Leseprobe als PDF - konstanz|university press

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Der explizite Betrachter
Wolfgang Kemp, geboren 1946, ist emeritierter Professor
für Kunstgeschichte der Universität Hamburg und zählt zu den
renommiertesten Vertretern seines Faches. Er lehrt heute an der
Leuphana-Universität Lüneburg.
Wolfgang Kemp
Der explizite Betrachter
Zur Rezeption zeitgenössischer Kunst
Konstanz University Press
Umschlag: Bruce Nauman, Green Light Corridor, 1970
Solomon R. Guggenheim Museum, New York
Panza Collection, Gift, 1992, 92.4171
Installation view: Changing Perceptions: The Panza Collection at the Guggenheim
Museum, Guggenheim Museum Bilbao, Spain, October 10, 2000–April 22, 2001.
Photo © Erika Barahona Ede
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© 2015 Konstanz University Press, Konstanz
(Konstanz University Press ist ein Imprint der
Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG,
Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
www.fink.de | www.k-up.de
Einbandgestaltung: Eddy Decembrino, Konstanz
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-86253-075-5
Inhalt
I. 1967: die Geburt der Rezeptionsästhetik 9
Roland Barthes: Die Geburt des Lesers in einer Wunderbox 11 / Marcel
Duchamp: Der Künstler und der Betrachter, die zwei Pole des kreativen
Aktes 19 / Susan Sontag: Die Kunst im Kampf mit dem Publikum 24 /
Michael Fried, Theodor W. Adorno, Guy Debord: 1967 ist noch
lange nicht zu Ende 30 / Vom universalen Geltungsanspruch der
Kunst in Zeiten des Partikularismus 34 / Hanna Deinhard und Pierre
Bourdieu: Die Liebe der Vielen bzw. der Wenigen zur Kunst 37 /
Don’t Get Taught Art This Way! 45 / Das Erbe der 1967er 47
II. Der Krieg findet im Saal statt:
die Lehr- und Prügeljahre des Publikums 51
Peter Handke: Das Publikum wird beschimpft 51 / Von den internen
zu den externen Relationen: die Vorarbeit der Minimal Art 53 /
Peter Handke: Das Publikum wird beschimpft und belobt 56 / Peter
Weibel und Valie Export: Kunst mit Schlagring 58 / Peter Weibel: Die
schlagkräftige Aktion und das zweifache Publikum 59
III. Bruce Nauman:
Der Betrachter als Proband 65
Partizipatorische Installationen: Erfahrungsgestaltung 66 / Kunst aus
Zwängen 68 / Der Betrachter ist nicht anwesend 71 / Peter Weibel:
Publikum als Exponat 75 / Zwei Endspiele: Beckett und Nauman 78 /
Do not play! Play! 80 / Participation intended. Participation not
intended 83
6
Inhalt
IV. Franz Erhard Walther: Der Rezipient soll
zum Produzenten werden 87
»In dieser Arbeit natürlich gibt es den Zuschauer nicht.« 89 / James
Turrell: The beholder’s neurological share 91 / Rezeptionsästhetik oder
Rezeptästhetik? 96 / Out of action: Das »Prozessmaterial« wird
Material 97
V. Die Institution Kunst:
ihre Entwicklung seit 1967 101
The institution’s share 103 / Die Kunst im barrierefreien, offenen
Raum 107 / Members of the public! Hier spricht die Institution 112 /
Das Museum als therapeutische Anstalt 116 / Everyday, in every way
we are getting meta and meta 121 / The art is not enough 127 / Der
Allesfresser 130 / Die Kunst/Kost des Allesfressers: einige große
Happen 134 / Der Kunstbetrieb als Expanded Programming 142
VI. Relationale Kunst:
Der Betrachter als Teilhaber 145
Horizontalidad: die leere Schuhschachtel auf dem flachen Boden
150 / Die Kunst des Give-away 152 / Der Sinn der Beziehungen –
der Beziehungssinn 156 / Der Zusatzsinn: Untitled plus 157
VII. Eventkunst:
Vom Double Bind zum Superbind 165
Santiago Sierra: Der Betrachter im Heilschlamm 166 / Der Betrachter
als Prosument 170 / Olafur Eliasson: The Tate Experience 171 / Art
and Immersion 178 / Ambient Art: visuelles Chill-out 181
VIII. The Elephant in the Room 185
Jeff Koons’ generosity to the viewer: Think Positive-Rezeptionsästhetik 187 / Gerhard Richter: Ein Multiplikator und seine Multiplikatoren 192 / Gerhard Richter und Konrad Lueg: die marktreflexive
Inhalt 7
Geste 197 / Gerhard Richter: Meister des Category Management 199 /
Gerhard Richter: Malen und Zahlen 202 / Gerhard Richter: die lange
Leitung 210 / Die expliziten Nichbetrachter 213
Dank 217
Verzeichnis der Abbildungen 219
Anmerkungen 223
I.
1967: die Geburt der Rezeptionsästhetik
Vor 1968 war 1967. 1967 brachte die erste Wirtschaftskrise der
Nachkriegszeit: Zum ersten Mal verzeichnete der industrielle Sektor der Bundesrepublik ein negatives Wachstum. Doch war 1967
auch ein Jahr des Umbruchs und der Neuorientierung vor allem
in Wissenschaft und Kunst.1 Damals nahmen an der neu gegründeten Universität Konstanz Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß
die Arbeit an dem Projekt der Rezeptionsästhetik auf. Als »dritter
Stand«, wie Jauß das nannte, wurde der Leser installiert, nicht der
reale Leser, sondern der im Text vorgesehene, der »implizite Leser«
oder die »Leserfunktion des Textes«. Iser sprach in seiner Antrittsvorlesung über »Text und Leser – Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa«; sie wurde veröffentlicht unter dem
Titel »Die Appellstruktur der Texte«. Damit sind schon die Elemente eines kleinen Instrumentariums zusammen: Text statt Werk der
Dichtung verweist auf eine größere und tendenziell nicht hierarchisch geordnete Reichweite der Untersuchung. Leser meint das
Gattungswesen Leser, nicht das nach Geschlecht, Alter, Bildung
und Stand ausdifferenzierte Individuum. Wirkungsbedingung sagt
Wirkungsästhetik. Unbestimmtheitsstelle heisst bald nur noch
Leerstelle und meint die Aussparungen, die aufzufüllen der Text
dem Leser abverlangt, und Appellstruktur schließlich meint das
Gesamt der Mittel der Ansprache und Dosierung der Informationen, die den Leser lenken und beschäftigt. In den beiden Titeln
nicht enthalten ist die an sich selbstverständliche Tatsache, dass das
Verhältnis von Text und Leser eine Geschichte hat. Leserbeteiligung
reicht von einer tendenziellen Vollversorgung des »verehrten Lesers«
bis zu extremem Konsistenzverlust, der dem Leser keine Angebote
10
1967: die Geburt der Rezeptionsästhetik
an Identifizierung, Projektion und Folgerichtigkeit macht. Das historische Projekt der Rezeptionsästhetik war also eine Geschichte des
Lesers oder Betrachters oder Hörers, zu der nach 1967 zahlreiche
Beiträge geleistet wurden. Das Schlagwort aber stammt von Harald
Weinrich, der 1967 einen Essay unter dem Titel »Für eine Literaturgeschichte des Lesers« in der Zeitschrift Merkur veröffentlichte.
»Jedes literarische Werk enthält das Bild seines Lesers. Der Leser
ist, so dürfen wir sagen, eine Person des Werkes.«2 Diese Grundannahme der Rezeptionsästhetik entspricht der Iserschen Formel vom
»impliziten Leser«.
All das ist heute unbestritten und längst selbstverständlich geworden. Es sei aber ein Moment hervorgehoben, das vielleicht den größten Fortschritt brachte und als Vergleichskriterium immer wieder
an die im Folgenden vorzustellenden Texte, Konzepte und Kunstwerke gehalten wird: Ab 1967 spätestens muss klar sein, dass Werk
und Rezipient nicht unvorbereitet aufeinander treffen, dass sie in
einer dialogischen Situation zusammen auftreten und dass sie eine
gemeinsame Geschichte haben. Wer schon 1856 in diese Richtung
gewiesen hatte, das war Karl Marx, der 1968 seine Wiedergeburt
erlebte: »Der Kunstgegenstand […] schafft ein kunstsinniges und
für die Künste aufnahmefähiges Publikum. Die Produktion produziert daher nicht nur einen Gegenstand für ein Subjekt, sondern
auch ein Subjekt für einen Gegenstand.«3
Die ökonomische Krise hatte eine ihrer Ursachen darin, dass der
Export, der Motor des bisherigen Wachstums, deutlich zurückging.
Jauß und Iser hingegen schufen 1967 die Voraussetzung dafür, dass
Rezeptionsästhetik zum florierenden Exportartikel deutscher Geistesgüter wurde, vergleichbar nur mit der Ausfuhr der Kritischen
Theorie. Freilich standen die Konstanzer mit ihrem Interesse am
Rezipienten nicht allein. Ich will im ersten Kapitel, auf der Ebene
der theoretischen Ansätze verbleibend, darstellen, wo überall und
wie, mit welchen Intentionen und Methoden über das Phänomen
der Kunstrezeption nachgedacht wurde.
1967: die Geburt der Rezeptionsästhetik 11
Roland Barthes: Die Geburt des Lesers in einer Wunderbox
Früher war die Literaturwissenschaft mit Dichter und Werk ausgekommen. Es passte sehr gut, dass Roland Barthes 1967 schon mal
eine dieser Systemstellen frei machte und den Autor zu Grabe trug:
»Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.«4
Was man oft übersehen oder falsch eingeordnet hat: 1968 unter
dem Titel »La mort de l’auteur« in Frankreich erschienen, kann der
Text dennoch nicht als Reaktion auf den Mai 1968 gelesen werden,
denn er war schon im Jahr zuvor geschrieben und im Herbst 1967
als »The Death of the Author« im »Aspen Magazine« veröffentlicht
worden, in einer Avantgarde-Zeitschrift, die sich das »erste dreidimensionale Magazin« nannte und in einer weißen Box ausgeliefert
wurde: darin waren zusätzlich zum gedruckten Heft Poster, Booklets, Postkarten, Schallplatten und Rollen mit Super-8-Filmen enthalten.5 Eine Art Wundertüte des nun anbrechenden multimedialen
Zeitalters.
Die legendäre Box 5/6, 1967 versammelte 28 Items, darunter Filme, Schallplatten, Modelle, Ausschneidebögen, Essays und erzählende Texte. (Abb. 1) Kam also die Geburt des Lesers in einem Kontext zustande, der aus dem Leser gleich einen Benutzer/User macht
und ihn multisensorisch ansprach?6 Er musste Apparate bedienen,
um die Filme sehen und die Schallplatten hören zu können, er
konnte zu Schere und Kleister greifen, um zu basteln, er war aufgerufen, bestimmte Choreographien aufzuführen oder gesetzmäßige
Entwicklungen in konstruktivistischen Serien nachzuvollziehen –
und Lesen war natürlich auch angesagt: das aufmerksame Lesen von
Essays, das genießende Lesen von fiktionalen Texten und das nachvollziehende Lesen von Gebrauchsanweisungen.
Die Nummer 5/6, 1967 kündigte sich als die »Minimalism
Issue« an. Das ist richtig, wenn man an die Beteiligung von Künstlern und Musikern wie Dan Graham, Sol LeWitt, Mel Bochner,
John Cage und Morton Feldman denkt. Der Herausgeber Brian
O’Doherty nannte in der Einleitung als Strömungen, deren Zufluss
er in der Box aufgefangen habe: »Constructivism, Structuralism,
12
1967: die Geburt der Rezeptionsästhetik
Abb. 1: Das ›Heft‹ Nummer 5/6, 1967 von »Aspen«
Conceptualism, the ›tradition of paradoxical thinking‹, objects,
and between categories.« Gwen Allen hat in ihrer Untersuchung
der Avantgarde-Kunstzeitschriften geistesgeschichtlich noch weiter
ausgeholt und unsere Nummer »the intersections between minimalism’s phenomenological models of perception and poststructuralist
investigations of language« genannt.7 Ich möchte an dieser Stelle
auf das später wiederkehrende Phänomen eines neuen Plurarismus
verweisen, der so offen ist, dass er noch nicht einmal das Hauptschlagwort »Minimalismus« unter die anderen Leitkategorien der
Selbstankündigung aufnimmt. Die Nummern 3 und 4 von »Aspen«
waren der Pop Art und Marshall McLuhan gewidmet: zwei Agenten
einer Öffnung des Kunstbegriffs und einer Leugnung des »Kampfes
der Stile« oder des Prinzips des »porro unum esse necessarium«,
1967: die Geburt der Rezeptionsästhetik 13
des »Eines aber ist nötig«, das Moderne und Modernismus sechzig
Jahre lang in Stellung gebracht hatte und das Matthew Arnold als
Schlachtruf der Bigotry brandmarkte. Statt Monotheismus jetzt also
Vielgötterei.8 Dass die triebhaft Antagonismus gegen Antagonismus
setzende Moderne sich erschöpft haben könnte, hatte freilich schon
einige Jahre früher ein in den USA nie angekommener Autor verkündet oder vorausgesehen. In Arnold Gehlens »Zeit-Bildern« war
1960 zu lesen: »Mit einer irgendwie sinnlogischen Kunstgeschichte
ist es vorbei […], die Entwicklung ist abgewickelt, und was nun
kommt, ist bereits vorhanden: Der Synkretismus des Durcheinanders aller Stile und Möglichkeiten, das Posthistoire.«9 Dies ist eine
kühne, fast mutwillige Behauptung, die an dieser Stelle nicht weiter
verfolgt werden kann: Wenn aber 1967 ein Künstler in der Rolle
des Herausgebers nicht alle, aber doch großzügig viele »Stile und
Möglichkeiten« in die von ihm zu füllende Box aufnimmt, dann
kann Gehlen nicht ganz Unrecht haben, und wir müssen uns bereit
halten, diese Entdeckung einer neuen »Beweglichkeit der stationären Basis« auch in ihren Konsequenzen für die Rezeptionsstrukturen
zu bedenken.
Und damit bin ich bei dem auffälligsten Manko auf der Liste der
Inhaltsstoffe, und das ist das Interesse für die Rolle des Rezipienten,
das mit dem letzten Satz des ersten Essays, des Barthes-Textes, wie
ein Fanal ausbricht: »Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem
Tod des Autors« und das an verschiedenen Stellen in der Box wieder
aufgenommen wird. Den Begriff Rezeptionsästhetik gab es damals
noch nicht. Vielleicht könnte man diese Position unter O’Dohertys Rubrum »between categories« unterbringen. Barthes war vom
Herausgeber informiert worden, dass er für einen multimedialen
Kontext schrieb und entschuldigte sich sogar bei O’Doherty, dass
er nur etwas Geschriebenes liefern könne.10 »Commissioned specifically for Aspen 5+6, Barthes’s famous essay must be understood
as a deeply site-specific piece of writing, informed by and meant to
be read alongside visual art, music, performances, and texts.«11 Ein
»site-specific piece of writing« – das trifft das Verhältnis von Text
und Box sehr gut und führt uns zu dem Text und seiner Definition der Leser-Rolle. Wie gesagt, die Hauptperson ist gewisserma-
14
1967: die Geburt der Rezeptionsästhetik
ßen zum letzten Mal der Autor, der an der folgenden berühmten
Stelle verabschiedet wird – ich zitiere die Übersetzung von Richard
Howard, in der der Text zum ersten Mal einen Leser erreichte: »We
know that a text does not consist of a line of words, releasing a single
›theological‹ meaning (the ›message‹ of the Author-God), but is a
space of many dimensions, in which are wedded and contested various kinds of writing […].« Nichts könnte besser in diesem Text über
den Kontext dieses Textes ausgesagt werden: »ein vieldimensionaler Raum, in dem verschiedene Arten des Schreibens vermählt und
konfrontiert werden«. Dieser Raum ist eine Art von Sammelstelle,
über die nicht mehr der auctor, der Urheber, gebietet: »but there is
one place where this multiplicity is collected, united, and this place
is not the author, as we have hitherto said it was, but the reader: the
reader is the very space in which are inscribed, without any being
lost, all the citations a writing consists of; the unity of a text is not in
its origin, it is in its destination; but this destination can no longer
be personal: the reader is a man without history, without biography,
without psychology; he is only that someone who holds gathered
into a single field all the paths of which the text is constituted.«
Place, space, field, path: Das Vokabular scheint auf einen
Anti-Laokoon hinauszuführen. Hatte Lessing der Dichtkunst Zeit
und Linearität sowie der Bildenden Kunst Raum und Synchronizität zugeordnet, so dreht Barthes die Dimensionierung der Literatur um und vollzieht eine räumliche Wende, einen »spatial turn«,
der zum Kennzeichen moderner Dichtung spätestens seit Stéphane
Mallarmé geworden ist, an dessen »Coup de dés« Barthes auch nicht
vorübergeht. Ich verweise im Vorübergehen auf Joseph Frank und
seinen Aufsatz »Spatial Form in Modern Literature«, der 1945 in der
»Sewanee Review« erschien und es an wohlverdienter Berühmtheit
mit »The Death of the Author« aufnehmen kann. Die Kernaussage
ist die folgende: »Aesthetic form in modern poetry, then, is based on
a space-logic that demands a complete reorientation in the reader’s
attitude toward language. […] The meaning-relationship is completed only by the simultaneous perception in space of word-groups
that have no comprehensible relation to each other when read consecutively in time […]. Modern poetry asks its readers to suspend
1967: die Geburt der Rezeptionsästhetik 15
the process of individual reference temporarily until the entire pattern of internal references can be apprehended as a unity.«12 Barthes
hebt die moderne Texttheorie auf die Höhe der modernen Poesie,
O’Doherty tut dasselbe für den Kontext von Barthes’ und aller folgenden »Texte« und komponiert seinen Sammelband als einen verdichteten, hochgradig beziehungsreichen Raum.
Als Vorwort zu dem Heft mit den Essays und damit zu der ganzen Kiste hat O’Doherty einen kurzen Text aus dem Jahr 1928
eingestellt, der mit »Language as Placement« überschrieben ist.
Als Autor zeichnet ein gewisser Sigmond Bode. »Sprache als Positionierung«, das soll folgendes bedeuten: »It should be possible to
construe a situation, in which persons, things, abstractions, become
simple nouns and are thus potentially objectified […] conjugated in
such a way that their positions imply ›verbs‹ in the spaces (silences)
between them.« Konjugieren, also miteinander verbinden, ist die
Aufgabe der Verben/Positionen, ist ihr Aktion gewordener Gehalt.
So wünscht sich der Herausgeber die Rezeption der von ihm konnektiv im Raum hergestellten Situation. Sigmond Bode könnte
Barthes gelesen haben: »To identify such a grammar, to read such
a language constitutes a test for the reader.« Sigmond Bode hatte
Barthes gelesen. Es handelt sich um eines der vielen Pseudonyme
von Brian O’Doherty. Der Tod des Autors hat nicht nur die Geburt
des Lesers, sondern auch die Geburt vieler Autorenrollen zur Folge,
die man dann auch wieder sterben lassen kann: Einmal, nämlich am
20. Mai 2008, hat Brian O’Doherty sein Alter Ego, den Künstler
Patrick Ireland, im Irish Museum of Modern Art zu Dublin für tot
erklärt und ebenda auf Dauer bestattet.
Aber noch einmal zurück zu dem letzten, langen Barthes-Zitat
und zu: »the unity of a text is not in its origin, it is in its destination;
but this destination can no longer be personal«. Damit sind Roland
Barthes und Wolfgang Iser zur selben Zeit und unabhängig voneinander beim Konzept des »impliziten Lesers« angekommen und
halten sich von der Frage nach dem realen Leser fern. Der Text ist
eine Funktion des Lesens, des Lesers: Bei Barthes dient letzterer als
der Sammelplatz und die Umschlagstelle aller möglichen Textsorten
und Intertexte, Lesarten und Varianten; bei Iser wird der Leser vom
16
1967: die Geburt der Rezeptionsästhetik
Text sehr gezielt angesprochen, das Wort »destination«, »Bestimmung« macht bei ihm einen konkreten Sinn: der Text leistet gewissermaßen das Destination Management des Lesens. Dabei kommt
es zu einem Dialog, zu einem Wechselspiel zwischen dem Text und
den Aktivitäten des Lesers. Dieser Gedanke fehlt bei Barthes. Sein
Bestimmungsort ist eine Art Archiv alles Gelesenen und alles Lesbaren. Es sei aber auch und wiederum in Bezug auf den Erscheinungskontext unterstrichen, dass die Begegnung von Text und Leser im
Zeichen von »multiplicity« steht, genauso wie diese randvoll gefüllte
Box. Der Leser wird nicht in einer armseligen Hütte geboren. Er
wird gleich als ein Verwalter von Reichtum und Vielfalt angestellt.
In einem Brief an Ezra Pound vom 9. April 1917 schrieb James
Joyce über die Arbeit an seinem Roman »Ulysses«, der von Joseph
Frank als ein Hauptwerk des »spatial turn« gelesen wird: »I am doing
it, as Aristotle would say – by different means in different parts.«13
Damit bleibe ich noch einen Moment bei Multimedialität und
Multimodalität. Von Theodor W. Adorno war 1967 »Ohne Leitbild: Parva Aesthetica« erschienen, eine Sammlung kleinerer Essays
und Kritiken, aus denen ein Text herausragt, der auch im Jahr des
Erscheinens geschrieben wurde und der zu den wichtigsten Arbeiten
des Philosophen gehört: die Abhandlung »Die Kunst und die Künste«. »Die Kunstgattungen scheinen einer Art von Promiskuität sich
zu erfreuen, die gegen zivilisatorische Tabus sich ergeht.«14 Was heute Intermedialität heisst, diese »Verfransungstendenz« der Künste,
wird von Adorno konstatiert und nicht eigentlich kritisch bedacht
oder abgeleitet, wie das die Art des Philosophen ist. Sehr normal ist
dagegen die Forderung, diese Tendenz zur Verfransung der historischen Sachlogik der allgemeinen Kunstentwicklung zu übertragen;
sie solle am besten »immanent aus der Gattung selbst entspringen«.
Die eine Kunst solle von sich aus mit den Schwesterkünsten sich
vermischen. Wenn aber festgestellt werden muss:»Es ist, als knabberten die Kunstgattungen, indem sie ihre festumrissene Gestalt
negierten, am Begriff der Kunst selbst.«15, dann stünde durch dieses »Knabbern« mit Sicherheit auch das Verhältnis von Kunst und
Betrachter zur Disposition. Adorno ist sehr gut informiert, wenn
er festhält: »Malerei dafür möchte nicht länger sich auf der Fläche
1967: die Geburt der Rezeptionsästhetik 17
Abb. 2: Andy Warhol, Dance Diagram, 1962
bescheiden. Während sie der Illusion von Raumperspektive sich
entschlagen hat, treibt es sie selber in den Raum […].« Das ist wie
immer bei diesem Autor von der Werkseite aus gedacht, doch wie
dieser »spatial turn« eine neue umfassendere Koexistenz von Rezipient und Werk stiftet, das ist zur gleichen Zeit von den Minimalisten beschrieben worden – dazu komme ich später. Adorno nennt
für die Malerei Bernard Schultze und Rolf Nesch, die sogenannte
Materialbilder hervorgebracht haben, die mit ihren eingearbeiteten
dreidimensionalen Objekten die Fläche verlassen und an die Haptik
des Betrachters appelieren. Sehr viel schlagender – in rezeptionsästhetischer Sicht – wären als Beweisstücke Andy Warhols »Dance
Diagrams« (Abb. 2) von 1962, die zwar nur die Notation von Tanzschritten auf weißer Leinwand wiederholen, vom Künstler aber bei
der ersten Ausstellung auf dem Boden ausgelegt wurden. Warhol
holte, wie Benjamin Buchloh ausführt, den Rezipienten »literally,
almost physically into the plane of visual representation«.16 Als eines
dieser Bilder das zweite Mal in der Horizontalen ausgestellt wurde,
2003 in Frankfurt am Main, musste der Aufforderungscharakter des
Werkes durch eine übergelegte Glasplatte gebremst werden, was die
Besucher aber erst recht ermutigte, das Bild nachzutanzen.17
18
1967: die Geburt der Rezeptionsästhetik
»Verfranst« ist dieses Werk der Malerei aber nicht nur, weil es den
Raumkünsten Konkurrenz macht, sondern natürlich auch, weil es
auf die Künste Tanz und Musik anspielt und sich mit der Nachbarkunst der Graphik ins Benehmen setzt. »Zur Graphik neigt viele
Musik in ihrer Notation«, schreibt Adorno gleich zu Beginn seines Aufsatzes und denkt wahrscheinlich an Morton Feldman, einen
der Beiträger zu »Aspen« 5/6, und sein Verfahren der »graphischen
Notation« – hier, bei Warhol, »neigt« sich also die Malerei hin zu
Graphik. Feldman ist auch deswegen eine gute Adresse, weil er viele seiner Kompositionen Malern gewidmet hat: »Rothko Chapel«,
»For Philip Guston« z. B., aber es gibt auch ein Stück, das »For John
Cage« überschrieben ist, und eine Oper, deren Text Samuel Beckett
beigesteuert hat; »Neither« ist hier der Titel. In anderen Kompositionen erinnern Titel wie »Why Patterns« an das Notationsverfahren
Feldmans, aber natürlich auch und vor allem an die Struktur einer
Musik, die sich eher räumlich ausbreiten, als in der Zeit sich erstrecken will: »spatial form« auch hier. Man könnte ohne Übertreibung
das ganze Œuvre dieses Komponisten als eine Großausgabe der Box
5/6 beschreiben und als besten Beweis für die These von der Promiskuität der Künste, die eine sehr viel größere Reichweite hat als die
von Barthes angenommene innere »multiplicity« und die sich ganz
der Dimension des Raumes verschrieben hat. Diese letztere Wendung jedoch ist nichts Innerästhetisches, sie ist die Wendung zum
Rezipienten, mit dem sie denselben Raum teilen will – als Modellraum in Literatur und Musik, als Realraum in den Bildkünsten.
»A painting’s meaning lies not in its origin, but in its destination.
The birth of the viewer must be at the cost of the painter.«18 Sherrie
Levine, die dieses Statement 1981 abgab, wurde dadurch bekannt,
dass sie berühmte Fotografien abfotografierte und die Kopien ausstellte. Re-Photography und Appropriation heißen die Labels. In
diesen Sätzen aber kopiert Levine Roland Barthes’ Text »The Death
of the Author«. Soweit die Geste. Gibt es eine Aussage darüber
hinaus? Levine hält sich weiter an Barthes, wenn sie den Betrachter
als die große »Tafel« beschreibt, auf der sich alle vorausgehenden
Bildschöpfungen eingetragen haben – Barthes sagt an dieser Stelle
»space«, Levines Wortwahl, die näher am Bildträger der Malerei
1967: die Geburt der Rezeptionsästhetik 19
bleibt, scheint ein Medium vorwegzunehmen, das dem Betrachter/
Leser in unseren Tagen die Archivfunktion abnimmt: »The viewer is
the tablet on which all the quotations that make up a painting are
inscribed without any of them being lost.« Mit dem Wort »quotations« bringt Levine dann ihr eigenes Anliegen ein: Kunst zitiert – in
jedem Falle, nicht nur, wenn sie sich dieses vornimmt. Der Beginn
des Statements gibt dem knappen Konzept aber eine historische
Begründung, die bei Barthes fehlt: »The world is filled to suffocating.
Man has placed his token on every stone. Every word, every image,
is leased and mortgaged.« Bei Barthes hieß das noch »multiplicity«,
Viel und Vielfalt, und war positiv besetzt. Bei Levine heisst das Zuviel
und wird als »suffocating«, erstickend, wahrgenommen. Deswegen
besteht auch für sie kein Grund, »neue« Bilder zu machen. Ganz
logisch ist das nicht, denn wenn schon in der Vergangenheit Bilder aus Bildern bestanden, dann ist auch eine Kunst, die zu diesem
Zustand Stellung nimmt, Fortsetzung, ja im Grunde ist Wiederholung erst recht Verschwendung. Hier sei aber unterstrichen, dass »the
birth of the viewer« auch nach 1967 in einem Kontext ausgerufen
wird, der unter dem Plus-Zeichen steht: Fülle, Polysemie, Intermedialität bleiben wichtige Parameter, aber Vielzahl kann auch Überzahl
heißen und als solche kritisch reflektiert werden. Was die eine und
die andere Variante für den Rezipienten bedeutet, außer möglicher
Überforderung, ist an dieser Stelle noch schwer zu sagen. Aber die
Dimension Plus hat für alles Folgende die gleiche Bedeutung wie die
Dimension Raum.19
Marcel Duchamp: Der Künstler und der Betrachter, die zwei
Pole des kreativen Aktes
Der zweite, in rezeptionsästhetischer Hinsicht Epoche machende
Essay stammt vom berühmtesten der Beiträger zu »Aspen« 5/6. Auf
eine Schallplatte nahm Marcel Duchamp für O’Doherty die Rede
auf, die er ursprünglich 1957 in Houston bei einem Kongress der
A. F. A., der American Federation of Arts, gehalten hatte – Titel:
»The Creative Act«.20 Das ganze Panel versammelte sich unter diesem
20
1967: die Geburt der Rezeptionsästhetik
Titel »The Creative Act« und setzte sich zusammen aus Duchamp,
dem Kunsthistoriker William Seitz, dem Kunstpsychologen Rudolf
Arnheim und dem Anthropologen Gregory Bateson, der in späteren
Jahren eine Berühmtheit erlangte, die beinahe zu der Duchamps aufschloss. Duchamp ließ sich im Programm als »mere artist« ankündigen, und sehr bescheiden und sehr kurz (acht Minuten lang) fiel
auch der Vortrag aus, in manchen Strecken so konventionell, dass
man auch in diesem Fall an eine ironische Geste in Richtung der
versammelten Wissenschaft denken darf.21 Calvin Tomkins nennt
die Rede »schalkhaft subversiv«.22
Die Rede fängt mit dem vielversprechenden Satz an: »Let us consider two important factors, the two poles of the creation of art: the
artist on the one hand, and on the other the spectator who later
becomes the posterity.«23 Dieses Eingangsstatement bietet gleich die
erste Überraschung. Über den schöpferischen Akt auf einem Künstlerkongress zu sprechen, müsste selbstverständlich den Künstler
in den Mittelpunkt rücken. Duchamp aber beteiligt am kreativen
Geschäft zwei Pole, den Künstler und den »Zuschauer« bzw. die
Nachwelt. Dass dieser Ansatz nicht nur auf Überraschung abzielt,
sondern ernst gemeint ist, beweist der Redner, indem er ziemlich
genau dieselbe Zeit jedem der beiden Pole widmet. Den Künstler
beschreibt Duchamp als einen »mediumähnlichen« Akteur, dessen unbewusst ablaufende Schöpfungprozesse niemand ergründen
kann, auch der Künstler selbst nicht. (Und erst recht nicht das Panel
in Houston.) »Alle diese Entscheidungen während der künstlerischen Ausführung des Werks beruhen auf purer Intuition und können nicht in eine Selbstanalyse übersetzt werden – sei sie gesprochen
oder geschrieben oder ausgedacht.« In dem von O’Doherty vorgegebenen Kontext von extrem durchgeplanter konstruktivistischer
Rechenkästchenästhetik müssen diese Ausführungen befremden.
Rudolf Arnheim wies in der Diskussion die Vorstellung von der passiven und instrumentellen Rolle des Künstlers zurück und machte
sich völlig zu Recht für den künstlerischen Prozess stark, in dem vieles zusammenwirkt: »pure Inspiration« genauso wie Strategie, Lernen, Erfahrung, Wissen, ja auch Selbstkenntnis – a »mixed bag« wie
die Box 5/6. In der Linie von Konstruktivismus und von Barthes’
1967: die Geburt der Rezeptionsästhetik 21
Künstlertheorie liegt dagegen eher die Tatsache, dass O’Doherty seine ganze Box Stéphane Mallarmé gewidmet hat. »In France«, erklärt
Barthes, »Mallarmé was doubtless the first to see and foresee in its
full extent the necessity of substituting language itself for the man
who hitherto was supposed to own it; for Mallarmé as for us, it is
language which speaks, not the author: to write is to reach, through
a preexisting impersonality […]«.
Um zu verdeutlichen, dass der Künstler über den Werkentstehungsprozess keine Kontrolle besitzt, führt Duchamp den Begriff
eines »Kunst-Koeffizienten« ein, mit dem sich die Differenz zwischen der Intention des Künstlers und dem fertigen Werk bestimmen lasse. Duchamp spricht von einem »gap«, einem Loch, »das die
Unfähigkeit des Künstlers, seine Intentionen zu realisieren, repräsentiert«. »Der persönliche ›Kunst-Koeffizient‹ ist wie eine arithmetische Relation zwischen dem Unausgedrückten-aber-Beabsichtigten und dem Unabsichtlich-Ausgedrückten.«24 Vielleicht kann man
es ja einen »kleinen Tod des Autors« nennen, wenn dem Künstler
seine Rolle als Planer und Erklärer des Werks abgenommen wird:
»[…] the artist, as a human being, full of the best intentions toward
himself and the whole world, plays no role at all in the judgment of
his own work […].«
Damit ist nicht nur der andere Pol gefordert, sondern auch die
Unabhängigkeitserklärung des Werkes ausgesprochen. Sie räumt
dem Rezipienten ein Recht ein, das sogar noch den berühmten
Grundsatz Schleiermachers übertrifft, der Leser könne »einen
Autor besser verstehen als er sich selbst«. Duchamps Autor versteht
sich selbst überhaupt nicht. Gadamer konstatiert im Anschluss an
Schleiermacher, »dass der Künstler, der ein Gebilde schafft, nicht
der berufene Interpret desselben ist«. »Als Interpret hat er vor dem
bloß Aufnehmenden keinen prinzipiellen Vorrang an Autorität.
[…] Maßstab der Auslegung ist allein, was der Sinngehalt einer
Schöpfung ist, was diese ›meint‹.«25 In Houston hat das Panel in
der Diskussion nach Duchamps Vortrag diese Position noch einmal herausgearbeitet: »Seitz: ›In regard to this, would I be right in
paraphrasing or interpreting this idea that you suggested that the
artist begins with an intention?‹ Duchamp: ›Oh, of course; yes,
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1967: die Geburt der Rezeptionsästhetik
yes. [...]‹ Seitz: ›But what the artist creates is not what he intended?‹ Duchamp: ›No; of course not. That’s the point.‹ Seitz: ›And
he doesn’t understand then what he did create.‹ Duchamp: ›No; of
couse not.‹ Laughter.«26
Das Werk ist für unabhängig vom Künstler erklärt und dem
»Zuschauer« das privilegierte Verstehen zugewiesen. Man darf sich
aber den zweiten »kreativen Akt« nicht zu selbständig vorstellen.
Das Wort »gap«, Lücke, Loch zwischen Intention und Ausführung hat man vorschnell, aber erwartbar rezeptionsästhetisch füllen wollen. Calvin Tomkins schreibt: »Die wesentliche Rolle des
Zuschauers besteht darin, sich in diese Lücke zu begeben, und,
indem er interpretiert, was er sieht, den Prozess zu vollenden, den
der Künstler in Gang gesetzt hat.«27 Das klingt gut und wie von
Wolfgang Isers Konzept »Leerstelle« inspiriert, setzt aber eine zu
aktive Betrachterrolle voraus. Im Grunde konstruiert Duchamp den
»Zuschauer« als Analogon zum Künstler, nämlich als Medium, als
Rezeptionsmedium: »The creative act takes another aspect when the
spectator experiences the phenomenon of transmutation: through
the change from inert matter into a work of art, an actual transsubstantiation has taken place, and the role of the spectator is to
determine the weight of the work on the esthetic scale.« Diese quasi
animistische Sicht war durchaus en vogue: Meyer Schapiro hielt auf
demselben Kongress den Festvortrag über »The Liberating Quality
of Avant-Garde Art« und feierte darin »the great importance of the
mark, the stroke, the brush, the drip, the quality of the paint itself,
and the surface of the canvas as a texture and a field of operations –
all signs of the artist’s active presence«.28 Duchamp spricht an einer
zweiten Stelle die Reaktion des Betrachters auf das Kunstwerk folgendermaßen an: »This phenomenon is comparable to a transference
from the artist to the spectator in the form of an esthetic osmosis
taking place through the inert matter, such as pigment, piano or
marble.« Damit wäre das Werk ein semipermeables Medium aus von
Künstlerhand belebter Materie, durch welches der Künstler das ihm
unbewusste Ergebnis des Schöpfungsaktes mitteilt, transferiert. Bei
Schapiro vollzieht der Betrachter an der Transformation der Materie
die »Operationen« des Künstlers nach, und man darf stark anneh-
1967: die Geburt der Rezeptionsästhetik 23
men, dass er diese Spuren als Selbstausdruck liest. Duchamp fasst
den Vorgang wie so oft naturwissenschaftlicher (Osmose) und hat
das Konzept Selbstausdruck gründlich verabschiedet, was im Land
des Abstrakten Expressionismus schon fast an Verrat grenzte. Aber
wie lassen sich Transfer und Osmose mit der Vorstellung verbinden,
dass »der kreative Akt einen anderen Aspekt annimmt, wenn der
Zuschauer das Phänomen der Transmutation erfährt […].« Daraus
wird regelmäßig die Behauptung abgeleitet, das Publikum vollziehe
ebenfalls einen »kreativen Akt«, so wie es der erste Satz angekündigt
hat, wenn er von den zwei Polen dieses Aktes spricht: Produktion
und Rezeption. Man muss sich allerdings fragen, welche rezeptive
Kreativität aufgebracht werden muss, wenn Osmose stattfindet, also
ein Stoff mit hohem chemischem Potential in das ihn aufnehmende
Objekt eindringt.
Allerdings findet bei der abschließenden Betrachtung des zweiten kreativen Aktes ein entscheidender Positionswechsel statt. Aus
»spectator« wird »posterity«, und hatte man auf eine nähere Bestimmung des Rezeptionsvorganges gehofft, so wird jetzt auf die Ebene
des Ergebnisses umgeschaltet: »the role of the spectator is to determine the weight of the work on the esthetic scale«. Der »Zuschauer«
rückt auf zum Kunstrichter und entscheidet über das Nachleben
des Werks. »Wichtiger ist«, führt Duchamp in der Diskussion aus,
»dass ein kreativer Akt auf halber Strecke ausgeführt wird durch das
Publikum oder den Zuschauer oder die Nachwelt. Und das heisst
nicht nur entscheiden und aussieben, das Aussieben ist ein kreativer
Akt. Denn Sie entscheiden, ob es [das Kunstwerk] gut, schlecht oder
indifferent ist; und es bedeutete das Ende eines Malers, wenn Sie
›schlecht‹ sagen, Sie sehen ihn nie wieder.«29 Duchamp könnte man
zu einem Vorläufer von Hans Robert Jauß erklären, dem anderen
Begründer der Konstanzer Schule, der ja den Leser als aktiven Faktor in die Rezeptionsgeschichte und nicht nur in den Rezeptionsvorgang aufnahm, wie das Iser tat. Duchamp sagt kein Wort über die
Kriterien und Verfahrensweisen, welche die Rezeptionsprozesse der
Nachwelt anleiten, er geht auch nicht zu der besonderen Erfordernis
zurück, das vom Künstler unverstandene Werk als Betrachter besser
zu verstehen. Wir sind noch weit entfernt von dem Instrumenta-
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1967: die Geburt der Rezeptionsästhetik
rium, das Jauß bereitstellte: Frage und Antwort, Erwartungshorizont, »vorausgesetztes Publikum«, lebensweltlicher Bezug etc.,
aber Duchamp nennt Rezeption und damit die Entscheidung über
Leben und Tod jetzt eines Kunstwerkes einen »kreativen Akt«, und
das hat die eigene Rezeptionsgeschichte, die Fortuna critica dieses
Textes, besiegelt. Die Diskussion in Houston endet mit einem Satz
Duchamps, der in verkürzter Form zum geflügelten Wort geworden
ist: »There wouldn’t be any creation if there was nobody to look at
it. In other words, half of the creation is done by these onlookers.«30
Diese Erklärung war der eigentliche Akt der Bescheidenheit des
»mere artist«: Sie bestand nicht nur in der Kürze des Vortrags und
nicht in der Wiederholung einer altmodischen Künstlertheorie,
sondern vor allem darin, dass der Schöpfer, dem heiligen Martin
gleich, den Akt der Schöpfung zur Hälfte mit dem Rezipienten teilte. Wenn es auch an der Herleitung und Durchführung haperte, als
Statement war das nur zu überbieten, wenn man wie Barthes den
Autor aus dem Weg räumte. Brian O’Doherty wird mit Dankbarkeit seinem Freund den bis dato unveröffentlichten Text abgenommen haben.
Susan Sontag: Die Kunst im Kampf mit dem Publikum
Die Wunderbox »Aspen« 5/6 enthielt einen dritten Text, der bis
heute viel gelesen und zitiert wird und im Gegensatz zu den beiden
anderen das Verhältnis Kunst und Publikum aus dezidiert zeitgenössischer Perspektive betrachtet. Außerdem darf man sicher sein, dass
der Text ohne Marcel Duchamps Rückzug aus der künstlerischen
Praxis nicht geschrieben worden wäre, und es würde sich empfehlen, wie eine auditive Illustration den Text »Text for Nothing« von
Samuel Beckett hinzuzuziehen, der als Schallplatte der Box beigegeben und gleich neben dem Booklet mit den Essays eingestellt ist.
Duchamp und Barthes hatten der Kunst die Aufgabe, Selbstausdruck
des Künstlers zu sein, genommen. Susan Sontag akzeptiert das als
Faktum und erklärt in »The Aesthetics of Silence«: »Kunst versteht
sich nicht mehr als Bewusstsein, das Ausdruck findet und sich damit