Unterrichtsmaterialien Ausstellung

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Unterrichtsmaterialien Ausstellung
Maria von Hartmann
Unterrichtsmaterialien
Ausstellung
16.3. bis 26.6. 2016
Galerie des Literaturhauses
Stiftung Buch–, Medien– und
Literaturhaus München
Salvatorplatz 1
80333 München
Tel. 29 19 34 – 14
[email protected]
Leitung:
Dr. Reinhard G. Wittmann
Redaktion:
Maria von Hartmann
München, den 1.03.2016
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
die vorliegenden Unterrichtsmaterialien erscheinen begleitend zu unserer Ausstellung
»Tod und Amüsement. Thomas Mann: Der Zauberberg«
Eine Ausstellung des Literaturhauses München. Leitung: Reinhard G. Wittmann
Kuratorinnen: Karin Becker & Karolina Kühn, vom 16.3. bis 26.6.2016
Die Materialien zur Vor – und Nachbereitung des Ausstellungsbesuchs umfassen:
1. Thomas Mann – ausgewählte Daten zu Leben und Werk
2. »Ich habe meinem Mann absichtlich kleine Details geschrieben« – Katia Mann über
die Entstehung des Romans »Der Zauberberg«
3. »Gestern faßte ich gute Entschlüsse – aus Thomas Manns Tagebüchern 1918 – 1921
4. »Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen …« – Der »Vorsatz« zu
Thomas Manns Roman »Der Zauberberg«
5. »Die Mischung von Tod und Amüsement« – Aufbau und Handlung von Thomas
Manns Roman »Der Zauberberg«
6. »Mein Gott, ich sehe!« – Eine Röntgenaufnahme in Thomas Manns Roman »Der
Zauberberg«
7. Literatur
Viel Erfolg mit Ihren Schülerinnen und Schülern,
2
Inhaltsverzeichnis
1.
Thomas Mann – ausgewählte Daten zu
Leben und Werk
4
2.
»Ich habe meinem Mann absichtlich kleine
Details geschrieben« – Katia Mann über
die Entstehung des Romans »Der
Zauberberg«
9
3.
»Gestern faßte ich gute Entschlüsse« –
aus Thomas Manns Tagebüchern 1918 – 1921
12
4.
»Die Geschichte Hans Castorps, die wir 16
erzählen wollen …« – Der »Vorsatz« zu
Thomas Manns Roman »Der Zauberberg«
5.
»Die Mischung von Tod und Amüsement« –
Aufbau und Handlung von Thomas Manns
Roman »Der Zauberberg«
19
6.
»Mein Gott, ich sehe!« – Eine
Röntgenaufnahme in Thomas Manns Roman
»Der Zauberberg«
25
7.
Literatur
29
3
1. Thomas Mann – ausgewählte Daten zu Leben und Werk
Thomas Mann, um 1918 ©
Monacensia. Literaturarchiv und Bibliothek München, Signatur P/a_1048
1875
6. Juni. Thomas Mann wird als zweiter Sohn des Lübecker Kaufmanns und
Finanzsenators Thomas Johann Heinrich Mann und seiner Frau Julia da Silva – Bruhns, der
Tochter eines deutschen Brasilienfarmers, geboren.
1891
Tod des Vaters. Das Testament bestimmt, dass wegen der künstlerischen
Neigungen der Söhne die Firma zu liquidieren, die Kinder mit »fester Hand« zu erziehen
und für Thomas ein »praktischer Beruf« zu finden sei. Die Mutter zieht aus Lübeck nach
München.
1894
Nach Erlangung des sog. Einjährigen (Mittlere Reife) am Realschulzweig des
Lübecker Katharineums zieht Thomas Mann nach. »Faul, verstockt und voll liederlichen
4
Hohns über das Ganze: so saß ich die Jahre ab, bis man mir den Berechtigungsschein zum
einjährigen Militärdienst ausstellte«.
1895
Nach einjähriger »Bürofron« in München will er Journalist werden und besucht »an
den Münchener Hochschulen in buntem und unersprießlichem Durcheinander«
verschiedenste Vorlesungen.
1897
Neben anderen frühen Erzählungen erscheint die Novelle Der kleine Herr
Friedemann, die Thomas Mann als seinen »eigentlichen Durchbruch in der Literatur«
bezeichnet.
1898
Der Verleger Samuel Fischer erwirbt die Exklusivrechte für alle vollendeten und
zukünftigen Arbeiten. Damit ist der 21 – jährige Thomas Mann als Autor etabliert. In den
Folgejahren zieht er in München mehrmals um, seine »Schwabinger Verstecke«
wechselnd.
1900
Seine
Einberufung
als
Infanterist
endet
nach
2
1/2
Monaten
wegen
Dienstuntauglichkeit.
1901
Sein erster Roman Buddenbrooks. Verfall einer Familie erscheint und wird zum
Bestsellererfolg des jungen Autors.
1903
Erscheinen der Künstlernovelle Tonio Kröger.
1905
Thomas Mann heiratet Katia Pringsheim, eine schöne junge Frau aus
wohlhabender Münchener Familie, Studentin der Mathematik und Physik. In ihrer
Familie, so Katia Mann in Meine ungeschriebenen Memoiren, bezeichnet man Thomas
Mann als »leberleidenden Rittmeister«, weil er so blass, schmal und korrekt wirkt (Katia
Mann, Meine ungeschriebenen Memoiren, Hg. Elisabeth Plessen und Michael Mann,
Frankfurt a. M. 2002, S. 30) Das Paar bekommt sechs Kinder: Erika (1905), Klaus (1906), Golo
(1909), Monika (1910), Elisabeth (1918) und Michael (1919).
1910
Beginn der Niederschrift des Romans Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull.
1912
Die Novelle Der Tod in Venedig erscheint. Für Thomas Mann ist diese Novelle um
den alternden Schriftsteller Gustav Aschenbach eines seiner wichtigsten Werke.
Im Mai/Juni 1912 besucht Thomas Mann seine lungenkranke Frau Katia, die sich von März
bis September im Waldsanatorium in Davos aufhält. In ihren Memoiren schreibt sie: »Mein
Mann hat mich im Sommer 1912 in Davos besucht und war von dem ganzen Milieu so
impressioniert, auch von allem, was ich ihm so erzählte, daß er gleich daran dachte, über
Davos eine Novelle zu schreiben, quasi als groteskes Nachspiel und Gegenstück zum Tod in
5
Venedig. Aus der geplanten Novelle wurde dann der Zauberberg. Das Werk hatte wieder
einmal gewollt.« (Katia Mann 2002: 85). Der fertige Roman wird mehr als 1000 Seiten
umfassen.
1913
Inspiriert durch seinen ersten Besuch in Davos beginnt Thomas Mann mit der
Arbeit am Zauberberg
Im Curhaus Davos Platz © Dokumentationsbibliothek Davos
1914
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ruft bei Thomas Mann eine anfängliche
Kriegsbegeisterung hervor. Dies gilt für viele deutsche Autoren, die den Krieg zunächst als
Befreiungsschlag aus der dekadenten Vorkriegszeit um 1900 wahrnehmen. Er unterbricht
die Arbeit am Zauberberg.
1915
Anfang 1915 nimmt er die Arbeit wieder auf, beendet diese jedoch bereits im
Herbst, um sich einem neuen Projekt, den Betrachtungen eines Unpolitischen, zu widmen.
1914
Die Familie Mann zieht in eine repräsentative Stadtvilla in der Poschingerstraße 1
in München und lebt dort bis 1933.
1918
Die Betrachtungen eines Unpolitischen, die annähernd 600 Seiten umfassen,
erscheinen am Ende des Ersten Weltkriegs. Ein nationalistisch eingestellter Thomas Mann
rechtfertigt darin die Rolle der Deutschen im Ersten Weltkrieg und attackiert seinen
6
pazifistischen Bruder Heinrich Mann, den er als gefühllosen »Zivilisationsliteraten«
bezeichnet.
Erst nach dem Krieg wandelt sich Thomas Mann zu einem immer engagierteren
Fürsprecher der neuen Demokratie und politischen Gegner der allmählich die Macht
übernehmenden Nationalsozialisten. Zutiefst beeindruckt vom Zeitgeschehen – »die
letzten Monate des Ersten Weltkriegs, die militärische Niederlage und die aus ihr folgende
Novemberrevolution,
die Errichtung
der Republik
von Weimar, die Münchner
Räterepublik, der Versailler Friedensvertrag, der Kapp – Putsch, die beginnende Inflation«,
(Thomas Mann, Tagebücher 1918 – 1921, Hg. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1979, VII)
wendet sich Thomas Mann von den in den Betrachtungen eines Unpolitischen geäußerten
Positionen ab. 1922 versöhnen sich die beiden Brüder Heinrich und Thomas Mann.
Am Ostermontag 1918, nach vierjähriger Unterbrechung, beginnt Thomas Mann mit der
Abschrift und Überarbeitung des alten Manuskripts des Zauberberg.
1924
Am 27. September 1924 beendet Thomas Mann seinen Roman. Der Zauberberg, der
Thomas Manns Weltruhm begründet, erscheint bei Fischer und wird in die meisten
europäischen Sprachen übersetzt.
1929 In Stockholm erhält Thomas Mann den Nobelpreis für Literatur für den Roman
Buddenbrooks. Verfall einer Familie.
1930
Nach dem Stimmenzuwachs für die NSDAP bei der Reichtstagswahl vom 14. Sept.
1930 hält Mann in Berlin die antifaschistische Rede Deutsche Ansprache. Ein Appell an die
Vernunft.
1933
Ein
Kuraufenthalt
in
der
Schweiz
wird
ungewollt
zum
Anfang
der
Emigrationsjahre. »Zum Schutz von Staat und Volk« lassen die Nazis nach dem
Reichstagsbrand mehr als 100.000 NS – Kritiker verhaften. Thomas Manns Vermögen wird
beschlagnahmt, sein Haus von der SA durchwühlt. Thomas und Katia Mann lassen sich in
der Nähe von Zürich nieder. Am 2. Dez. 1933 werden sie als »Volksschädlinge« aus dem
Deutschen Reich ausgebürgert. Beginn der Roman – Tetralogie Joseph und seine Brüder.
1938
Vortragsreise durch die USA. Übersiedlung in die USA. Lehrauftrag an der University
of Princeton.
1939
Der Roman Lotte in Weimar erscheint.
1940 – 45 Während des Zweiten Weltkrieges werden über die BBC die monatlichen
Ansprachen Thomas Manns, Deutsche Hörer!, nach Deutschland übertragen.
1941
Exiljahre in Pacific Palisades, Kalifornien.
7
1947
Der Roman Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn,
erzählt von einem Freunde erscheint. Wegen seiner Kontakte zur sowjetisch besetzten Zone
Deutschlands
wird
Thomas
Mann
in
den
USA
vor
den
Unterausschuss
des
»Kongressausschusses für unamerikanische Aktivitäten« geladen.
1949
Selbstmord des Sohnes Klaus Mann. Erste Europareise Thomas Manns im
Goethejahr 1949 anlässlich Goethes 200. Geburtstag. Der Autor hält Festreden nicht nur in
der BRD, sondern auch in der DDR.. In den USA hält man ihn für einen Kommunisten.
1952
Thomas und Katia Mann gehen aus dem amerikanischen Exil zurück in die Schweiz
in die Nähe von Zürich, nach Kilchberg. Hier ist ihr letztes Domizil.
1954
Der erste Teil des Romans Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull erscheint. Der
Roman bleibt Fragment.
1955
Ehrenbürgerschaft der Stadt Lübeck.
Thomas Mann stirbt in Zürich am 12. August 1955.
1979
Erscheinen der Tagebücher 1918 – 1921, herausgegeben von Peter de Mendelssohn im
S. Fischer Verlag.
Liegekur im Schnee, um 1910 © Dokumentationsbibliothek Davos
Literatur:
Gero von Bassewitz und Wolfgang Tarnowski, Auf Thomas Manns Spuren, Hamburg 1997
Daniela Langer, Thomas Mann. Der Zauberberg. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 2009.
8
2. »Ich habe meinem Mann absichtlich kleine Details
geschrieben« – Katia Mann über die Entstehung des
Romans »Der Zauberberg«
Patientenzimmer im Waldsanatorium © Waldhotel Davos
Im Waldsanatorium besuchte Thomas Mann 1912 seine Frau Katia, die sich dort für mehrere Monate in Kur befand.
In Katia Manns Lebenserinnerungen, Meine ungeschriebenen Memoiren, von 1974, finden
sich viele Hinweise auf die Entstehungsgeschichte von Thomas Manns Roman Der
Zauberberg. Auf die Idee, das Porträt der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ausgerechnet in
einem Schweizer Lungensanatorium anzusiedeln, war Thomas Mann durch den
Aufenthalt seiner Frau im Waldsanatorium in Davos von März bis September 1912
gekommen. Er besuchte sie dort für vier Wochen im Mai – Juni 1912. Zunächst hatte er nur
ein kurzes humoristisches Gegenstück zu der gerade erschienenen Erzählung Der Tod in
Venedig schreiben wollen, doch im Laufe der Jahre wurden es über 1000 Seiten.
1913 beginnt Thomas Mann mit der Arbeit am Zauberberg. Bei Ausbruch des Ersten
Weltkriegs 1914 legt er die Arbeit nieder, nimmt sie Anfang 1915 wieder auf, um sie bereits
im Herbst 1915 erneut zu unterbrechen, da er sich einem neuen Projekt, den Betrachtungen
eines Unpolitischen, widmet. Dieses Werk, das annähernd 600 Seiten umfassen, erscheint
am Ende des Ersten Weltkriegs. Ein nationalistisch eingestellter Thomas Mann rechtfertigt
darin die Rolle der Deutschen in diesem Krieg und attackiert seinen pazifistisch
gesonnenen Bruder Heinrich Mann, den er als gefühllosen »Zivilisationsliteraten«
bezeichnet.
Am
Ostermontag
1918
schließlich,
nach
vierjähriger
9
Unterbrechung, beginnt Thomas Mann mit der Abschrift und Überarbeitung des alten
Manuskripts des Zauberberg. Inzwischen hat sich Thomas Manns Einstellung zum Krieg
geändert. Erst sechs Jahre später, am 27. September 1924, erscheint der Roman, der Thomas
Manns Weltruhm begründet.
Die folgenden, chronologisch angeordneten Textauszüge aus Katia Manns Erinnerungen
geben einen lebendigen Eindruck von der Entstehung des Romans und der Arbeitsweise
Thomas Manns:
Mein Mann hat mich im Sommer 1912 in Davos besucht und war von dem ganzen Milieu so
impressioniert, auch von allem, was ich ihm so erzählte, daß er gleich daran dachte, über Davos
eine Novelle zu schreiben, quasi als groteskes Nachspiel und Gegenstück zum Tod in Venedig.
Aus der geplanten Novelle wurde dann der Zauberberg. Das Werk hatte wieder einmal gewollt.
(Katia Mann 2002: 85).
Nun, er besuchte mich in Davos, und schon seine Ankunft war eigentlich ziemlich genau wie
die Ankunft von Hans Castorp. Er stieg auch in Davos – Dorf aus, und ich holte ihn unten ab,
genau wie sein Cousin Ziemssen es tut. Dann gingen wir zum Sanatorium hinauf und haben so
endlos geschwätzt wie die Vettern. Ich war doch schon monatelang dort und legte los, erzählte
hundert Sachen. […] Dann habe ich ihm die verschiedenen Typen gezeigt; ich hatte sie ihm auch
geschildert. Er hat sie dann bloß mit Veränderung der Namen verwendet. (86)
Ich habe meinem Mann absichtlich kleine Details geschrieben, weil ich wußte, daß er an dem
Buch arbeitete. Er hat gleich nach seinem ersten Besuch in Davos damit begonnen, und als ich
dann [1913] in Arosa war, hatte er schon eine ganze Menge geschrieben. In den Briefen, die alle
verloren sind, standen viele Einzelheiten. Es wäre für Germanisten ein gefundenes Fressen,
diese Briefe mit dem Zauberberg zu vergleichen. Das können sie nun nicht, und es macht auch
nichts. Die Germanisten vergleichen sowieso viel zu viel. (88 ff)
Tatsächlich wahr ist auch, daß Jessen[der Leiter des Waldsanatoriums in Davos] ihn
untersucht und gleich gesagt hat: Sie haben da eine Stelle und täten gut daran, ein halbes Jahr
mit Ihrer Frau zusammen hierzubleiben. (88)
In dieser Hinsicht war er ein absoluter Augenmensch und besaß, was die Aufnahmefähigkeit
betrifft, eine absolut Hans Castorpsche Manier [Hans Castorp ist der Held des Romans]. Nur
war mein Mann nicht so treuherzig wie dieser, und das Sorgenkind des Lebens [damit ist
Hans Castorp gemeint] konnte auch nicht für ihn gelten, aber er hat Hans Castorp viel von sich
mitgegeben. Er ist eine ziemlich stark subjektive Figur, nur vereinfacht. […] Hans Castorp war
eben seine treuherzige Seite, aber doch sehr bildungsfähig. (91 ff)
Wie weit Thomas Mann mit der Arbeit am Zauberberg bis zum Beginn der Betrachtungen
gekommen war, könnte ich nicht genau sagen. Im Krieg war er dermaßen von politisch –
nationalen Leidenschaften besessen, daß er unmöglich an dem Buche weiterschreiben konnte.
Er hat die Betrachtungen eingeschaltet und sich nach dem Krieg mit den zwei Novellen Herr
10
und Hund und Gesang vom Kindchen erst wieder etwas eingeschrieben. 1919 ist er dann zum
Zauberberg zurückgekommen.
Aber er meinte, es sei sehr gut, daß er die Betrachtungen geschrieben hätte, denn sonst wäre
der Zauberberg viel zu sehr politisch belastet und gedanklich befrachtet gewesen, und eine
Figur wie Settembrini [der aufklärerische Humanist und Freimaurer, der Hans Castorp ins
tätige Leben zurückführen will] hätte er gar nicht hineingebracht. Insofern hatte das Buch den
Betrachtungen dankbar zu sein. (93 ff)
Sonst hat er nur vormittags gearbeitet. Er konnte nur arbeiten, wenn sein Kopf noch ganz frei
war. Sein Tagesablauf war sehr diszipliniert, einfach, und verlief immer gleich. Von neun bis
zwölf Uhr ungefähr schrieb er, dann machte er einen Spaziergang, aß zu Mittag, las
nachmittags Zeitung, rauchte noch eine Zigarre, ruhte dann. Nach dem Tee ging er nochmals
spazieren, las und machte die Vorarbeiten, die Lektüre für seine eigene Produktion und
erledigte, was er die Forderung des Tages nannte. Nur die drei Stunden vormittags waren für
die produktive Arbeit bestimmt. Er schrieb alles mit der Hand, und wenn er am Tag zwei Seiten
schrieb, war das besonders viel. (94)
Eigentlich hörte ich bei seinen Vorlesungen alles zum ersten Mal. Er las kapitelweise vor. Hatte
er einen größeren Abschnitt fertig, las er ihn mir, später auch den Kindern im Familienkreise
vor. Er tat das sehr gerne. Es regte ihn an, es zu hören und die Wirkung zu sehen. (97)
Es war schon ein Phänomen mit Thomas Manns Arbeitsweise. Wenn er ein Buch schrieb, so
vertiefte er sich ungeheuerlich in seinen jeweiligen Gegenstand und studierte viel und stets
noch, während er daran saß. Er verschaffte sich alles Wissenswerte, beschaffte sich eine Menge
Material, doch sowie das Buch fertig war, hatte er alles bald wieder vergessen. Er interessierte
sich nicht mehr dafür. (161)
Aufgabenstellung:
1.
(85) Das Werk hatte wieder einmal gewollt. Wie verstehen Sie diesen Satz?
2.
(91ff) Wie sieht Katja Mann die Beziehung ihres Mannes zu dem Protagonisten seines
Romans, Hans Castorp?
3.
(93ff) Wie schätzt Katja Mann die Tatsache ein, dass Thomas Mann seine Arbeit am
Zauberberg über Jahre unterbrach, um die Betrachtungen eines Unpolitischen zu
schreiben?
4.
(94) (97) (161) Thomas Mann hat sich einer Methode bedient, die man später als höhere
Form des Abschreibens bei Thomas Mann bezeichnet hat: Er hat ganze Passagen aus
anderen Büchern, wie z.B. wissenschaftlichen Werken und Lexika übernommen.
Entdecken Sie diesbezügliche Andeutungen Katia Manns?
11
3. »Gestern faßte ich gute Entschlüsse« – aus Thomas
Manns Tagebüchern 1918 – 1921
Röntgenaufnahme zweier Hände © Deutsches Röntgenmuseum Remscheid
Peter de Mendelssohn, der 1979 die Tagebücher 1918 – 1921 des 1955 gestorbenen Thomas
Mann herausgibt, führt in seinen Vorbemerkungen aus, dass der im amerikanischen Exil
lebende Thomas Mann am 21. Mai 1945 im Garten seines kalifornischen Hauses fast alle
seiner alten Tagebücher aus den Jahren vor 1933 verbrannt habe. Nur die vier Hefte von
1918 – 1921, beginnend am 11. September 1918 und endend am 1. Dezember 1921, habe er
davon ausgenommen, wohl um sie als Material für den Roman Doktor Faustus verwenden
zu können: »Es sind vier dicke Schulhefte in festem schwarzen Einband, ein jedes von etwa
zweihundert Seiten Umfang. Alle vier sind in München geschrieben.« (Peter de
Mendelssohn, Thomas Mann.Tagebücher 1918 – 1921 , Frankfurt a. M. 1979, V ff).
Die Arbeit am Roman Der Zauberberg, dessen Ursprung schon im Jahr 1912 liegt, hat
Thomas Mann auf Grund des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs und seiner anschließenden
Beschäftigung mit dem Werk Betrachtungen eines Unpolitischen mehrfach unterbrochen.
Im Jahre 1918 nahm er den Zauberberg wieder auf. Die folgenden Auszüge aus seinen
Tagebüchern 1918 – 1921 verdeutlichen den Prozess der Wiederannäherung an das alte
Manuskript und zeigen Thomas Manns Arbeitsweise und Stimmungsschwankungen bei
diesem komplexen Werk:
12
1918
Seit vorgestern von Tegernsee zurück. […] Werde Herr und Hund beenden, dann, ohne für die
100. Auflage von Buddenbrooks ein Vorwort schreiben zu müssen, zur Beschäftigung mit dem
Zauberberg übergehen. 11. September 1918 (3)
Nach der Lektüre eines Buches über Nietzsche überfällt Thomas Mann auf dem
Mittagsspaziergang eine Art Todeswehmut. Er sieht die thematischen Zusammenhänge der
zukünftigen Arbeiten, mit der Sphäre, die mich beim Lesen umgibt: die Todesromantik plus
Lebensja im Zauberberg […]. 14. September 1918 (5)
Auch an den Zauberberg dachte ich wieder u. das Problem des Schlusses. [.…] – Paginierte das
Schlußkapitel. Das Manuskript hat 115 Seiten bekommen. Ob der Umfang erlaubt war?
14. Oktober 1918 (33)
Gestern
faßte
ich
gute
Entschlüsse
betr.
den
neuen
Anfang
des
Zauberberg.
29. Dezember 1918 (119)
1919
In diesem Tagen neue Lust zum Zauberberg, dessen Anfang ich ändern will. Das 1. Kapitel ist in
das 2. hineinzukomponieren. Weiß auch, wie das Ganze erzählerisch anzugreifen u. in die Zeit
zu stellen. 5. Januar 1919 (126)
Wir leben schnell. […] Der Zauberberg wird am Ende, wenn er fertig ist, schon abermals wieder
nicht zeitgemäß sein. 13. Januar 1919 (135)
Ich begann nach 4jähriger Unterbrechung wieder am Zauberberg zu schreiben, d.h. ich fing das
1. Kapitel mit neuer Einleitung und in der Absicht, es um die Figur des Großvaters Castorp zu
erweitern, unter dem Titel Die Taufschale wieder an und werde wahrscheinlich alles Fixierte auf
dem guten Papier, an das ich durch das Mt [Manuskript] der Betrachtungen gewöhnt bin, neu
schreiben, zumal es an vielen Orten zu bessern ist. Die neue Einleitung schlägt das Zeit – Thema
erstmalig an. 20. April 1919 (205)
Schrieb etwas am Großvater Castorp. Habe kein rechtes Vorbild, kein Gesicht, kann mich zu
keiner Barttracht entschließen. Möchte das Kinn für die Halsbinde frei haben, andererseits ist
Backenbart zu jovial. Also ganz rasiert, was aber nicht landesüblich sein dürfte. 28. April 1919
(214)
Erörterungen über Vorzüge u. Schwächen des [1.] Kapitels und den Charakter des Ganzen als
entschiedener Novelle mit Romanbreite, sodaß als Auskunft nur die Bezeichnung Erzählung
am Platz. 30. April 1919 (217)
5 Uhr Prinzregententheater: Parsifal [Oper von Richard Wagner], mit Bertram und Glöckner,
centrale Plätze. Sehr starker Eindruck: Rührung, Bewunderung und das gewohnte interessierte
Mißtrauen. Nie war ein Kunstwerk so sehr naives Künstlerwerk, Produkt aus sakralem Willen,
schlimmer Wollust und sicherstem Können, das als Weisheit wirkt. Die Krankheitssphäre:
Rettungslos zu Hause fühlte ich mich darin, sagte ich zu Bertram. Worauf wir beide wie aus
einem Munde: Es ist eben der Zauberberg. 19. September 1919 (303 ff)
13
Beendete das IV. Kapitel des Zbg. Mit der Untersuchungsscene und Castorps Aufnahme. Las
nach dem Thee und nach dem Abendessen K. [Katia Mann] alles neu Geschriebene vor.
Problematisch in künstlerischer Beziehung die Lehren Settembrini’s. Sie sind es aber auch in
geistiger Hinsicht, weil sie, obgleich nicht ernst genommen, das sittlich einzig Positive und dem
Todeslaster Entgegenstehende sind. Andrerseits beruht die geistige Komik des Romans auf
diesem Gegensatz von Fleischesmystik und politischer Tugend. 14. November 1919 (319 ff)
1920
Thomas Mann kehrt von einem Aufenthalt in Feldafing und Polling zurück: Der Clou des
Aufenthalts: sein vorzügliches Grammophon, das ich allein und mit K. und Richter beständig
spielen ließ. Die Tannhäuser Ouvertüre, Bohême. Aida – Finale (italienischer Liebestod). [.…]
Neues Motiv für den Zbg., gedanklich und rein episch ein Fund. 10. Februar 1920 (375)
Schrieb eine Seite. Ging in der Pelzjacke 1 1 /2 Stunden spazieren u. las nach Tisch Hauffs Zwerg
Nase mit Vergnügen und Interesse. Nach dem Thee allerlei Chemisch – Medizinisches studiert
und excerpiert. 23. Februar 1920 (384)
Fuhr fort, physiologische Notizen für den Zbg. zu machen. Ging spazieren. Nach Tische auf dem
Balcon etwas geruht. Dann ins Krankenhaus links der Isar (Ziemßenstraße), wo ich zu Boehm
geführt wurde, den ich von einer Gesellschaft bei Ceconi kannte. Wurde mit einem weißen,
klinischen Kittel gekleidet und so ins Röntgen – Laboratorium geführt, wo ich zusah, wie ein
Assistenz – Arzt mit seinem Gehilfen mehrere Lungen – und eine Kniegelenk – Aufnahme bei
Männern und Frauen machte. Auch eine Reihe von photographischen Platten (kranke Lungen
u. ein Magengeschwür) zeigte mir der Doktor. Ließ mich das Skelett meiner Hand sehen.
24. Februar 1920 (385)
Las nachmittags und abends allerhand Interessantes und Erregendes: […] eine
erkenntnistheoretische Kritik der Einstein’schen Theorie […], worin das Problem der Zeit, deren
heutige Urgenz ich bei der Conception des Zbg, wie die politischen Antithesen des Krieges,
anticipierte. Die Genugtuung über meine seismographische Empfindlichkeit von damals in
mehr als einer Beziehung wird beeinträchtigt und aufgehoben durch die immer und in jeder
Hinsicht sich bestätigende Einsicht davon u. den Kummer darüber, daß der Roman [….] anno 14
hätte fertig sein müssen. Sein Verdienstliches ist größtenteils überholt worden durch
unnatürlich rapiden Ablauf der Ereignisse. 3. März 1920 (390)
Der Zbg. wird das Sinnlichste sein, was ich geschrieben haben werde, aber von kühlem Styl.
12. März 1920 (396)
Schlechter Stimmung, kam mit der Arbeit keinen Schritt vorwärts. Verhangen, trostlos. Das
Ganze unmöglich. Das zuletzt Geschriebene ist umzuarbeiten. Keine Lust am Gedanken und
keine Fähigkeit dazu. Gelähmt. 5. Mai 1920 (431)
Nach einer Tanzaufführung russischer Tänzerinnen bei Kurt Wolff in der Luisenstraße lernt
Thomas Mann das Vorbild für Mme Chauchat kennen: Machte zum Schluß noch flüchtig die
Bekanntschaft der mich am meisten interessierenden Tänzerin mit schiefen Augen […]. Sie
hatte K.‘s Mutter viel von dem Moskauer Elend erzählt, dem sie mühsam entkommen. Eine
gute Mme Chauchat. 17. Juni 1920 (448)
14
Gestern waren noch einmal Litzmanns zum Abendessen da. Es gab wieder eine lange Zbg. –
Vorlesung, das III. Kapitel zu Ende. Es wurde spät. […]
Ich zog, aus der Stadt zurückgekehrt, den neuen Kalender auf. Es schien doch ziemlich lange her
seit dem letzten Mal. Ein Jahr ist immerhin lang. 1921 wird, so oder so, die Beendigung des Zbg.
und manche andere Spur meines Lebens bringen. 31. Dezember 1920 (476)
1921
In den Anmerkungen zu den Tagebüchern heißt es: Vom 16. Januar bis zum 3. Februar reist
Thomas Mann durch die Schweiz und dort auch ein zweites Mal nach Davos. Er ist dabei
Ganz Auge, – wie in all den Tagen. (482 ff)
Heute bei Zeiten auf und Beschäftigung mit den Davoser Notizen. 7. Februar 1921 (483)
In der vergangenen Woche, über der schönes Spätwinterwetter war, (ich lag nachmittags
meistens auf dem Balcon) fuhr ich fort am Zbg. zu schreiben (Sportfeste und Schatzalp) […].
Im Roman kommt immer alles darauf an, das Geistige gegenwärtig zu halten, die feinen Fäden
und Motive festzuhalten, kurz, nichts zu vergessen, was angesponnen. 1. März 1921 (487)
Schlimm, wie flau, gelangweilt, unerfinderisch ich dem Zbg. gegenüber stehe, um nicht zu
sagen völlig mutlos. 19. April 1921 (507)
Das Liebesgespräch zwischen Hans Castorp und Clawdia Chauchat, das am Ende des 5.
Kapitels des Romans steht, findet auf Französisch statt: Angeregt an dem franz. Dialog
fortgeschrieben. Er hat sich jetzt ziemlich bis zum Ende ergeben und erscheint mir merkwürdig.
Aber früher gibt es schwache Episoden! 28. April 1921 (511)
Gegen 8 auf und nach dem Frühstück im Eßzimmer, wo geheizt, ein Stück an dem franz.
Gespräch mit Hülfe des Wörterbuchs weiter geschrieben. [… ]
Die Beziehung zu H.C. [Hans Castorp] fesselt mich. 4. Mai 1921 (513 ff)
Abends bei der Lektüre von Bielschowsky’s Kapitel über Goethe als Naturforscher wurden mir
Sinn und Idee des Zbg. recht klar. Er ist […] auf seine parodistische Art ein humanistisch –
goethischer Bildungsroman, und H.C. besitzt sogar Züge von W. Meister, wie mein Verhältnis zu
ihm dem Goethe’s zu seinem Helden ähnelt, den er mit zärtlicher Rührung einen armen Hund
nennt. 15. Juni 1921 (531)
Aufgabenstellung:
1.
Was erfahren Sie aus diesen Tagebuchnotizen über Thomas Manns Arbeitsweise?
Nennen Sie verschiedene Aspekte.
2.
Wie stellen Sie sich den Menschen Thomas Mann vor?
15
4. »Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen
wollen« – Der »Vorsatz« zu Thomas Manns Roman »Der
Zauberberg«
Sanatorium Valbella, um 1915 © Dokumentationsbibliothek Davos
Dieses Sanatorium war in seinem äußeren Erscheinungsbild Vorlage für das Sanatorium Berghof im Roman.
Mit seinem 1924 erschienenen Roman Der Zauberberg erlangte Thomas Mann Weltruhm.
Schon 1912 hatte er mit den Vorarbeiten begonnen und schrieb die ersten Kapitel zu seinem
Werk, das zunächst als humorvolles kurzes Gegenstück zu dem vorher erschienenen Tod in
Venedig gedacht war. 1915, kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs, brach Thomas Mann
die Arbeit ab, um sich in den Betrachtungen eines Unpolitischen dem Zeitgeschehen zu
widmen. Erst 1919, als der Krieg vorbei war und Thomas Mann zu neuen politischen
Einsichten gelangt war,
griff er den Zauberberg wieder auf, überarbeitete das alte
Manuskript und schrieb es fort, bis es 1924 als über tausend Seiten umfassender Roman
erscheinen konnte.
In seinem Vorwort, dem sog. Vorsatz zur Erstausgabe von 1924, richtet sich der Erzähler an
den Leser. Wir erfahren etwas über den Helden des Romans, Hans Castorp, über die Zeit, in
der der Roman spielt, über das Phänomen der Zeit an sich, über märchenhafte Züge des
Romans und darüber, dass der Zauberberg in aller Ausführlichkeit erzählt werden wird –
der Leser ist also gewarnt, auf was er sich einlässt, und neugierig gemacht zugleich.
16
Vorsatz
Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen, – nicht um seinetwillen (denn der Leser
wird einen einfachen, wenn auch ansprechenden jungen Menschen in ihm kennenlernen),
sondern um der Geschichte willen, die uns in hohem Grade erzählenswert scheint (wobei zu
Hans Castorps Gunsten denn doch erinnert werden sollte, daß es seine Geschichte ist, und daß
nicht jedem jede Geschichte passiert): diese Geschichte ist sehr lange her, sie ist sozusagen schon
ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten
Vergangenheit vorzutragen.
Das wäre kein Nachteil für eine Geschichte, sondern eher ein Vorteil; denn Geschichten müssen
vergangen sein, und je vergangener, könnte man sagen, desto besser für sie in ihrer Eigenschaft
als Geschichten und für den Erzähler, den raunenden Beschwörer des Imperfekts. Es steht
jedoch so mit ihr, wie es heute auch mit den Menschen und unter diesen nicht zum wenigsten
mit den Geschichtenerzählern steht: sie ist viel älter als ihre Jahre, ihre Betagtheit ist nicht nach
Tagen, das Alter, das auf ihr liegt, nicht nach Sonnenumläufen zu berechnen; mit einem Worte:
sie verdankt den Grad ihres Vergangenseins nicht eigentlich der Zeit, – eine Aussage, womit auf
die Fragwürdigkeit und eigentümliche Zwienatur dieses geheimnisvollen Elementes im
Vorbeigehen angespielt und hingewiesen sei.
Um aber einen klaren Sachverhalt nicht künstlich zu verdunkeln: die hochgradige
Verflossenheit unserer Geschichte rührt daher, daß sie vor einer gewissen, Leben und
Bewußtsein tief zerklüftenden Wende und Grenze spielt … Sie spielt, oder, um jedes Präsens
geflissentlich zu vermeiden, sie spielte und hat gespielt, vormals, ehedem, in den alten Tagen,
der Welt vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl
kaum schon aufgehört hat. Vorher also spielt sie, wenn auch nicht lange vorher.
Aber ist der Vergangenheitscharakter einer Geschichte nicht desto tiefer, vollkommener und
märchenhafter, je dichter »vorher« sie spielt? Zudem könnte es sein, daß die unsrige mit dem
Märchen auch sonst, ihrer inneren Natur nach, das eine und andre zu schaffen hat.
Wir werden ausführlich erzählen, genau und gründlich, – denn wann wäre je die Kurz – oder
Langweiligkeit einer Geschichte unabhängig gewesen von dem Zeit und Raum, die sie in
Anspruch nahm? Ohne Furcht vor dem Odium der Peinlichkeit, neigen wir vielmehr der Ansicht
zu, daß nur das Gründliche wahrhaft unterhaltend sei.
Im Handumdrehen also wird der Erzähler mit Hansens Geschichte nicht fertig werden. Die
sieben Tage einer Woche werden dazu nicht reichen und auch sieben Monate nicht. Am besten
ist es, er macht sich im voraus nicht klar, wieviel Erdenzeit verstreichen wird, während sie ihn
umsponnen hält. Es werden, in Gottes Namen, ja nicht geradezu sieben Jahre sein!
Und somit fangen wir an.
(Th. M. 1986, 5-6)
17
Aufgabenstellung:
1.
2.
Welche Haltung nimmt der Erzähler gegenüber Hans Castorp ein?
Der Erzähler spricht von der hochgradige[n] Verflossenheit unserer Geschichte – was ist
damit gemeint?
3.
Im letzten Absatz spielt der Erzähler auf die Zeitstruktur des Romans an. Ursprünglich
will sich Hans Castorp nur drei Wochen in dem Lungensanatorium Berghof aufhalten,
bleibt dann aber sieben Jahre. Der Roman hat insgesamt sieben Kapitel: Die ersten fünf
Kapitel, die den ersten Band des Romans bilden, umfassen nur die ersten sieben Monate
seines Aufenthalts, der zweite Band mit dem sechsten und siebten Kapitel dagegen die
ganzen restlichen Jahre.


Wie ist also der letzte Absatz zu verstehen?
Sie kennen die Zahl sieben aus den Volksmärchen und den Kunstmärchen der
Romantik. Können Sie Beispiele nennen?
18
5. »Die Mischung von Tod und Amüsement« – Aufbau und
Handlung von Thomas Manns Roman »Der Zauberberg«
Liegekur, 1906 © Dokumentationsbibliothek Davos
Band I
1.
Kapitel
2.
Kapitel
Ankunft/ Nr. 34/ Im Restaurant
Von der Taufschale und vom Großvater in zwiefacher Gestalt/ Bei Tienappels. Und von Hans
Castorps sittlichem Befinden
3.
Kapitel
Ehrbare Verfinsterung/ Frühstück/ Neckerei. Viatikum. Unterbrochene Heiterkeit/ Satana/
Gedankenschärfe/ Ein Wort zuviel/ Natürlich, ein Frauenzimmer!/ Herr Albin/ Satana
macht ehrrührige Vorschläge
4. Kapitel
Notwendiger Einkauf/ Exkurs über den Zeitsinn/ Er versucht sich in französischer
Konversation/
Politisch
verdächtig!/
Hippe/
Analyse/
Zweifel
und Erwägungen/
Tischgespräche/Aufsteigende Angst. Von beiden Großvätern und der Kahnfahrt im
Zwielicht/ Das Thermometer
5.
Kapitel
Ewigkeitssuppe und plötzliche Klarheit/ »Mein Gott, ich sehe!«/ Freiheit/ Launen des
Merkur/ Enzyklopädie/ Humaniora/ Forschungen/ Totentanz/ Walpurgisnacht
Band II
6. Kapitel
Veränderungen/ Noch jemand/ Vom Gottesstaat und von übler Erlösung/ Jähzorn. Und
noch etwas ganz Peinliches/ Abgewiesener Angriff/ Operationes spirituales/ Schnee/ Als
Soldat und brav
7.
Kapitel
Strandspaziergang/ Mynheer Peeperkorn/ Vingt et un/ Mynheer Peeperkorn (des weiteren)/
Mynheer Peeperkorn (Schluß)/ Der große Stumpfsinn/ Fülle des Wohllauts/
Fragwürdigstes/ Die große Gereiztheit/ Der Donnerschlag
19
Handlung
Der Roman schildert die Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Eine internationale
mondäne Gesellschaft von Lungenkranken verbringt ihre Zeit in einem Schweizer
Sanatorium. Als am Schluss des Romans der Krieg ausbricht, zerstiebt die Gesellschaft in
alle Winde. Der Held des Romans, Hans Castorp, ist einer der Gäste des Sanatoriums.
So beginnt der Roman:
Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach
Davos – Platz im Graubündischen. Er fuhr auf Besuch für drei Wochen. (Th. M. 1986, 7)
Hans Castorp, 24 Jahre alt, aus wohlhabender Hamburger Kaufmannsfamilie, hat gerade
sein Studium zum Schiffsbauingenieur beendet. Er ist dabei, ein Praktikum bei der
Hamburger Schiffswerft Tunder & Wilms anzutreten, doch da der zarte junge Mann auf
seinen Hausarzt sehr angegriffen wirkt, empfiehlt dieser einen Luftwechsel. So fährt Hans
Castorp mit dem Zug nach Davos – einerseits, um dort seinen schwerkranken Vetter
Joachim Ziemßen zu besuchen, andererseits, um sich selbst von den Strapazen seines
Examens zu erholen.
Das Leben hier oben, wie Joachim es nennt, übt sofort seine Faszination auf Hans Castorp
aus. Das Lungensanatorium Berghof wartet mit einer Mischung von Tod und Amüsement
(Th. M. 1939, IV) auf: Hans Castorp begegnet exzentrischen Ärzten mit grotesken
Behandlungsmethoden (Hofrat Behrens und Doktor Krokowski) und einem Panoptikum an
Kranken, die zum Teil, soweit sie in der Lage dazu sind, ihren letzten Lebensmonaten noch
so etwas wie Spaß abgewinnen wollen.
Davoser Kurkapelle um 1903 © Dokumentationsbibliothek Davos
20
Eine der Kranken – für die er zunächst nichts als Verachtung empfindet, weil sie bei ihrem
Eintreten in den Speisesaal jedes Mal auf rücksichtslose Weise, mit Schmettern und Klirren
(Th. M. 1986, 50), die gläserne Tür zuwirft – ist Clawdia Chauchat, eine verheiratete Russin
um die Dreißig. Eine heiße Katze ist sie, un chaud chat, mit Klauen, claws, bewehrt, mit
grünen, schräg gestellten Augen und hohen Wangenknochen. In diese Frau, die ihn an
seine Jugendliebe, seinen Schulkameraden Pribislav Hippe, erinnert, verliebt er sich mit
einem Gefühl von wüster Süßigkeit (Th. M. 1986, 98).
Obwohl ein weiterer Sanatoriumsgast, der Literat Settembrini, Hans Castorp dazu bewegen
will, sich wieder dem tätigen Leben in seiner Heimat zuzuwenden und ihn zur sofortigen
Abreise drängt, zieht es den jungen Mann immer mehr in die morbide Atmosphäre des
Hauses hinein. Begeistert legt er sich auf horizontale Art (Th. M., 1986, 91) in den bequemen
Liegestuhl, der für die Patienten auf ihren Balkons bereit steht, und nimmt mit Hingabe an
den mehrstündigen Liegekuren teil. Tod und Krankheit faszinieren ihn in zunehmendem
Maße, und er entwickelt Ideen und Gedanken, von denen er sich in der Welt, die immer
ironisch als das Flachland bezeichnet wird, nie etwas hätte träumen lassen (Th. M., 1939, VIII).
Als Hans Castorp sich zu der Aussage, Man denkt, ein dummer Mensch muß gesund und
gewöhnlich sein, und Krankheit muß den Menschen fein und klug und besonders machen.
(Th. M. 1986, 103), versteigt, attackiert ihn Settembrini, der sich inzwischen zu seinem
Mentor gemacht hat, scharf. Er lehnt Hans Castorps Sympathie für Krankheit und Tod ab.
Doch für diesen sind die Würfel gefallen: Eine Erkältung als Vorwand nutzend, entscheidet
er sich, weiterhin auf dem Berghof zu bleiben. Immer weiter entfernt er sich gedanklich
vom Flachland und verliert das Gefühl für die Zeit und das Leben außerhalb des Berghofs.
Joachims Statement, Man ändert hier oben seine Begriffe (Th. M. 1986, 11), trifft nun auch
für Hans Castorp zu.
Nach sieben Wochen Aufenthalts auf dem Berghof stellt Hofrat Behrens
bei einer
Röntgenaufnahme
für
einen
Fleck
in
Hans
Castorps
Lunge
fest
–
den
entscheidungsschwachen jungen Mann das willkommene Signal, auf unbestimmte Zeit
dort oben bleiben zu können.
Sieben Monate nach Hans Castorps Ankunft vergnügt sich die ganze Belegschaft bei einem
Faschingsfest, bei dem es hoch hergeht. Hofrat Behrens erfreut die alkoholisierten Gäste
mit einem merkwürdigen Kunststück: Mit geschlossenen Augen zeichnet er ein
Schweinchen. Alle wollen es ihm nun gleich tun, auch Hans Castorp, der, weil es keinen
Bleistift mehr gibt, die angebetete Clawdia Chauchat um einen solchen bittet – so wie er
einst seinen Schulkameraden Pribislav Hippe um einen Stift gebeten hat. Als sie zu
späterer Stunde allein im Salon sind, erklärt Hans Castorp Clawdia Chauchat auf
Französisch seine Liebe. Nachdem sie ihn darüber informiert hat, dass sie am nächsten
21
Tage abreisen werde, verlässt sie mit den Worten N’oubliez pas de me rendre mon crayon.
[Vergessen Sie nicht, mir meinen Stift wieder zu geben.] (Th. M. 1986, 363) den Salon. Dies
ist die Aufforderung zu einer Liebesnacht, deren Schilderung zwar ausgespart wird, auf die
aber im nun folgenden zweiten Band des Romans Bezug genommen wird.
Madame Chauchat reist ab. Settembrini verlässt den Berghof aus finanziellen Gründen. Als
Hans Castorp ihn in seinem neuen Domizil besucht, lernt er dort den Jesuiten und
Kommunisten Naphta kennen, der – im Wettstreit mit Settembrini – zum zweiten Mentor
Castorps wird. Naphta verachtet die Fortschrittsphilosophie Settembrinis und plädiert für
Krieg und Terror. In endlosen Kolloquien verteidigen die beiden Pädagogen ihre
gegensätzlichen Standpunkte und versuchen dabei, Hans Castorp auf ihre jeweilige Seite
zu ziehen.
Hans Castorp vertieft sich in wissenschaftliche Bücher aus dem Bereich der Medizin,
Biologie und Botanik.
Seinem Vetter Joachim verheimlicht er, dass er sich in die
psychoanalytische Behandlung des Seelenzergliederes Dr. Krokowski begeben hat. Joachim
macht seinen lang gehegten Vorsatz wahr: Gegen den erklärten Willen von Hofrat Behrens
verlässt der Kranke das Sanatorium, um in der Heimat beim Militär als Fahnenjunker
anzutreten. Der gesunde Hans Castorp, der sich immer mehr in Gedankenwelten verliert,
bleibt zurück.
Um seine Tage abwechslungsreicher zu gestalten, kauft er sich eine Skiausrüstung. Bei
einer nachmittäglichen Skiwanderung wird er von einem Schneesturm überrascht und
verirrt sich im weißen, wirbelnden Nichts (Th. M. 1986, 509). Erschöpft lässt er sich in den
Schnee sinken und fällt in einen tiefen Traum, in dessen erster Hälfte er die Vision einer
paradiesischen Landschaft mit schönen jungen Menschen hat. Dann jedoch geht der
Traum in ein Horrorszenario über: Zwei hexenartige Frauen zerreißen ein kleines Kind,
fressen es auf und bedrohen den Träumer, als sie ihn erblicken. An dieser Stelle wacht
Hans Castorp auf. Über sein Leben, über Settembrini und Naphta, die er nun als Schwätzer
(Th. M. 1986, 522 f) bezeichnet, sinnierend, denkt er darüber nach, dass alles Interesse für
Tod und Krankheit […]nichts als eine Art von Ausdruck für das am Leben […] sei und gelangt
schließlich zu der grundsätzlichen Erkenntnis: Der Mensch soll um der Güte und Liebe
willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. (Th. M. 1986, 523).
Diese erhebenden Gedanken hat er allerdings am Abend schon wieder vergessen.
Joachim kehrt todkrank zurück und stirbt bald darauf. Clawdia Chauchat kommt in
Begleitung Mynheer Peeperkorns, eines holländischen Kaffeepflanzers aus Java, zurück.
Aus Ehrfurcht vor der beeindruckenden Persönlichkeit dieses Mannes verzichtet Hans
Castorp auf seine Liebe zu Clawdia Chauchat. Der kranke Peeperkorn begeht mit dem Gift
einer exotischen Schlange Selbstmord. Clawdia Chauchat reist erneut ab.
22
Der große Stumpfsinn (Th. M. 1986, 660) breitet sich in der Klinik aus. Hans Castorp, so
heißt es, wußte, was er sah: Das Leben ohne Zeit, das sorg – und hoffnungslose Leben, das
Leben als stagnierende betriebsame Liederlichkeit, das tote Leben. (Th. M. 1986, 664). Aus
diesem Leben rettet ihn eine Neuanschaffung des Hauses, ein Grammophon: Er ist beseelt
von der Fülle des Wohllauts beim Anhören von Opern von Mozart, Bizet, Verdi und Wagner.
Auch Lieder berühren ihn tief, insbesondere Schuberts Kunstlied Der Lindenbaum, das, in
vereinfachter Version, zu dem Volkslied Am Brunnen vor dem Tore geworden ist.
Eine große Gereiztheit greift um sich. Bei einer Schlittenfahrt beleidigen sich Settembrini
und Naphta gegenseitig so sehr, dass Naphta zum Duell auffordert. Weil Settembrini sich
weigert, auf Naphta zu schießen, erschießt dieser sich selbst. Selbst dieses Ereignis bewegt
Hans Castorp nicht dazu, den Berghof zu verlassen.
Der Donnerschlag des Ersten Weltkriegs beendet den siebenjährigen Aufenthalt auf dem
Berghof, den hermetischen Zauber, für den der Entrückte sich aufnahmelustig erwiesen (Th.
M. 1986, 749): […] ein historischer Donnerschlag, mit gedämpftem Respekt zu sagen, der die
Grundfesten der Erde erschütterte, für uns aber der Donnerschlag, der den Zauberberg sprengt
und den Siebenschläfer unsanft vor seine Tore setzt. Verdutzt sitzt er im Grase und reibt sich
die Augen, wie ein Mann, der es trotz mancher Ermahnung versäumt hat, die Presse zu lesen.
(Th. M. 1986, 750 ff).
Im letzten Kapitel ist Hans Castorp Soldat. Mitten im Schlachtgetümmel, unter schwerem
Beschuss dahintaumelnd, singt er das Lied Am Brunnen vor dem Tore. Dann verliert sich
seine Spur.
23
Aufgabenstellung:
Was ist das für ein Erzähler, der uns in den letzten beiden Absätzen des Zauberbergs begegnet?
Diskutieren Sie:
Lebewohl, Hans Castorp, des Lebens treuherziges Sorgenkind! Deine Geschichte ist aus. Zu Ende
haben wir sie erzählt; sie war weder kurzweilig noch langweilig, es war eine hermetische
Geschichte. Wir haben sie erzählt um ihretwillen, nicht deinethalben, denn du warst simpel.
Aber zuletzt war es deine Geschichte; da sie dir zustieß, mußtest du’s irgend wohl hinter den
Ohren haben, und wir verleugnen nicht die pädagogische Neigung, die wir in ihrem Verlaufe
für dich gefaßt und die uns in bestimmen könnte, zart mit der Fingerspitze den Augenwinkel zu
tupfen bei dem Gedanken, daß wir dich weder sehen noch hören werden in Zukunft.
Fahr wohl – du lebest nun oder bleibest! Deine Aussichten sind schlecht; das arge
Tanzvergnügen, worein du gerissen bist, dauert noch manches Sündenjährchen, und wir
möchten nicht hoch wetten, daß du davonkommst. Ehrlich gestanden, lassen wir ziemlich
unbekümmert die Frage offen. Abenteuer im Fleische und im Geiste, die deine Einfachheit
steigerten, ließen dich im Geist überleben, was du im Fleische wohl kaum überleben sollst.
Augenblicke kamen, wo dir aus Tod und Körperunzucht ahnungsvoll und regierungsweise ein
Traum von Liebe erwuchs. Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen
Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?
(Th. M. 1986, 75)
24
6. »Mein Gott, ich sehe!« – Eine Röntgenaufnahme in
Thomas Manns Roman »Der Zauberberg«
Röntgenaufnahme, 1929 © Deutsches Röntgenmuseum Remscheid
Im Schweizer Lungensanastorium Berghof sitzen im Wartezimmer des nie um einen
lockeren Spruch verlegenen Hofrats Behrens drei Patienten: Hans Castorp, sein
schwerkranker Vetter Joachim Ziemßen und die Russin Clawdia Chauchat, in die der
zurückhaltende
Hans
Castorp
verliebt
ist.
Alle
drei
warten
auf
ihren
Untersuchungstermin, bei dem sie geröntgt werden sollen. Der vorliegende Ausschnitt
aus dem Kapitel Mein Gott, ich sehe! schildert das Geschehen im Röntgenraum und
zeigt nebenbei auf sehr anschauliche Weise den Stand der Medizintechnik in den
1920er Jahren.
[Hans Castorp] war zu benommen von dem, was er hinter sich ließ, von den Abenteuern der
letzten zehn Minuten, als daß mit dem Übertritt in den Durchleuchtungsraum auch seine
innere Gegenwart sich sogleich hätte umstellen können. Er sah nichts oder nur sehr
Allgemeines im künstlichen Halblicht. Er hörte Frau Chauchats angenehm verschleierte
Stimme, mit der sie gesagt hatte: Was gibt es denn … Es sind Personen eben noch eingetreten
… Das ist unangenehm …, und dieser Stimmklang schauerte ihm als ein süßer Reiz den Rücken
hinunter. Er sah ihr Knie unter dem Tuchrock sich abbilden, sah an ihrem gebeugten Nacken,
unter dem kurzen rötlichblonden Haar, das dort lose hing, ohne in die Zopffrisur
aufgenommen worden zu sein, die Halswirbel hervortreten, und abermals überlief ihn der
Schauder.
Er sah Hofrat Behrens, abgewandt von den Eintretenden, vor einem Schrank oder
regalförmigen Einbau stehen und eine schwärzliche Platte betrachten, die er mit
ausgestrecktem Arm gegen das matte Deckenlicht hielt. An ihm vorbei gingen sie tiefer in den
25
Raum hinein, überholt von dem Gehilfen, der Vorbereitungen zu ihrer Behandlung und
Abfertigung traf. Es roch eigentümlich hier. Eine Art von abgestandenem Ozon erfüllte die
Atmosphäre. Zwischen den schwarzverhängten Fenstern vorspringend, teilte der Einbau das
Laboratorium in zwei ungleiche Hälften. Man unterschied physikalische Apparate, Hohlgläser,
Schaltbretter, aufrecht ragende Meßinstrumente, aber auch einen kameraartigen Kasten auf
rollbarem Gestell, gläserne Diapositive, die reihenweise in die Wand eingelassen waren, – man
wusste nicht, war man in dem Atelier eines Photographen, einer Dunkelkammer oder einer
Erfinderwerkstatt und technischen Hexenoffizin.
Joachim hatte ohne weiteres begonnen, seinen Oberkörper frei zu machen. Der Gehilfe, ein
jüngerer, gedrungener und rotbäckiger Eingeborener in weißem Kittel, wies Hans Castorp an,
ein gleiches zu tun. Es gehe schnell, er sei sofort an der Reihe … Während Hans Castorp die
Weste auszog, kam Behrens aus dem kleinen Abteil, wo er gestanden, in den geräumigeren
herüber.
Hallo! sagte er. Da sind ja unsere Dioskuren! Castorp und Pollux … Bitte, Wehelaute zu
unterdrücken! Warten Sie nur, gleich werden wir Sie alle beide durchschaut haben. Ich
glaube, Sie haben Angst, uns Ihr Inneres zu eröffnen? Seien Sie ruhig, es geht ganz ästhetisch
zu. Hier, haben Sie meine Privatgalerie schon gesehen? Und er zog Hans Castorp am Arm vor
die Reihen der dunklen Gläser, hinter denen er knipsend Licht einschaltete. Da erhellten sie sich,
zeigten ihre Bilder. Hans Castorp sah Gliedmaßen: Hände, Füße, Kniescheiben, Ober – und
Unterschenkel, Arme und Beckenteile. Aber die rundliche Lebensform dieser Bruchstücke des
Menschenleibes war schemenhaft und dunstig von Kontur; wie ein Nebel und bleicher Schein
umgab sie ungewiß ihren klar, minutiös und entschieden hervortretenden Kern, das Skelett.
Sehr interessant, sagte Hans Castorp.
Das ist allerdings interessant! erwiderte der Hofrat, Nützlicher Anschauungsunterricht für
junge Leute. Lichtanatomie, verstehen Sie, Triumph der Neuzeit. Das ist ein Frauenarm, Sie
ersehen es aus seiner Niedlichkeit. Damit umfangen sie einen beim Schäferstündchen,
verstehen Sie. Und er lachte, wobei seine Oberlippe mit dem gestutzten Schnurrbärtchen sich
einseitig höher schürzte. Die Bilder erloschen. Hans Castorp wandte sich zur Seite, dorthin, wo
Joachims Innenaufnahme sich vorbereitete.
Es geschah vor jenem Einbau, an dessen anderer Seite der Hofrat anfangs gestanden. Joachim
hatte auf einer Art von Schustersessel vor einem Brett Platz genommen, gegen das er die Brust
preßte, wobei er es außerdem mit den Armen umschlang; und mit knetenden Bewegungen
verbesserte der Gehilfe seine Stellung, indem er Joachims Schultern weiter nach vorn drückte,
seinen Rücken massierte. Hierauf begab er sich hinter die Kamera, um, wie irgendein
Photograph, gebückt, breitbeinig, die Ansicht zu prüfen, drückte seine Zufriedenheit aus und
mahnte Joachim, beiseite gehend, tief einzuatmen und, bis alles vorüber, die Luft anzuhalten.
Joachims gerundeter Rücken dehnte sich und blieb stehen. In diesem Augenblick hatte der
Gehilfe am Schaltbrett den nötigen Handgriff getan. Zwei Sekunden lang spielten fürchterliche
Kräfte, deren Aufwand erforderlich war, um die Materie zu durchdringen, Ströme von
Tausenden von Volt, von hunderttausend, Hans Castorp glaubte sich zu erinnern. Kaum zum
Zwecke gebändigt, suchten die Gewalten auf Nebenwegen sich Luft zu machen. Entladungen
knallten wie Schüsse. Es knatterte blau am Meßapparat. Lange Blitze fuhren knisternd die
Wand entlang. Irgendwo blickte ein rotes Licht, einem Auge gleich, still und drohend in den
Raum, und eine Phiole in Joachims Rücken füllte sich grün. Dann beruhigte sich alles; die
Lichterscheinungen verschwanden, und Joachim ließ seufzend den Arm aus. Es war geschehen.
26
Nächster Delinquent! sagte Behrens und stieß Hans Castorp mit dem Ellenbogen. Nur keine
Müdigkeit vorschützen! Sie kriegen ein Freiexemplar, Castorp. Dann können Sie noch
Kindern und Enkelkindern die Geheimnisse Ihres Busens an die Wand projizieren!
Joachim war abgetreten; der Techniker wechselte die Platte. Hofrat Behrens unterwies den
Neuling persönlich, wie er sich zu setzen, zu halten habe. Umarmen! sagte er. Das Brett
umarmen! Stellen Sie sich meinetwegen was anderes darunter vor! Und gut an die Brust
andrücken, als ob Glücksempfindungen damit verbunden wären! Recht so. Einatmen!
Stillgehalten! kommandierte er. Bitte recht freundlich! Hans Castorp wartete blinzelnd, die
Lunge voller Luft. Hinter ihm brach das Gewitter los, knisterte, knatterte, knallte und beruhigte
sich. Das Objektiv hatte in sein Inneres geblickt.
[…]
Sehen Sie, Jüngling? fragte er … Hans Castorp beugte sich über seine Schulter , hob aber noch
einmal den Kopf, dorthin, wo im Dunkel Joachims Augen zu vermuten waren, die sanft und
traurig blicken mochten, wie damals bei der Untersuchung, und fragte:
Du erlaubst doch?
Frischer Primärkomplex © Deutsches Röntgenmuseum Remscheid
Bitte, bitte, antwortete Joachim liberal aus seiner Finsternis. Und beim Schüttern des
Erdbodens, im Knistern und Rumoren der spielenden Kräfte spähte Hans Castorp gebückt
durch das bleiche Fenster, spähte durch Joachim Ziemßens leeres Gebein. Der Brustknochen fiel
mit dem Rückgrat zur dunklen, knorpeligen Säule zusammen. Das vordere Rippengerüst wurde
von dem des Rückens überschnitten, das blasser erschien. Geschwungen zweigten oben die
Schlüsselbeine nach beiden Seiten ab, und in der weichen Lichthülle der Fleischesform zeigten
sich dürr und scharf das Schulterskelett, der Ansatz von Joachims Oberarmknochen. Es war hell
im Brustraum, aber man unterschied ein Geäder, dunkle Flecke, ein schwärzliches Gekräusel.
Klares Bild, sagte der Hofrat. [….] Aber Hans Castorps Aufmerksamkeit war in Anspruch
genommen von etwas Sackartigem, ungestalt Tierischem, dunkel hinter dem Mittelstamme
Sichtbarem, und zwar größerenteils zur Rechten, vom Beschauer aus gesehen, – das sich
gleichmäßig ausdehnte und wieder zusammenzog, ein wenig nach Art einer rudernden Qualle.
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Sehen Sie sein Herz? fragte der Hofrat, indem er abermals die riesige Hand vom Schenkel löste
und mit dem Zeigefinger auf das pulsierende Gehänge wies … Großer Gott, es war das Herz,
Joachims ehrliebendes Herz, was Hans Castorp sah!
Ich sehe dein Herz! sagte er mit gepreßter Stimme.
Bitte, bitte, antwortete Joachim wieder, und wahrscheinlich lächelte er ergeben dort oben im
Dunklen. Aber der Hofrat gebot ihnen zu schweigen und keine Empfindsamkeiten zu tauschen.
Er studierte die Flecke und Linien, das schwarze Gekräusel im inneren Brustraum, während
auch sein Mitspäher nicht müde wurde, Joachims Grabesgestalt und Totenbein zu betrachten,
dies kahle Gerüst und spindeldürre Memento. Andacht und Schrecken erfüllten ihn. Jawohl,
jawohl, ich sehe, sagte er mehrmals. Mein Gott, ich sehe! […]
Aber wenige Minuten später stand er selbst im Gewitter am Pranger, während Joachim, wieder
geschlossenen Leibes, sich ankleidete. Abermals spähte der Hofrat durch die milchige Scheibe,
diesmal in Hans Castorps Inneres, und aus seinen halblauten Äußerungen, abgerissenen
Schimpfereien und Redensarten schien hervorzugehen, daß der Befund seinen Erwartungen
entsprach. Er war dann noch so freundlich, zu erlauben, daß der Patient seine eigene Hand
durch den Leuchtschirm betrachte, da er dringend darum gebeten hatte. Und Hans Castorp sah,
was zu sehen er hatte erwarten müssen, was aber eigentlich dem Menschen zu sehen nicht
bestimmt ist und wovon er auch niemals gedacht hatte, daß es ihm bestimmt sein könne, es zu
sehen: er sah in sein eigenes Grab. Das spätere Geschäft der Verwesung sah er
vorweggenommen durch die Kraft des Lichtes, das Fleisch, worin er wandelte, zersetzt, vertilgt,
zu nichtigem Nebel gelöst, und darin das kleinlich gedrechselte Skelett seiner rechten Hand, um
deren oberes Ringfingerglied sein Siegelring, vom Großvater her ihm vermacht, schwarz und
lose schwebte: ein hartes Ding dieser Erde, womit der Mensch seinen Leib schmückt, der
bestimmt ist, darunter wegzuschmelzen, so daß es frei wird und weiter geht an ein Fleisch, das
es eine Weile wieder tragen kann.
Mit den Augen jener Tienappel’schen Vorfahrin erblickte er einen vertrauten Teil seines
Körpers, durchschauenden, voraussehenden Augen, und zum erstenmal in seinem Leben
verstand er, daß er sterben werde. Dazu machte er ein Gesicht, wie er es zu machen pflegte,
wenn er Musik hörte, – ziemlich dumm, schläfrig und fromm, den Kopf halb offenen Mundes
gegen die Schulter geneigt. (Th. M. 1986, 227 – 233)
Aufgabenstellung:
Hans Castorp, dessen Besuch auf dem Zauberberg, d.h. in dem Lungensanatorium Berghof,
zunächst auf nur drei Wochen, angesetzt ist, bleibt insgesamt sieben Jahre dort, da ihn
Krankheit und Tod zunehmend faszinieren und er nicht den Willen besitzt, sich in seiner
Heimatstadt Hamburg dem tätigen Leben zuzuwenden.
Untersuchen Sie, wie in dem gesamten vorliegenden Ausschnitt aus Thomas Manns Roman
die
Nähe
Hans
Castorps
zu
dem
Thema
Krankheit
und
Tod
deutlich
wird.
28
7.Literatur
Primärliteratur

Mann, Katia, Meine ungeschriebenen Memoiren, Hg. Elisabeth Plessen und Michael Mann,
Frankfurt a.M., 2002

Mann, Thomas, Der Zauberberg, Frankfurt a. M. (1924), in der Fassung der kommentierten
Frankfurter Ausgabe, 2012

Mann, Thomas, Tristan (1903) in: Frühe Erzählungen 1893 – 1912, Frankfurt a. M. 2012

Mann Thomas, Für Studenten der Universität Princeton, (Bermann – Fischer, Stockholm 1929)
in: Thomas Mann, Der Zauberberg, Darmstadt 1967

Mann Thomas, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Frankfurt (seit 2001):
Betrachtungen eines Unpolitischen,
Band 13, 2009
Briefe II 1914 – 1923,
Band 22, 2004
Briefe III 1924 – 1932,
Band 23, 2011
Der Zauberberg,
Band 5, 2002

Mann, Thomas, Tagebücher 1918 – 1921, Hg. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1979, VII

Mann, Thomas, Tagebücher 1953 – 1955, Hg. Inge Jens, Frankfurt a. M. 1995

Pringsheim,Hedwig, Tagebücher 1911 – 1916, Bd.5, Hg. Cristina Herbst, Göttingen 2016
Sekundärliteratur


von Bassewitz, Gero und Tarnowski, Wolfgang, Auf Thomas Manns Spuren, Hamburg 1997
Blödorn, Andreas und Marx, Friedhelm, Hg., Thomas Mann – Handbuch: Leben – Werk –
Wirkung, Stuttgart 2015

Heckner, Nadine und Walter, Michael, Thomas Mann. Der Zauberberg. Textanalyse und
Interpretation, Königs Erläuterungen, Hollfeld, 2014

Heftrich, Eckhard und Wysling, Hans, Thomas Mann Jahrbuch 6, 1993

Heißerer, Dirk, Thomas Manns Zauberberg, Würzburg 2006

Jens, Inge, Frau Thomas Mann. Das Leben der Katja Pringsheim, Hamburg 2004

Jens, Inge und Walter, Katias Mutter, Das außerordentliche Leben der Hedwig Pringsheim,
Hamburg 2007


Lahme, Tilmann, Die Manns. Geschichte einer Familie, Frankfurt a. M., 2015
Langer, Daniela, Thomas Mann. Der Zauberberg. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart
2009

Max, Katrin, Liegekur und Bakterienrausch: Literarische Deutungen der Tuberkulose im
,Zauberberg' und anderswo, Würzburg 2013
Film und Audio
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Geißendörfer, Hans W., Der Zauberberg, 1982, Film, 146 Min.
Benrath, Martin, Fülle des Wohllauts. Ein Kapitel aus dem Zauberberg, 1987, Audio CD (auch
als mp 3)
© Maria von Hartmann 2016
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