließend war er 13 Jahre Dozent. Seine
Doktorarbeit schrieb er über die Europäische Menschenrechtskonvention. Nach
dem Militärputsch 1980 kündigte er an der
Uni und begann, als Journalist zu arbeiten.
Er schrieb für die Tageszeitung Milliyet und
verschiedene Magazine, darunter auch den
Playboy, über Politik, Architektur und Lifestyle. Außerdem verfasste er zwei Bücher.
Heute ist Madra ein bekannter Intellektueller in der Türkei. Mit der Karikaturistin
Piyale Madra hat er einen Sohn und zwei
Töchter. Seine Kinder haben ein eigenes
Programm auf Açık Radyo, eine seiner
Töchter ist Schauspielerin. „Langsam ist sie
bekannter als ich“, sagt er und erzählt von
einer Feier an seiner alten Universität. „Da
kam eine Studentin auf mich zu und fragte
mich, ob ich der Vater von Esme Madra sei.
Da war ich baff, bisher war es immer umgekehrt gewesen.“ Er mimt einen Dolchstoß
in sein Herz, lacht dann laut und winkt ab.
Gute Kontakte und Vernetzung haben
Madra geholfen, den Radiosender zu gründen. „Ich hatte vorher nichts mit Radio zu
tun, abgesehen davon, dass ich es ständig
gehört habe. Vor allem Musik. Ich liebe Pop
und natürlich die Beatles und die Beach
Boys.“ Erst mit einer Verfassungsänderung
1993 wurde in der Türkei überhaupt privater Rundfunk möglich. Zuvor lag das Sendemonopol beim staatlichen Sender TRT. Den
entscheidenden Anstoß für die Gründung
von Açık Radyo gab schließlich Ali Akay, ein
Soziologe und guter Freund Madras. „Du
bist ein Radiomacher“, sagte er zu ihm. Und
damit war es eine beschlossene Sache.
„Ich habe immer so meine Projektchen“,
sagt Madra über sich selbst. Er ist jemand,
der nicht lange nachdenkt, sondern einfach
loslegt. Ein unabhängiger Sender sollte es
werden, das war klar. Also griff Madra sich
sein Notizbuch, telefonierte alle Kontakte
durch und fragte Freunde und Bekannte,
ob sie den Sender unterstützen würden.
Heraus kam das Modell mit 92 Eigentümern. Auch Hörer unterstützen die Programme. Zum Dank nennen die Moderatoren vor einer Sendung den Namen derjenigen, die gespendet haben. Madra ist stolz
darauf, dass so viele Menschen das Radio
aus Überzeugung mitgestalten. Doch er
weiß auch, dass Überzeugung nicht die
Miete bezahlt. „Ich hoffe natürlich, dass wir
noch mehr Menschen anstellen können.
Als wir angefangen haben, dachte ich, das
Geld reiche gerade mal für ein Jahr.“
Zunächst mietete Madra ein billiges, kleines Büro mit rudimentärer Technik. Inzwischen ist der Sender in einem Gebäude untergebracht, das zu einem alten Tabaklager
gehört – drei Stockwerke und ein kleines,
gut ausgestattetes Studio. Die Räume sind
F O T O S : A N D R E A K U E N Z I G F Ü R D E R F R E I TA G
Ömer Madra wurde vom Geist der 68er geprägt. Für seine Vision einer freien Öffentlichkeit geht er seit 19 Jahren auf Sendung
Morgens um 8 und abends um 18 Uhr kommentiert Madra die Themen des Tages
Früher wurden
Zeitungsseiten
geweißt, heute
funktioniert
Zensur subtiler
groß und hell im Fabrikgebäude-Stil. Das
Viertel Tophane liegt in Laufweite zum bekannten Galata-Turm. Es ist ein konservatives Viertel, das in den letzten Jahren gentrifiziert wurde. Inzwischen dominieren
Bars, schicke Cafés und Galerien das Straßenbild, dazwischen findet man nur ab
und zu noch ein paar alte Teehäuser, in denen Männer Karten spielen.
Während der Gezi-Proteste im vergangenen Sommer waren Reporter und Moderatoren von Açık Radyo im Dauereinsatz, mittendrin im Gezi-Park. Auf anderen Sendern
wurde zu diesem Zeitpunkt noch über Pinguine gesprochen. Die Besetzung des GeziParks war aber ganz nach Madras Geschmack: eine demokratische, friedliche
Bewegung mit flachen Hierarchien. Und es
ging um die Umwelt, Madras zweites großes Thema. Vor allem interessiert er sich
für den Klimaschutz. Ein Buch über die globale Erderwärmung habe sein Leben verändert, sagt er. Er hat einen regen Austausch
mit vielen türkischen Umweltaktivisten.
Erdoğan auf dem Weg zum Alleinherrscher
Am kommenden Sonntag
findet nach Meinung vieler
Beobachter die wichtigste
Wahl der jüngeren türkischen Geschichte statt.
Erstmals stimmen die Bürger
direkt über den Präsidenten
ab. Und aller Voraussicht
nach wird Ministerpräsident
Recep Tayyip Erdoğan von
der islamisch-konservativen
AKP zum nächsten Staatsoberhaupt gekürt. Erdoğan,
der nach den Statuten seiner
Partei nach drei Amtszeiten
nicht erneut als Ministerpräsident hätte kandidieren
dürfen, kündigte bereits an,
im Falle seines Siegs auf eine
Verfassungsänderung
hinzuwirken, die die Türkei
zum Präsidialsystem
umbaut. Erdoğan-Kritiker
befürchten, dass er dann
endgültig einen Ein-MannStaat errichtet, in dem er
jede Kritik unterdrückt. Nach
den Gezi-Park-Protesten
hatte er mit harten Restriktionen gegen Journalisten
und Gewerkschaftler sowie
You-Tube- und Twitter-Sperren versucht, die Meinungsfreiheit zu beschränken.
Die beiden größten Oppositionsparteien CHP und MHP
haben mit dem gemein-
samen Gegenkandidaten
Ekmeleddin İhsanoğlu einen
respektierten Diplomaten
aufgestellt, der aber als nicht
besonders charismatisch
gilt. Auch die prokurdische
Partei BDP schickt einen
Kandidaten ins Rennen. Es
wird aber erwartet, dass
wegen Erdoğans Zugehen
auf die PKK viele Kurden ihm
in einem möglichen zweiten
Wahlgang ihre Stimme geben
werden. 2023 feiert die Türkei
dann den 100. Geburtstag
der Republik – und nicht
wenige glauben, dass es
Erdoğans Ziel ist, bis dahin
als Präsident zu regieren. jap
In all den Jahren ist für Madra eins gleich
geblieben: „Es gibt kein Thema, über das
wir damals nicht berichtet haben – und
das ist auch heute so.“ Die Unabhängigkeit
von staatlicher Einflussnahme betont Madra immer wieder. Warum das etwas so
Besonderes ist, versteht man, wenn man
sich die Struktur der türkischen Medienlandschaft ansieht. Ein großes Problem ist
die enge Verflechtung von Medien und
wirtschaftlichen Interessen. So sind die
großen Player am Markt wie die Doğan
Holding noch in der Industrie und auf dem
Energiemarkt aktiv. Das macht sie angreifbar, etwa durch die Vergabe staatlicher
Aufträge.
Steuerstrafe als Druckmittel
Der Doğan Holding gehören oder gehörten
die auflagenstärksten Zeitungen in der Türkei, unter anderem die als regierungskritisch geltende Hürriyet und die bei Intellektuellen beliebte Radikal. Nach einer horrenden Steuerstrafe, die die EU-Kommission
als politisches Druckmittel einstufte, musste Doğan die auflagenstarke Milliyet und
die Vatan jedoch verkaufen. Ebenso den
Fernsehsender Star TV. Der Chefredakteur
der Hürriyet trat zurück. Seitdem sind die
Journalisten der übriggebliebenen DoğanBlätter zahmer geworden. Die ebenfalls
auflagenstarke Tageszeitung Sabah ist im
Besitz der Çalık Holding, die der Regierung
nahesteht und auch im Baugewerbe und
im Energiemarkt involviert ist. Staatliche
Fernsehsender sind ohnehin zu Sprachrohren der Regierung geworden.
Schlechte Arbeitsbedingungen und
schlechte Bezahlung ersticken investigativen Journalismus zudem im Keim. Eine
Mitgliedschaft in der Gewerkschaft ist oft
ein Kündigungsgrund, genauso wie zu kritische Berichterstattung. Oder eben Einsparungen wie im Fall der Radikal-Journalisten, deren Schicksal Madra bewegt. „Vor allem junge Kollegen werden entlassen, sie
haben keinen Kündigungsschutz und trauen sich deshalb schon gar nichts mehr. Die
Selbstzensur ist das Schlimmste.“
Auch jetzt, in der heißen Phase des Präsidentschaftswahlkampfs, schwebt die drohende Hand von Recep Tayyip Erdoğan
über den Medien. Mitglieder des Obersten
Rundfunk-und-Fernseh-Rats kritisierten,
dass die staatlichen Fernsehsender fast
ausschließlich den Wahlkampf Erdoğans
abdeckten, der sich am 10. August zum Präsidenten krönen lassen will. Die Gegenkan-
didaten Ekmeleddin İhsanoğlu und Selahattin Demirtaş tauchen im staatlichen
Fernsehen kaum auf. Die Opposition wollte
den staatlichen Sender TRT daher mit einem Bußgeld belegen, doch der Vorschlag
wurde vom Rundfunkrat überstimmt. Die
Regierungspartei AKP stellt fünf der vier
Mitglieder im Rat. Ein kritischer Beschluss
ist so praktisch unmöglich.
Madra beginnt zu grübeln, wenn man
ihn nach der Lage der türkischen Medien
fragt. „Es ist schwer zu sagen, ob es mit den
Jahren schlimmer geworden ist. Der Zustand der türkischen Medien war schon
immer schlecht.“ Seit einem Jahr, seit Beginn der Gezi-Proteste, sei der Druck jedoch
besonders groß und nach dem AKP-Korruptionsskandal, der vergangenen Dezember durch mitgeschnittene Telefonate aufflog, habe er noch weiter zugenommen.
Schließlich gibt Madra noch eine vorsichtige Einschätzung der Veränderungen
ab: „Die Zensur war früher anders, sie war
offensichtlicher. Ich kann mich noch an die
Zeit in den 50ern vor dem ersten Militärputsch erinnern. Ich ging immer zum Kiosk, um die Zeitungen für meine Eltern zu
kaufen. Da waren komplette Titelseiten
einfach geweißt.“ Im Gegensatz dazu wisse
man mit dem neuen Internetgesetz heute
nicht, wann Inhalte gelöscht werden. Madra hält das für gefährlich.
Açık Radyo selbst hatte bisher aber nur
einmal Probleme mit der Zensur. Vier Jahre
ist das her, da wurde der Sender durch die
Medienaufsichtsbehörde kurzzeitig geschlossen. Der Grund: Das Radio hatte ein
Gedicht von Charles Bukowski gesendet.
Das wurde als sittenwidrig gewertet.
Madra ist sich aber auch der Grenzen seines Projekts bewusst. 80.000 Menschen
hören den Radiosender regelmäßig,
200.000 immer mal wieder. Nicht schlecht
für einen gemeinnützigen Sender, aber bei
Weitem auch kein Massenmedium. Vielleicht lässt die Regierung sie auch deshalb
weitgehend gewähren. Investigative Recherche ist mit dem Minibudget jedenfalls
nicht möglich. „Wir sind quasi indirekt von
der Zensur betroffen“, sagt Madra. „Wenn
über die Entführungen im Irak nicht berichtet wird, kann ich das auch nur sehr
eingeschränkt kommentieren.“
Eine Sache will er zum Schluss des Gesprächs noch loswerden, denn auch darauf
ist er stolz: Der Radiosender spielt alle Musikrichtungen querbeet – Jazz, Weltmusik,
Klassik, Rock. Nur Madras geliebte Popmusik, die spielt Açık Radyo nur ganz selten.