tagebuch josefine mutzenbacher

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tagebuch josefine mutzenbacher
Literatur- und Abkürzungsverzeichnis
Aufsätze
Frenzel, Eike Michael
Von Josefine Mutzenbacher zu American Psycho: Das
Jugendschutzgesetz 2002 und das Ende des Gesetzes
über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften
und Medieninhalte?, in: AfP – Zeitschrift für Medienund Kommunikationsrecht, 2002, Heft 3, S. 191
(zitiert als: Frenzel AfP 2002)
Ladeur, Karl-Heinz
Was ist Pornographie heute? Zur Notwendigkeit einer
Umstellung des strafrechtlichen Pornographieverbots
auf Institutionenschutz, in: AfP – Zeitschrift für
Medien- und Kommunikationsrechts, 2001, Heft 6, S.
471 (zitiert als: Ladeur AfP 2001)
Lober, Andreas
Jugendgefährdende Unerhaltungssoftware - Kein
Kinderspiel - Voraussetzungen und Rechtsfolgen der
Indizierung jugendgefährdender Computerspiele, in:
CR - Computer und Recht, 2002, Heft 6, S. 391
(zitiert als: Lober CR 2002)
Raue, Peter
Kunstfreiheit, Persönlichkeitsrecht und das Gebot der
praktischen Kokordanz – Gedanken zum Esra-Urteil
des Bundesverfassungsgerichts und dem Contergan
Fall, in: AfP – Zeitschrift für Medien und Kommunikationsrecht, 2009, Heft 1, S.1
(zitiert als: Raue AfP 2009)
Risthaus, Stefan
Spiele und Spielregeln im Urheberrecht - Rien ne va
plus?, in: WRP - Wettberwerb in Recht und Praxis,
2009, S. 698
(zitiert als: Risthaus WRP 2009)
Roback, Markus
Von "Esra" zu "Rohtenburg" – Zu den Auswirkungen
der "Esra"-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) auf die jüngste Rechtsprechung zur
Abwägung
zwischen
Kunstfreiheit
und
Persönlichkeitsrecht, in: AfP – Zeitschrift für Medienund Kommunikationsrecht, 2009, Heft 4, S. 325
(zitiert als: Roback AfP 2009)
I
Schneider, Wilfried
Entwicklung der Spruchpraxis...Bundesprüfstelle, in:
BPjS-Aktuell 4/2001, S. 3
(zitiert als: Schneider BPjS-A 2001)
Wittreck, Fabian
Persönlichkeitsbild und Kunstfreiheit – Grundrechtskonflikte Privater nach den Enscheidungen Esra und
Contergan des Bundesverfassungsgerichts, in: AfP –
Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht,
2009, Heft 1, S. 6
(zitiert als: Wittreck AfP 2009)
Zagouras, Georgios
Rechtsfragen des Game-Designs - Die Gestaltung von
Computerspielen und -animationen aus medien- und
markenrechtlicher Sicht, in: WRP - Wettbewerb in
Recht und Praxis, 2006, S. 680
(zitiert als: Zagouras WRP 2006)
Bei den übrigen Abkürzungen wird Kirchner/Butz gefolgt.
II
Gliederung
Einleitung
1
Rechtliche Vorüberlegungen
1
Systematik und Bedeutung des Art. 5 Abs. 3 GG
1
Kunstbegriff
2
Gruppe 1: Pornographie und Gewalt
3
1954: Die Sünderin
4
1990: Josephine Mutzenbacher
5
1992: Tanz der Teufel
6
2001: American Psycho
7
2009: Manhunt
8
Zusammenfassung
8
Gruppe 2: Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht
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1971: Mephisto
12
2007: Esra
13
2007: Ehrensache
14
2009: Der Kannibale von Rothenburg
14
Zusammenfassung
15
Gruppe 3: Außenbereichsschutz und Delikt
18
Baukunst 1 (Graffiti)
18
Baukunst 2 (Artemis und Aurora-Denkmal)
18
Verunglimpfung des Staates (Deutschland muss sterben)
19
Gesundheitsschädigung (Goethe-Theater)
19
Ergebnis - Was darf der Künstler? Perspektivenwechsel
III
20
Einleitung
Die vorliegende Seminararbeit befasst sich mit den Grenzen der von Art. 5 Abs. 3 GG garantierten
Kunstfreiheit anhand von Fallbeispielen aus der Rechtsprechung. Ihr Ziel ist es, diese Grenzen praktisch
und möglichst umfassend für den Künstler zu definieren. Es gibt in der Praxis der Gerichte als auch in
anderen Fällen, in denen Kunst auf ihre rechtlichen Grenzen stößt, vielfältige Aspekte, die eine
rechtliche Beurteilung der Frage nach der Kunstfreiheit ausmachen. Nach dem Dafürhalten des
Verfassers lassen sich dennoch drei abstrakte Fallgruppen herausbilden, die der augenscheinlichen
Unübersichtlichkeit Ordnung verleihen. Alle drei Fallgruppen dienen dem Gedanken der öffentlichen
Sichherheit, jedoch auf einer unterschiedlichen Ebene der Abstraktion. Die öffentliche Sicherheit im
allgemeinsprachlichen (nicht polizeirechtlichen) Sinne umfasst beispielsweise rechtliche Fragen von
Gruppenversammlungen, Straßenkunst, Umweltschädigungen und Deliktsrecht. Diese Gruppe zeichnet
sich durch eine direkte Öffentlichkeitsberührung aus, da Kunst unmittelbar auf die Gesellschaft trifft,
was evidenter Weise nahezu unzählige Gestaltungsformen annehmen kann, weswegen diese Fälle hier
vergleichsweise oberflächlich analysiert werden, da sonst der Rahmen gesprengt würde (Gruppe 3:
Außenbereichsschutz und Delikt). Eine andere Gruppe betrifft den Schutz der Jugendlichen und Kinder,
aber auch die sittliche Grundeinstellung. Hierbei wird zunächst auf den Schutz einer bestimmten
Zielgruppe abgestellt, der dann aus einer Abstraktion heraus für die gesamte Bevölkerung Bedeutung
hat (Gruppe 1: Pornographie und Gewalt). Zum Schluss wäre da noch der Schutz der Persönlichkeit des
Individuums, getragen vom Gedanken der Menschenwürde. In diesen Fällen geht es konkret um
Streitfragen zwischen zwei Parteien. Innerhalb dieser zivilrechtlichen, adversatorischen Konflikte lassen
sich aber auch grundsätzliche Werte und Interessen der Allgemeinheit finden, die für den Staat von
außerordentlichem Belang sind, weil sie auf die beiden wichtigsten Pfeiler der Verfassung abzielen: Art.
1 und Art. 2 GG (Gruppe 2: Allgemeines Persönlichkeitsrecht). In der praktischen Konkordanz bei einer
Abwägung zwischen den jeweils widerstreitenden Grundrechten zeigen sich in jeder Fallgruppe
Besonderheiten, die für die Bewertung und Gewichtung der Grundrechte tragende Rollen spielen und
im Folgenden noch analysiert werden.
Rechtliche Vorüberlegungen
Systematik und Bedeutung des Art. 5 Abs. 3 GG
Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs.3 S.1 Var. 1 GG gilt als Spezialfall zum Grundrecht auf freie
1
2
Meinungsäußerung nach Art. 5 Abs. 1 GG. Für eine Demokratie ist es schlechthin konstituierend. Es
3
gilt die Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede und damit erst Recht für die Kunst. Mehr sogar,
4
die Kunstfreiheit unterliegt keinem Gesetzesvorbehalt, wird also schrankenlos gewährt. Sie wird explizit
nicht durch die Grundrechtsschanke des Art. 5 Abs. 2 GG tangiert und kann somit nur durch
kollidierendes Verfassungsrecht, d.h. durch Grundrechte Dritter und andere wichtige Güter von
Verfassungsrang eingeschränkt werden. Diese „Gegnergruppe“ lässt sich - wie oben bereits angedeutet grob in drei Ausgestaltungen unterteilen. Bei der dritten Gruppe kommen zum Einen Konflikte mit dem
5
Verfassungsauftrag des Umweltschutzes nach Art. 20a GG oder aber Streitigkeiten in Bezug auf
Versammlungen und Beschädigung von Privat- oder Staatseigentum gem. Art. 2 Abs. 2 GG in Betracht.
1
Die beiden praktisch am häufigsten anzutreffenden und wichtigsten Fallgruppen jedoch betreffen die
Konfrontation
von
Kunstfreiheit
mit
dem
Schutz
der
Familie
sowie
dem
allgemeinen
Persönlichkeitsrecht. Es geht in der Sache um den Schutz des elterliche Erziehungsrechts aus Art. 6 Abs.
2 S.1 GG bzw. das Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit von Kindern und Jugendlichen nach Art. 1 Abs.
6
1 S.1 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG sowie die Achtung des Personenwürde aus Art. 2 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 S.1 GG. Diese Grundrechte werden zum Teil durch normale Gesetze wie
Straftatbestände und Baurecht konkretisiert, oder aber praktisch von (auch privatrechtlichen)
Institutionen verteidigt.
Kunstbegriff
Dem Wesen der Kunst widerspricht es eigentlich, den Begriff der Kunst zu definieren. Für die
Rechtsanwendung ist eine Definition aber unerlässlich. Wie weit die Verfassungsgarantie der
Kunstfreiheit reicht und was sie im Einzelnen bedeutet, läßt sich ohne tieferes Eingehen auf die sehr
verschiedenen Äußerungsformen künstlerischer Betätigung in einer für alle Kunstgattungen
gleichermaßen gültigen Weise nicht erschöpfend darstellen. In mehreren Leitentscheidungen hat das
BVerfG die Kunst versucht zu definieren, verwendet heutzutage aber mehrere Kunstbegriffe
nebeneinander: Kunst kann zunächst materiell bestimmt werden. Danach ist jede künstlerischen
Betätigung als freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers
7
durch das Medium einer bestimmten Formensprache zum Ausdruck gebracht werden, erfasst. Dieser
Begriff ist jedoch zu unpräzise, da er eher eine Beschreibung als eine Definition ist. Des Weiteren kann
Kunst formal bestimmt werden, und zwar, wenn das Wesentliche des betreffenden Werks einem
bestimmten Werktyp zugeordnet werden kann (Malerei, Musik, Bildhauerei, Dichtung, Schauspiel etc.).
8
Dieser Begriff ist zu eng, da moderne Kunst gerade nach neuen Erscheinungsformen strebt. Ein dritter
Ansatz sieht das kennzeichnende Merkmal einer künstlerische Betätigung darin, dass es wegen der
Mannigfalitigkeit des Aussagegehalts möglich sei, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten
Interpretation immer weitreichendere Bedeutungen zu entnehmen, sodass sich eine praktisch
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unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergebe (sog. Offener Kunstbegriff). Leider ist bei
diesem Begriff keine abschließende Beurteilung möglich, da es bei einer gewissen Argumenation immer
möglich ist, dieses Kriterium zu bejahen. Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, zu untersuchen, inwie
weit das Werk als Kulturgut anzusehen ist. Dies birgt aber die Gefahr, dass kulturpolitische Leitideen
freie künstlerische Entfaltung hemmen könnten. Solch eine Entwicklung konnte in Deutschland schon
einmal beobachtet werden. „Entartete Kunst“ war während der nationalsozialistischen Diktatur in
Deutschland der offiziell propagierte Begriff für mit rassentheoretischen Begründungen diffamierte
Moderne Kunst. Die Nationalsozialisten entwickelten ein gesondertes Kunstideal und verfolgten diese
entgegenstehende Kunst, die auch als „Verfallskunst“ und „artfremd“ bezeichnet wurde, weil sie von
Pessimismus und Pazifismus geprägt sei. Um staatliches Kunstrichtertum wie im Nationalsozialismus
auszuschließen, ist der heutige Begriff der Kunst jedenfalls weit zu verstehen. Unerheblich ist in jedem
Fall, welches Niveau das Objekt hat.
10
2
11
Das schließt Pornographie genauso mit ein wie „Splatter“, Horror, unästhetische Objekte ,Satire,
Persiflage, Parodie oder (populistische) Gesellschafts- und Staatskritik. Insbesondere spielt es keine
Rolle, ob das Objekt als künstlerisch hochwertig oder als profan angesehen wird. Kunst ist einer
staatlichen Stil- und Niveaukontrolle nicht zugänglich.
12
Bei einer rechtlichen Würdigung von mehreren
Interpretationen eines Kunstwerks ist diejenige zugrunde zu legen, bei der das Kunstwerk fremde
Rechte oder Allgemeininteressen nicht beeinträchtigt.
13
Um bei dem formellen Kunstbegriff
anzuknöpfen, da er der Deutlichste ist, können folgende Werktypen theoretisch als Kunst angesehen
werden: Malerei, Bildhauerei, Fotographie, Theater, Film, Literatur, Musik.
Fraglich ist, ob auch Computer-Spiele unter den Kunstbegriff fallen. Dies wird teilweise bestritten
ist
14
und
jedenfalls noch nicht gerichtlich geklärt worden. Bei einer Subsumierung unter die obigen
Kunstbegriffe ergibt sich folgendes: Computerspiele sind Gemeinschaftsprojekte und unterliegen
heutzutage ähnlichen Strukturen wie die Filmbranche
15
(Produzenten, Storyboarder, Designer,
Regiesseure etc.). Dieses Team an kreativen, wirtschaftlichen und technischen Experten betätigt sich in
einer freien, künstlerischen Art und Weise. Hierbei werden genauso Eindrücke und Erfahrungen
verarbeitet die dann durch ein Medium – den Computer bzw. die Grafikkarte – in einer bestimmten
Formsprache zum Ausdruck gebracht werden. (Materieller Begriff). Spiele erzählen Geschichten und
geben mittlerweile dem „Gamer“ die Möglichkeit, durch unterschiedliche Verhaltensweisen den
Spielverlauf zu beeinflussen, mithin mehrere Szenarien und damit Interpretationsmöglichkeiten zu
erschaffen (Offener Begriff). Nicht zuletzt hat der deutsche Kulturrat Computerspiele 2008 zum
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Kulturgut erklärt: „Kunstfreiheit gilt auch für Computerspiele.“ Dem ist im Ergebnis zuzustimmen
Gruppe 1: Pornographie und Gewalt
Pornographie und Gewalt zählen seit je her zu Themen, die ein moderner Staat gezielt versucht zu
kontrollieren und für die Bevölkerung zu dosieren. Um die Regeln der Gesellschaft - allen voran die
objektive Rechtsordnung - zu bewahren, ist eine moralisch hochwertige, vielleicht sogar "tugendhafte"
Grundhaltung essentielle Voraussetzung. Auch wenn beide Themen ohne Zweifel Teil der menschlichen
Psyche und des Zusammenlebens sind, und Tugendhaftigkeit eine Frage des Standpunktes ist, so ist es
auch schon eine Frage der Logik und der praktischen Notwendigkeit, friedliches Beisammenleben zu
propagieren; Besonders wichtig ist dieser Punkt im Hinblick auf den Jugendschutz, da Kinder und
Jugendliche leichter beeinflussbar sind als Erwachsene. Auf der anderen Seite steht (aus Angst vor und
als Abkehr von autoritären Staatssystemen) der unbändige Wille der Bevölkerung in Freiheit zu Leben,
was sich insbesondere auf die freie Meinungsäußerung und die Unterform der Kunstfreiheit bezieht.
Beide Positionen stehen sich eigentlich diametral gegenüber, da konsequente Freiheit auch die
natürlichen Erscheiungsformen menschlichen Zusammenlebens, nämlich Sex und Gewalt, beinhaltet.
Um trotzdem ein Gleichgewicht zu erreichen, geht das deutsche Recht von der Überlegung aus, dass die
Kunstfreiheit grundsätzlich unbeschränkt gewährt wird. Als mögliche Einschränkung dient der
Jugendschutz, der durchaus ein Wert von Verfassungsrang ist. Trotzdem ist er – anders als im Falle bei
Persönlichkeitsrechtsverletzungen – nicht direkt, sonder höchstens mittelbar durch Art. 6 GG, greifbar in
Form eines Grundrechts. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber zahlreiche Gesetze erlassen und es
3
wurden politische Instrumentarien erschaffen, um das Staatsschutzziel trotzdem durchzusetzen. Seit
1951 wurde dieser Jugendmedienschutz vor allem durch das Gesetz zum Schutze der Jugend in der
Öffentlichkeit (JÖSchG) und durch das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften und
Medieninhalte (GjS) normiert.
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Die Regelungen dieser Gesetze sind mit einigen Änderungen 2003 im
Jugenschutzgesetz (JuSchG) aufgegangen: Es geht um die Abwehr einer angenommenen Gefährdung
durch das Konsumieren von Medien.
18
Daneben sind Vorschriften des StGB von Bedeutung, die
mittelbar jugendschützend wirken.
Das JuSchG regelt unter anderem in Bezug auf Minderjährige und Kunst:
•
Verkauf und anderweitiges Zugänglichmachen von Filmen und Computer-/Videospielen in der
Öffentlichkeit
•
Zuständigkeiten der Jugendschutz-Organisationen Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK)
und Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle als Pendant bei Computerspielen (USK)
•
Tätigkeit der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPJM, früher: BPJS), insbesondere das
Instrument der Indizierung von Medieninhalten
Das StGB kennt als für Pornographie und Gewalt relevante Tatbestände:
•
§ 131 StGB - Die Menschenwürdende verletzende Gewaltdarstellungen
•
§ 184 - § 184d StGB - Verbreitung pornographischer Schriften
Im Bereich des Films lässt sich als Hauptinitiator der Berufsverband der Spitzenorganisation der
Filmwirtschaft e.V. (SPIO) in Wiesbaden ausmachen. Diese betreibt in der Form einer
Tochtergesellschaft (mbH) die FSK, welcher zwar nicht rechtlich verpflichtend, jedoch auf freiwilliger
Basis dennoch für die Filmvertriebe obligatorisch Medieninhalte prüft. Desweiteren kann die SPIO auch
selbstständig Medien überprüfen und zwar auf strafrechtlich relevante Inhalte. Eine Indizierung bzw.
Beschlagnahmung erfolgt dann gegebenfalls durch ein Gericht. Allerdings besteht auch die Möglichkeit,
direkt hoheitlich tätig zu werden, und zwar durch die BPJM, welche eine Bundesoberbehörde darstellt.
Im Gegensatz zur freiwilligen Arbeit der SPIO bzw. FSK handelt die BPJM nur auf Antrag des z.B.
Jugendamtes und überprüft vor Allem nach dem StGB verbotene Inhalte. Allerdings bedeutet eine
Alterskennzeichnung durch die FSK oder die USK ein Verfahrenshindernis, welches eine Indizierung
verbietet.
Diese „Verteidigungswälle“ gegen die sittliche Verrohung der Gesellschaft machen die rechtliche
Beurteilung von Kunstfreiheit in Bezug auf Pornographie- und Gewaltdarstellungen aus.
1954: Die Sünderin
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1. Verbot / Indizierung:
24.03.1951 durch das städische Ordnungsamt
Grund:
Art. 6 GG, Moralvorstellungen
Letzte Entscheidung:
21.12.1954 durch das Bundesverwaltungsgericht
Sieger:
Kunstfreiheit
Sachverhalt:
4
Die Handlung des Films dreht sich um das Zusammenleben der Prostituierten Marina und ihrem Freund,
dem Maler Gustav. Marina geht dem Prostitutionsgewerbe nach, leistet später Sterbehilfe und begeht
anschließend Selbstmord.
Aspekte:
•
Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) übt zwar hoheitliche Aufgaben als
privatrechtlicher Verband aus, kann jedoch mit ihren Entscheidungen bezüglich einer Freigabe oder
Nichtfreigabe eines Films keine für die Verwaltung bindende hoheitliche Entscheidung treffen.
•
Die Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG unterliegt nicht den Schranken der allgemeinen Gesetze im Sinne
des Art. 5 Abs. 2 GG und damit auch nicht der polizeilichen Generalklausel.
•
20
21
Auch das Sittengesetz im Sinne der allgemeinen grundlegenden Anschauungen über die ethische
Gebundenheit des Einzelnen in der Gemeinschaft und erst recht die Institution der Ehe und der Familie
nach Art. 6 GG sind Werte von Verfassungsrang. Eine Verletzung solcher Werte findet nur dann statt,
wenn der Film Vorgänge, die diesen Rechtsgütern zuwiderlaufen, verherrlicht und als erstrebenwert
darstellt. Mithin muss eine Bekenntnis des Films zu diesen Un-Werten stattfinden.
•
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Moralische, religiöse und weltanschauliche Auffassungen einzelner Bevölkerungskreise, wie sie in den
verschiedenen Landesteilen verschieden entwickelt sind, sind zwar innere Werte, aber nicht unter den
besonderen Schutz der staatlichen Grundordnung gestellt und damit auch nicht in der Lage, die
Kunstfreiheit einzuschränken.
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1990: Josephine Mutzenbacher
24
1. Verbot / Indizierung:
1982 durch die BPJS (heute: BPJM)
Grund:
Art. 6 GG, jetzt: § 18 JuSchG
Bundesverfassungsgericht:
27.11.1990
Letzte Entscheidung:
31.10.1991 durch das OVG Münster
Sieger:
Jugendschutz
Sachverhalt:
Das Buch schildert die tristen Lebensverhältnisse der Wiener Großstadt, denen ein junges Mädchen
namens Josefine Mutzenbacher zu entkommen versucht. Nach vielen Jahren, in denen aus der IchPerspektive aus dem Prostituiertenleben erzählt wird, erreicht sie sogar einen gewissen Wohlstand und
Ansehen, weshalb das Dirnenleben auch nicht als nur kritisch oder verwerflich dargestellt wird, sondern
mitunter fröhlich konnotiert ist. Mutzenbacher macht bereits im Alter von Fünf Jahren erste sexuelle
Erfahrungen und geht mit Vierzehn bereits dem Prostitutionsgewerbe nach.
Aspekte:
•
Erforderlich ist eine werkgerechte Interpretation des Werks, ebenso wie eine Analyse des Echos und der
Wertschätzung von Kritik und Wissenschaft, um keine Vorab-Zensur auf Grundlage eines Genres (Hier:
Pornographie) zu schaffen.
•
25
Es darf keine staatliche Stil-, Niveau- und Inhaltskontrolle geben. Kunst und Pornographie schließen sich
nicht aus. Insbesondere die Vulgärsprache oder die Sexualphantasieen können als Stilmittel verstanden
werden.
26
5
•
Bei dem Werk handelt es sich um Kinderpornografie. Sexueller Kindesmissbrauch wird ausführlich und
in einer für pornographische Erzeugnisse üblichen aufreizenden Weise geschildet und einschränkungslos
verharmlost. Die Hauptfigur agiert dabei im Alter zwischen 7 und 13 Jahren. Hinweise, die dem
jugendlichen Leser signalisieren könnten, dass diese Aussagen problematisch sind, finden sich an keiner
Stelle. Die erwachsenen Sexualpartner sind – bei Licht betrachtet – Kinderschänder.
1992: Tanz der Teufel
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1. Verbot / Indizierung:
25.04.1984 durch die BPJS
Grund:
§ 131 StGB
Letzte Entscheidung:
20.10.1992 durch das BVerfG
Sieger:
Kunstfreiheit
Sachverhalt:
Der Film handelt von fünf Jugendlichen, die ein Wochenende in einer Waldhütte verbringen. In dem
Haus finden sie ein Tonbandgerät, welches eine magische Formel abspielt, die die „Dämonen des
Waldes“ zum Leben erweckt. Daraufhin werden die Freunde von Untoten heimgesucht, die mitunter
sehr blutig Jagd auf die Überlebenden machen. Gegenstand der rechtlichen Bewertungen durch die
Gerichte waren beispielhafte Szenen aus dem Film, wie etwa eine Großaufnahme, in der der Kopf einer
weiblichen Bessessenen in Brand gerät und die Gesichtshaut dabei verbrennt. Einmal springt eine
Besessene auf einen am Boden liegenden Mann, der einen Spaten abwehrend vor sich hält und durch
den Sturz der Angreiferin deren Kopf abtrennt. Außerdem gibt es Szenen, in denen ein Mann erwürgt,
ein Weiterer durch Axthiebe zerstückelt, ein Bessessener von einem Stilett erdolcht und der Kopf eines
Anderen teilweise zerfetzt wird.
Aspekte:
•
Die Tatbestandsmerkmale des § 131 StGB wurden ausgelegt, um den Vorwurf des Verstoßes gegen Art.
103 Abs. 2 GG zu beseitigen. Der § 131 StGB ist verfassungsmäßig:
•
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Das Tatbestandsmerkmal „Mensch“ umfasst nur den Begriff des biologischen Menschen, nicht dagegen
menschenähnliche Wesen, wie z.B. Zombies oder Besessene. Dies gilt allerdings nur für die Opferseite,
nicht so für die Täterseite.
30
Das Merkmal „grausam“ entspricht dem Mordmerkmal des § 211 StGB.
31
„Unmenschlich“ ist eine Handlung, die mit menschenverachtender, rücksichtsloser, roher oder
unbarmherziger Gesinnung ausgeführt wird.
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Der Begriff „Gewalttätigkeit“ bezeichnet ein aggressives,
aktives Tun, durch das unter Einsatz oder Ingangsetzen physischer Kraft unmittelbar oder mittelbar auf
den Körper eines Menschen in einer dessen leibliche oder seelische Unversehrtheit beeinträchtigenden
oder konkret gefährdenden Weise eingewirkt wird. Es ist aber nicht nötig, dass die gezeigte Gewalt, um
dem Telos der Norm gerecht zu werden, nur solche Darstellungen in Betracht kommen, die tatsächlich
denkbare, in der Realität vorkommende Vorgänge zum Gegenstand haben. Vielmehr können auch
Darstellungen, welche das Grausame und Unmenschliche rein fiktiver, erkennbar frei erfundener
Gewalttätigkeiten in ihren Einzelheiten ausbreiten, eine gewaltverherrlichende oder - verharmlosende
Tendenz ausdrücken oder das Gebot zur Achtung der Würde des Menschen verletzen und damit dem
Verbot des § 131 Abs. 1 StGB unterfallen.
33
6
Trotz Nebulosität des Begriffes Menschenwürde, könne
dieser – gemessen an Art. 1 GG – verfassungsmäßig ausgelegt werden.
34
Erforderlich ist eine (hier:
filmische) Darstellung, die beim Betrachter eine Einstellung erzeugen soll, die den fundamentalen Wertund Achtungsanspruch der konkret dargestellten Person leugnet und ein sadistisches Vergnügen
vermittelt. Als Beispiel wird das „genüssliche“ Verharren bei einem unmenschlichen Vorgang
angeführt.
35
„Nur“ Darstellungen von Gewalt mit extremer Qualität, d.h. Brutalität und mit
aufdringlicher Häufigkeit fallen grundsätzlich nicht schon unter das Merkmal der „Meschen(un)würde“
des § 131 StGB.
•
„The Evil Dead“ verstößt nicht gegen die Norm des § 131 StGB
2001: American Psycho
36
1. Verbot / Indizierung:
05.01.1995 durch die BPjS
Grund:
Art. 6 GG, jetzt: § 18 JuSchG
Letzte Entscheidung:
15.02.2001 durch das OVG NRW
Sieger:
Kunstfreiheit
Sachverhalt:
Das Buch beschreibt aus der Perspektive des Protagonisten Patrick Bateman, ein reicher „Yuppi“ und
„Vice-President“ eines nicht näher bestimmten Konzerns, dessen Lebensalltag im kapitalistischzynischen New York der 80er Jahre. Hierbei übt der Autor, Bret Easton Ellis, starke Kritik am
Materialismus und sinnlos-größenwahsinnigen Konsumverhalten der Upper-Class aus, die gänzlich ohne
Gefühle und Moral ihrem dekadenten Leben aus Drogen, Geld und Party fröhnt. Bateman ist sich dieser
Sinnlosigkeit seines Lebens bewusst und versucht Gefühle dadurch zu bekommen, indem er unzählige
Menschen auf z.T. äußerst grausame Art und Weise umbringt. Im Zentrum der Kritik stehen zwei rein
pornografische Szenen und fünfzehn Mord-Schilderungen. So gibt es eine Szene, in der Bateman einer
weiblichen Prostituierten, nachdem er diese mit Fesseln fixiert hat, ein langes, hohles Metallrohr in die
Vagina rammt und anschließend eine ausgehungerte Ratte hindurchlaufen lässt, welche beginnt, die
Innereien der Frau zu fressen – Diese ist noch bei Bewusstsein. Diese drastischen Darstellungen sind
gepaart mit allerlei humoristischen Bemerkungen des Protagonisten sowie einer endlosen
Aneinanderreihung von Besitztümern und den dazugehörigen Marken.
Aspekte:
•
Eine Güterabwägung ist keine „Verrechnung“ von quasi-numerischen Rangplätzen auf einer Kunst- und
einer Jugendgefährdnungsskale. Sie erfordert eine sorgsame Beurteilung der künstlerischen Elemente
mit denjenigen, denen eine Jugendgefährdung innewohnt.
•
37
Zwar wohnt American Psycho ein Schädigungspotential inne durch die außerordentliche Realitätsnähe
der dargestellten Vorgänge sowie den kühlen und berechnenden Charakter der – im Übrigen nicht als
Identifikationsfigur dienenden – Figur des Patrick Bateman. Allerdings zeigt das Werk die innere Nähe
des zur Fassade erstarrten modernen Lebens zum totalen Amoralismus auf. Dieser künstlerische Wert
des Buches rechtfertigt die dargestellten Grausamkeiten als Stilmittel.
7
38
2009: Manhunt
39
1. Verbot / Indizierung:
11.03.2004 durch die BPJM
Grund:
Art. 6 GG,§ 18 JuSchG
Letzte Entscheidung:
19.07.2004 durch das AG München
Sieger:
Jugendschutz
Sachverhalt:
In dem Spiel schlüpft der Spieler in die Rolle eines verurteilten Gewaltverbrechers namens James Earl
Cash, der auf seine Hinrichtung wartet. Ein reicher ehemaliger Hollywood Regisseur sorgt mit seinem
Geld und Einfluss dafür, dass Cash der Vollstreckung des Todesurteils entfliehen kann. Im Gegenzug
fordert er Cash – und damit den Spieler – auf, diverse Snuff-Filme zu produzieren. Der Spieler ist hierbei
Hauptakteur und soll verschiedene Menschen vor laufender Kamera auf möglichst brutale Art und
Weise ermorden; Namentlich Kopfschüsse mit großkalibrigen Waffen sowie das Flehen um Gnade von
nur verletzten Gegnern. Die finalen Tötungssequenzen – unterteilt in 3 Stufen – zeigen Enthauptungen,
Erwürgen und herausspritzende Gehirne. Die Tötung wird hierbei durch den Einsatz von kleinen
Videosequenzen in die Länge gezogen.
Aspekte:
•
Bereits die „normalen“ Handlungsabläufe, d.h. nicht die finalen Tötungssequenzen, fallen äußerst brutal
aus.
•
40
Dem Spiel wohnt eine äußerst menschenverachtende Grundhaltung inne. Held und Schurke sind nahezu
identisch und durch die von Moral losgelösten Intentionen der Charaktere, welche sich primär auf den
eigenen, egoistischen Überlebenstrieb beziehen, glorifiziert das Spiel Selbstjustiz und verneint die
grundlegendsten Regeln menschlichen Zusammenlebens.
41
Zusammenfassung
Es lässt sich festhalten, dass sich die Spruchpraxis im Laufe der Zeit zu Gunsten der Kunst in Bezug auf
die Darstellung von sexuellen und gewaltätigen Inhalten verändert hat. Es ist zu einer
Grenzverschiebung von zulässigen und verbotenen Formen gekommen.
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Beide Themenkomplexe
zielen,wie bereits mehrfach erwähnt, auf den Jugendschutz ab und sind rechtlich gleich zu bewerten.
Trotzdem ist der Weg der Pornographie im Rahmen der Kunstfreiheit ein Längerer gewesen. Wie das
Beispiel der „Sünderin“ verdeutlicht, galten in den 40er und 50er Jahren noch strenge, durch die Kirche
vertretene Moral- und Sittlichkeitsvorstellungen, die der Darstellung von Nacktheit allgemein eine
Jugendgefährdung attestierten und kontraklerikale Themen wie Sterbehilfe und Suizid als schlechthin
sittenwidrig abstempelten.
43
Immerhin markierte das Urteil einen ersten Grundpfeiler, der weg von der
alleinigen Betrachtung der Rezeption und der Wirkung des Films in der Realität hin zu einer
Verknüpfung mit Kunst- bzw. Filmtechnischer Werkanalyse führte. Es wurde untersucht, inwieweit der
Film – und damit die Kunst – sittenwidrige Werte verherrlichte, d.h. die Darstellung an sich war nicht das
44
jugendgefährdende, sondern die dahinterstehende Intention. Zeitgleich veränderte sich die Strafnorm
des § 184 StGB, der nunmehr nicht Bezug nimmt auf die „guten Sitten“, sondern konkret von
„Pornographie“ spricht.
45
Das bedeutet, abstrakte, nebulöse Rechtsbegriffe, die weniger einen
8
Sachverhalt beschreiben sondern eine außerrechtliche Wertung voraussetzen und dem gesellschaftlichsozialen Wandel unterliegen, wurden eingetauscht gegen qualifizierte Bedingungen, die eine Grenze der
Strafbarkeit insbesondere im Hinblick auf Art. 103 Abs.2 GG verfassungsmäßiger definieren.
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Im
weiteren Verlauf der Geschichte begegnen uns zwei Grundsatzurteile, die diesen Weg weiter ebnen
sollten. Im sog. Opus Pistorum Urteil von 1992 wurde die Abwägung in jedem einzelnen Fall zwischen
Pornographie und Kunst gefordert – Allerdings nur für Grenzfälle.
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Die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts im Fall der „Josephine Mutzenbacher“ konstituierte schließlich den bis heute
geltenden Grundsatz: „Pornographie und Kunst schließen sich nicht aus“. Es sei generell eine
Einzelabwägung zwischen der Kunstfreiheit und dem Jugendschutz zu führen, wobei diese Abwägung
festen Kriterien unterliegen solle.
Interpretation
wurde:
•
49
48
Diese Kriterien zeichnen sich durch eine werkgerechte
aus, welche auch an der anderen Front – Kunst gegen Persönlichkeitsrecht – Leitbild
50
Das Maß der Einbindung der gefährdenden Schilderungen in ein künstlerisches Konzept, was Wahl und
Bearbeitung eines Gewalt und Sexualität thematisierenden Sujets beinhalte
•
Die künstlerische Gestaltung und Einbettung der jugendgefährdenden Inhalte in die Gesamtkonzeption
•
Das Ansehen des Werkes beim Publikum
•
Echo und Wertschätzung in Kritik und Wissenschaft
Während also auf der prozessualen Seite vor Gericht der Künstlerische Wirkungsbereich stärker betont
wurde, mithin der Kunst juristische Liberalität geschenkt wurde, wurde dem Verständnis von Sexualität
und Pornographie auf der materiellen Seite das schlechte Image genommen. Die Liberalisierung und
Säkularisierung der Gesellschaft sowie der schwindende Einfluss der Kirche veränderten den Blickwinkel
auf Pornographie in Medien im Allgemeinen und Kunst im Besonderen.
51
Es galt nunmehr zu trennen
zwischen echtem „Porno“ und künstlerische Gestaltung von Sexualität. „Porno“ ist heutzutage das
Genre, das primär über getrennte Läden, Kinos und Versandhäuser verbreitet wird und in der Regel
nicht von der allgemeinen Presse rezensiert wird. Es ist eine mehr oder weniger verzeihliche Schwäche,
nicht aber eine bewusst gewählte Form der Lebensgestaltung, die der Ausübung von Meinungs- und
Informatonsfreiheit dient.
52
Durch die Einführung des Prostitutionsgesetzes 2002 sowie der Trend,
53
private, selbstgedrehte Videos im Internet zu verbreiten , dürfte der "Sittenwidrigkeit" von
Pornographie weitgehend der Boden genommen sein. All das führt zu der heute geltenden Maxime: In
Dubio pro Arte. Je höher der künstlerische Wert, desto höher die Freiheit.
54
Wenn man sich die
anhaltende Sexualisierung der Gesellschaft durch die Medien anschaut, scheint es mittlerweile eher
unwahrscheinlich, dass Kunst in Bezug auf Pornographie großartig eingeschränkt werden könnte. Einige
Tabubereiche verbleiben aber nachwievor, was sich insbesondere aus den differenzierten Vorschriften
der §§ 184 f. StGB ergibt. Einer dieser Tabubereiche davon führte auch zur endgültigen Indizierung des
Mutzenbacher-Romans: Kinderpornographie. Wie die Spruchpraxis der BPjM zeigt, geht der Staat davon
aus, dass in der Darstellung von nackten Kinderkörpern, unabhängig in welchem Medium, jedenfalls die
Gefahr gegeben sei, dass Kinder und Jugendliche zu Schauobjekten herabgewürdigt werden, was der
unbedingten Unverletzlichkeit der Menschenwürde widerspreche. Das Problem hierbei sei die
9
Signalwirkung für die Kinder selbst, die von solchen Werken oder Bildern ausgehe, die letztendlich dazu
führe, dass Kinder sich den Wünschen von Erwachsenen in Bezug auf pädosexuelle Bedürfnisse nicht
widersetzen könnten. Selbst wenn es sich bei dieser gefährdeten Gruppe von Kindern um eine
55
Minderheit handele, so habe diese dennoch einen Anspruch auf Schutz. Letztendlich differenziert man
also zwischen Kinder- und Jugendlichen auf der Einen und Erwachsenen auf der anderen Seite und zwar
sowohl auf der Protagonisten- als auch auf der Rezipientenseite, obwohl es um den selben Gegenstand
geht.
56
Darin könnte man eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung sehen. Problematisch ist nämlich
die Frage nach der wissenschaftlichen Beweisbarkeit über die Folgen der Konfrontation gerade junger
Menschen mit pornographischen oder gewaltverherrlichenden Medien.
57
Diese Frage entzündet sich
heutzutage vor allem im Bereich der Gewaltmedien und -kunst. Kunst und Gewalt haben eine
vergleichweise kleine gemeinsame Konfrontationsgeschichte im Vergleich zur Pornographie. Es lässt sich
aber ebenfalls festhalten, dass der unbestimmte Begriff von „verrohender Wirkung“ einer
Gewaltdarstellung ersetzt wurde durch genaue Tatbestandsvoraussetzungen im heutigen § 131 StGB.
Hintergrund der Gewaltproblematik in der Kunst ist die Angst des Staates vor Nachahmung der
gezeigten Gewalttaten.
58
Der Staat will verhindern, dass Mord, Totschlag, Vergewaltigung und andere
schwere Kapitalstraftaten überhaupt erst entstehen. Der präventive Eingriff in die Kunstfreiheit soll also
die repressive Ahndung unterstützen und fördern. Aus diesem Grund messen sich die
Tatbestandsmerkmale des § 131 StGB u.a. auch am § 211 StGB oder an der Menschenwürde des Art. 1
GG. Die Frage, wie weit diese Prävention gehen darf, richtet sich nach der Wahrscheinlichkeit der
schädlichen Wirkung, insbesondere auf den Jugendlichen. Es besteht die Angst vor einer Selbstzensur –
der sog. „Schere im Kopf“ - bereits in der Anfangsphase des künstlerischen Schaffens.
59
Bücher haben durch ihren zeitaufwändigen Charakter sowie dem schwindenden Interesse von Kindern
und Jugendlichen (jedenfalls was Gewaltliteratur angeht) einen bescheidenen Anteil an dieser
Diskussion. Insbesondere das Urteil im Falle „American Psycho“ konstituiert dem Medium des Buches
einen gewissen Freischein in Sachen Literatur und Gewalt. Die dort dargestellten Grausamkeiten sind –
auch in pornographischer Hinsicht – nicht zu überbieten. Dennoch ging das Gericht 2001 davon aus,
dass der künstlerische Kontext der Brutalität der Schilderungen gerecht wird. Ebenso wurden bei „Tanz
der Teufel“ die Darstellungen unter den Tatbestand des § 131 StGB subsumiert, mit dem Ergebnis, dass
der Film ausgestrahlt werden dürfe. Beiden Werken ist eine positive Kritik und große
Anhängermeinschaft beim Publikum gemeinsam – Beide Kunstwerke sind Kult. Dies ist insofern
interessant, als dass es auch Gegenbeispiele gibt: Der Film „Cannibal – Aus dem Tagebuch des
60
Kannibalen“ wurde aufgrund der extremen, pornographischen Gewaltdarstellungen mittlerweile nach
61
62
§ 184a StGB beschlagnahmt. Gleiches galt für einen gewalttätigen "PornoComic" . Streng genommen
gibt es keinen Unterschied zu den oben genannten Werken, weder in der Kunstgattung noch in den
Darstellungen, mit einer Ausnahme: Einen Erfolg, sowohl in kommerzieller als auch künstlerische
Hinsicht, wie American Psycho oder Tanz der Teufel konnten diese beiden Werke nicht verbuchen. Ein
Zusammenhang darf vermutet werden.
Im Übrigen wird an der Genese und dem Aufbau der einschlägigen Strafnormen deutlich, wie weit die
Grenze der Strafbarkeit zu Gunsten der Kunstfreiheit zurückgedrängt wurde. Während der § 131 StGB
10
noch von „die menschenwürde verachtender Gewalt“ spricht und sich mit dieser immer noch recht
altmodischen – da unbestimmten und abstrakten – Formulierung selbst ins Bein schneidet, teilt sich der
§ 184 nunmehr in sieben Untertatbestände von „a“ bis „f“ auf, um erstens möglichst konkret zu sein
und zweitens explizite Randerscheinungen von medialer Gewaltdarstellung zu bestrafen, wie z.B.
„Gewaltpornographie“.
Diesen äußerst weiten Rahmen, der für das Medium Film und Literatur gilt, hat die neue
Erscheinungsform von Kunst – Computerspiele – noch nicht erreicht. Grund dafür ist die noch nicht
einheitlich geklärte Frage nach der Kunstfähigkeit dieses Mediums sowie der für Kunst untypischen
Form des Konsums von solchen Werken.
63
Die Frage nach der Gewaltverherrlichung möglicher
Nachahmungstaten bei Jugendlichen entzündet sich heutzutage fast ausschließlich an Computerspielen
64
und wird genährt durch Amokläufe an deutschen Schulen, aber auch im Ausland. Die Rechtsprechung
steht auf dem Standpunkt, dass ein Zusammenhang zwischen dem Spielen von gewaltätigen „Games“
65
und realer Nachahmung nicht ausgeschlossen werden kann. Erwähnenswert ist am Beispiel des Falles
„Manhunt“ die fast schon anachronistisch anmutende Entscheidung des Gerichts. Das Amtsgericht
befand in Einklang mit der BPjM, dass die dem Spiel innewohnende menschenverachtende Tendenz und
die fehlende Vorbildfunktion des Protagonisten, den man als Spieler steuert, jugendgefährdend sei. Dies
erinnert zu Recht stark an "American Psycho", allerdings wurde im Gegensatz dazu nichtmal versucht,
auf einen künstlerischen Wert des Spiels einzugehen. Es werden wie zuvor auch in den anderen
Darstellungsformen abstrakte, wenig konkrete Begriffe verwendet. Die Gewalt selbst im Spiel fällt
letztendlich gar nicht so brutal aus, was allein schon der relativ schwachen Grafik im Vergleich mit
heutigen
Werken
geschuldet
ist.
Aufgrund
der
langen
Verfahrensdauer
kommen
Gerichtsentscheidungen im schnelllebigen Markt der Computerspiele für einen effektiven Rechtsschutz
oft zu spät, so dass das JuSchG und die BPjM präventiv arbeiten
66
– was eine rechtliche,
zusammenfassende Beurteilung erschwert.
Gruppe 2: Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht
Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht wurde im Wesentlichen von der Rechtsprechung entwickelt. Es
stellt – aus einer wertenden Zusammenschau des Art. 2 Abs.1 i.V.m. 1 Abs.1 GG heraus – ein
umfassendes ideeles und kommerzielles Recht auf Achtung und Entfaltung der Persönlichkeit dar und
umfasst daher vor allem die Befugnis, sich herabsetzender, fälschlicher und unerbetener öffentlicher
67
68
Darstellungen erwehren zu können. Insbesondere durch die sog. Lebach - und Volkszählungsurteile
69
von 1973 und 1983 wurde das Allgemeine Persönlichkeitsrecht in drei geschützte Spären unterteilt:
1. Die Individualsphäre (z.B. das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, welches besagt, dass
jeder Mensch selbst entschieden darf, welche Informationen von ihm in der Öffentlichkeit preisgegeben
werden). 2. Die Privatssphäre (z.b. das Leben im häuslichen Bereich, was insbesondere bei Maßnahmen
des Staates nach der Strafprozessordnung tangiert sein kann). 3. Die Intimssphäre (Welche sich u.a. auf
die Veröffentlichung von privaten Gedanken in Tagebüchern bezieht). Bei Eingriffen in den
Schutzbereich durch Dritte muss eine praktische Konkordanz hergestellt werden zwischen dem
Grundrecht aus Art. 2 Abs.1 i.V.m. 1 Abs.1 GG und dem Recht auf Kunstfreiheit. Nach der Vorstellung
11
70
des Staates soll keines der beiden Grundrechte generellen Vorrang vor dem Anderen besitzen. Ebenso
wie die Rechtsprechung das allgemeine Persönlichkeitsrecht entwickelt hat, genauso lag und liegt es an
ihr, dieses Institut mit Leben zu füllen. Erfreulicherweise bekam bei dieser - noch lange nicht
abgeschlossenen Arbeit - auch das Recht auf Kunstfreiheit deutliche Konturen.
1971: Mephisto
71
1. Verbot / Indizierung:
10.03.1966 durch das OLG Hamburg
Grund:
Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG
Letzte Entscheidung:
24.02.1971 durch das BVerfG
Sieger:
Unentschieden (Kunstfreiheit)
Sachverhalt:
Der Roman schildert den Aufstieg des bekannten Schauspielers Hendrik Höfgen, der seine politische
Überzeugung verleugnet und alle menschlichen und ethischen Bindungen abstreift, um im Pakt mit den
nationalsozialistischen Machthabern eine künstlerische Karriere zu starten. Der Romanfigur Hendrol
Höfgen hat der Schauspieler Gustaf Gründgens als Vorbild gedient. Zahlreiche Einzelheiten wie seine
äußere Erscheinung, die Theaterstücke, an denen er mitwirkte, und ihre zeitliche Reihenfolge, der
Aufstieg zum Preußischen Staatsrat und zum Generalintendanten der Preußischen Staatstheater
entsprechen dem äußeren Erscheinungsbild und dem Lebenslauf von Gründgens. Auch an Personen aus
der damaligen Umgebung von Gründgens lehnt sich der Roman an.
72
Aspekte :
•
Der Roman ist Kunst. Auch der Bereich der „engagierten“ Kunst ist nicht von der Freiheitsgarantie
ausgenommen.
73
74
•
Im Gegensatz zu Art. 1 Abs. 1 GG scheidet Art. 2 Abs. 1 GG für bereits verstorbene Personen aus.
•
Grundsätzlich steht es der Kunstfreiheit nicht im Wege, dass ein Künstler Vorgänge des realen Lebens
schildert und hierbei teilweise an der Realität vorbeigeht.
•
Erkennbar ist eine Romanfigur jedenfalls dann, wenn sie von einem nicht unbedeutenden Leserkreis
erkannt werden kann.
•
75
76
Der Einstieg in die rechtliche Prüfung erfolgt nicht bei einem Abgleich zwischen Ab- und Urbild, sondern
bei dem Kunstwerk (kunstspezifischer, ästhetischer Maßstab) selbst, da ein Kunstwerk Realität nicht nur
im außerkünstlerischen Wirkbereich, sondern vorwiegend auf der ästhetischen Ebene besitzt.
•
77
Der Roman „Mephisto“ schafft keine Identitäten oder Portraits sondern erschafft Typen, d.h.
personifizierte Themen. Außerdem ist es notwendig, die Umstände des Schaffensprozesses zu
verstehen. Der Mephisto-Roman ist ein Werk der Exilliteratur.
•
78
Ein Vorwort kann sehr wohl einer Verringerung der möglicherweise nachteiligen Wirkungen für die
Personenwürde des Betroffenen sein.
2007: Esra
79
80
1. Verbot / Indizierung:
15.10.2003 durch das LG München
Grund:
Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG
12
Letzte Entscheidung:
13.06.2007 durch das BVerfG
Sieger:
Allgemeines Persönlichkeitsrecht
Sachverhalt:
In dem Roman geht es um eine Liebesgeschichte zwischen dem Schriftsteller Adam und der
Schauspielerin Esra. In einem Zeitraum von vier Jahren wird die schwierige und turbulente
Beziehungsgeschichte der beiden aus der Ich-Perspektive von Adam erzählt, wobei intime und private
Familienprobleme geschildert werden. Esra wird als eine unselbstständige, dem Willen ihrer Mutter
unterworfene Frau dargestellt. Sie sei nicht in der Lage, eine richtige Beziehung zu Adam aufbauen zu
können. Es wird auch Bezug auf das gespaltene Verhältnis zu Esra und ihrer todkranken Tochter
genommen, welche sie nach den Überlegungen des Erzählers im Innersten ablehnt. Ebenso Bestandteil
der Schilderungen sind mehrere sexuelle Handlungen zwischen Esra und dem Ich-Erzähler. Auch die
Mutter Esras – Lale – wird beschrieben und
als eine depressive, psychisch kranke Alkoholikerin
dargestellt, die ihre Tochter und ihre Familie tyrannisiert. Der Autor Max Biller räumte ein, dass er von
seiner Liebesbeziehung zu Ayse Romey und deren Mutter Birsel Lemke inspiriert worden sei, was auch
durch eine persönliche Widmung seinerseits an Frau Romey in einem Buchexemplar belegt werden
kann.
Aspekte:
•
Durch den hohen Stellenwert der Kunstfreiheit kann im Wege der Wechselwirkung von Grundrechten
der Eingriff möglicherweise gerechtfertigt sein. Hierbei muss eine kunstspezifische Betrachtungsweise
angelegt werden.
•
81
Es ist nicht erforderlich, dass – wie noch in der Mephisto-Entscheidung für entscheidend erklärt – die
dargestellten Personen „von einem nicht unbedeutenden Leserkreis unschwer“ als Vorbild der
Romanfigur erkannt werden. Vielmehr ist für eine Betroffenheit des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes
ausreichend, dass der Betroffene „erkennbar zum Gegenstand einer medialen Darstellung“ wird.
82
Hierfür genügt es, wenn die Person ohne namentliche Nennung zumindest für einen Teil des Leser- und
Adressatenkreises aufgrund der mitgeteilten Umstände hinreichend erkennbar werden, z.B. durch eine
hohe Auszeichnung (Der Bundesfilmpreis). Die Kläger sind eindeutig in den Protagonisten des Buches zu
erkennen, mithin liegt eine Betroffenheit vor.
•
83
Dabei wird zugunsten des Autors eine Fiktionalität des Werkes vermutet, soweit er selbst keinen
Faktizitätsanspruch erhebe. Dies kann dann anders sein, wenn sich aus dem Werk selbst ergibt, dass der
Autor dem Leser gegenüber einen Wahrheitsanspruch an seine Schilderungen erhebe.
•
84
Im Falle der Mutter ist diese Fiktionalität dem Leser gegenüber klar hervorgetreten. Im Falle der Tochter
hingegen greift die Fiktionalitätsvermutung nicht, da eine Beeinträchtigung des Wesenskerns des
Persönlichkeitsrechts, der Intimsphäre, durch Beschreibungen des Sexuallebens vorliegt, die der Leser
für wahr halten muss.
85
86
•
Die Tochter ist in ihrem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt.
•
Hieraus ergibt sich die Formel: Je mehr eine künstlerische Darstellung besonders geschützte
Dimensionen des Persönlichkeitsrechts [d.h. die Intimsphäre] berührt, desto stärker muss die
Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen.
13
87
2007: Ehrensache
88
1. Verbot:
16.05.2007 durch das OLG Hamm
Grund:
Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG
Letzte Entscheidungen:
19.12.2007 (BVerfG) und 16.09.2008 (BGH)
Sieger:
Kunstfreiheit
Sachverhalt:
Das Theaterstück „Ehrensache“ verarbeitet den realen, sog. „Hagener-Mädchenmord“-Fall. Dort hatte
ein junger Mann türkischer Herkunft im Mai 2004 seine 14-jährige Freundin mit 30 Messerstichen
getötet, nachdem diese ihm offenbart hat, sie sei schwanger. Nach der Familientradition wäre er
verpflichtet gewesen, das Mädchen zu heiraten. Das LG Hagen verurteilte ihn zu zehn Jahren
Jugendstrafe.
Aspekte:
•
89
Der postmortale Persönlichkeitsschutz beruht allein auf Art. 1 Abs. 1 GG und entspricht nicht dem
allgemeinem Persönlichkeitsrecht.
Würdeverletzung.
•
Die Prüfung einer Verletzung entspricht
Den Zuschauern des Theaterstücks stellt sich nicht die Frage, ob die dargestellten sexuellen Handlungen
als Berichte von Erlebnissen des Autors zu verstehen sind.
•
einer üblichen
90
91
Das Theaterstück selbst thematisiert die Unzuverlässigkeit der Figuren, die über Ellena – welche das
Opfer darstellen soll – berichten und erhebt dadurch keinen Anspruch auf vollständige Faktizität.
2009: Der Kannibale von Rothenburg
92
93
1. Verbot / Indizierung:
05.07.2007 durch das LG Kassel
Grund:
Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG
Letzte Entscheidung:
26.05.2009 durch den BGH
Sieger:
Kunstfreiheit
Sachverhalt:
Der Kinofilm orientiert sich an den tatsächlichen Ereignissen im Fall Armin Meiwes, welcher aufgrund
der Ermordung eines Menschen und späteren Verspeisung von Teilen der Leiche als „Kannibale von
Rotenburg“ bekannt wurde. Die Verstümmelungen und Schlachtung des Opfers werden im Film nicht
direkt gezeigt. Die Gerichte hatten sich viel mehr mit der Frage auseinander zu setzen, ob das
Persönlichkeitsrecht von Armin Meiwes, inbesondere in Bezug auf die damals noch laufenden
Strafprozesse, verletzt wurde. Der Film weist im Vorspann darauf hin, dass der Film lediglich von wahren
Ereignissen inspiriert sei.
Aspekte:
•
Das Persönlichkeitsrecht ist nicht schon allein deswegen verletzt, weil die Darstellung von Person, Leben
und Handeln eines Menschen Gegenstand eines „Horrorfilms“ ist. Die Kunstfreiheitsgarantie umfasst
grundsätzlich auch die freie Themengestaltung, insbesondere verbietet es sich auf Methoden, Inhalte
14
94
und Tendenzen der künstlerischen Tätigkeit einzuwirken. Das schließt die Wahl des Sujets mit ein. Die
wahren Ereignisse legen bereits für sich genommen das Genre des Horrorfilms nahe.
•
Im Film „Rothenburg“ werden die Ereignisse zuweilen sogar empathisch und sachlich geschildert und die
Verarbeitung ist nicht darauf ausgelegt, den Handelnden zu verhöhnen.
•
95
96
Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass nach rechtskräftigem Urteil über seine Tat geschwiegen
wird. Er muss das durch seine Tat, welche den Rechtsfrieden gebrochen und die Rechtsgüter der
Gemeinschaft angegriffen hat, entstandene Informationsinteresse der Öffentlichkeit nach dem Prinzip
der freien Kommunikation dulden. Dies gilt auch für die entsprechenden Einzelheiten der Tat, seien sie
auch noch so intim.
•
97
Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ist nicht im Interesse einer Kommerzialisierung der eigenen Person
- etwa für den Abschluss von Exklusivverträgen über die Berichterstattung aus ihrer Privatsphäre gewährleistet.
98
Zusammenfassung
Die Beziehung zwischen Kunstfreiheit und dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht ist geprägt von
Uneinigkeit und Unübersichtlichkeit in der Kasuistik.
99
Es scheint, dass noch andere Faktoren als rein
juristische Betrachtungsweisen eine Rolle spielen. Vier Themenkomplexe sollten unabhängig
voneinander bewertet werden: Erstens die Prüfungskompetenzen des BverfG (1). Zweitens die Grenzen
des Schutzbereichs beider Grundrechte (2). Drittens die Maßstäbe, an denen sich misst, ob es sich bei
dem Werk um Fiktion oder Dokumentation handelt (3). Viertens die Grundsätze, nach denen die
Kunstfreiheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht miteinander abgewogen werden (4). Bezüglich
der ersten drei Fragen ist eine gewisse Konstanz und Konsequenz in der Rechtsprechung eingetreten,
wobei der Ausgangspunkt – wie bei allen oben angesprochenen Themenkomplexen – die MephistoEntscheidung ist.
(1) In der Mephisto-Entscheidung befand sich die eine Hälfte des Senats für nicht zuständig im Hinblick
auf eine konkrete Abwägung der Grundrechtsgüter. Spätestens seit der Esra-Entscheidung ist dieser
Streit obsolet geworden, da das BverfG sich seitdem selbst das Recht zugesteht „die Vereinbarkeit der
angegriffenen Entscheidungen mit der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie auf der Grundlage
der konkreten Umstände des vorliegenden Sachverhalts“ zu prüfen.
100
(2) Die zweite Frage nach den Schutzbereichen wurde durch das Esra Urteil zwar nachhaltig erweitert,
allerdings zielen alle zitierten Entscheidungen in die gleiche Richtung.
101
Während bei Mephisto die
„Betroffenheit“ i.S. von Art. 2 Abs.1 GG, Art. 1 Abs.1 GG nur dann bejaht wurde, wenn „ein nicht
unbedeutender Leserkreis“ die Person als Urbild der Romanfigur wiedererkennt, reicht es nach Esra aus,
das ein „mehr oder minder großer Bekanntenkreis“ die Person erkennt. Das spricht zwar zunächst für
eine Ausdehnung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts zulasten der Kunstfreiheit, allerdings schränken
weitere Anforderungen diesen „breiteren Flaschenhals“ danach ganz erheblich ein. So wird seit Esra
verlangt, dass dieser Kreis von Lesern nicht bloß die Möglichkeit einer Identifikation hat, sondern es
muss ihm geradezu aufdrängen durch eine hohe Kumulation von Identifizierungsmerkmalen.
15
102
Damit
einher geht die Forderung, dass eine gewisse Bagatellgrenze überschritten worden sein muss, d.h. es
darf keine bloß geringfügige Beeinträchtigung sein.
103
(3) Die wirkliche Innovation des Esra-Urteils im Vergleich zu Mephisto liegt beim Fiktionalitätsanspruch
des Werkes.
104
Die sondervotierenden Richter bei Mephisto forderten damals – in Ablehnung der
Auffassung ihrer Kollegen – eine kunstspezifische Betrachtung bei der Beantwortung der Frage, ob der
Roman (und damit das Kunstwerk) Fiktion oder aber Dokumentation sei. Nur bei der Fiktion käme das
Werk in den Genuss der Kunstfreiheit. Diese strebe eine gegenüber der Realität "werkinterne"
Wirklichkeit an. Die künstlerische Darbietung könne daher nicht am Maßstab der Welt der Realität,
sondern nur an einem kunstspezifischen, ästhetischen Maßstab gemessen werden. Es ging um die
Frage, ob man an die Rezeption des Werkes (d.h. im Wirkbereich) anknüpft, oder aber an das Werk
selbst (d.h. den Werkbereich) anknüpft. Würde man Ersteres präferieren, so läge es am Autor, die
Erkennbarkeit zu beseitigen, d.h. die Brücke zwischen Kunstwerk und Realität abzutragen oder ganz zu
sprengen. Die heute herrschende Ansicht will jedoch jene Brücke erhalten wissen und dem Autor
stattdessen die Aufgabe zukommen lassen, die Brücke als „Phantasie“, d.h. Fiktion, zu kennzeichnen –
und zwar mit einem großen, gut lesbaren Schild für Jeden, der sie passieren will. Anders ausgedrückt:
Entscheidend ist heutzutage, dass der Autor zu verstehen gibt, dass die betreffenden Schilderungen
keinen Faktizitätsanspruch erheben.
105
Das erfordert eine Werkanalyse, nicht einen Vergleich zwischen
Kunst und Realität. Diese kunstspezifische Betrachtung wird seit Esra nicht nur konsequent angwendet,
sondern ist zu einer „widerlegbaren Vermutung für die Fiktionalität“ ausgebaut worden.
106
Dies sei
deswegen sachgerecht, weil der Leser sehr wohl mündig sei, Fiktion und Fakt zu trennen.
107
So
harmonisch sich die Entwicklung bis hierhin anhört ist sie allerdings nicht. Die Fiktionalitätsvermutung
knüpft unmittelbar an die fraglichen Kriterien der praktischen Konkordanz an. Sowohl die
Güterabwägung selbst als auch der Schwellenbereich zwischen diesen beiden Komplexen ist äußerst
unübersichtlich. Die entscheidenen Fragestellungen dabei lauten: Wie sehr legt der Autor den Lesern,
nahe, dass es sich um Fiktion handelt? Und: Wie intensiv ist die Persönlichkeitsbeeinträchtigung? Bei
Mephisto gingen die Richter noch ohne eine Fiktionalitätsvermutung lediglich von letzterer Frage aus.
Seit Esra werden beide Fragen gleichzeitig gestellt in Form einer quasi praktischen Konkordanz auf einer
Meta-Ebene.
(4) Das Postulat lautet: Je schwerer der Eingriff in die Intimssphäre, desto mehr Verfremdung ist
erforderlich.
108
Dieses Postulat hat die ursprüngliche Aufgabenstellung schon sehr stark konkretisiert,
aber letzendlich haben sich nur neue verschlossene Türen aufgetan und die Fragezeichen haben sich
vermehrt. Der Vergleich mit der weiteren Kasuistik nach Esra belegt, dass die Richter noch andere
Erwägungen anstellen, als die oben gezeigten. Fraglich ist nämlich, mit welchen Maßstäben gerechnet
werden soll.
109
Erneut bietet es sich an, die Themen in Oberstrukturen zu gliedern. Wie „leicht“ ist es,
die Fiktionalitätsvermutung zu widerlegen? Wie „schwer“ ist es, den unantastbaren Intimbereich zu
verletzen? Welche Rolle spielt der Leser hierbei? Im Fall Esra wurde die Fiktionalitätsvermutung
widerlegt. Trotzdem wurde eine Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts nur bei der Tochter,
nicht aber bei der Mutter attestiert. Begründet wurde dies zum Einen mit dem Stilmittel der IchPerspektive. Dieses deute auf ein autobiographisches Erlebnis hin und wirke gegen die Vermutung.
16
110
Die Mutter „scheiterte“ aber dennoch, weil es sich Erstens nicht um ebenso intime Aussagen handelte
wie bei der Tochter – wobei vor Allem der Sex und die Mutter-Kind Beziehung als gravierend
empfunden wurden – und Zweitens verwendete der Autor bei der Mutter auch Rückblenden und
andere
indirekte
Erzählstrukturen,
welche
fiktionalisierend
wirken
würden.
Diese
beiden
Anknüpfungsmomente – künsterlisches Stilmittel und „Tabu-Themen“ – sind äußerst problematisch.
Erstens wird die Entscheidung damit abhängig gemacht vom Literaturverständnis der Richter
112
111
und
zweitens hält die Rechtsprechung ihre eigenen Maßstäbe nicht aufrecht. Im späteren Contergan-Urteil
wird die apodiktische Behauptung, eine „Darstellung der Krankheit des Kindes hat in der Öffentlichkeit
nichts zu suchen“
113
schlichtweg ignoriert, wenn mit keinem Wort problematisiert wird, dass dort
intensiv auf das Verhältnis zwischen einem Hauptdarsteller und einem Contergan-geschädigten Kind
eingegangen wird.
114
Ebenso fragwürdig ist, wieso die Darstellung als „herrschsüchtigte, alkoholkranke,
Tyrannin, Brandstifterin und Betrügerin“ seitens der Mutter im Esra-Fall, die Darstellung von sexuellen
Handlungen mit verstorbenen Minderjährigen in der Ehrensache-Entscheidung oder aber die Straftat
des Kannibalen von Rothenburg nicht zur absoluten Intimsspähre gehören sollen bzw. die Kunstfreiheit
dennoch gesiegt hat.
115
Desweiteren stellen die Gerichte schlichtweg fest, dass im Ehrenmord-Fall sowie
auch im Baader-Meinhof-Komplex-Film
handele.
117
116
dem Zuschauer jederzeit klar wird, dass es sich um Fiktion
Dies mag mit der unterschiedlichen Werkart erklärt werden. So bedeute die Präsentation
durch Schauspieler vor einer Kulisse automatisch eine Verfremdung im Sinne eines Signals für den
Zuschauer, welche der Leser bei einem Roman nicht hat.
118
Das Abstellen auf den Rezipienten als
Maßstab ist aber ebenfalls ungeeignet, da es sich letzendlich immer nur um Mutmaßungen handeln
kann. Er kann nicht wissen – und oft interessiert es ihn auch nicht – welche Handlungen jetzt mit dem
Urbild übereinstimmen und welche nicht.
119
Im Rothenburg-Urteil schließlich haben die erkennenden
Gerichte gar nicht nach kunstrechtlichen Grundsätzen argumentiert sondern eine „presserechtliche
Lösung“ verwendet. Und auch hier gab es Unterschiede zwischen den Instanzen: Während das BVerfG
der Kunstfreiheit gegenüber dem Persönlichkeitsrecht umso eher den Vorrang gewährt, je stärker der
Verfremdungsgrad zwischen Ur- und Abbild ausfällt, sieht das OLG Frankfurt a. M. quasi im Gegensatz
dazu den Mangel im Dokumentarischen als Verletzung des Persönlichkeitsrechts an.
120
Es lässt sich also
festhalten, dass im Bereich der Kollision von Kunstfreiheit und Allgemeinem Persönlichkeitsrecht vieles
ungeklärt ist. Auch wenn die Rechtsprechung Regeln konstituiert hat und diese auch mittlerweile
rechtseinheitlich anwendet, so ist an entscheidender Stelle eigentlich nichts geklärt, sodass eine
Rechtsunsicherheit bestehen bleibt. Eine Prognose erschwert sich zusätzlich vor zwei Hintergründen: 1.
Die Personen in der Gesellschaft bauen freiwillig immer mehr „Intimssphäre“ ab, indem sie ihre
persönlichen Daten bis hin zu selbstgedrehten Videofilmen aus dem Schlafzimmer ins Internet stellen.
Ein echter „Eingriff“ in diese Intimssphäre erscheint da schon schwieriger. 2. Auf europäischer Seite
könnte es zu erheblicher Gegenwehr kommen, wenn man bedenkt, dass der europäische Gerichtshof
für Menschenrechte keine eigene Kunstfreiheit kennt – sondern nur die in Art. 10 konstituierte
Meinungsfreiheit als Oberrecht – dafür aber eine Achtung des Privat- und Familienlebens, Art. 8. Wenn
der Kläger also nach Straßburg geht um eine Verletzung seiner Persönlichkeit zu rügen, könnte er eher
erhört werden, als in Karlsruhe.
121
17
Gruppe 3: Außenbereichsschutz und Delikt
Die letzte Fallgruppe deckt alle übrigen möglichen Konfliktfelder der Kunstfreiheit ab. Als grobe
Richtschnur lässt sich sagen, dass es häufig um deliktisches Handeln geht (z.B. Graffiti oder
Körperverletzungen)
oder
aber
um
Beeinträchtigungen
der
Umwelt
und
des
urbanen
Erscheinungsbildes. Beispielhaft seien die folgenden Fälle.
Baukunst 1 (Artemis und Aurora-Denkmal)
122
1. Verbot:
12.10.1993 durch das VG Regensburg
Grund:
§ 35 BauGB, Art. 20a GG
Letzte Entscheidung:
13.04.1995 durch das BVerwG
Sieger:
Baurecht
Sachverhalt:
Ein Eigentümer eines mit einem Wochenendhaus bebauten Grundstücks beabsichtigte zwei
Monumentalfiguren auf seinem Grundstück aufzustellen. Die Figuren sind mit Sockel jeweils 13 m hoch
und 7 m Lang. Es handelt sich um die Darstellung von Artemis und Aurora, die Arno Becker zugerechnet
werden.
Aspekte:
•
Das Aufstellen der Figuren, mithin die Vermittlung des Kunstwerks an Dritte, gehört zum sog.
Wirkbereich der Kunst und ist grundsätzlich auch geschützt durch Art. 5 Abs. 3 GG.
•
123
Als Werte von Verfassungsrang, die als Schranken der Kunstfreiheit eingesetzt werden können, sind
sowohl die Aufgabe des Staates, einen Beitrag zum allseitigen psychischen Wohlbefinden der Bürger zu
leisten aus Art. 2 Abs. 2 GG, als auch das Staatsschutzziel Art. 20a GG zu klassifizieren. § 35 BauGB ist
eine Ausprägung davon.
Baukunst 2 (Graffiti)
124
125
1. Verbot:
22.02.1995 durch die Bauaufsichtsbehörde
Eingriffsgrund:
§ 5 RhPfBauO
Letzte Entscheidung:
24.07.1997 durch das OVG Koblenz
Sieger:
Kunstfreiheit
Sachverhalt:
Ein Grundstückseigentümer hat die zu einer Straße ausgerichtete Außenwand seines eigenen Hauses
mit im Sprühverfahren aufgebrachten Graffiti-Motiven bemalt. In unmittelbarer Nähe des Hauses
befinden sich andere Wohnhäuser mit überwiegend heller Fassade sowieso Laub- und Nadelbäume. Die
Motive bestehen u.a. aus einem Nebeneinander von Blumen, Tieren, Portraits, Comicfiguren sowie dem
Ausspruch: „We want it...“.
Aspekte:
•
Die durch Spraytechnik hergestellte Graffiti-Malerei ist eine moderne Form bildender Kunst. Sie erfüllt
auch im vorliegenden Fall die Voraussetzungen des „materialen“ Kunstbegriffs.
18
126
•
Es liegt keine Verkehrsgefährdung vor, was sich vor allem aus den Ortsgegebenheiten ergibt: Die
zulässige Höchstgeschwindigkeit vor Ort; Allgemeine Ablenkungen durch Bebauung und Schilder.
•
127
Auch wenn § 5 II RhPfBauo – welcher dem allseitigen psychischen Wohlbefinden der Bürger und damit
dem sozialen Frieden dient – grundsätzlich die Kunstfreiheit einschränken kann, bedarf es einer
sorgfältigen Abwägung. Hierbei ergibt sich ebenfalls keine Rechtfertigung, die Kunstfreiheit zu
beeinträchtigen, was sich erneut aus den Ortsgegebenheiten ergibt: Das Haus liegt am Ortsrand; Die
direkten Nachbarn haben die Möglichkeit, an dem Haus vorbeizuschauen.
Verunglimpfung des Staates (Deutschland muss sterben)
128
129
1. Verbot:
02.11.1998 durch das AG Berlin
Grund:
§ 90a StGB
Letzte Entscheidung:
03.11.2000 durch das BVerfG
Sieger:
Kunstfreiheit
Sachverhalt:
Bei einer angemeldeten Versammlung im September 1997 spielte der Versammlungsleiter das Lied
„Deutschland muss sterben“ der Hamburger Punkrock-Gruppe „Slime“ ab.
Auszug aus demLiedtext:
„Wo Faschisten und Multis das Land regieren, wo Leben und Umwelt keinen interessieren, wo alle
Menschen ihr Recht verlieren, da kann eigentlich nur noch eins passieren: Deutschland muss sterben,
damit wir leben können. [...] Deutschland verrecke [...] !“
Aspekte:
•
Die Berufung auf die Kunstfreiheit ist nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil der Tatbestand des § 90a
StGB erfüllt ist. Es darf nicht zu einer Immunisierung des Staates gegen Kritik oder Ablehnung führen. Es
bedarf stets einer einzellfallbezogenen Abwägung, wobei der verborgene Aussagenkern zu ermitteln
ist.
•
130
Das Lied „Deutschland muss sterben“ übt - wenn auch undifferenziert und plakativ - Kritik aus durch
eine karikaturhafte Überzeichnung der Ausdrücke sowie die gesamte künstlerische Einkleidung.
•
131
Es ist vergleichbar mit dem Gedicht „Die schlesischen Weber“ von Heinrich Heine und zieht auch daraus
seinen künstlerischen Anspruch.
132
Gesundheitsschädigung (Goethe-Theater)
133
1. Verbot:
10.10.2003 durch das LG Wiesbaden
Grund:
§ 823 I BGB
Letzte Entscheidung:
08.11.2005 durch den BGH
Sieger:
Kunstfreiheit
Sachverhalt:
Ein Besucher einer Theateraufführung des „Faust“ von Goethe klagte auf Schmerzensgeld, nachdem er
eine Verschlimmerung seines Tinnitus – der bis dahin nahezu beschwerdefrei vorgelegen haben soll –
19
festgestellt hatte. Dies war zurückzuführen auf einen Schreckschuss als Teil der Aufführung, der am
Sitzplatz des Besuchers 129 dB laut war.
Aspekte:
•
Grundsätzlich hat derjenige, der eine Gefahrenlage schafft, dafür zu sorgen, dass Schädigungen anderer
möglichst verhindert werden. Allerdings ist eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt,
praktisch nicht möglich.
•
134
Bei einem Schuss mit einer Schreckschusspistole lässt sich eine besondere Eignung zur Schädigung der
Ohren eines Theaterbesuchers bejahen. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit eines Hörschadens sehr
gering und führt nicht bei einer Abwägung mit Art. 5 Abs. 3 GG zu einem notwendigen Verbot eines
Schusses als künstlerisches Gestaltungsmittel.
135
Ergebnis – Was darf der Künstler? Perspektivenwechsel
Aus allen oben angestellten Überlegungen und der Kasuistik lässt sich zunächst die nüchterne
Erkenntnis ableiten, dass es theoretisch leicht ist, die Kunstfreiheit einzuschränken. Die so viel
hochgehaltene „Schrankenlosigkeit“ des Art. 5 Abs. 3 GG ist grundsätzlich nicht viel wert, da sich aus
anderen Grundrechten oder Staatszielbestimmungen mittelbar oft Werte von Verfassungsrang ableiten
lassen, die dann konkretisiert werden durch normale Gesetze. Der Wert dieser Schrankenlosigkeit
besteht viel mehr in der stets gebotenen Einzelfallabwägung mit starkem Fokus auf die Umstände des
Falls. Man sieht an den Ausgängen der oben genannten Fälle, dass in der Praxis die Kunstfreiheit
sukzessive an Boden gewonnen hat und einen hohen Stellenwert in Deutschland einnimmt. Dies erkennt
man gerade auch an der letzten Fallgruppe, die sogar Körperverletzungen oder Graffiti in bestimmten
Fällen als geringer einstuft. Hier ergeben sich, im Gegensatz zu den ersten beiden Fallgruppen, auch
weniger Schwierigkeiten was die Vorhersehbarkeit angeht. Aus diesem Grund sei dem Künstler nun die
folgende (unverbindliche) Auflistung gewidmet, grob unterteilt in die wichtigsten Werkarten:
Bücher: Ein Autor muss sich seit „American Psycho“ keine allzu großen Gedanken mehr um Gewalt,
Pornographie oder die Verbindung der Beiden machen. Die Unterkategorie der Comiczeichner hat es da
etwas schwerer, sollte aber, bei einer ausreichenden, künstlerischen Einkleidung des Ganzen – am
Besten mit irgendeiner Art von kritischer „Botschaft“ – auch keine Probleme haben. Problematisch wird
es bei der Verwendung realer Biographien. Hier ist eine rechtliche Prognose äußerst schwierig. Sicher ist
der Autor jedenfalls dann, wenn er – sofern er überhaupt ein reales Vorbild nimmt – Jenes ausreichend
verfremdet. Dies tut er alleine schon dadurch, in dem er die Person Erstens nicht persönlich kennt und
sich Zweitens stilistisch von ihr distanziert, d.h. nicht aus der Ich-Perspektive erzählt und besonders
intime Charakterisierungen eventuell durch z.B. sogenanntes „unzuverlässiges Erzählen“
136
ausdrückt.
Als „intim“ gelten jedenfalls sexuelle Handlungen (je detaillierter desto problematischer) sowie
(problematische) Eltern-Kind-Beziehungen. Sollten einzelne Aspekte entscheident für den Künstler sein
(z.B. eine Sexszene oder die Erzählperspektive), so sollte er versuchen an anderer Stelle
kompromissbereit entgegenzuwirken. Sollte die Vorbild-Person bereits verstorben sein, so sinkt die
Schwelle für einen Konflikt.
20
Film und Theater: Durch die eingeschränkten Vorstellungsmöglichkeiten bei Film und Theater (und
vermutlich auch einem PC-Spiel) scheint eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrecht weitaus
weniger naheliegend. Alleine schon durch die Inszenierung des Regisseurs und die Darstellung von
Schauspielern liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Verfremdung vor – Jedenfalls lässt sich eine
Identifikation leichter steuern und der Rezipient hat bei einer begrenzten Vorführungsdauer weniger
Zeit aktiv selbst zu recherchieren, im Gegensatz zum Buch, welches er tage- oder wochenlang
„konsumiert“. Die beim Buch möglichen „Fallgruben“ sind hier weit weniger problematisch. Doch der
Vorteil der Inszenierung bezüglich eines Konflikts mit dem Persönlichkeitsrecht, bedeutet gleichzeitig
eine Verschärfung im Hinblick auf den Jugendschutz. Bei einem Buch ist der Prozess der Vorstellung oft
limitiert, da er von der eigenen Vorstellungskraft abhängig ist; Bei einem Film wird die Gewalt oder die
Sexualität an sich als Bild „nur“ konsumiert und aufgesogen. Die Vorstellung des Regisseurs wird eins zu
eins übernommen und das innerhalb einer relativ kurzen Zeit. Eine selbstständige Reflektion und
Verarbeitung des Gesehenen – insbesondere bei Kindern – erscheint seltener und schwieriger. Daher
sind gewalttätige und pornographische Inhalte stets problematisch. Doch die Grenze liegt zur Zeit sehr
weit unten, und zwar bei: (Vorausgesetzt, es handelt sich nicht um das Genre eines „Pornofilms“)
„Hardcore“, Kinderpornographie oder allen Szenen, die sich theoretisch unter die Begriffe der § 184 ff.
StGB subsumieren lassen könnten. Aufgrund der aufkeimenden Brisanz im Computerspielgenre und der
Tatsache, dass eine Altersfreigabe ab 18 Jahren durch die FSK bereits einen wirtschaftlichen Nachteil für
die Filmemacher bedeutet 137, es mithin also oft im Interesse der Produzenten liegt, die Gewalt nicht zu
sehr darzustellen, lassen sich Konflikte oft schon durch Kommunikation mit dem Regisseur während des
Schaffungsprozesses vermeiden.
Für alle oben genannten Werkarten sei noch hinzugefügt, dass es auch wertbildende Faktoren gibt, die
nicht juristischer Natur sind, z.B. Gewinnstreben und Kritikerecho. Je mehr ein Künstler bloß versucht
„schnelles Geld“ zu machen, desto eher wird ihm die Kunstfreiheit verwehrt werden. Dies gilt
umgekehrt im Übrigen auch für die „Betroffenenseite“, sofern es um die Vermarktung der eigenen
Persönlichkeit geht. Daher sei dem Künstler geraten innovative, kritische Ideen jedenfalls mitumzusetzen. Dies erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, ein positivies Kritikerecho zu erhalten und
gegenenfalls beim Publikum Sympathien zu sammeln. Dies wiederum bedeutet mehr öffentlichen Druck
auf die Richter und damit eine stärkere Position für den Künstler.
21
Fußnoten
1
BverfGE 30, 173 (191 f.); 33, 52 (70 f.); 75, 369 (377)
2
BVerfGE 30, 173 (193 f.)
3
BverfGE 30, 336 (347)
4
BverfGE 30, 173 (191); BverfG NJW 2001, 596 (597)
5
BverfG NJW 1995, 2648 (2649)
6
BverfGE 83, 130; BVerfGE 30, 336 (347 f.); 77, 346 (356); BTDrucks. 10, 722; BTDrucks. 10, 2546 (S. 16);
Frenzel AfP 2002, 191 (192)
7
BVerfGE 30, 173 (189)
8
BVerfGE 67, 213 (227)
9
BVerfGE 67, 213 (225 f.)
10
BVerfG NJW 2001, 596 (597), BVerfG NJW 1991, 1471 (1472)
11
Z.B. „Fettecke“ von Joseph Beuys
12
BverfGE 75, 369 (377); OLG Hamm 3 U 169/03: Darin heißt es, dass auch eine satirische Einzelepisode
einer Fernsehsendung (TV Total) grundsätzlich Kunst sein kann.
13
BVerfG NJW 2002, 3767 f.; BverfGE 81, 298 (397)
14
Zagouras WRP 2006, 680 (681)
15
Risthaus WRP 2009, 698 (700)
16
So der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann
17
Ein Vorläufer des JÖSchG war das nach dem zweiten Weltkrieg aufgehobene Lichtspielgesetz von
1920, das die öffentliche Vorführung von Filmen erst nach der Überprüfung durch zentrale Prüfstellen
erlaubte. Eine aufgrund der Strafandrohungen gegen Jugendliche umstrittene Polizeiverordnung aus
dem Jahr 1943, die unter anderem Ausgangsbeschränkungen enthielt, wurde erst 1951 aufgehoben
und floss in Teilen in die neuformulierten Regelungen ein.
18
Frenzel AfP 2002, 191 (193)
19
BVerwG I C 14/53; BVerwG NJW 1955, 1203
20
BVerwG I a.a.O. (Rn.11)
21
BVerwG I a.a.O. (Rn.14)
22
BVerwG I a.a.O. (Rn.15)
23
BVerwG I a.a.O. (Rn.15)
24
BVerfG I 1 BvR 402/87; BVerfG NJW 1991, 1471; OVG 20 A 2078/90
25
BVerfG I a.a.O. (Rn.53, 54)
26
BVerfG I a.a.O. (Rn.30)
27
OVG a.a.O. (Rn. 67)
28
BVerfG I 1 BvR 698/89; BVerfG NJW 1993, 1457
29
BVerfG I a.a.O. (Rn.97 f.)
30
BT-Drucks. 10/2546 (22), BGH 2 StR 365/99 (Rn.10)
31
BVerfG I a.a.O. (Rn.102)
22
32
BVerfG I a.o.O. (Rn.103);BTDrucks. 6/3521 (7)
33
BGH 2 StR 365/99 (Rn.12)
34
BVerfGE 6, 32 (36 f.); 45, 187 (227)
35
BVerfG I a.a.O. (Rn.109); (BTDrucks. 10/2546, S. 21 f.)
36
OVG NRW 20 A 3635/98
37
OVG NRW a.a.O. (Rn.13)
38
OVG NRW a.a.O. (Rn.20)
39
AG München 853 Gs 261/04
40
AG München a.a.O. (Rn.6)
41
AG München a.a.O. (Rn.9)
42
Ladeur AfP 2001, 471
43
Schneider BPjS-A 2001 (3); Ladeur AfP 2001, 471 (473)
44
BVerwG NJW 1955, 1203 (1204)
45
BVerwG JMS-Report 2002, 2 (7)
46
Ladeur AfP 2001, 471
47
BVerwGE 91, 211; Frenzel AfP 2002, 191 (192)
48
BVerfG NJW 1991, 1471 (); Frenzel AfP 2002, 191 (192)
49
Frenzel AfP 2002, 191 (193); BVerfG a.a.O. ()
50
Dort postuliert durch das "Mephisto-Urteil" BVerfGE 30, 173 ff.; Frenzel AfP 2002, 191 (192)
51
Ladeur AfP 2001, 471 (473)
52
Ladeur AfP 2001, 471 (477)
53
Siehe insbesondere www.youporn.com oder www.redtube.com
54
Frenzel AfP 2002, 191 (193)
55
Schneider BPjS-A 2001, 3 (6)
56
BVerwG JMS-Report 2002, 2 (7); Schneider BPjS-A 2001, 3 (6), Frenzel AfP 2002, 191 (194)
57
Frenzel AfP 2002, 191 (195); BverfGE 90, 1 (16)
58
Frenzel AfP 2002, 191; Lober CR 2002, 397
59
Frenzel AfP 2002, 191 (194)
60
Der Film ist eine zweite künstlerische Verarbeitung der Morde des "Kannibalen von Rothenburg",
jedoch mit Schwerpunkt auf blutigen "Schlachtszenen"
61
Indiziert durch die BPJM im Juni 2007
62
BGH 2 StR 365/99
63
Zagouras WRP 2006, 680 (681)
64
Die Rede ist insbesondere vom Massaker an der Littleton Highschool, USA, aber auch Erfurt und
Winnenden, Deutschland; Lober CR 2002, 397 ff.
65
Lober CR 2002, 397 (398)
66
Lober CR 2002, 397
67
BverfGE 35, 202; BverfGE 101, 361 ff.; BverfG NJW 2006, 3409 (3410);
23
68
BVerfG I 1 BvR 536/72
69
BVerfG I 1 BvR 209, 269, 362, 420, 440, 484/83
70
Dies wird insbesondere in den dargestellten Fällen deutlich und auch immer wieder erwähnt
71
BVerfG I 1 BvR 435/68; BverfGE 30, 173
72
Da der Senat sich in zwei Lager aufteilte, werden nur die Leitgedanken wiedergegeben, die später
auch fortgeführt wurden
73
BVerfG I a.a.O. (Rn. 52)
74
BVerfG I a.a.O. (Rn. 61)
75
BVerfG I a.a.O. (Rn. 51)
76
BVerfG I a.a.O. (Rn. 68)
77
BVerfG I a.a.O. (Rn. 75)
78
BVerfG I a.a.O. (Rn. 89)
79
BVerfG I a.a.O. (Rn. 89)
80
BVerfG I 1 BvR 1783/05; BVerfG NJW 2008, 39
81
BVerfG I a.a.O. (Rn. 82)
82
BVerfG I a.a.O. (Rn. 75)
83
BVerfG I a.a.O. (Rn. 77, 93)
84
BVerfG I a.a.O. (Rn. 99)
85
BVerfG I a.a.O. (Rn. 96,100)
86
BVerfG I a.a.O. (Rn. 100 f.)
87
BVerfG I a.a.O. (Rn. 90)
88
BVerfG I 1 BvR 1533/07; BVerfG NVwZ 2008, 549;BGH VI ZR 244/07; BGH NJW 2009, 751
89
Da es zwei parallele Rechtszüge gab, werden nur die gemeinsamen Leitlinien wiedergegeben
90
BVerfG I a.a.O. (Rn. 7)
91
BGH IV a.a.O (Rn. 20)
92
BGH IV a.a.O. (Rn. 19)
93
BGH VI ZR 191/08; BGH MDR 2009, 1040
94
BGH VI a.a.O. (Rn. 22)
95
BGH VI a.a.O. (Rn. 23)
96
BGH VI a.a.O. (Rn. 23)
97
BGH VI a.a.O. (Rn. 24)
98
BGH VI a.a.O. (Rn. 26)
99
Raue AfP 2009, 1; Wittreck AfP 2009, 6
100
BVerfG NJW 2008, 39 (42)
101
Roback AfP 2009, 325 f.
102
Raue AfP 2009, 1 (2); Wittreck AfP 2009, 6 (7)
103
Wittreck AfP 2009, 6 (7)
104
Wittreck AfP 2009, 6
24
105
Raue AfP 2009, 1 (3); Wittreck AfP 2009, 6 (8); Roback AfP 2009, 325 (330)
106
Wittreck AfP 2009, 6 (10)
107
Raue AfP 2009, 1 (3)
108
Roback AfP 2009, 325 (330); Wittreck AfP 2009, 6 (10); Raue AfP 2009, 1 (3)
109
Wittreck AfP 2009, 6 (10)
110
Raue AfP 2009, 1 (4)
111
Wittreck AfP 2009, 6 (9); Roback AfP 2009, 325 (330, 331)
112
Wittreck AfP 2009, 6 (10)
113
BVerfG NJW 2008, 39
114
Wittreck AfP 2009, 6 (11)
115
Raue AfP 2009, 1 (4 f.); Roback AfP 2009, 325 (331)
116
Roback AfP 2009, 325 (335)
117
Roback AfP 2009, 325 (332)
118
Roback AfP 2009, 325 (332)
119
Wittreck AfP 2009, 6 (11)
120
Roback AfP 2009, 325 (334)
121
Wittreck AfP 2009, 6 (13)
122
BVerwG IV 4 B 70/95; BVerwG NJW 1995, 2648
123
BVerwG IV a.a.O. (Rn. 5)
124
BVerwG IV a.a.O. (Rn. 8)
125
OVG Koblenz 8 A 12820/96; NJW 1998, 1422
126
NJW 1998, 1422
127
NJW 1998, 1422
128
NJW 1998, 1422 (1423)
129
BVerfG I 1 BvR 581/00; BVerfG NJW 2001, 596
130
BVerfG I a.a.O. (Rn. 16)
131
BVerfG I a.a.O. (Rn. 21)
132
BVerfG I a.a.O. (Rn. 23)
133
BGH VI ZR 332/04; BGH NJW 2006, 610
134
BGH IV a.a.O. (Rn. 9)
135
BGH VI a.a.O. (Rn. 22)
136
http://de.wikipedia.org/wiki/Unzuverlässiges_Erzählen
137
Sogenannte "Blockbuster" haben in der Regel eine Freigabe ab 12 Jahren, weswegen Filme mit
besonders hohem Einspielergebnis meist in der Altersfreigabe gedrückt werden; Stichwort:
Publikumsecho
25