Europäische Migrationspolitik und Raumproduktion
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Europäische Migrationspolitik und Raumproduktion
Der Band liefert eine detailreiche Analyse migrationsbezogener Aktivitäten internationaler Regierungsorganisationen außerhalb der Grenzen der Europäischen Union. Untersucht wird, welchen Beitrag die Organisationen ICMPD, IOM, OSCE und UNHCR zur Steuerung und zum Management von Migration in Albanien, Bosnien-Herzegowina und der Ukraine leisten. Martin Geiger Europäische Migrationspolitik und Raumproduktion Zum Autor: Dr. Martin Geiger, geb. 1975; Studium der Geographie, Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Bonn: 2004 Abschluss als Diplom-Geograph und 2010 Promotion in Geographie. 20012005 Mitarbeiter am Europäischen Migrationszentrum in Berlin und Florenz. 2005-2007 Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Seit 2008 Mitarbeiter am Institut für Geographie der Universität Osnabrück. Assoziiertes Mitglied des Institutes für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS). Gastaufenthalte an der Universidad de Granada (Spanien), der Universitatea de Vest din Timişoara (Rumänien) und der Carleton University (Ottawa, Kanada). Martin Geiger Europäische Migrationspolitik und Raumproduktion Internationale Regierungsorganisationen im Management von Migration in Albanien, Bosnien-Herzegowina und der Ukraine ISBN 978-3-8329-6574-7 Nomos http://www.nomos-shop.de/Geiger-Europ%c3%a4ische-Migrationspolitik-Raumproduktion/productview.aspx?product=13579 Martin Geiger Europäische Migrationspolitik und Raumproduktion Internationale Regierungsorganisationen im Management von Migration in Albanien, Bosnien-Herzegowina und der Ukraine 2.Auflage Nomos http://www.nomos-shop.de/Geiger-Europ%c3%a4ische-Migrationspolitik-Raumproduktion/productview.aspx?product=13579 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Universität Bonn, Math.-Nat. Fakultät, Diss., 2010 ISBN 978-3-8329-6574-7 1. Auflage 2011 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2011. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. http://www.nomos-shop.de/Geiger-Europ%c3%a4ische-Migrationspolitik-Raumproduktion/productview.aspx?product=13579 Vorwort Dieses Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner im Sommer 2010 an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn eingereichten Promotionsschrift. An erster Stelle danke ich Herrn Prof. Dr. Hans Dieter Laux (Geographisches Institut der Universität Bonn) sehr herzlich für die gute und motivierende Betreuung meines Promotionsvorhabens. Herr Prof. Dr. Hans-Georg Bohle hat sich dankenswerterweise für meine Dissertation und mein Promotionsverfahren als Gutachter und Prüfer zur Verfügung gestellt. Ein weiterer Dank geht an die übrigen Mitglieder der Promotionskommission, an Herrn Prof. Dr. Jörg Blasius (Soziologie, Universität Bonn) und Herrn Prof. Dr. Jean Thein (Geologie, Universität Bonn). Für die finanzielle Förderung meines Dissertationsvorhabens danke ich der Studienstiftung des deutschen Volkes und den beiden Gutachtern, die meine Aufnahme in die Promotionsförderung befürwortet haben. Ein großer Dank gebührt den vielen Gesprächs- und Interviewpartnern bei internationalen Regierungsorganisationen, lokalen und internationalen NGOs, »Think Tanks«, staatlichen Behörden und EU-Institutionen, die ich zu meinem Forschungsthema in Budapest, Kiew, Sarajevo, Tirana, Wien und einigen weiteren Städten befragen durfte. Ohne die mir meist unproblematisch und gerne gewährten (informellen) Gespräche und Experteninterviews wäre die vorliegende Arbeit nicht möglich gewesen: Köszönöm, Дякую, Hvala/Хвала, Faleminderit, Thank you – Danke! Herr Prof. Dr. Gunther Dietz (Universidad Veracruzana, Xalapa/Mexiko) und Herr Dr. Jochen Blaschke (Europäisches Migrationszentrum, Berlin) haben mir im Rahmen meines Vorhabens hilfreiche Unterstützung, Ideen und Ratschläge zukommen lassen, für die ich mich an dieser Stelle ebenfalls bedanken möchte. Dankbar bin ich auch Herrn Fabian Georgi (Freie Universität Berlin) und Herrn Dr. Antoine Pécoud (UNESCO, Paris), die wiederholt für einen wissenschaftlichen Austausch zur Verfügung standen: Danke & Merci! Für eine schöne Zeit »zwischen« meinen Untersuchungsländern und Feldforschungsaufenthalten danke ich Herrn Ovidiu Simina und Herrn Prof. Dr. Grigore Silaşi. Beide haben mich 2006 zu einem Gastaufenthalt an das Jean Monnet Centre der Universitatea de Vest din Timişoara (Rumänien) eingeladen. Mersi mult! Ein herzlicher Dank gebührt Herrn Dr. Malte Steinbrink, meiner »besseren Hälfte« am Osnabrücker Institut für Geographie, der mir, wie es eben für »bessere Hälften« üblich ist, während der Endphase der Dissertation als Kollege immer wieder hilfreich mit Rat zur Seite stand. Herrn Prof. Dr. Andreas Pott, für den 7 http://www.nomos-shop.de/Geiger-Europ%c3%a4ische-Migrationspolitik-Raumproduktion/productview.aspx?product=13579 ich seit 2008 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter arbeite, bin ich ebenfalls sehr verbunden, konnte ich durch ihn, vom neuen gemeinsamen Standort Osnabrück und vom IMIS aus, doch zusätzliche Kontakte in der Geographie und der interdisziplinären Migrationsforschung schließen und wichtige Impulse für meine Arbeit und meinen weiteren wissenschaftlichen Werdegang erhalten. Ein herzlicher Dank für Tipps und anderen »Support« während der Schreibphase geht auch an die übrigen Mitglieder der Arbeitsgruppe Sozialgeographie am Institut für Geographie, an Herrn Dr. Carsten Felgentreff, Frau Regine Prabel und Frau Friederike Zigmann. Bei meinen übrigen Arbeitskollegen (stellvertretend nenne ich die drei C’s Carsten Peter, Christian Wuttke und Cora Arbach), der Institutsleiterin Frau Prof. Dr. Britta Klagge und den beiden »Ehemaligen« des Instituts Herrn Hans-Joachim Wenzel und Herrn Gerhard Hard bedanke ich mich dafür, dass sie immer wieder nach dem Fortgang meiner Arbeit gefragt und am Thema Interesse gezeigt haben. Frau Swantje Steinbrink und Herrn Philipp Schehka danke ich für Ihre hilfreiche Unterstützung bei Korrektur- und Formatierungsarbeiten. Euch und Ihnen allen: Vielen Dank! Mein größter Dank gilt schließlich meinen Eltern, die, zusammen mit meinem Promotionsbetreuer, sicherlich die wichtigsten Unterstützer meiner Dissertation waren und mich immer wieder ermutigt haben, weiter zu »migrieren«, weiter zu forschen, zu schreiben und die Dissertation fertig zu stellen. Ein besonders herzlicher Dank gilt meiner Frau Valentina, ihrer Schwester und meinen Schwiegereltern. Sowohl meiner deutschen Familie als auch meiner russisch-ukrainischen Familie (die ich nicht zuletzt Dank meines Promotionsvorhabens kennenlernen und hinzugewinnen durfte) ist diese Arbeit gewidmet. Und in ein paar Jahren kann dann sicher auch unser Töchterchen Taisa Mei-Lin (*April 2011) diese Arbeit lesen; einige lautstarke und mehr oder weniger konstruktive Kommentare konnte sie dieser Publikation immerhin schon mit auf den Weg geben. Ein herzlicher Dank für alles – Огромная благодарность за все! Osnabrück, im Mai 2011 8 Martin Geiger http://www.nomos-shop.de/Geiger-Europ%c3%a4ische-Migrationspolitik-Raumproduktion/productview.aspx?product=13579 Inhalt Abkürzungen Abbildungen und Tabellen 13 17 I. 19 Einleitung II. Eine politisch-geographische Forschungsperspektive für die Geographische und Interdisziplinäre Migrationsforschung 1. Migrationssteuerung als geographisches Forschungsthema 1.1 Migrationssteuerung: Historische Entstehung und Konzeptionalisierung 1.2 Disziplinbezogene Erkundungen 1.2.1 Die deutschsprachige Geographie und das Thema Migration 1.2.2 Kennzeichen der bisherigen Beschäftigung mit Migration 2. Herleitung einer politisch-geographischen Forschungsperspektive 2.1 Neue Impulse für die Migrationsforschung 2.1.1 Krise der Migration – Migrationssteuerung in der Krise 2.1.2 Transnationalisierung des Sozialen – Soziale Produktion des Raumes 2.1.3 Die Vision von einem internationalen Migrationsregime 2.1.4 Neue Akteure, Arrangements und Formen der Steuerung 2.1.5 Instrumentalisierung von Raum und Funktion des Raumes im Politischen 2.2 Eine politisch-geographische Perspektive für die Migrationsforschung 2.3 Anwendung der hergeleiteten Forschungsperspektive 2.3.1 Europäisierung der Migrationssteuerung in drei Nicht-EU-Staaten 2.3.2 Vorgehensweise und Methodik 25 25 25 35 35 41 49 49 49 56 63 67 75 78 86 86 90 9 http://www.nomos-shop.de/Geiger-Europ%c3%a4ische-Migrationspolitik-Raumproduktion/productview.aspx?product=13579 III. Die Europäische Union und die Steuerung der internationalen Zuwanderung aus Drittstaaten 3. Europäisierung der Migrationspolitik und Steuerungsvorschläge der EU 3.1 Zuwanderung in die EU und das Projekt einer EU-Migrationspolitik 3.2 Wahrnehmung internationaler Migration – Steuerungsvorschläge 3.2.1 Konstruktion von Migration als Problem und Gefahr 3.2.2 Verortungen des Migrationsproblems und Steuerungsbedarfs 3.2.3 Grundzüge der EU-Migrationspolitik 3.2.4 Einschätzungen und Steuerungsvorschläge zu den Untersuchungsländern 3.3 Instrumentalisierung internationaler Regierungsorganisationen 3.3.1 Funktionen internationaler Regierungsorganisationen aus Sicht der EU 3.3.2 Verortung der Aktivitäten internationaler Regierungsorganisationen 4. EU-Migrationssteuerung und die Frage ihrer Umsetzung 4.1 Migration im Fokus der EU-Politik – Ziele von EUMigrationssteuerung 4.2 Die Kategorie Raum und die Wahrnehmung und Steuerung von Migration 4.2.1 Raum als Beobachtungs- und Wahrnehmungskonzept 4.2.2 (Re-)Konstruktion von Räumen der Sicherheit und der Intervention 4.3 Internationale Regierungsorganisationen in der EUMigrationspolitik IV. Die exterritoriale Implementation von EU-Migrationspolitik durch internationale Regierungsorganisationen: Albanien, Bosnien-Herzegowina und Ukraine 5. Migrationssteuerung durch internationale Regierungsorganisationen 5.1 Die Untersuchungsländer und das Migrationsgeschehen in den 1990er Jahren 10 100 100 100 112 112 119 122 135 141 141 147 149 149 152 152 155 162 166 166 166 http://www.nomos-shop.de/Geiger-Europ%c3%a4ische-Migrationspolitik-Raumproduktion/productview.aspx?product=13579 5.2 Empfehlungen internationaler Regierungsorganisationen 5.2.1 ICMPD, IOM, OSCE und UNHCR im Kurzprofil 5.2.2 Wahrnehmung des aktuellen Wanderungsgeschehens 5.2.3 Vorschläge zur Steuerung von Migration 5.3 Steuerungsaktivitäten internationaler Regierungsorganisationen 5.3.1 Produktion und Vermittlung steuerungsdienlicher Wissensbestände 5.3.2 Informationszentren und -kampagnen für legale und sichere Migration 5.3.3 Anti-Trafficking, Schutz und Reintegration 5.3.4 Beratung und technische Unterstützung für den Grenzschutz 5.3.5 Freiwillige Rückkehr und Reintegration 5.3.6 Aufnahme von Asylsuchenden und Integration von Flüchtlingen 5.3.7 Entwurf und Implementation nationaler Migrationsstrategien 5.4 Kooperation spezialisierter IRO mit lokalen und internationalen Akteuren 5.4.1 Die Europäische Kommission als wichtigster Geldgeber 5.4.2 Lokale Akteure und INRO als Implementationspartner 5.5 Bewertung der Steuerungsaktivitäten und ihrer Folgen 5.5.1 Rechtfertigung von Steuerungsaktivitäten 5.5.2 Zweifel an der Wirksamkeit und Angemessenheit von Steuerungseingriffen 5.5.3 Das Spiel mit migrationsbezogenen Wissensbeständen und Interpretationen 5.5.4 Mangel an politischer Legitimation und Transparenz 5.5.5 Fremdbestimmung durch IRO und implantierte Politiknetzwerke 5.5.6 Migranten als Opfer eines Teufelskreislaufs der Restriktion 5.5.7 Steuerungsaktivitäten im Kontext europäischer Raumproduktion 175 175 184 190 195 195 198 200 203 205 208 210 215 215 220 229 229 232 240 244 247 254 258 11 http://www.nomos-shop.de/Geiger-Europ%c3%a4ische-Migrationspolitik-Raumproduktion/productview.aspx?product=13579 V. Internationale Regierungsorganisationen und die EU-ropäisierung der Migrationspolitik (Schlussbetrachtung) 6. EU-Migrationssteuerung und internationales Migrationsmanagement 6.1 Gouvernementalität der Migration: Akteure, Praktiken und Diskurse 6.2 Migrationsmanagement als Lösung für die Steuerungsdefizite der EU? 6.3 Relevanz einer politisch-geographischen Forschungsperspektive 6.4 Resümee – Beantwortung der Leitfragen 267 267 267 276 282 287 Literatur 291 Anhang A1 (Ausgewertete Primärdokumente) Anhang A2 (Interviewleitfaden) Anhang A3 (Experteninterviews) 321 330 331 12 http://www.nomos-shop.de/Geiger-Europ%c3%a4ische-Migrationspolitik-Raumproduktion/productview.aspx?product=13579 I. Einleitung Erstmals seit dem Stopp der Gastarbeiteranwerbung in Europa (1973) diskutieren die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) wieder über eine gezielte Anwerbung von Arbeitsmigranten. Während künftig eine beschränkte Anzahl von Migranten von neuen Anwerbemaßnahmen profitieren dürfte, wird die Situation für den Großteil aller zuwanderungswilligen Nicht-EU-Bürger (Drittstaatsangehörigen) unverändert bleiben – Seitens der EU als Zuwanderungsregion und der EU-Mitgliedsstaaten ist kein grundlegender migrationspolitischer Paradigmenwechsel in Sicht. Das übergeordnete Ziel der EU und ihrer Mitgliedsstaaten wird in den kommenden Jahren aller Voraussicht nach weiterhin in der Begrenzung von Zuwanderung liegen und gleichzeitig in einer weiteren Bekämpfung von allen Migrationsformen jenseits der behördlich vorgesehenen und als legal eingestuften Zuwanderungsmöglichkeiten. Im Hinblick auf die Unterbindung von politisch und behördlich unerwünschten und deshalb als »illegal« erklärten Migrationsbewegungen sieht die EU auch die Herkunfts- und Transitländer von Migranten in der Pflicht. Um diese Länder als Partner zu gewinnen und sie als sogenannte, nicht der EU selbst angehörende Drittstaaten auf dem Gebiet der Migrationsprävention zu unterstützen, gewähren die Europäische Kommission und die Mitgliedsstaaten der EU seit Jahren umfangreiche Finanzhilfen. Mit diesen Geldern wird in den außerhalb der EU liegenden Herkunfts- und Transitländern eine Vielzahl von technisch-operativen Steuerungsaktivitäten finanziert, so beispielsweise der Ausbau des Grenzschutzes oder Informationskampagnen zur Vermeidung des internationalen Menschenschmuggels und -handels. Diese sowohl direkt wie auch indirekt wirkenden Maßnahmen, die zusammen alle auf die Ziele der Kontrolle, Prävention und Unterbindung unerwünschter Wanderungsbewegungen ausgerichtet sind, werden im Regelfall nicht direkt durch die Institutionen der EU und in aller Regel auch nicht selbst durch die Regierungsbehörden der Herkunfts- und Transitländer implementiert. Vielmehr ist es so, dass die operative Umsetzung der EU-finanzierten Steuerungsmaßnahmen im Wesentlichen durch spezialisierte internationale Regierungsorganisationen (IRO) erfolgt. Wie in anderen Regionen der Welt übernehmen auch in Europa internationale Regierungsorganisationen immer häufiger Aufgaben zur Steuerung von Migration. Ihre Steuerungsaktivitäten finden dabei teilweise im Rahmen einer eigenen, zunehmend selbstbewusst gegenüber Staaten und regionalen Zusammenschlüssen (EU) vertretenen Programmatik des sogenannten »Managements« von Migration statt. 19 http://www.nomos-shop.de/Geiger-Europ%c3%a4ische-Migrationspolitik-Raumproduktion/productview.aspx?product=13579 Für die von der EU verfolgte Europäisierung der Migrationspolitik und die migrationsbezogene Partnerschaft der EU mit den Herkunfts- und Transitländern von Migranten sind vier internationale Regierungsorganisationen besonders bedeutsam – das »International Centre for Migration Policy Development« (ICMPD), die »International Organization for Migration« (IOM), die »Organization for Security and Co-Operation in Europe« (OSCE) und das »Office of the United Nations High Commissioner for Refugees« (UNHCR) (Kapitel 5.2.1). Es sind diese vier Organisationen, deren Steuerungsaktivitäten im Folgenden einer theoriegeleiteten Betrachtung und Analyse unterzogen werden. Albanien, Bosnien-Herzegowina und die Ukraine als Untersuchungsländer Die empirische Untersuchung der Steuerungsaktivitäten des ICMPDs, der IOM, der OSCE und des UNHCRs konzentriert sich mit Albanien, Bosnien-Herzegowina und der Ukraine auf drei Länder, die selbst nicht der EU angehören, aber in unmittelbarer Nachbarschaft zur EU liegen (Abbildung 1) und für die Mitgliedsstaaten der EU als Herkunfts- und Transitländer von Migranten bedeutsam sind. Die seit den 1990er Jahren anhaltende und äußerst umfangreiche Emigration aus Albanien und der Ukraine zählt zusammen mit der Flucht und Vertreibung sowie der anschließenden (erzwungenen) Rückkehr von mehreren hunderttausenden Bürgerkriegsflüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina (Kapitel 5.1) sicherlich mit zu den bedeutendsten Ereignissen der jüngeren europäischen Migrationsgeschichte. Albanien, Bosnien-Herzegowina und die Ukraine sind als Untersuchungsländer auch deshalb von besonderem Interesse, weil alle drei Länder besonders stark durch die Einflussnahmen der EU und die Steuerungsaktivitäten der vier zu untersuchenden internationalen Regierungsorganisationen gekennzeichnet sind. Während der Zeit der empirischen Untersuchungen (Frühjahr 2006 bis Sommer 2007), die mit Hilfe von leitfadengestützten Experteninterviews durchgeführt wurden, gehörten Albanien und Bosnien-Herzegowina dem Stabilisierungsund Assoziierungsprozess der EU für die Länder Südosteuropas (SAP) an. Die Ukraine war dagegen in der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) eingebunden. Das mittel- bis langfristige Ziel des SAPs, dem neben Albanien und Bosnien-Herzegowina auch das Kosovo, Kroatien, Mazedonien, Montenegro und Serbien angehören, liegt im Beitritt dieser südosteuropäischen Länder zur EU. Für die Ukraine ist im Rahmen der ENP dagegen, wie für alle übrigen Teilnehmerländer der Europäischen Nachbarschaftspolitik, auch längerfristig kein Beitritt zur EU vorgesehen (Kapitel 4.2.2). 20 http://www.nomos-shop.de/Geiger-Europ%c3%a4ische-Migrationspolitik-Raumproduktion/productview.aspx?product=13579 Vergemeinschaftung, Externalisierung und Exterritorialisierung – Europäisierung der Migrationspolitik Die Migrationspolitik der EU stellte sich 2006 und 2007 eher als ein migrationspolitischer »Flickenteppich« denn eine tatsächlich einheitliche und gemeinsame EU-Migrationspolitik dar: Wie Abbildung 1 zeigt, beteiligten sich während des Zeitraums der empirischen Untersuchungen drei EU-Mitgliedsstaaten (Dänemark, Großbritannien und Irland) am Projekt einer gemeinsamen EU-Migrationspolitik entweder gar nicht oder nur teilweise; während Großbritannien und Irland das wichtigste migrationspolitische Vertragswerk der EU – das Abkommen von Schengen – nicht anwendeten, gab es zwei Nicht-EU-Staaten, die dieses Abkommen bereits ratifiziert und voll in ihre nationale Gesetzgebung übernommen hatten (Island und Norwegen). Im Fall der 2004 bzw. 2007 beigetretenen neuen EU-Staaten Zypern, Bulgarien und Rumänien war 2007 dagegen noch nicht einmal klar, wann diese Länder (trotz Vollmitgliedschaft in der EU) das Abkommen von Schengen tatsächlich voll anwenden könnten. Obwohl also noch nicht von einer einheitlichen und bereits vollentwickelten EU-Migrationspolitik die Rede sein kann, vermittelt die EU den sogenannten Drittstaaten, und darunter den Herkunfts- und Transitländern (beispielsweise Albanien, Bosnien-Herzegowina und die Ukraine), den Eindruck, es gäbe bereits so etwas wie eine einheitlich-kohärente und konsolidierte EU-Migrationspolitik, die man vollständig zu übernehmen habe, wolle man selbst der EU angehören (Kapitel 4.2.2). Während sich die EU als ein einheitlicher und gemeinsamer »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« konstituieren will, versuchen der Europäische Rat, der (EU-)Ministerrat für Justiz und Inneres und die Europäische Kommission über eine spezifische Form der »Migrationsaußenpolitik« sowie den SAP, die ENP und andere Politikprozesse die Migrationspolitik in Albanien, Bosnien-Herzegowina und der Ukraine zu beeinflussen. Das Pendant zur Vergemeinschaftung (Supranationalisierung) der Migrationspolitik innerhalb der EU besteht dabei in der Verlagerung von migrationsbezogenen Steuerungsaktivitäten, sowohl räumlich (Exterritorialisierung) als auch akteursbezogen (Externalisierung): Die Herkunfts- und Transitländer von Migranten sind (unfreiwillig) Partner der EU in der Prävention und Unterbindung von unerwünschten Wanderungsbewegungen geworden, zugleich sind im Zuge der Europäisierung der Migrationspolitik auch nicht der EU angehörende Akteure, darunter insbesondere das ICMPD, die IOM, die OSCE und das UNHCR, zu Co-Akteuren der EU bei der Steuerung der internationalen Migration geworden (Kapitel 2.3.1). 21 http://www.nomos-shop.de/Geiger-Europ%c3%a4ische-Migrationspolitik-Raumproduktion/productview.aspx?product=13579 Abbbildung 1: Eu uropäische Uniion und Unterrsuchungsländ der (2006-20007) Quelle: Eigenerr Entwurf. 22 http://www.nomos-shop.de/Geiger-Europ%c3%a4ische-Migrationspolitik-Raumproduktion/productview.aspx?product=13579 Genau am Punkt des Zusammentreffens der exterritorialen Verlagerung von Steuerungsaktivitäten (Beispiel der drei Untersuchungsländer) und der Verlagerung von Steuerungsaufgaben auf Nicht-EU-Akteure (gezeigt an den Beispielen ICMPD, IOM, OSCE und UNHCR) setzt im Folgenden (Kapitel 3 ff.) die auf eigenen empirischen Befunden des Autors basierende Analyse an. Leitfragen, Forschungsperspektive und Vorgehensweise Das Engagement spezialisierter internationaler Regierungsorganisationen auf dem Gebiet der Migrationspolitik ist bislang kaum untersucht worden. Der zugleich paradoxe als auch paradigmatische Fall einer migrationspolitischen Europäisierung von Nicht-EU-Staaten durch Nicht-EU-Akteure markiert ein politikwissenschaftlich äußerst interessantes Untersuchungsthema. Die Verzahnung des internationalen »Managements« von Migration (Steuerungsaktivitäten internationaler Regierungsorganisationen) mit der Europäisierung von Migrationspolitik stellt insbesondere aber auch für die Politische Geographie und die Geographische Migrationsforschung ein interessantes Forschungsfeld dar – Praxen der strategischen Verräumlichung begleiten nämlich beide Prozesse und bewirken damit eine (Re-)Konstruktion von (neuen) Räumen der Sicherheit und Intervention. Gewissermaßen aus der deutschsprachigen Geographie und ihrer bisherigen Forschungspraxis zu Migration heraus und zugleich auf der Grundlage von zusätzlichen Theorieangeboten der Sozialgeographie und der interdisziplinären Migrationsforschung wird in den Kapiteln 1 und 2 eine politisch-geographische Forschungsperspektive hergeleitet. In Kapitel 2.2 wird für die folgende theoriegeleitete Analyse in einem ersten Herleitungsschritt zunächst eine akteurs- und handlungsbezogene Forschungsperspektive entwickelt, die gezielt auf das Wie, Durch wen und Warum von Migrationssteuerung ausgerichtet ist und dabei auch die Folgen von Steuerungsaktivitäten für die Wanderungssituation, die Untersuchungsländer, die Migranten und die EU berücksichtigt. Das empirisch-analytische Vorgehen wird in den Kapiteln 3 bis 5 zuerst durch zwei Leitfragen (LF) angeleitet: »Wie und warum tragen spezialisierte IRO zur Steuerung internationaler Migration bei?« (LF1) und »Welche Folgen sind mit den Steuerungsversuchen dieser spezialisierten Akteure verbunden?« (LF2). 23 http://www.nomos-shop.de/Geiger-Europ%c3%a4ische-Migrationspolitik-Raumproduktion/productview.aspx?product=13579 Das angesprochene »Raumprojekt« eines »Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts«, das die EU seit 1999 verfolgt und das in einem engen Bezug mit der Europäisierung der Migrationspolitik, den Exterritorialisierungs- und Externalisierungsbemühungen der EU und den Steuerungsaktivitäten spezialisierter internationaler Regierungsorganisationen steht, ist ein erster Hinweis darauf, dass der Kategorie Raum im Zusammenhang mit migrationspolitischen Maßnahmen bestimmte Funktionen zukommen. In Kapitel 2.2 wird in einem zweiten Herleitungsschritt deshalb die akteurs- und handlungsbezogene Perspektive um eine raumkonstruktivistische Sichtweise ergänzt, bei der nun auch die Kategorie Raum und deren Produktion und Funktion im Migrationspolitischen im Zentrum steht. Diese Perspektivenerweiterung für die (Geographische) Migrationsforschung bietet sich auch deshalb an, weil, wie anhand der empirischen Befunde in den Kapiteln 3 bis 5 deutlich werden wird, sowohl die Konzeption als auch die Implementation von steuerungsbezogenen Aktivitäten auf Praxen der Verräumlichung und der politischen Instrumentalisierung von Raum beruhen. Bei der theoretisch-inhaltlichen und empirischen Erschließung des Forschungsthemas und der Interpretation der Forschungsergebnisse wird vor diesem Hintergrund in den Kapiteln 3 bis 5 noch eine weitere Leitfrage verfolgt: »Welche Funktion kommt der Kategorie Raum im Prozess der Europäisierung von Migrationssteuerung und im Zuge der Steuerungsversuche internationaler Regierungsorganisationen zu?« (LF3). In der Schlussbetrachtung in Kapitel 6 wird ausgehend von den erhobenen empirischen Befunden ein Rückbezug auf den theoretisch-konzeptionellen Teil der Arbeit (Kapitel 1 und 2) sowie eine Weiterführung der theoretischen Einordnung und Erörterung der empirischen Ergebnisse erfolgen. Außerdem wird im Hinblick auf die drei Leitfragen ein kurzes Resümee gezogen (Kapitel 6.4). 24