Veröffentlichung zur Israelkritik Günter Grass

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Veröffentlichung zur Israelkritik Günter Grass
Beim Häuten der Zwiebel kommen die Tränen – Israelkritik als Relativierung der deutschen Schuld Benedikt Grimm Verstellung, worin auch immer, kann den klügsten, scharfsichtigsten Menschen täuschen; aber selbst das beschränkteste Kind wird, mag sie noch so geschickt verborgen sein, sie erkennen und sich abwenden.1 Nachdem Günter Grass Anfang April 2012 sein Gedicht „Was gesagt werden muss“ in der Süddeutsche[n] Zeitung veröffentlichte, flammten in den Feuilletons und in der öffentlichen Diskussion altbekannte Fragen auf: Darf man Israel kritisieren? Wo liegt die Trennlinie von Israelkritik und Antisemitismus? Die erste Frage ist schnell beantwortet, da sie sich in einer Kultur der Redefreiheit eigentlich gar nicht stellen sollte: Selbstverständlich darf man Israel kritisieren. Der Blick muss dabei allerdings sehr genau geschärft werden, aus welchen Motiven heraus von wem Kritik an Israel geäußert wird. Allzu oft wird die Solidarität mit dem palästinensischen Volk oder anderen Ländern im Nahen und Mittleren Osten vorgeschoben und dazu missbraucht, antisemitische Einstellungen und entsprechende Äußerungen in einem Dunst von humanitärer Sorge zu verschleiern. Günter Grass prophezeit in seinem Text gar einen atomaren Vernichtungskrieg Israels gegen das iranische Volk. Diese Ungeheuerlichkeit provoziert eine sorgfältige Textanalyse, die zu einem eindeutigen Ergebnis kommt: Das Gedicht ist nicht antisemitisch, es relativiert aber die deutsche Schuld in Bezug auf den Holocaust und dient somit als Triebfeder wahrer Antisemiten dieser Republik. Auf die Reaktionen angesprochen, die das Gedicht in Deutschland hervorriefen und von frenetischem Beifall bis hin zu beißender Kritik reichten, spricht Grass nur einen Tag nach Veröffentlichung des Gedichts in einem Fernsehinterview mit Tom Buhrow in der ARD unverhohlen von einer gleichgeschalteten Presse und beklagt, dass man sich nicht auf den Inhalt und die Fakten des Gedichts einließe. („Und was dann auffällt ist natürlich das sich Nicht-­‐Einlassen auf den Inhalt, die Fakten, die (es) hier genannt werden.“2) Die Kritik seitens der SPD bezeichnet er am selben Tag in einem anderen Interview, ausgestrahlt in „Kulturzeit extra“ auf 3Sat, als „töricht und offenbar auch völlig am Text […] [seines] Gedichtes vorbeigeschrieben“.3 Daher sei an dieser Stelle eine eingehende Analyse des Gedichtes erlaubt. Aufgrund des essayistischen Charakters des vorliegenden Textes wird sprachlich auf eine Differenzierung zwischen Lyrischem Ich und Autor verzichtet. Auch Grass nimmt diese Unterscheidung in dem Fernsehinterview nicht vor. 1
Tolstoi Leo N.: Lew Tolstoi -­‐ Anna Karenina, München: Hanser, 2009, S. 405, entnommen der Seite www.zitate-­‐
aphorismen.de 2
Günter Grass im Gespräch mit Tom Buhrow, 05.04.2012: http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video1093224.html 3
Kulturzeit Extra: Gespräch mit Günter Grass, 05.04.2012: http://www.3sat.de/mediathek/?display=1&mode=play&obj=30322 1 Was gesagt werden muss4 Bereits in der Überschrift betont Grass durch die flektierte Form des modalen Hilfsverbs „müssen“ die Nezessität des nun Folgenden. An Stammtischen dieser Republik wird wohl häufiger das Modalverb „dürfen“ verwendet, wenn die gängige Formel „Man wird ja wohl noch sagen dürfen…“ ein Gespräch oder einen Monolog über den Staat Israel einleitet. Diese sprachliche Distanz zwischen Sprecher und Äußerung vermeidet Grass. Somit hebt er gleich zu Beginn seine Autorität und die angebliche Faktizität seines Gedichtes hervor. Geschickt geschieht dies auch durch die Auslassung des Subjektes, auf das sich die partizipiale Verbalphrase (gesagt werden müssen) beziehen könnte. Das zu sagen Notwendige ist somit der Text selbst. Der Nobelpreisträger hat gesprochen – Widerrede zwecklos. Die Begründung der Dringlichkeit seiner Worte nimmt der Autor eigens in dem oben erwähnten ARD-­‐
Interview vor, indem er einen direkten Vergleich des gegenwärtigen Verhaltens Israels zum Holocaust zieht. Grass wörtlich: „Diese Überschrift des Textes, dieses Gedichtes ,Was gesagt werden muss‘ geht ja auf das zurück, was, was meine Generation erfahren hat. Dass man dann immer wieder hörte: Ja, wenn wir das gewusst hätten.“ Somit begibt er sich in die ihm bekannte Rolle des Mahners und Warners und stellt die leugnenden Reaktionen der Deutschen Bevölkerung nach 1945, etwas von der Judenvernichtung gewusst zu haben, mit den Reaktionen auf ein noch zu erwartendes, von Israel ausgehendes Unheil gleich, das er prophetisch vorherzusehen scheint und letztlich Inhalt seines Gedichtes darstellt. Der Vergleich der Reaktionen auf zwei Sachen und der Vergleich der Notwendigkeit, vor diesen Sachen zu warnen, stellen einen unzulässigen Vergleich der Sachen selbst dar. Zu dieser Feststellung bedarf es einer simplen mathematischen oder aussagelogischen Gleichung. Grass scheint sich mit seinem Gedicht auf die Ebene Bertolt Brechts stellen zu wollen, der in dem Gedicht „An die Nachgeborenen“, entstanden zwischen den Jahren 1934 und 1938, noch vor der Katastrophe die späteren Generationen als Adressaten wählt und eindringlich auf die Notwendigkeit des Sprechens über die Untaten verweist: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ (V.6-­‐8). Auch formal weisen diese beiden Texte Ähnlichkeiten auf, die hier nicht näher beschrieben werden sollen. V. 1 -­‐ 4 Warum schweige ich, verschweige zu lange, was offensichtlich ist und in Planspielen geübt wurde, an deren Ende als Überlebende wir allenfalls Fußnoten sind. Die einleitenden Verse sind als scheinbarer Interrogativsatz formuliert, der nicht durch ein entsprechendes Fragezeichen gekennzeichnet ist. In der Lyrik ist dies nicht unüblich; meist jedoch, wenn gänzlich auf Interpunktion verzichtet wird. Hier soll deutlich gemacht werden, dass sich die Frage nach dem Grund des Schweigens über das, „was offensichtlich ist“, von selbst beantworte. Bemerkenswert sind hier die Personalpronomina „ich“ (V.1) und „wir“ (V.4). Grass macht sich zum Fürsprecher eines Kollektivs, der den Mut hat, das auszusprechen, was ohnehin jeder denkt. Hinweis 4
Süddeutsche Zeitung, 04.04.2012, entnommen dem Online-­‐Archiv der Süddeutschen Zeitung: http://www.sueddeutsche.de/kultur/gedicht-­‐zum-­‐konflikt-­‐zwischen-­‐israel-­‐und-­‐iran-­‐was-­‐gesagt-­‐werden-­‐muss-­‐1.1325809 2 darauf liefert das Präfix ver-­‐ (V.1) in kontextueller Verbindung zu den folgenden Versen: Etwas zu verschweigen bedeutet, über ein Wissen zu verfügen, das andere nicht haben. In den Versen zwei und drei wird diese semantische Eigenart ins Paradoxe geführt, indem behauptet wird, dass das, was der Dichter verschweige, offensichtlich sei und in Planspielen geübt werde. Einfacher ausgedrückt: Keiner wage es, das zu sagen, was ohnehin offenkundig sei und Grass habe als einziger den Mut, die Wahrheit auszusprechen. V. 5 -­‐ 10 Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag, der das von einem Maulhelden unterjochte und zum organisierten Jubel gelenkte iranische Volk auslöschen könnte, weil in dessen Machtbereich der Bau einer Atombombe vermutet wird. Nun wird der Dichter deutlicher, wenn er über „das behauptete Recht auf den Erstschlag [Israels]“ spricht, „der das […] iranische Volk auslöschen könnte“ (V. 5ff.). Die direkt aneinandergereihten Wörter „Volk“ und „auslöschen“ (V. 8) folgen der Assoziationsabsicht der versuchten Auslöschung des jüdischen Volkes durch Hitlerdeutschland. Er unterstellt Israel also nicht den Willen, sich vor einer realen Bedrohung zu schützen, nicht den Wunsch, das Regime in Teheran zu stürzen, nein, es ginge Israel um die Auslöschung des iranischen Volkes! Die Motive einer solchen Unterstellung liegen nahe: Die relativierende Auseinandersetzung der eigenen („ich“ – V.1) Vergangenheit und die des deutschen Volkes („wir“ – V.4). Somit trifft Grass hier die Attitüde Vertreter des rechtsextremen Zeitgeistes, was sich unter anderem an den Lobeshymnen der NPD für das vorliegende Gedicht offenbart hat und in der Parole münden könnte: „Wir lassen uns doch von einem Land nicht ständig den Holocaust vorwerfen, das selbst einen Völkermord vorbereitet, vornehmer ausgedrückt: in Planspielen bereits geübt hat.“ (vgl. V. 2f) Mahmud Ahmadinedschad wird lediglich euphemistisch als „Maulheld[…]“ (V. 6) bezeichnet, also ein in seinen Äußerungen nicht ernst zu nehmender Schwätzer. Warum verschweigt Grass, um seine Frage aus dem ersten Vers aufzugreifen, die wiederholte Leugnung des Holocausts vor der gesamten Weltöffentlichkeit durch den iranischen Präsidenten, der beispielsweise den Judenmord als „eine falsche Behauptung, ein Märchen“5 bezeichnete und Israel unverhohlen mit Vernichtung drohte? Diese Fakten passen nicht zu dem, was laut Grass gesagt werden müsse. Grass thematisiert sein Schweigen und insbesondere sein Verschweigen und will Mahner und Fürsprecher zugleich sein; hier drängt sich der Gedanke auf, dass dies einer lebenslangen Übung entspringt, seine Mitgliedschaft in der Waffen-­‐SS zu verschweigen, während sein literarisches Schaffen häufig als Schreiben gegen das Vergessen deklariert wurde und er anmahnte, Kiesinger hätte aufgrund seiner NS-­‐Vergangenheit nie Kanzler werden dürfen. 6 5
„Ahmadinedschad nennt Holocaust ein Märchen“, Spiegel Online, 18.09.2009: http://www.spiegel.de/politik/ausland/rede-­‐zum-­‐jerusalem-­‐tag-­‐ahmadinedschad-­‐nennt-­‐holocaust-­‐ein-­‐maerchen-­‐a-­‐
649831.html 6
„Als einem Mitglied der NSDAP von 1933 bis 1945 sollte er sich und sollten wir ihm das Bundeskanzleramt versagen“ – Günter Grass über Kurt Kiesinger, 1968, vgl. u.a. „Grass urteilt – und wird verurteilt“, in: Hamburger Abendblatt vom 16.08.2006: http://www.abendblatt.de/kultur-­‐live/article413425/Grass-­‐urteilt-­‐und-­‐wird-­‐verurteilt.html 3 V. 11 -­‐ 16 Doch warum untersage ich mir, jenes andere Land beim Namen zu nennen, in dem seit Jahren -­‐ wenn auch geheimgehalten -­‐ ein wachsend nukleares Potential verfügbar aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung zugänglich ist? Nun wird die Frage nach dem Schweigen wiederholt, das Reflexivpronomen („mir“, V. 11) verdeutlicht ein selbstauferlegtes Redeverbot. Dann wird ein wachsendes, außer Kontrolle geratenes nukleares Potenzial in Relation zur simplen Benennung des Namens jenes Landes gesetzt. Die Frage nach dem Schweigen wird also erneut zugespitzt: Trotz eines drohenden infernalen Szenarios ist es untersagt, das verantwortliche Land beim Namen zu nennen. Die Begründung folgt endlich in der nächsten Strophe: Das Verdikt heißt Antisemitismus! (vgl. V. 22) V. 17 -­‐ 22 Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes, dem sich mein Schweigen untergeordnet hat, empfinde ich als belastende Lüge und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt, sobald er mißachtet wird; das Verdikt "Antisemitismus" ist geläufig. Interessant ist, dass Grass die in der vorangegangenen Strophe heraufbeschworenen Gefahren als „Tatbestand[…]“ (V. 17) und nicht etwa als Sachverhalt, Tatsache oder ähnlich tituliert. So wird die Kritik von der Sach-­‐ auf die Handlungsebene übertragen; durch die Verwendung des juristischen Fachbegriffs wird behauptet, Israel hätte sich bereits schuldig gemacht. Hier liegt ein gängiges Motiv der Israelkritik zugrunde: Grass selbst mag das jahrzehntelange Schweigen zu seiner eigenen SS-­‐Vergangenheit als belastende Lüge empfunden haben. Nun wirft er der Allgemeinheit („Das allgemeine Verschweigen“, V. 17) das Schweigen bezüglich des angeblich schuldhaften Verhalten Israels vor und mindert so die persönliche moralische Verfehlung. Den Grund für sein Schweigen über das Verhalten Israels liefert der Autor, indem er den Urteilsspruch („Verdikt“, V. 22) antizipiert, Antisemit zu sein, wenn man sich negativ über den Staat Israel äußere. Dass Israel in einem regelrechten Dauerfeuer der Kritik steht, scheint Grass entgangen zu sein: Zu Recht wird die Siedlungspolitik, der Bau des Sperrzaunes, das Grenzverhalten u.a. von so gut wie allen Tageszeitungen und Nachrichtenmagazinen, privaten und öffentlichen Sendeanstalten, Politikern und öffentlichen Personen getadelt, ohne dass diese automatisch als antisemitisch bezeichnet werden. Grass gießt hier allerdings Wasser auf die Mühlen wahrer Antisemiten und Israelhasser, die ihre Judenfeindlichkeit hinter scheinbarer Israelkritik verbergen und somit selten und wenn, dann völlig zu Recht, als Antisemiten entlarvt werden. Den Vorwurf des Antisemitismus empfindet der Dichter als „Strafe“ (V. 20), die scheinbar jedem auferlegt werden kann. Diese Verallgemeinerung hat zur Folge, dass sich als Antisemiten und Faschisten entlarvte Personen hinter dem Scheinargument der Willkürlichkeit des Vorwurfs 4 verstecken können, wenn man sogar wegen der Solidarität mit den Palästinensern als Antisemit abgestempelt werden würde. V. 23 -­‐ 35 Jetzt aber, weil aus meinem Land, das von ureigenen Verbrechen, die ohne Vergleich sind, Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird, wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert, ein weiteres U-­‐Boot nach Israel geliefert werden soll, dessen Spezialität darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe dorthin lenken zu können, wo die Existenz einer einzigen Atombombe unbewiesen ist, doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will, sage ich, was gesagt werden muß. Nun betont Grass die Einzigartigkeit des Holocausts, lässt aber durch die Repetitio („Mal um Mal“, V 26) durchblicken, dass er sich durch die Erinnerung an die Nazi-­‐Verbrechen gestört fühlt. Des Weiteren äußert er den Vorwurf, dass Waffengeschäfte mit Israel mit dem vorgeschobenen Motiv der Wiedergutmachung geschlossen würden, die in Wahrheit „rein geschäftsmäßig“ seien. Die besondere Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit des in ständiger Bedrohung befindlichen Landes Israel bleibt vollkommen außen vor. Die reale Bedrohung euphemisiert bzw. negiert er, indem er schreibt, dass im Iran „die Existenz einer einzigen Atombombe unbewiesen ist“. Das Unrecht dieser Geschäfte will der Dichter mit dem Adjektiv „allesvernichtend[…]“ (V. 31) hervorheben und kommt hier dem Wort Holocaust etymologisch verdächtig nahe (ὁλόκαυστον – „vollständig verbrannt“). Der Vergleich der Verbrechen Nazideutschlands und der Verhaltensweisen der Israelis wird also erneut unterschwellig provoziert, ohne dass er direkt ausgesprochen wird. Erneut betont er, dass er das sage, was gesagt werden müsse und verschweigt gleichzeitig, dass das, was er sagen will, in der Metaebene des Textes zu finden ist. Die Kritik an der Rüstungspolitik ist vorgeschoben, um eine deutlich brisantere Anklage zu formulieren: Israel könne sich alles erlauben, sogar den Mord an einem unschuldigen Volk und instrumentalisiere die Shoah für tagesaktuelle Verbrechen. Deutschland sei auf Grund der eigenen schuldhaften Vergangenheit zum Schweigen bzw. zur Mittäterschaft verbannt. V. 36 -­‐ 41
Warum aber schwieg ich bislang? Weil ich meinte, meine Herkunft, die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist, verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit dem Land Israel, dem ich verbunden bin und bleiben will, zuzumuten. Wieder stellt Grass die Frage nach dem Grund seines langen Schweigens. Dass er sich mit dem Häuten von Zwiebeln schwer tut oder sehr viel Zeit dafür benötigt, hat er ja jüngst bewiesen. Es sei 5 ihm aufgrund seiner Herkunft verboten, eine Wahrheit auszusprechen. Bereits in der vorangegangenen Strophe wird gesagt, dass sein Land von Verbrechen eingeholt werde, was als störend empfunden wird (s.o.). Nun konkretisiert Grass die Metonymie „Land“ (V. 23), mit der die Einwohner Deutschlands gemeint sind, auf seine persönliche Herkunft (vgl. V. 37). Das Lexem „verbieten“ (vgl. V. 39) wird in den Konjunktiv I gesetzt; diese Wahl des Modus dient als sprachliche Abgrenzung zur eigenen Auffassung oder als Infragestellung seiner einstigen Meinung, dass ein Redeverbot tatsächlich geboten gewesen sei („Weil ich meinte, meine Herkunft […] verbiete […]“, V. 37ff.). Jetzt aber scheint eine Zeit gekommen zu sein, in der man Israel wieder etwas zumuten kann. Vor allem die Wahrheit! Schluss mit der Heuchelei! (vgl. V. 54f.: „[W]eil ich der Heuchelei des Westens / überdrüssig bin“.) Auch hier kann sich der Dichter des Beifalls der rechtspolitischen Seite sicher sein. Die Übersetzung ins Stammtischdeutsche rechter Gesinnungsbrüder kann an dieser Stelle erweitert werden: „Wir lassen uns doch wegen einer Sache, die so lange zurück liegt, nicht den Mund verbieten. Vor allem nicht von denen, die selbst einen Völkermord begehen. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen! Der Schongang ist vorbei – es ist Zeit, endlich mal wieder die Wahrheit auszusprechen.“ Der Schriftsteller vergisst nicht, seine gegenwärtige Verbundenheit zu Israel zu betonen. Die zukünftige Verbundenheit hängt von dem Land selbst ab („dem Land Israel, dem ich verbunden […] bleiben will“, V. 40f.). Voraussetzung ist, dass es das, was gesagt werden müsse, ertragen könne. Grass spricht von Zumuten der Wahrheit und charakterisiert damit sein Gedicht unfreiwillig treffend: Eine Zumutung. Fraglich ist aber auch grundsätzlich seine angebliche Verbundenheit zu Israel. In einem Interview mit Spiegel Online aus dem Jahre 2001 sagt Grass: „Israel muss aber nicht nur besetzte Gebiete räumen. Auch die Besitznahme palästinensischen Bodens und seine israelische Besiedlung ist eine kriminelle Handlung. Das muss nicht nur aufhören, sondern rückgängig gemacht werden.“7 Diese unmissverständliche Aussage, die generelle Besitznahme und Besiedlung palästinensischen Bodens sei ein Verbrechen und müsse rückgängig gemacht werden, stellt das Existenzrecht Israels aufs Schärfste in Frage. Verbundenheit sieht anders aus. V. 42 -­‐ 52 Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden? Weil gesagt werden muß, was schon morgen zu spät sein könnte; auch weil wir -­‐ als Deutsche belastet genug -­‐ Zulieferer eines Verbrechens werden könnten, das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld durch keine der üblichen Ausreden zu tilgen wäre. 7
Grass, Günter: „Amerikakritik ist ein Freundschaftsdienst“ – Interview mit Günter Grass, Spiegel Online, 10.10.2001: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/interview-­‐mit-­‐guenter-­‐grass-­‐ii-­‐amerikakritik-­‐ist-­‐ein-­‐freundschaftsdienst-­‐a-­‐
161446.html 6 Wie Martin Luther der Legende nach auf der Wartburg sein Tintenfass nach dem Teufel schleuderte, als er im Begriff war, durch die Übersetzung des Neuen Testaments die Wahrheit unter das Volk zu bringen, so verschleudert Grass hier seine letzte Tinte, indem er endlich die angeblich unausgesprochene Wahrheit formuliert, die niemand außer er auszusprechen wage: „Die Atommacht Israel gefährdet / den ohnehin brüchigen Weltfrieden“ (V. 44f.). Ein Sätzchen, das ihm mit Sicherheit nicht das von ihm befürchtete „Verdikt“ Antisemitismus eingebracht hätte (vgl. V. 22). Auch wäre es unangebracht, in dieser Häufigkeit auf ein Redeverbot zu verweisen, das er in der NS-­‐
Vergangenheit begründet sieht. Der Satz ist schnell analysiert: Ja, Israel ist eine Atommacht. Zugegeben hat das noch niemand, doch ernsthaft bezweifeln kann man das auch nicht. Ohne Frage wäre eine Welt ohne Massenvernichtungswaffen sicherer. Dass Israel durch den Besitz eben dieser Waffen automatisch den Weltfrieden gefährdet, ist unter Berücksichtigung der real gegebenen Umstände dennoch etwas undifferenziert geurteilt, da das Atomwaffenarsenal Israels in unserer unsäglich hochgerüsteten Welt durch seine Abschreckungswirkung womöglich dafür verantwortlich ist, dass der jüdische Staat überhaupt existieren kann. Entscheidend ist aber vielmehr, dass das Aussprechen des Satzes sicher nicht den Mut erfordert, den Grass hier für sich in Anspruch nimmt. Israel wurde und wird wesentlich schärfere Kritik zugemutet. Die Intention des Gedichtes, das wird nun endgültig sichtbar, ist eine andere. Grass warnt davor, Deutschland laufe Gefahr, eine Mitschuld an einem von Israel geplanten Verbrechen zu erlangen („das voraussehbar ist“, V. 50), das „durch keine der üblichen Ausreden / zu tilgen wäre.“ (V. 51f.) Durch den Einschub „als Deutsche belastet genug“ (V. 48) stellt er wieder einen direkten Vergleich zum Holocaust her; jetzt geht es für die Deutschen aber nicht um die Haupttäterschaft, sondern um die Mitschuld an einem in seinem Ausmaß vergleichbaren Verbrechen! Ist es also das, was laut Grass gesagt werden muss? Der jüdische Staat ist der Täter eines bevorstehenden Völkermordes und wir sind schlimmstenfalls Mittäter? Um welche konkreten Ausreden es sich handelt, eine Mitschuld zu tilgen, will der Dichter nicht verraten. Das Nebulöse verschleiert die Unzulässigkeit seiner Aussagen und Vergleiche. V. 53 -­‐ 69 Und zugegeben: ich schweige nicht mehr, weil ich der Heuchelei des Westens überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen, es mögen sich viele vom Schweigen befreien, den Verursacher der erkennbaren Gefahr zum Verzicht auf Gewalt auffordern und gleichfalls darauf bestehen, daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle des israelischen atomaren Potentials und der iranischen Atomanlagen durch eine internationale Instanz von den Regierungen beider Länder zugelassen wird. 7 Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern, mehr noch, allen Menschen, die in dieser vom Wahn okkupierten Region dicht bei dicht verfeindet leben und letztlich auch uns zu helfen. Nun gibt Grass zu, dass die „Heuchelei des Westens“ (V. 54) der Grund sei, sein Schweigen zu brechen. Doch ausgerechnet die Semantik dieses Genitivobjektes („der Heuchelei“) ist charakteristisch für das gesamte vorliegende Gedicht: Die Israelkritik ist hier nur Mittel zum Zweck. Sein Wunsch ist es, dass sich die Menschen vom Schweigen befreien und den „Verursacher der erkennbaren Gefahr“ (V. 57) zum Gewaltverzicht aufrufen. Dass dies in der Bundesrepublik auf allen Ebenen geschieht, dürfte auch dem Schriftsteller nicht entgangen sein. So liegt die Botschaft in dem Substantiv „Verursacher“, der für Grass nur Israel sein kann. Das Gedicht ignoriert die Komplexität des Nahostkonfliktes und mündet in der Formel: Der mit den meisten Waffen ist der Böse, alle anderen sind die Opfer. Geradezu befremdlich wirkt sein Rat an die Welt, die „iranischen Atomanlagen / durch eine internationale Instanz“ (V. 67f.) unbehindert und permanent zu kontrollieren, wenn man bedenkt, dass sich der Weltsicherheitsrat und die Internationale Atomenergiebehörde bei eben diesem Versuch seit Jahren an der Nase herumführen lassen. Was also zusammenfassend über dieses Gedicht gesagt werden muss: Die Täterschaft Israels an einem in seinem Ausmaß mit dem Holocaust vergleichbaren Verbrechen, das bereits geplant und geübt werden würde, soll als Faktum dargestellt werden. Die ehemaligen Opfer und deren Nachfahren werden zu Verbrechern epochalen Ausmaßes gemacht, was letztlich die Schuld und Verantwortlichkeit der Deutschen an ihrer schuldhaften Geschichte relativiert. Je größer die Schuld der Israelis an den Palästinensern, desto geringer die Schuld der Deutschen an den Juden. Doch das Leid des palästinensischen Volkes eignet sich auch für Grass nicht als Vergleichsgröße zu den Verbrechen der Deutschen während des Nationalsozialismus‘. Daher konstruiert er einen von den Israelis geplanten Vernichtungskrieg gegen das iranische Volk und stellt diesen mehrfach in Analogie zum Holocaust. Die Deutschen sind die Täter der Vergangenheit, die Juden die Täter der Gegenwart oder der nahen Zukunft. Vielleicht ist es das, was Grass mit seinem letzten Vers ausdrücken will: Das soll „letztlich auch uns […] helfen.“ (V69). 8