Unterrichtsmaterialien Ausstellung
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Maria von Hartmann Unterrichtsmaterialien Ausstellung 16.3. bis 26.6. 2016 Galerie des Literaturhauses Stiftung Buch–, Medien– und Literaturhaus München Salvatorplatz 1 80333 München Tel. 29 19 34 – 14 [email protected] Leitung: Dr. Reinhard G. Wittmann Redaktion: Maria von Hartmann München, den 1.03.2016 Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die vorliegenden Unterrichtsmaterialien erscheinen begleitend zu unserer Ausstellung »Tod und Amüsement. Thomas Mann: Der Zauberberg« Eine Ausstellung des Literaturhauses München. Leitung: Reinhard G. Wittmann Kuratorinnen: Karin Becker & Karolina Kühn, vom 16.3. bis 26.6.2016 Die Materialien zur Vor – und Nachbereitung des Ausstellungsbesuchs umfassen: 1. Thomas Mann – ausgewählte Daten zu Leben und Werk 2. »Ich habe meinem Mann absichtlich kleine Details geschrieben« – Katia Mann über die Entstehung des Romans »Der Zauberberg« 3. »Gestern faßte ich gute Entschlüsse – aus Thomas Manns Tagebüchern 1918 – 1921 4. »Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen …« – Der »Vorsatz« zu Thomas Manns Roman »Der Zauberberg« 5. »Die Mischung von Tod und Amüsement« – Aufbau und Handlung von Thomas Manns Roman »Der Zauberberg« 6. »Mein Gott, ich sehe!« – Eine Röntgenaufnahme in Thomas Manns Roman »Der Zauberberg« 7. Literatur Viel Erfolg mit Ihren Schülerinnen und Schülern, 2 Inhaltsverzeichnis 1. Thomas Mann – ausgewählte Daten zu Leben und Werk 4 2. »Ich habe meinem Mann absichtlich kleine Details geschrieben« – Katia Mann über die Entstehung des Romans »Der Zauberberg« 9 3. »Gestern faßte ich gute Entschlüsse« – aus Thomas Manns Tagebüchern 1918 – 1921 12 4. »Die Geschichte Hans Castorps, die wir 16 erzählen wollen …« – Der »Vorsatz« zu Thomas Manns Roman »Der Zauberberg« 5. »Die Mischung von Tod und Amüsement« – Aufbau und Handlung von Thomas Manns Roman »Der Zauberberg« 19 6. »Mein Gott, ich sehe!« – Eine Röntgenaufnahme in Thomas Manns Roman »Der Zauberberg« 25 7. Literatur 29 3 1. Thomas Mann – ausgewählte Daten zu Leben und Werk Thomas Mann, um 1918 © Monacensia. Literaturarchiv und Bibliothek München, Signatur P/a_1048 1875 6. Juni. Thomas Mann wird als zweiter Sohn des Lübecker Kaufmanns und Finanzsenators Thomas Johann Heinrich Mann und seiner Frau Julia da Silva – Bruhns, der Tochter eines deutschen Brasilienfarmers, geboren. 1891 Tod des Vaters. Das Testament bestimmt, dass wegen der künstlerischen Neigungen der Söhne die Firma zu liquidieren, die Kinder mit »fester Hand« zu erziehen und für Thomas ein »praktischer Beruf« zu finden sei. Die Mutter zieht aus Lübeck nach München. 1894 Nach Erlangung des sog. Einjährigen (Mittlere Reife) am Realschulzweig des Lübecker Katharineums zieht Thomas Mann nach. »Faul, verstockt und voll liederlichen 4 Hohns über das Ganze: so saß ich die Jahre ab, bis man mir den Berechtigungsschein zum einjährigen Militärdienst ausstellte«. 1895 Nach einjähriger »Bürofron« in München will er Journalist werden und besucht »an den Münchener Hochschulen in buntem und unersprießlichem Durcheinander« verschiedenste Vorlesungen. 1897 Neben anderen frühen Erzählungen erscheint die Novelle Der kleine Herr Friedemann, die Thomas Mann als seinen »eigentlichen Durchbruch in der Literatur« bezeichnet. 1898 Der Verleger Samuel Fischer erwirbt die Exklusivrechte für alle vollendeten und zukünftigen Arbeiten. Damit ist der 21 – jährige Thomas Mann als Autor etabliert. In den Folgejahren zieht er in München mehrmals um, seine »Schwabinger Verstecke« wechselnd. 1900 Seine Einberufung als Infanterist endet nach 2 1/2 Monaten wegen Dienstuntauglichkeit. 1901 Sein erster Roman Buddenbrooks. Verfall einer Familie erscheint und wird zum Bestsellererfolg des jungen Autors. 1903 Erscheinen der Künstlernovelle Tonio Kröger. 1905 Thomas Mann heiratet Katia Pringsheim, eine schöne junge Frau aus wohlhabender Münchener Familie, Studentin der Mathematik und Physik. In ihrer Familie, so Katia Mann in Meine ungeschriebenen Memoiren, bezeichnet man Thomas Mann als »leberleidenden Rittmeister«, weil er so blass, schmal und korrekt wirkt (Katia Mann, Meine ungeschriebenen Memoiren, Hg. Elisabeth Plessen und Michael Mann, Frankfurt a. M. 2002, S. 30) Das Paar bekommt sechs Kinder: Erika (1905), Klaus (1906), Golo (1909), Monika (1910), Elisabeth (1918) und Michael (1919). 1910 Beginn der Niederschrift des Romans Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. 1912 Die Novelle Der Tod in Venedig erscheint. Für Thomas Mann ist diese Novelle um den alternden Schriftsteller Gustav Aschenbach eines seiner wichtigsten Werke. Im Mai/Juni 1912 besucht Thomas Mann seine lungenkranke Frau Katia, die sich von März bis September im Waldsanatorium in Davos aufhält. In ihren Memoiren schreibt sie: »Mein Mann hat mich im Sommer 1912 in Davos besucht und war von dem ganzen Milieu so impressioniert, auch von allem, was ich ihm so erzählte, daß er gleich daran dachte, über Davos eine Novelle zu schreiben, quasi als groteskes Nachspiel und Gegenstück zum Tod in 5 Venedig. Aus der geplanten Novelle wurde dann der Zauberberg. Das Werk hatte wieder einmal gewollt.« (Katia Mann 2002: 85). Der fertige Roman wird mehr als 1000 Seiten umfassen. 1913 Inspiriert durch seinen ersten Besuch in Davos beginnt Thomas Mann mit der Arbeit am Zauberberg Im Curhaus Davos Platz © Dokumentationsbibliothek Davos 1914 Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ruft bei Thomas Mann eine anfängliche Kriegsbegeisterung hervor. Dies gilt für viele deutsche Autoren, die den Krieg zunächst als Befreiungsschlag aus der dekadenten Vorkriegszeit um 1900 wahrnehmen. Er unterbricht die Arbeit am Zauberberg. 1915 Anfang 1915 nimmt er die Arbeit wieder auf, beendet diese jedoch bereits im Herbst, um sich einem neuen Projekt, den Betrachtungen eines Unpolitischen, zu widmen. 1914 Die Familie Mann zieht in eine repräsentative Stadtvilla in der Poschingerstraße 1 in München und lebt dort bis 1933. 1918 Die Betrachtungen eines Unpolitischen, die annähernd 600 Seiten umfassen, erscheinen am Ende des Ersten Weltkriegs. Ein nationalistisch eingestellter Thomas Mann rechtfertigt darin die Rolle der Deutschen im Ersten Weltkrieg und attackiert seinen 6 pazifistischen Bruder Heinrich Mann, den er als gefühllosen »Zivilisationsliteraten« bezeichnet. Erst nach dem Krieg wandelt sich Thomas Mann zu einem immer engagierteren Fürsprecher der neuen Demokratie und politischen Gegner der allmählich die Macht übernehmenden Nationalsozialisten. Zutiefst beeindruckt vom Zeitgeschehen – »die letzten Monate des Ersten Weltkriegs, die militärische Niederlage und die aus ihr folgende Novemberrevolution, die Errichtung der Republik von Weimar, die Münchner Räterepublik, der Versailler Friedensvertrag, der Kapp – Putsch, die beginnende Inflation«, (Thomas Mann, Tagebücher 1918 – 1921, Hg. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1979, VII) wendet sich Thomas Mann von den in den Betrachtungen eines Unpolitischen geäußerten Positionen ab. 1922 versöhnen sich die beiden Brüder Heinrich und Thomas Mann. Am Ostermontag 1918, nach vierjähriger Unterbrechung, beginnt Thomas Mann mit der Abschrift und Überarbeitung des alten Manuskripts des Zauberberg. 1924 Am 27. September 1924 beendet Thomas Mann seinen Roman. Der Zauberberg, der Thomas Manns Weltruhm begründet, erscheint bei Fischer und wird in die meisten europäischen Sprachen übersetzt. 1929 In Stockholm erhält Thomas Mann den Nobelpreis für Literatur für den Roman Buddenbrooks. Verfall einer Familie. 1930 Nach dem Stimmenzuwachs für die NSDAP bei der Reichtstagswahl vom 14. Sept. 1930 hält Mann in Berlin die antifaschistische Rede Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft. 1933 Ein Kuraufenthalt in der Schweiz wird ungewollt zum Anfang der Emigrationsjahre. »Zum Schutz von Staat und Volk« lassen die Nazis nach dem Reichstagsbrand mehr als 100.000 NS – Kritiker verhaften. Thomas Manns Vermögen wird beschlagnahmt, sein Haus von der SA durchwühlt. Thomas und Katia Mann lassen sich in der Nähe von Zürich nieder. Am 2. Dez. 1933 werden sie als »Volksschädlinge« aus dem Deutschen Reich ausgebürgert. Beginn der Roman – Tetralogie Joseph und seine Brüder. 1938 Vortragsreise durch die USA. Übersiedlung in die USA. Lehrauftrag an der University of Princeton. 1939 Der Roman Lotte in Weimar erscheint. 1940 – 45 Während des Zweiten Weltkrieges werden über die BBC die monatlichen Ansprachen Thomas Manns, Deutsche Hörer!, nach Deutschland übertragen. 1941 Exiljahre in Pacific Palisades, Kalifornien. 7 1947 Der Roman Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde erscheint. Wegen seiner Kontakte zur sowjetisch besetzten Zone Deutschlands wird Thomas Mann in den USA vor den Unterausschuss des »Kongressausschusses für unamerikanische Aktivitäten« geladen. 1949 Selbstmord des Sohnes Klaus Mann. Erste Europareise Thomas Manns im Goethejahr 1949 anlässlich Goethes 200. Geburtstag. Der Autor hält Festreden nicht nur in der BRD, sondern auch in der DDR.. In den USA hält man ihn für einen Kommunisten. 1952 Thomas und Katia Mann gehen aus dem amerikanischen Exil zurück in die Schweiz in die Nähe von Zürich, nach Kilchberg. Hier ist ihr letztes Domizil. 1954 Der erste Teil des Romans Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull erscheint. Der Roman bleibt Fragment. 1955 Ehrenbürgerschaft der Stadt Lübeck. Thomas Mann stirbt in Zürich am 12. August 1955. 1979 Erscheinen der Tagebücher 1918 – 1921, herausgegeben von Peter de Mendelssohn im S. Fischer Verlag. Liegekur im Schnee, um 1910 © Dokumentationsbibliothek Davos Literatur: Gero von Bassewitz und Wolfgang Tarnowski, Auf Thomas Manns Spuren, Hamburg 1997 Daniela Langer, Thomas Mann. Der Zauberberg. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 2009. 8 2. »Ich habe meinem Mann absichtlich kleine Details geschrieben« – Katia Mann über die Entstehung des Romans »Der Zauberberg« Patientenzimmer im Waldsanatorium © Waldhotel Davos Im Waldsanatorium besuchte Thomas Mann 1912 seine Frau Katia, die sich dort für mehrere Monate in Kur befand. In Katia Manns Lebenserinnerungen, Meine ungeschriebenen Memoiren, von 1974, finden sich viele Hinweise auf die Entstehungsgeschichte von Thomas Manns Roman Der Zauberberg. Auf die Idee, das Porträt der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ausgerechnet in einem Schweizer Lungensanatorium anzusiedeln, war Thomas Mann durch den Aufenthalt seiner Frau im Waldsanatorium in Davos von März bis September 1912 gekommen. Er besuchte sie dort für vier Wochen im Mai – Juni 1912. Zunächst hatte er nur ein kurzes humoristisches Gegenstück zu der gerade erschienenen Erzählung Der Tod in Venedig schreiben wollen, doch im Laufe der Jahre wurden es über 1000 Seiten. 1913 beginnt Thomas Mann mit der Arbeit am Zauberberg. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 legt er die Arbeit nieder, nimmt sie Anfang 1915 wieder auf, um sie bereits im Herbst 1915 erneut zu unterbrechen, da er sich einem neuen Projekt, den Betrachtungen eines Unpolitischen, widmet. Dieses Werk, das annähernd 600 Seiten umfassen, erscheint am Ende des Ersten Weltkriegs. Ein nationalistisch eingestellter Thomas Mann rechtfertigt darin die Rolle der Deutschen in diesem Krieg und attackiert seinen pazifistisch gesonnenen Bruder Heinrich Mann, den er als gefühllosen »Zivilisationsliteraten« bezeichnet. Am Ostermontag 1918 schließlich, nach vierjähriger 9 Unterbrechung, beginnt Thomas Mann mit der Abschrift und Überarbeitung des alten Manuskripts des Zauberberg. Inzwischen hat sich Thomas Manns Einstellung zum Krieg geändert. Erst sechs Jahre später, am 27. September 1924, erscheint der Roman, der Thomas Manns Weltruhm begründet. Die folgenden, chronologisch angeordneten Textauszüge aus Katia Manns Erinnerungen geben einen lebendigen Eindruck von der Entstehung des Romans und der Arbeitsweise Thomas Manns: Mein Mann hat mich im Sommer 1912 in Davos besucht und war von dem ganzen Milieu so impressioniert, auch von allem, was ich ihm so erzählte, daß er gleich daran dachte, über Davos eine Novelle zu schreiben, quasi als groteskes Nachspiel und Gegenstück zum Tod in Venedig. Aus der geplanten Novelle wurde dann der Zauberberg. Das Werk hatte wieder einmal gewollt. (Katia Mann 2002: 85). Nun, er besuchte mich in Davos, und schon seine Ankunft war eigentlich ziemlich genau wie die Ankunft von Hans Castorp. Er stieg auch in Davos – Dorf aus, und ich holte ihn unten ab, genau wie sein Cousin Ziemssen es tut. Dann gingen wir zum Sanatorium hinauf und haben so endlos geschwätzt wie die Vettern. Ich war doch schon monatelang dort und legte los, erzählte hundert Sachen. […] Dann habe ich ihm die verschiedenen Typen gezeigt; ich hatte sie ihm auch geschildert. Er hat sie dann bloß mit Veränderung der Namen verwendet. (86) Ich habe meinem Mann absichtlich kleine Details geschrieben, weil ich wußte, daß er an dem Buch arbeitete. Er hat gleich nach seinem ersten Besuch in Davos damit begonnen, und als ich dann [1913] in Arosa war, hatte er schon eine ganze Menge geschrieben. In den Briefen, die alle verloren sind, standen viele Einzelheiten. Es wäre für Germanisten ein gefundenes Fressen, diese Briefe mit dem Zauberberg zu vergleichen. Das können sie nun nicht, und es macht auch nichts. Die Germanisten vergleichen sowieso viel zu viel. (88 ff) Tatsächlich wahr ist auch, daß Jessen[der Leiter des Waldsanatoriums in Davos] ihn untersucht und gleich gesagt hat: Sie haben da eine Stelle und täten gut daran, ein halbes Jahr mit Ihrer Frau zusammen hierzubleiben. (88) In dieser Hinsicht war er ein absoluter Augenmensch und besaß, was die Aufnahmefähigkeit betrifft, eine absolut Hans Castorpsche Manier [Hans Castorp ist der Held des Romans]. Nur war mein Mann nicht so treuherzig wie dieser, und das Sorgenkind des Lebens [damit ist Hans Castorp gemeint] konnte auch nicht für ihn gelten, aber er hat Hans Castorp viel von sich mitgegeben. Er ist eine ziemlich stark subjektive Figur, nur vereinfacht. […] Hans Castorp war eben seine treuherzige Seite, aber doch sehr bildungsfähig. (91 ff) Wie weit Thomas Mann mit der Arbeit am Zauberberg bis zum Beginn der Betrachtungen gekommen war, könnte ich nicht genau sagen. Im Krieg war er dermaßen von politisch – nationalen Leidenschaften besessen, daß er unmöglich an dem Buche weiterschreiben konnte. Er hat die Betrachtungen eingeschaltet und sich nach dem Krieg mit den zwei Novellen Herr 10 und Hund und Gesang vom Kindchen erst wieder etwas eingeschrieben. 1919 ist er dann zum Zauberberg zurückgekommen. Aber er meinte, es sei sehr gut, daß er die Betrachtungen geschrieben hätte, denn sonst wäre der Zauberberg viel zu sehr politisch belastet und gedanklich befrachtet gewesen, und eine Figur wie Settembrini [der aufklärerische Humanist und Freimaurer, der Hans Castorp ins tätige Leben zurückführen will] hätte er gar nicht hineingebracht. Insofern hatte das Buch den Betrachtungen dankbar zu sein. (93 ff) Sonst hat er nur vormittags gearbeitet. Er konnte nur arbeiten, wenn sein Kopf noch ganz frei war. Sein Tagesablauf war sehr diszipliniert, einfach, und verlief immer gleich. Von neun bis zwölf Uhr ungefähr schrieb er, dann machte er einen Spaziergang, aß zu Mittag, las nachmittags Zeitung, rauchte noch eine Zigarre, ruhte dann. Nach dem Tee ging er nochmals spazieren, las und machte die Vorarbeiten, die Lektüre für seine eigene Produktion und erledigte, was er die Forderung des Tages nannte. Nur die drei Stunden vormittags waren für die produktive Arbeit bestimmt. Er schrieb alles mit der Hand, und wenn er am Tag zwei Seiten schrieb, war das besonders viel. (94) Eigentlich hörte ich bei seinen Vorlesungen alles zum ersten Mal. Er las kapitelweise vor. Hatte er einen größeren Abschnitt fertig, las er ihn mir, später auch den Kindern im Familienkreise vor. Er tat das sehr gerne. Es regte ihn an, es zu hören und die Wirkung zu sehen. (97) Es war schon ein Phänomen mit Thomas Manns Arbeitsweise. Wenn er ein Buch schrieb, so vertiefte er sich ungeheuerlich in seinen jeweiligen Gegenstand und studierte viel und stets noch, während er daran saß. Er verschaffte sich alles Wissenswerte, beschaffte sich eine Menge Material, doch sowie das Buch fertig war, hatte er alles bald wieder vergessen. Er interessierte sich nicht mehr dafür. (161) Aufgabenstellung: 1. (85) Das Werk hatte wieder einmal gewollt. Wie verstehen Sie diesen Satz? 2. (91ff) Wie sieht Katja Mann die Beziehung ihres Mannes zu dem Protagonisten seines Romans, Hans Castorp? 3. (93ff) Wie schätzt Katja Mann die Tatsache ein, dass Thomas Mann seine Arbeit am Zauberberg über Jahre unterbrach, um die Betrachtungen eines Unpolitischen zu schreiben? 4. (94) (97) (161) Thomas Mann hat sich einer Methode bedient, die man später als höhere Form des Abschreibens bei Thomas Mann bezeichnet hat: Er hat ganze Passagen aus anderen Büchern, wie z.B. wissenschaftlichen Werken und Lexika übernommen. Entdecken Sie diesbezügliche Andeutungen Katia Manns? 11 3. »Gestern faßte ich gute Entschlüsse« – aus Thomas Manns Tagebüchern 1918 – 1921 Röntgenaufnahme zweier Hände © Deutsches Röntgenmuseum Remscheid Peter de Mendelssohn, der 1979 die Tagebücher 1918 – 1921 des 1955 gestorbenen Thomas Mann herausgibt, führt in seinen Vorbemerkungen aus, dass der im amerikanischen Exil lebende Thomas Mann am 21. Mai 1945 im Garten seines kalifornischen Hauses fast alle seiner alten Tagebücher aus den Jahren vor 1933 verbrannt habe. Nur die vier Hefte von 1918 – 1921, beginnend am 11. September 1918 und endend am 1. Dezember 1921, habe er davon ausgenommen, wohl um sie als Material für den Roman Doktor Faustus verwenden zu können: »Es sind vier dicke Schulhefte in festem schwarzen Einband, ein jedes von etwa zweihundert Seiten Umfang. Alle vier sind in München geschrieben.« (Peter de Mendelssohn, Thomas Mann.Tagebücher 1918 – 1921 , Frankfurt a. M. 1979, V ff). Die Arbeit am Roman Der Zauberberg, dessen Ursprung schon im Jahr 1912 liegt, hat Thomas Mann auf Grund des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs und seiner anschließenden Beschäftigung mit dem Werk Betrachtungen eines Unpolitischen mehrfach unterbrochen. Im Jahre 1918 nahm er den Zauberberg wieder auf. Die folgenden Auszüge aus seinen Tagebüchern 1918 – 1921 verdeutlichen den Prozess der Wiederannäherung an das alte Manuskript und zeigen Thomas Manns Arbeitsweise und Stimmungsschwankungen bei diesem komplexen Werk: 12 1918 Seit vorgestern von Tegernsee zurück. […] Werde Herr und Hund beenden, dann, ohne für die 100. Auflage von Buddenbrooks ein Vorwort schreiben zu müssen, zur Beschäftigung mit dem Zauberberg übergehen. 11. September 1918 (3) Nach der Lektüre eines Buches über Nietzsche überfällt Thomas Mann auf dem Mittagsspaziergang eine Art Todeswehmut. Er sieht die thematischen Zusammenhänge der zukünftigen Arbeiten, mit der Sphäre, die mich beim Lesen umgibt: die Todesromantik plus Lebensja im Zauberberg […]. 14. September 1918 (5) Auch an den Zauberberg dachte ich wieder u. das Problem des Schlusses. [.…] – Paginierte das Schlußkapitel. Das Manuskript hat 115 Seiten bekommen. Ob der Umfang erlaubt war? 14. Oktober 1918 (33) Gestern faßte ich gute Entschlüsse betr. den neuen Anfang des Zauberberg. 29. Dezember 1918 (119) 1919 In diesem Tagen neue Lust zum Zauberberg, dessen Anfang ich ändern will. Das 1. Kapitel ist in das 2. hineinzukomponieren. Weiß auch, wie das Ganze erzählerisch anzugreifen u. in die Zeit zu stellen. 5. Januar 1919 (126) Wir leben schnell. […] Der Zauberberg wird am Ende, wenn er fertig ist, schon abermals wieder nicht zeitgemäß sein. 13. Januar 1919 (135) Ich begann nach 4jähriger Unterbrechung wieder am Zauberberg zu schreiben, d.h. ich fing das 1. Kapitel mit neuer Einleitung und in der Absicht, es um die Figur des Großvaters Castorp zu erweitern, unter dem Titel Die Taufschale wieder an und werde wahrscheinlich alles Fixierte auf dem guten Papier, an das ich durch das Mt [Manuskript] der Betrachtungen gewöhnt bin, neu schreiben, zumal es an vielen Orten zu bessern ist. Die neue Einleitung schlägt das Zeit – Thema erstmalig an. 20. April 1919 (205) Schrieb etwas am Großvater Castorp. Habe kein rechtes Vorbild, kein Gesicht, kann mich zu keiner Barttracht entschließen. Möchte das Kinn für die Halsbinde frei haben, andererseits ist Backenbart zu jovial. Also ganz rasiert, was aber nicht landesüblich sein dürfte. 28. April 1919 (214) Erörterungen über Vorzüge u. Schwächen des [1.] Kapitels und den Charakter des Ganzen als entschiedener Novelle mit Romanbreite, sodaß als Auskunft nur die Bezeichnung Erzählung am Platz. 30. April 1919 (217) 5 Uhr Prinzregententheater: Parsifal [Oper von Richard Wagner], mit Bertram und Glöckner, centrale Plätze. Sehr starker Eindruck: Rührung, Bewunderung und das gewohnte interessierte Mißtrauen. Nie war ein Kunstwerk so sehr naives Künstlerwerk, Produkt aus sakralem Willen, schlimmer Wollust und sicherstem Können, das als Weisheit wirkt. Die Krankheitssphäre: Rettungslos zu Hause fühlte ich mich darin, sagte ich zu Bertram. Worauf wir beide wie aus einem Munde: Es ist eben der Zauberberg. 19. September 1919 (303 ff) 13 Beendete das IV. Kapitel des Zbg. Mit der Untersuchungsscene und Castorps Aufnahme. Las nach dem Thee und nach dem Abendessen K. [Katia Mann] alles neu Geschriebene vor. Problematisch in künstlerischer Beziehung die Lehren Settembrini’s. Sie sind es aber auch in geistiger Hinsicht, weil sie, obgleich nicht ernst genommen, das sittlich einzig Positive und dem Todeslaster Entgegenstehende sind. Andrerseits beruht die geistige Komik des Romans auf diesem Gegensatz von Fleischesmystik und politischer Tugend. 14. November 1919 (319 ff) 1920 Thomas Mann kehrt von einem Aufenthalt in Feldafing und Polling zurück: Der Clou des Aufenthalts: sein vorzügliches Grammophon, das ich allein und mit K. und Richter beständig spielen ließ. Die Tannhäuser Ouvertüre, Bohême. Aida – Finale (italienischer Liebestod). [.…] Neues Motiv für den Zbg., gedanklich und rein episch ein Fund. 10. Februar 1920 (375) Schrieb eine Seite. Ging in der Pelzjacke 1 1 /2 Stunden spazieren u. las nach Tisch Hauffs Zwerg Nase mit Vergnügen und Interesse. Nach dem Thee allerlei Chemisch – Medizinisches studiert und excerpiert. 23. Februar 1920 (384) Fuhr fort, physiologische Notizen für den Zbg. zu machen. Ging spazieren. Nach Tische auf dem Balcon etwas geruht. Dann ins Krankenhaus links der Isar (Ziemßenstraße), wo ich zu Boehm geführt wurde, den ich von einer Gesellschaft bei Ceconi kannte. Wurde mit einem weißen, klinischen Kittel gekleidet und so ins Röntgen – Laboratorium geführt, wo ich zusah, wie ein Assistenz – Arzt mit seinem Gehilfen mehrere Lungen – und eine Kniegelenk – Aufnahme bei Männern und Frauen machte. Auch eine Reihe von photographischen Platten (kranke Lungen u. ein Magengeschwür) zeigte mir der Doktor. Ließ mich das Skelett meiner Hand sehen. 24. Februar 1920 (385) Las nachmittags und abends allerhand Interessantes und Erregendes: […] eine erkenntnistheoretische Kritik der Einstein’schen Theorie […], worin das Problem der Zeit, deren heutige Urgenz ich bei der Conception des Zbg, wie die politischen Antithesen des Krieges, anticipierte. Die Genugtuung über meine seismographische Empfindlichkeit von damals in mehr als einer Beziehung wird beeinträchtigt und aufgehoben durch die immer und in jeder Hinsicht sich bestätigende Einsicht davon u. den Kummer darüber, daß der Roman [….] anno 14 hätte fertig sein müssen. Sein Verdienstliches ist größtenteils überholt worden durch unnatürlich rapiden Ablauf der Ereignisse. 3. März 1920 (390) Der Zbg. wird das Sinnlichste sein, was ich geschrieben haben werde, aber von kühlem Styl. 12. März 1920 (396) Schlechter Stimmung, kam mit der Arbeit keinen Schritt vorwärts. Verhangen, trostlos. Das Ganze unmöglich. Das zuletzt Geschriebene ist umzuarbeiten. Keine Lust am Gedanken und keine Fähigkeit dazu. Gelähmt. 5. Mai 1920 (431) Nach einer Tanzaufführung russischer Tänzerinnen bei Kurt Wolff in der Luisenstraße lernt Thomas Mann das Vorbild für Mme Chauchat kennen: Machte zum Schluß noch flüchtig die Bekanntschaft der mich am meisten interessierenden Tänzerin mit schiefen Augen […]. Sie hatte K.‘s Mutter viel von dem Moskauer Elend erzählt, dem sie mühsam entkommen. Eine gute Mme Chauchat. 17. Juni 1920 (448) 14 Gestern waren noch einmal Litzmanns zum Abendessen da. Es gab wieder eine lange Zbg. – Vorlesung, das III. Kapitel zu Ende. Es wurde spät. […] Ich zog, aus der Stadt zurückgekehrt, den neuen Kalender auf. Es schien doch ziemlich lange her seit dem letzten Mal. Ein Jahr ist immerhin lang. 1921 wird, so oder so, die Beendigung des Zbg. und manche andere Spur meines Lebens bringen. 31. Dezember 1920 (476) 1921 In den Anmerkungen zu den Tagebüchern heißt es: Vom 16. Januar bis zum 3. Februar reist Thomas Mann durch die Schweiz und dort auch ein zweites Mal nach Davos. Er ist dabei Ganz Auge, – wie in all den Tagen. (482 ff) Heute bei Zeiten auf und Beschäftigung mit den Davoser Notizen. 7. Februar 1921 (483) In der vergangenen Woche, über der schönes Spätwinterwetter war, (ich lag nachmittags meistens auf dem Balcon) fuhr ich fort am Zbg. zu schreiben (Sportfeste und Schatzalp) […]. Im Roman kommt immer alles darauf an, das Geistige gegenwärtig zu halten, die feinen Fäden und Motive festzuhalten, kurz, nichts zu vergessen, was angesponnen. 1. März 1921 (487) Schlimm, wie flau, gelangweilt, unerfinderisch ich dem Zbg. gegenüber stehe, um nicht zu sagen völlig mutlos. 19. April 1921 (507) Das Liebesgespräch zwischen Hans Castorp und Clawdia Chauchat, das am Ende des 5. Kapitels des Romans steht, findet auf Französisch statt: Angeregt an dem franz. Dialog fortgeschrieben. Er hat sich jetzt ziemlich bis zum Ende ergeben und erscheint mir merkwürdig. Aber früher gibt es schwache Episoden! 28. April 1921 (511) Gegen 8 auf und nach dem Frühstück im Eßzimmer, wo geheizt, ein Stück an dem franz. Gespräch mit Hülfe des Wörterbuchs weiter geschrieben. [… ] Die Beziehung zu H.C. [Hans Castorp] fesselt mich. 4. Mai 1921 (513 ff) Abends bei der Lektüre von Bielschowsky’s Kapitel über Goethe als Naturforscher wurden mir Sinn und Idee des Zbg. recht klar. Er ist […] auf seine parodistische Art ein humanistisch – goethischer Bildungsroman, und H.C. besitzt sogar Züge von W. Meister, wie mein Verhältnis zu ihm dem Goethe’s zu seinem Helden ähnelt, den er mit zärtlicher Rührung einen armen Hund nennt. 15. Juni 1921 (531) Aufgabenstellung: 1. Was erfahren Sie aus diesen Tagebuchnotizen über Thomas Manns Arbeitsweise? Nennen Sie verschiedene Aspekte. 2. Wie stellen Sie sich den Menschen Thomas Mann vor? 15 4. »Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen« – Der »Vorsatz« zu Thomas Manns Roman »Der Zauberberg« Sanatorium Valbella, um 1915 © Dokumentationsbibliothek Davos Dieses Sanatorium war in seinem äußeren Erscheinungsbild Vorlage für das Sanatorium Berghof im Roman. Mit seinem 1924 erschienenen Roman Der Zauberberg erlangte Thomas Mann Weltruhm. Schon 1912 hatte er mit den Vorarbeiten begonnen und schrieb die ersten Kapitel zu seinem Werk, das zunächst als humorvolles kurzes Gegenstück zu dem vorher erschienenen Tod in Venedig gedacht war. 1915, kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs, brach Thomas Mann die Arbeit ab, um sich in den Betrachtungen eines Unpolitischen dem Zeitgeschehen zu widmen. Erst 1919, als der Krieg vorbei war und Thomas Mann zu neuen politischen Einsichten gelangt war, griff er den Zauberberg wieder auf, überarbeitete das alte Manuskript und schrieb es fort, bis es 1924 als über tausend Seiten umfassender Roman erscheinen konnte. In seinem Vorwort, dem sog. Vorsatz zur Erstausgabe von 1924, richtet sich der Erzähler an den Leser. Wir erfahren etwas über den Helden des Romans, Hans Castorp, über die Zeit, in der der Roman spielt, über das Phänomen der Zeit an sich, über märchenhafte Züge des Romans und darüber, dass der Zauberberg in aller Ausführlichkeit erzählt werden wird – der Leser ist also gewarnt, auf was er sich einlässt, und neugierig gemacht zugleich. 16 Vorsatz Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen, – nicht um seinetwillen (denn der Leser wird einen einfachen, wenn auch ansprechenden jungen Menschen in ihm kennenlernen), sondern um der Geschichte willen, die uns in hohem Grade erzählenswert scheint (wobei zu Hans Castorps Gunsten denn doch erinnert werden sollte, daß es seine Geschichte ist, und daß nicht jedem jede Geschichte passiert): diese Geschichte ist sehr lange her, sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen. Das wäre kein Nachteil für eine Geschichte, sondern eher ein Vorteil; denn Geschichten müssen vergangen sein, und je vergangener, könnte man sagen, desto besser für sie in ihrer Eigenschaft als Geschichten und für den Erzähler, den raunenden Beschwörer des Imperfekts. Es steht jedoch so mit ihr, wie es heute auch mit den Menschen und unter diesen nicht zum wenigsten mit den Geschichtenerzählern steht: sie ist viel älter als ihre Jahre, ihre Betagtheit ist nicht nach Tagen, das Alter, das auf ihr liegt, nicht nach Sonnenumläufen zu berechnen; mit einem Worte: sie verdankt den Grad ihres Vergangenseins nicht eigentlich der Zeit, – eine Aussage, womit auf die Fragwürdigkeit und eigentümliche Zwienatur dieses geheimnisvollen Elementes im Vorbeigehen angespielt und hingewiesen sei. Um aber einen klaren Sachverhalt nicht künstlich zu verdunkeln: die hochgradige Verflossenheit unserer Geschichte rührt daher, daß sie vor einer gewissen, Leben und Bewußtsein tief zerklüftenden Wende und Grenze spielt … Sie spielt, oder, um jedes Präsens geflissentlich zu vermeiden, sie spielte und hat gespielt, vormals, ehedem, in den alten Tagen, der Welt vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat. Vorher also spielt sie, wenn auch nicht lange vorher. Aber ist der Vergangenheitscharakter einer Geschichte nicht desto tiefer, vollkommener und märchenhafter, je dichter »vorher« sie spielt? Zudem könnte es sein, daß die unsrige mit dem Märchen auch sonst, ihrer inneren Natur nach, das eine und andre zu schaffen hat. Wir werden ausführlich erzählen, genau und gründlich, – denn wann wäre je die Kurz – oder Langweiligkeit einer Geschichte unabhängig gewesen von dem Zeit und Raum, die sie in Anspruch nahm? Ohne Furcht vor dem Odium der Peinlichkeit, neigen wir vielmehr der Ansicht zu, daß nur das Gründliche wahrhaft unterhaltend sei. Im Handumdrehen also wird der Erzähler mit Hansens Geschichte nicht fertig werden. Die sieben Tage einer Woche werden dazu nicht reichen und auch sieben Monate nicht. Am besten ist es, er macht sich im voraus nicht klar, wieviel Erdenzeit verstreichen wird, während sie ihn umsponnen hält. Es werden, in Gottes Namen, ja nicht geradezu sieben Jahre sein! Und somit fangen wir an. (Th. M. 1986, 5-6) 17 Aufgabenstellung: 1. 2. Welche Haltung nimmt der Erzähler gegenüber Hans Castorp ein? Der Erzähler spricht von der hochgradige[n] Verflossenheit unserer Geschichte – was ist damit gemeint? 3. Im letzten Absatz spielt der Erzähler auf die Zeitstruktur des Romans an. Ursprünglich will sich Hans Castorp nur drei Wochen in dem Lungensanatorium Berghof aufhalten, bleibt dann aber sieben Jahre. Der Roman hat insgesamt sieben Kapitel: Die ersten fünf Kapitel, die den ersten Band des Romans bilden, umfassen nur die ersten sieben Monate seines Aufenthalts, der zweite Band mit dem sechsten und siebten Kapitel dagegen die ganzen restlichen Jahre. Wie ist also der letzte Absatz zu verstehen? Sie kennen die Zahl sieben aus den Volksmärchen und den Kunstmärchen der Romantik. Können Sie Beispiele nennen? 18 5. »Die Mischung von Tod und Amüsement« – Aufbau und Handlung von Thomas Manns Roman »Der Zauberberg« Liegekur, 1906 © Dokumentationsbibliothek Davos Band I 1. Kapitel 2. Kapitel Ankunft/ Nr. 34/ Im Restaurant Von der Taufschale und vom Großvater in zwiefacher Gestalt/ Bei Tienappels. Und von Hans Castorps sittlichem Befinden 3. Kapitel Ehrbare Verfinsterung/ Frühstück/ Neckerei. Viatikum. Unterbrochene Heiterkeit/ Satana/ Gedankenschärfe/ Ein Wort zuviel/ Natürlich, ein Frauenzimmer!/ Herr Albin/ Satana macht ehrrührige Vorschläge 4. Kapitel Notwendiger Einkauf/ Exkurs über den Zeitsinn/ Er versucht sich in französischer Konversation/ Politisch verdächtig!/ Hippe/ Analyse/ Zweifel und Erwägungen/ Tischgespräche/Aufsteigende Angst. Von beiden Großvätern und der Kahnfahrt im Zwielicht/ Das Thermometer 5. Kapitel Ewigkeitssuppe und plötzliche Klarheit/ »Mein Gott, ich sehe!«/ Freiheit/ Launen des Merkur/ Enzyklopädie/ Humaniora/ Forschungen/ Totentanz/ Walpurgisnacht Band II 6. Kapitel Veränderungen/ Noch jemand/ Vom Gottesstaat und von übler Erlösung/ Jähzorn. Und noch etwas ganz Peinliches/ Abgewiesener Angriff/ Operationes spirituales/ Schnee/ Als Soldat und brav 7. Kapitel Strandspaziergang/ Mynheer Peeperkorn/ Vingt et un/ Mynheer Peeperkorn (des weiteren)/ Mynheer Peeperkorn (Schluß)/ Der große Stumpfsinn/ Fülle des Wohllauts/ Fragwürdigstes/ Die große Gereiztheit/ Der Donnerschlag 19 Handlung Der Roman schildert die Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Eine internationale mondäne Gesellschaft von Lungenkranken verbringt ihre Zeit in einem Schweizer Sanatorium. Als am Schluss des Romans der Krieg ausbricht, zerstiebt die Gesellschaft in alle Winde. Der Held des Romans, Hans Castorp, ist einer der Gäste des Sanatoriums. So beginnt der Roman: Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos – Platz im Graubündischen. Er fuhr auf Besuch für drei Wochen. (Th. M. 1986, 7) Hans Castorp, 24 Jahre alt, aus wohlhabender Hamburger Kaufmannsfamilie, hat gerade sein Studium zum Schiffsbauingenieur beendet. Er ist dabei, ein Praktikum bei der Hamburger Schiffswerft Tunder & Wilms anzutreten, doch da der zarte junge Mann auf seinen Hausarzt sehr angegriffen wirkt, empfiehlt dieser einen Luftwechsel. So fährt Hans Castorp mit dem Zug nach Davos – einerseits, um dort seinen schwerkranken Vetter Joachim Ziemßen zu besuchen, andererseits, um sich selbst von den Strapazen seines Examens zu erholen. Das Leben hier oben, wie Joachim es nennt, übt sofort seine Faszination auf Hans Castorp aus. Das Lungensanatorium Berghof wartet mit einer Mischung von Tod und Amüsement (Th. M. 1939, IV) auf: Hans Castorp begegnet exzentrischen Ärzten mit grotesken Behandlungsmethoden (Hofrat Behrens und Doktor Krokowski) und einem Panoptikum an Kranken, die zum Teil, soweit sie in der Lage dazu sind, ihren letzten Lebensmonaten noch so etwas wie Spaß abgewinnen wollen. Davoser Kurkapelle um 1903 © Dokumentationsbibliothek Davos 20 Eine der Kranken – für die er zunächst nichts als Verachtung empfindet, weil sie bei ihrem Eintreten in den Speisesaal jedes Mal auf rücksichtslose Weise, mit Schmettern und Klirren (Th. M. 1986, 50), die gläserne Tür zuwirft – ist Clawdia Chauchat, eine verheiratete Russin um die Dreißig. Eine heiße Katze ist sie, un chaud chat, mit Klauen, claws, bewehrt, mit grünen, schräg gestellten Augen und hohen Wangenknochen. In diese Frau, die ihn an seine Jugendliebe, seinen Schulkameraden Pribislav Hippe, erinnert, verliebt er sich mit einem Gefühl von wüster Süßigkeit (Th. M. 1986, 98). Obwohl ein weiterer Sanatoriumsgast, der Literat Settembrini, Hans Castorp dazu bewegen will, sich wieder dem tätigen Leben in seiner Heimat zuzuwenden und ihn zur sofortigen Abreise drängt, zieht es den jungen Mann immer mehr in die morbide Atmosphäre des Hauses hinein. Begeistert legt er sich auf horizontale Art (Th. M., 1986, 91) in den bequemen Liegestuhl, der für die Patienten auf ihren Balkons bereit steht, und nimmt mit Hingabe an den mehrstündigen Liegekuren teil. Tod und Krankheit faszinieren ihn in zunehmendem Maße, und er entwickelt Ideen und Gedanken, von denen er sich in der Welt, die immer ironisch als das Flachland bezeichnet wird, nie etwas hätte träumen lassen (Th. M., 1939, VIII). Als Hans Castorp sich zu der Aussage, Man denkt, ein dummer Mensch muß gesund und gewöhnlich sein, und Krankheit muß den Menschen fein und klug und besonders machen. (Th. M. 1986, 103), versteigt, attackiert ihn Settembrini, der sich inzwischen zu seinem Mentor gemacht hat, scharf. Er lehnt Hans Castorps Sympathie für Krankheit und Tod ab. Doch für diesen sind die Würfel gefallen: Eine Erkältung als Vorwand nutzend, entscheidet er sich, weiterhin auf dem Berghof zu bleiben. Immer weiter entfernt er sich gedanklich vom Flachland und verliert das Gefühl für die Zeit und das Leben außerhalb des Berghofs. Joachims Statement, Man ändert hier oben seine Begriffe (Th. M. 1986, 11), trifft nun auch für Hans Castorp zu. Nach sieben Wochen Aufenthalts auf dem Berghof stellt Hofrat Behrens bei einer Röntgenaufnahme für einen Fleck in Hans Castorps Lunge fest – den entscheidungsschwachen jungen Mann das willkommene Signal, auf unbestimmte Zeit dort oben bleiben zu können. Sieben Monate nach Hans Castorps Ankunft vergnügt sich die ganze Belegschaft bei einem Faschingsfest, bei dem es hoch hergeht. Hofrat Behrens erfreut die alkoholisierten Gäste mit einem merkwürdigen Kunststück: Mit geschlossenen Augen zeichnet er ein Schweinchen. Alle wollen es ihm nun gleich tun, auch Hans Castorp, der, weil es keinen Bleistift mehr gibt, die angebetete Clawdia Chauchat um einen solchen bittet – so wie er einst seinen Schulkameraden Pribislav Hippe um einen Stift gebeten hat. Als sie zu späterer Stunde allein im Salon sind, erklärt Hans Castorp Clawdia Chauchat auf Französisch seine Liebe. Nachdem sie ihn darüber informiert hat, dass sie am nächsten 21 Tage abreisen werde, verlässt sie mit den Worten N’oubliez pas de me rendre mon crayon. [Vergessen Sie nicht, mir meinen Stift wieder zu geben.] (Th. M. 1986, 363) den Salon. Dies ist die Aufforderung zu einer Liebesnacht, deren Schilderung zwar ausgespart wird, auf die aber im nun folgenden zweiten Band des Romans Bezug genommen wird. Madame Chauchat reist ab. Settembrini verlässt den Berghof aus finanziellen Gründen. Als Hans Castorp ihn in seinem neuen Domizil besucht, lernt er dort den Jesuiten und Kommunisten Naphta kennen, der – im Wettstreit mit Settembrini – zum zweiten Mentor Castorps wird. Naphta verachtet die Fortschrittsphilosophie Settembrinis und plädiert für Krieg und Terror. In endlosen Kolloquien verteidigen die beiden Pädagogen ihre gegensätzlichen Standpunkte und versuchen dabei, Hans Castorp auf ihre jeweilige Seite zu ziehen. Hans Castorp vertieft sich in wissenschaftliche Bücher aus dem Bereich der Medizin, Biologie und Botanik. Seinem Vetter Joachim verheimlicht er, dass er sich in die psychoanalytische Behandlung des Seelenzergliederes Dr. Krokowski begeben hat. Joachim macht seinen lang gehegten Vorsatz wahr: Gegen den erklärten Willen von Hofrat Behrens verlässt der Kranke das Sanatorium, um in der Heimat beim Militär als Fahnenjunker anzutreten. Der gesunde Hans Castorp, der sich immer mehr in Gedankenwelten verliert, bleibt zurück. Um seine Tage abwechslungsreicher zu gestalten, kauft er sich eine Skiausrüstung. Bei einer nachmittäglichen Skiwanderung wird er von einem Schneesturm überrascht und verirrt sich im weißen, wirbelnden Nichts (Th. M. 1986, 509). Erschöpft lässt er sich in den Schnee sinken und fällt in einen tiefen Traum, in dessen erster Hälfte er die Vision einer paradiesischen Landschaft mit schönen jungen Menschen hat. Dann jedoch geht der Traum in ein Horrorszenario über: Zwei hexenartige Frauen zerreißen ein kleines Kind, fressen es auf und bedrohen den Träumer, als sie ihn erblicken. An dieser Stelle wacht Hans Castorp auf. Über sein Leben, über Settembrini und Naphta, die er nun als Schwätzer (Th. M. 1986, 522 f) bezeichnet, sinnierend, denkt er darüber nach, dass alles Interesse für Tod und Krankheit […]nichts als eine Art von Ausdruck für das am Leben […] sei und gelangt schließlich zu der grundsätzlichen Erkenntnis: Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. (Th. M. 1986, 523). Diese erhebenden Gedanken hat er allerdings am Abend schon wieder vergessen. Joachim kehrt todkrank zurück und stirbt bald darauf. Clawdia Chauchat kommt in Begleitung Mynheer Peeperkorns, eines holländischen Kaffeepflanzers aus Java, zurück. Aus Ehrfurcht vor der beeindruckenden Persönlichkeit dieses Mannes verzichtet Hans Castorp auf seine Liebe zu Clawdia Chauchat. Der kranke Peeperkorn begeht mit dem Gift einer exotischen Schlange Selbstmord. Clawdia Chauchat reist erneut ab. 22 Der große Stumpfsinn (Th. M. 1986, 660) breitet sich in der Klinik aus. Hans Castorp, so heißt es, wußte, was er sah: Das Leben ohne Zeit, das sorg – und hoffnungslose Leben, das Leben als stagnierende betriebsame Liederlichkeit, das tote Leben. (Th. M. 1986, 664). Aus diesem Leben rettet ihn eine Neuanschaffung des Hauses, ein Grammophon: Er ist beseelt von der Fülle des Wohllauts beim Anhören von Opern von Mozart, Bizet, Verdi und Wagner. Auch Lieder berühren ihn tief, insbesondere Schuberts Kunstlied Der Lindenbaum, das, in vereinfachter Version, zu dem Volkslied Am Brunnen vor dem Tore geworden ist. Eine große Gereiztheit greift um sich. Bei einer Schlittenfahrt beleidigen sich Settembrini und Naphta gegenseitig so sehr, dass Naphta zum Duell auffordert. Weil Settembrini sich weigert, auf Naphta zu schießen, erschießt dieser sich selbst. Selbst dieses Ereignis bewegt Hans Castorp nicht dazu, den Berghof zu verlassen. Der Donnerschlag des Ersten Weltkriegs beendet den siebenjährigen Aufenthalt auf dem Berghof, den hermetischen Zauber, für den der Entrückte sich aufnahmelustig erwiesen (Th. M. 1986, 749): […] ein historischer Donnerschlag, mit gedämpftem Respekt zu sagen, der die Grundfesten der Erde erschütterte, für uns aber der Donnerschlag, der den Zauberberg sprengt und den Siebenschläfer unsanft vor seine Tore setzt. Verdutzt sitzt er im Grase und reibt sich die Augen, wie ein Mann, der es trotz mancher Ermahnung versäumt hat, die Presse zu lesen. (Th. M. 1986, 750 ff). Im letzten Kapitel ist Hans Castorp Soldat. Mitten im Schlachtgetümmel, unter schwerem Beschuss dahintaumelnd, singt er das Lied Am Brunnen vor dem Tore. Dann verliert sich seine Spur. 23 Aufgabenstellung: Was ist das für ein Erzähler, der uns in den letzten beiden Absätzen des Zauberbergs begegnet? Diskutieren Sie: Lebewohl, Hans Castorp, des Lebens treuherziges Sorgenkind! Deine Geschichte ist aus. Zu Ende haben wir sie erzählt; sie war weder kurzweilig noch langweilig, es war eine hermetische Geschichte. Wir haben sie erzählt um ihretwillen, nicht deinethalben, denn du warst simpel. Aber zuletzt war es deine Geschichte; da sie dir zustieß, mußtest du’s irgend wohl hinter den Ohren haben, und wir verleugnen nicht die pädagogische Neigung, die wir in ihrem Verlaufe für dich gefaßt und die uns in bestimmen könnte, zart mit der Fingerspitze den Augenwinkel zu tupfen bei dem Gedanken, daß wir dich weder sehen noch hören werden in Zukunft. Fahr wohl – du lebest nun oder bleibest! Deine Aussichten sind schlecht; das arge Tanzvergnügen, worein du gerissen bist, dauert noch manches Sündenjährchen, und wir möchten nicht hoch wetten, daß du davonkommst. Ehrlich gestanden, lassen wir ziemlich unbekümmert die Frage offen. Abenteuer im Fleische und im Geiste, die deine Einfachheit steigerten, ließen dich im Geist überleben, was du im Fleische wohl kaum überleben sollst. Augenblicke kamen, wo dir aus Tod und Körperunzucht ahnungsvoll und regierungsweise ein Traum von Liebe erwuchs. Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen? (Th. M. 1986, 75) 24 6. »Mein Gott, ich sehe!« – Eine Röntgenaufnahme in Thomas Manns Roman »Der Zauberberg« Röntgenaufnahme, 1929 © Deutsches Röntgenmuseum Remscheid Im Schweizer Lungensanastorium Berghof sitzen im Wartezimmer des nie um einen lockeren Spruch verlegenen Hofrats Behrens drei Patienten: Hans Castorp, sein schwerkranker Vetter Joachim Ziemßen und die Russin Clawdia Chauchat, in die der zurückhaltende Hans Castorp verliebt ist. Alle drei warten auf ihren Untersuchungstermin, bei dem sie geröntgt werden sollen. Der vorliegende Ausschnitt aus dem Kapitel Mein Gott, ich sehe! schildert das Geschehen im Röntgenraum und zeigt nebenbei auf sehr anschauliche Weise den Stand der Medizintechnik in den 1920er Jahren. [Hans Castorp] war zu benommen von dem, was er hinter sich ließ, von den Abenteuern der letzten zehn Minuten, als daß mit dem Übertritt in den Durchleuchtungsraum auch seine innere Gegenwart sich sogleich hätte umstellen können. Er sah nichts oder nur sehr Allgemeines im künstlichen Halblicht. Er hörte Frau Chauchats angenehm verschleierte Stimme, mit der sie gesagt hatte: Was gibt es denn … Es sind Personen eben noch eingetreten … Das ist unangenehm …, und dieser Stimmklang schauerte ihm als ein süßer Reiz den Rücken hinunter. Er sah ihr Knie unter dem Tuchrock sich abbilden, sah an ihrem gebeugten Nacken, unter dem kurzen rötlichblonden Haar, das dort lose hing, ohne in die Zopffrisur aufgenommen worden zu sein, die Halswirbel hervortreten, und abermals überlief ihn der Schauder. Er sah Hofrat Behrens, abgewandt von den Eintretenden, vor einem Schrank oder regalförmigen Einbau stehen und eine schwärzliche Platte betrachten, die er mit ausgestrecktem Arm gegen das matte Deckenlicht hielt. An ihm vorbei gingen sie tiefer in den 25 Raum hinein, überholt von dem Gehilfen, der Vorbereitungen zu ihrer Behandlung und Abfertigung traf. Es roch eigentümlich hier. Eine Art von abgestandenem Ozon erfüllte die Atmosphäre. Zwischen den schwarzverhängten Fenstern vorspringend, teilte der Einbau das Laboratorium in zwei ungleiche Hälften. Man unterschied physikalische Apparate, Hohlgläser, Schaltbretter, aufrecht ragende Meßinstrumente, aber auch einen kameraartigen Kasten auf rollbarem Gestell, gläserne Diapositive, die reihenweise in die Wand eingelassen waren, – man wusste nicht, war man in dem Atelier eines Photographen, einer Dunkelkammer oder einer Erfinderwerkstatt und technischen Hexenoffizin. Joachim hatte ohne weiteres begonnen, seinen Oberkörper frei zu machen. Der Gehilfe, ein jüngerer, gedrungener und rotbäckiger Eingeborener in weißem Kittel, wies Hans Castorp an, ein gleiches zu tun. Es gehe schnell, er sei sofort an der Reihe … Während Hans Castorp die Weste auszog, kam Behrens aus dem kleinen Abteil, wo er gestanden, in den geräumigeren herüber. Hallo! sagte er. Da sind ja unsere Dioskuren! Castorp und Pollux … Bitte, Wehelaute zu unterdrücken! Warten Sie nur, gleich werden wir Sie alle beide durchschaut haben. Ich glaube, Sie haben Angst, uns Ihr Inneres zu eröffnen? Seien Sie ruhig, es geht ganz ästhetisch zu. Hier, haben Sie meine Privatgalerie schon gesehen? Und er zog Hans Castorp am Arm vor die Reihen der dunklen Gläser, hinter denen er knipsend Licht einschaltete. Da erhellten sie sich, zeigten ihre Bilder. Hans Castorp sah Gliedmaßen: Hände, Füße, Kniescheiben, Ober – und Unterschenkel, Arme und Beckenteile. Aber die rundliche Lebensform dieser Bruchstücke des Menschenleibes war schemenhaft und dunstig von Kontur; wie ein Nebel und bleicher Schein umgab sie ungewiß ihren klar, minutiös und entschieden hervortretenden Kern, das Skelett. Sehr interessant, sagte Hans Castorp. Das ist allerdings interessant! erwiderte der Hofrat, Nützlicher Anschauungsunterricht für junge Leute. Lichtanatomie, verstehen Sie, Triumph der Neuzeit. Das ist ein Frauenarm, Sie ersehen es aus seiner Niedlichkeit. Damit umfangen sie einen beim Schäferstündchen, verstehen Sie. Und er lachte, wobei seine Oberlippe mit dem gestutzten Schnurrbärtchen sich einseitig höher schürzte. Die Bilder erloschen. Hans Castorp wandte sich zur Seite, dorthin, wo Joachims Innenaufnahme sich vorbereitete. Es geschah vor jenem Einbau, an dessen anderer Seite der Hofrat anfangs gestanden. Joachim hatte auf einer Art von Schustersessel vor einem Brett Platz genommen, gegen das er die Brust preßte, wobei er es außerdem mit den Armen umschlang; und mit knetenden Bewegungen verbesserte der Gehilfe seine Stellung, indem er Joachims Schultern weiter nach vorn drückte, seinen Rücken massierte. Hierauf begab er sich hinter die Kamera, um, wie irgendein Photograph, gebückt, breitbeinig, die Ansicht zu prüfen, drückte seine Zufriedenheit aus und mahnte Joachim, beiseite gehend, tief einzuatmen und, bis alles vorüber, die Luft anzuhalten. Joachims gerundeter Rücken dehnte sich und blieb stehen. In diesem Augenblick hatte der Gehilfe am Schaltbrett den nötigen Handgriff getan. Zwei Sekunden lang spielten fürchterliche Kräfte, deren Aufwand erforderlich war, um die Materie zu durchdringen, Ströme von Tausenden von Volt, von hunderttausend, Hans Castorp glaubte sich zu erinnern. Kaum zum Zwecke gebändigt, suchten die Gewalten auf Nebenwegen sich Luft zu machen. Entladungen knallten wie Schüsse. Es knatterte blau am Meßapparat. Lange Blitze fuhren knisternd die Wand entlang. Irgendwo blickte ein rotes Licht, einem Auge gleich, still und drohend in den Raum, und eine Phiole in Joachims Rücken füllte sich grün. Dann beruhigte sich alles; die Lichterscheinungen verschwanden, und Joachim ließ seufzend den Arm aus. Es war geschehen. 26 Nächster Delinquent! sagte Behrens und stieß Hans Castorp mit dem Ellenbogen. Nur keine Müdigkeit vorschützen! Sie kriegen ein Freiexemplar, Castorp. Dann können Sie noch Kindern und Enkelkindern die Geheimnisse Ihres Busens an die Wand projizieren! Joachim war abgetreten; der Techniker wechselte die Platte. Hofrat Behrens unterwies den Neuling persönlich, wie er sich zu setzen, zu halten habe. Umarmen! sagte er. Das Brett umarmen! Stellen Sie sich meinetwegen was anderes darunter vor! Und gut an die Brust andrücken, als ob Glücksempfindungen damit verbunden wären! Recht so. Einatmen! Stillgehalten! kommandierte er. Bitte recht freundlich! Hans Castorp wartete blinzelnd, die Lunge voller Luft. Hinter ihm brach das Gewitter los, knisterte, knatterte, knallte und beruhigte sich. Das Objektiv hatte in sein Inneres geblickt. […] Sehen Sie, Jüngling? fragte er … Hans Castorp beugte sich über seine Schulter , hob aber noch einmal den Kopf, dorthin, wo im Dunkel Joachims Augen zu vermuten waren, die sanft und traurig blicken mochten, wie damals bei der Untersuchung, und fragte: Du erlaubst doch? Frischer Primärkomplex © Deutsches Röntgenmuseum Remscheid Bitte, bitte, antwortete Joachim liberal aus seiner Finsternis. Und beim Schüttern des Erdbodens, im Knistern und Rumoren der spielenden Kräfte spähte Hans Castorp gebückt durch das bleiche Fenster, spähte durch Joachim Ziemßens leeres Gebein. Der Brustknochen fiel mit dem Rückgrat zur dunklen, knorpeligen Säule zusammen. Das vordere Rippengerüst wurde von dem des Rückens überschnitten, das blasser erschien. Geschwungen zweigten oben die Schlüsselbeine nach beiden Seiten ab, und in der weichen Lichthülle der Fleischesform zeigten sich dürr und scharf das Schulterskelett, der Ansatz von Joachims Oberarmknochen. Es war hell im Brustraum, aber man unterschied ein Geäder, dunkle Flecke, ein schwärzliches Gekräusel. Klares Bild, sagte der Hofrat. [….] Aber Hans Castorps Aufmerksamkeit war in Anspruch genommen von etwas Sackartigem, ungestalt Tierischem, dunkel hinter dem Mittelstamme Sichtbarem, und zwar größerenteils zur Rechten, vom Beschauer aus gesehen, – das sich gleichmäßig ausdehnte und wieder zusammenzog, ein wenig nach Art einer rudernden Qualle. 27 Sehen Sie sein Herz? fragte der Hofrat, indem er abermals die riesige Hand vom Schenkel löste und mit dem Zeigefinger auf das pulsierende Gehänge wies … Großer Gott, es war das Herz, Joachims ehrliebendes Herz, was Hans Castorp sah! Ich sehe dein Herz! sagte er mit gepreßter Stimme. Bitte, bitte, antwortete Joachim wieder, und wahrscheinlich lächelte er ergeben dort oben im Dunklen. Aber der Hofrat gebot ihnen zu schweigen und keine Empfindsamkeiten zu tauschen. Er studierte die Flecke und Linien, das schwarze Gekräusel im inneren Brustraum, während auch sein Mitspäher nicht müde wurde, Joachims Grabesgestalt und Totenbein zu betrachten, dies kahle Gerüst und spindeldürre Memento. Andacht und Schrecken erfüllten ihn. Jawohl, jawohl, ich sehe, sagte er mehrmals. Mein Gott, ich sehe! […] Aber wenige Minuten später stand er selbst im Gewitter am Pranger, während Joachim, wieder geschlossenen Leibes, sich ankleidete. Abermals spähte der Hofrat durch die milchige Scheibe, diesmal in Hans Castorps Inneres, und aus seinen halblauten Äußerungen, abgerissenen Schimpfereien und Redensarten schien hervorzugehen, daß der Befund seinen Erwartungen entsprach. Er war dann noch so freundlich, zu erlauben, daß der Patient seine eigene Hand durch den Leuchtschirm betrachte, da er dringend darum gebeten hatte. Und Hans Castorp sah, was zu sehen er hatte erwarten müssen, was aber eigentlich dem Menschen zu sehen nicht bestimmt ist und wovon er auch niemals gedacht hatte, daß es ihm bestimmt sein könne, es zu sehen: er sah in sein eigenes Grab. Das spätere Geschäft der Verwesung sah er vorweggenommen durch die Kraft des Lichtes, das Fleisch, worin er wandelte, zersetzt, vertilgt, zu nichtigem Nebel gelöst, und darin das kleinlich gedrechselte Skelett seiner rechten Hand, um deren oberes Ringfingerglied sein Siegelring, vom Großvater her ihm vermacht, schwarz und lose schwebte: ein hartes Ding dieser Erde, womit der Mensch seinen Leib schmückt, der bestimmt ist, darunter wegzuschmelzen, so daß es frei wird und weiter geht an ein Fleisch, das es eine Weile wieder tragen kann. Mit den Augen jener Tienappel’schen Vorfahrin erblickte er einen vertrauten Teil seines Körpers, durchschauenden, voraussehenden Augen, und zum erstenmal in seinem Leben verstand er, daß er sterben werde. Dazu machte er ein Gesicht, wie er es zu machen pflegte, wenn er Musik hörte, – ziemlich dumm, schläfrig und fromm, den Kopf halb offenen Mundes gegen die Schulter geneigt. (Th. M. 1986, 227 – 233) Aufgabenstellung: Hans Castorp, dessen Besuch auf dem Zauberberg, d.h. in dem Lungensanatorium Berghof, zunächst auf nur drei Wochen, angesetzt ist, bleibt insgesamt sieben Jahre dort, da ihn Krankheit und Tod zunehmend faszinieren und er nicht den Willen besitzt, sich in seiner Heimatstadt Hamburg dem tätigen Leben zuzuwenden. Untersuchen Sie, wie in dem gesamten vorliegenden Ausschnitt aus Thomas Manns Roman die Nähe Hans Castorps zu dem Thema Krankheit und Tod deutlich wird. 28 7.Literatur Primärliteratur Mann, Katia, Meine ungeschriebenen Memoiren, Hg. Elisabeth Plessen und Michael Mann, Frankfurt a.M., 2002 Mann, Thomas, Der Zauberberg, Frankfurt a. M. (1924), in der Fassung der kommentierten Frankfurter Ausgabe, 2012 Mann, Thomas, Tristan (1903) in: Frühe Erzählungen 1893 – 1912, Frankfurt a. M. 2012 Mann Thomas, Für Studenten der Universität Princeton, (Bermann – Fischer, Stockholm 1929) in: Thomas Mann, Der Zauberberg, Darmstadt 1967 Mann Thomas, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Frankfurt (seit 2001): Betrachtungen eines Unpolitischen, Band 13, 2009 Briefe II 1914 – 1923, Band 22, 2004 Briefe III 1924 – 1932, Band 23, 2011 Der Zauberberg, Band 5, 2002 Mann, Thomas, Tagebücher 1918 – 1921, Hg. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1979, VII Mann, Thomas, Tagebücher 1953 – 1955, Hg. Inge Jens, Frankfurt a. M. 1995 Pringsheim,Hedwig, Tagebücher 1911 – 1916, Bd.5, Hg. Cristina Herbst, Göttingen 2016 Sekundärliteratur von Bassewitz, Gero und Tarnowski, Wolfgang, Auf Thomas Manns Spuren, Hamburg 1997 Blödorn, Andreas und Marx, Friedhelm, Hg., Thomas Mann – Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2015 Heckner, Nadine und Walter, Michael, Thomas Mann. Der Zauberberg. Textanalyse und Interpretation, Königs Erläuterungen, Hollfeld, 2014 Heftrich, Eckhard und Wysling, Hans, Thomas Mann Jahrbuch 6, 1993 Heißerer, Dirk, Thomas Manns Zauberberg, Würzburg 2006 Jens, Inge, Frau Thomas Mann. Das Leben der Katja Pringsheim, Hamburg 2004 Jens, Inge und Walter, Katias Mutter, Das außerordentliche Leben der Hedwig Pringsheim, Hamburg 2007 Lahme, Tilmann, Die Manns. Geschichte einer Familie, Frankfurt a. M., 2015 Langer, Daniela, Thomas Mann. Der Zauberberg. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 2009 Max, Katrin, Liegekur und Bakterienrausch: Literarische Deutungen der Tuberkulose im ,Zauberberg' und anderswo, Würzburg 2013 Film und Audio Geißendörfer, Hans W., Der Zauberberg, 1982, Film, 146 Min. Benrath, Martin, Fülle des Wohllauts. Ein Kapitel aus dem Zauberberg, 1987, Audio CD (auch als mp 3) © Maria von Hartmann 2016 29