Krishnamurti Leidlos inmitten der
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Krishnamurti Leidlos inmitten der
JIDDU KRISHNAMURTI LEIDLOS INMITTEN DER WELT 1965 DIE FLUCHT VOR DER WIRKLICHKEIT Es kommt allein darauf an, den gesamten inneren Aufbau zu verstehen, und zwar nicht in einem intellektuellen Prozess, sondern indem wir all dieser Dinge vollkommen gewahr sind - der Vergangenheit, wie der Gegenwar t - und nicht vor ihnen davonlaufen, sondern tatsächlich mit ihnen in Berührung kommen. Dann werden wir vielleicht erfahren, was es heisst, zu leben. Aber die meisten von uns sind vor der Unachtsamkeit nicht achtsam, wodurch die Konflikte entstehen. Wenn wir unachtsam sind, sagen wir Dinge, die wir gar nicht meinen, tun wir Dinge mit halbem Herzen, reagieren wir nach unserem jeweiligen Zustand. So ist es denn diese Unachtsamkeit, die die Probleme her vorruft. Ich betone, dass wir nur dann total menschliche Wesen sein können, wenn es keinerlei Konflikte mehr gibt; und nur dann werden wir einen Geist haben, der fähig ist, es sehr weit zu bringen, ohne Illusionen zu projizieren. Nur wenn Sie auf etwas vollkommen schauen können, befinden Sie sich in direktem Kontakt mit diesem Ding; und ein vollkommenes Schauen verlangt sehr viel Energie nicht Wor te, Wor te, wor te: sie erzeugen keine Energie. Paris, 16. Mai 1965 REVOLUTIONÄRE VERWANDLUNG Äusserlich werden wir durch neue Erfindungen, durch den Computer, durch Automation, durch die explosive Bevölkerungsentwicklung, durch den Wunsch nach wir tschaftlichem Wohlstand und nach einem angenehmen äusseren Leben beeinflusst. Diese Einflüsse bringen eine gewisse oberflächliche Veränderung her vor. Aber was geschieht, wenn man über diese Dinge hinausgelangt und sich dessen bewusst ist, wie leicht beeinflussbar man ist? Denn wir werden durch das Klima, durch die Nahrung, durch die Kleidung, durch die Gesellschaft, durch die Kultur, in der wir leben, beeinflusst. Diese Dinge verändern oberflächlich unseren Charakter, unsere Anschauung, unsere vielfältigen Gedanken. Aber wenn wir ein wenig darüber hinaus gegangen sind - ohne in Klöster, in die Isolierung, in Dogmen, Glaubenssätze und Riten zu entfliehen, und uns gefragt haben, ob es möglich ist, in uns eine radikale Verwandlung zustande zu bringen. Um zu untersuchen, muss ein gewisses Gefühl der Freiheit da sein - Freiheit, um nach zuforschen. Aber um zu forschen, muss der Geist das Verlangen haben, frei zu sein, sonst kann man nicht entdecken. Sich zu verwandeln - in dem Sinne, wie wir dieses Wor t gebrauchen - heisst frei zu sein, heisst, Ordnung herzustellen. Aber die Gesellschaft wünscht keine Freiheit, weil sie befürchtet, dass Freiheit Unordnung in sich schliesst. Aus diesem Grunde wird der einzelne Mensch durch die Gesellschaft immer in Schach gehalten, damit er der psychologischen Struktur der Gesellschaft nicht entschlüpfen kann. Verwandlung, so sagen wir, schliesst Zeit in sich. Ich bin dieses und, um eine Verwandlung in mir her vorzubringen, das heisst, um in der Zukunft jenes zu werden, ist Zeit er forderlich, nicht wahr? Das ist sehr einfach. Ich bin, was ich bin, mit all meinen Ängsten, Befürchtungen, Verzweiflunge, Hoffnungen, Leiden und Schmerzen, und ich möchte mich wandeln, ich möchte Ordnung in all diese Dinge bringen; das aber verlangt Zeit. Unsere Frage ist nun: ist es für ein menschliches Wesen möglich, sich zu verwandeln, ohne überhaupt die Zeit ein zufügen? Kann man von der Furcht total, in vollem Umfang, augenblicklich frei sein? Denn wenn ich nicht augenblicklich von der Furcht frei sein kann, führe ich das Element der Dauer ein, und das bedeutet, dass die Furcht for tbestehen wird. Wo aber Furcht andauer t, ist Unordnung. Ist es nun möglich, sich zu verwandeln, eine radikale Revo lution in sich her vorzubringen? Und solche Revolution ist notwendig, wenn unser Leben nicht oberflächlich, nichtssagend, dumpf, stumpfsinnig, mittelmässig bleiben soll - ein Leben, darin es nichts Neues gibt. Ist es möglich, die Furcht ohne Anstrengung aufzuheben? Es wird Ihnen nur gelingen, wenn ein direkter Kontakt mit diesem Gefühl, das Furcht genannt wird, vorhanden ist, ohne dass sich das Denken als das Wor t einschaltet. Und das geschieht in dem Augenblick, da man die Natur, das Wesen der Zeit, der Sinnenfreude, der Verwirrung und Unordnung in ihrem ganzen Ausmass verstanden hat. Die ganze Welt ist voller Willkürherrschaft und Tyrannei - Tyrannei der Regierungen, Tyrannei der Kirchen, im Namen Gottes, im Namen der Liebe und des Friedens. Jede Ar t von Autorität hat man uns aufgedrängt, und die meisten von uns nehmen sie an, weil es beruhigend ist. Aber der Mensch, der entdecken möchte, was wahr ist, was real ist, muss jede Autorität beiseite tun, so dass der eigene Geist sich zu entfalten beginnt. Er muss all die dunklen Schlupfwinkel in sich sehen; und das zu tun ist gewiss das einzig Intelligente und Schöpferische. Paris, 20. Mai 1965 DAS VERLANGEN NACH WOHLSEIN Man muss den Wunsch verstehen - und ich habe erklär t, was ich mit verstehen meine. Man muss in das Wesen des Begehrens eindringen, nicht nach ihrer oder meiner Phantasie, sondern man muss tatsächlich verstehen, was es unwiderlegbar und unabänderlich ist. Wenn das wirklich klar ist, dann wird man die Grenzen des Wunsches erkennen, und indem man damit seine ganze Struktur versteht, ist man ihn los: Der Geist wird nicht länger durch Wünsche oder den Wohlseinsprozess gefesselt. So beginnt man einzusehen, dass der Vergleich unabänderlich das Gefühl des Leerseins her vorbringt; und das zu verstehen ist eines der verwickeltsten und schwierigsten Dinge, weil wir von Kindheit an dazu erzogen wurden und uns in der Schule beigebracht wurde, zu vergleichen. So ist also der Vergleich, den der Mensch zwischen sich und einem anderen anstellt, der Anfang dieses Gefühls der Leerheit. Verständnis kommt, wenn Sie Ihren Geist und Ihr Herz und Ihren Körper einer Sache hingeben; und wenn Sie es nicht tun, werden Sie kein Verständnis erlangen. Paris, 23. Mai 1965 GEISTIGE GESUNDHEIT UND MEDITATION Diese Klarheit kann nicht durch einen anderen ausfindig gemacht werden, auch nicht dadurch, dass man irgendeiner Autorität oder einem alten oder modernen Gedanken system folgt. Diese Klarheit ist Ordnung; und Ordnung in ihrem letzten, höchsten Sinne ist Tugend. Die Moral, die die Gesellschaft vorschreibt, ist überhaupt keine Moral. Soziale Moral ist Unmoral, weil sie jede Ar t des Widerspruchs, jede Ar t des Ehrgeizes und Wettstreites erzeugt. Tugend ist kein starres Phänomen, das ewig andauer t. Tugend ist Ordnung, die von Augenblick zu Augenblick neu geboren wird, und darum ist in der Tugend Freiheit und keine Revolte. Freiheit ist etwas völlig anderes; und die meisten von uns wünschen keine innere Freiheit in dem tiefen Sinne dieses Wor tes. Das würde nämlich bedeuten, dass wir vollkommen allein stehen müssen, ohne einem Führer, ohne einem System, ohne irgendeiner Autoriät zu folgen; und das erforder t gewaltige Ordnung in uns selbst. So akzeptieren denn die meisten von uns die Autorität. Um Ordnung her vorzubringen, ist es notwendig, alles über sich zu erfahren, nicht nur über die eigenen physiologischen Reaktionen, die biologischen Triebe und Forderungen, sondern auch über alle inneren Gedankenregungen - nur dann können Sie in der Meditation vorankommen. Man muss dieses Raumes gewahr sein, der bunten Kleider, der anderen Dinge, ohne jede Auswahl. Dann lernen Sie viel mehr ; dann ist Ihr Geist weit lebendiger. Aber wo Achtsamkeit ist, gibt es keinen Widerspruch, weil sich ein achtsamer Geist konzentrieren kann, ohne etwas auszuschliessen. So müssen Sie die äussere Natur des Lebens verstehen, mit ihr in Kommunion sein und sich dann vom Äusseren dem Inneren, der Psyche zuwenden, jenem Bündel der Erinnerungen, das Sie selbst sind, mit all Ihren Beschränkungen, Traditionen, Ihren Hoffnungen, Ihren Ängsten, Ihren Verzweiflungen, Ihren Sehnsüchten. Und all dieser Dinge gewahr zu sein, vor ihnen achtsam zu sein, sie dadurch aufzulösen und von ihnen frei zu sein, ist keine Frage der Zeit. Wenn man so bewusst ist, wird der Geist sehr wachsam, klar, tief, weil dann kein Widerspruch besteht, kein angestrengter Versuch gemacht wird, zu sein oder zu werden. Widerspruch bedeutet Anstrengung. Ein Mensch, der sich anstrengt, um dieses oder jenes zu sein, ist in einem Zustand der Verwirrung und wie sehr er sich auch anstrengen mag, um sich Klarheit zu verschaffen und in die Tiefe zu dringen: er wird nur grössere Dumpfheit, grössere Verwirrung her vorbringen. Dieser gesamte Prozess ist Meditation. Paris, 27. Mai 1965 DIE WIDERSPRÜCHE UND KONFLIKTE IM MENSCHLICHEN HANDELN Wenn man sich beobachtet, sieht man, dass man umso mehr Energie besitzt, je mehr man körperlich aktiv ist. Um zu diesem Punkt zu gelangen, wo es keinen Zensor mehr gibt, müssen Sie sich in Ihrer ganzen Bedingtheit verstehen. Es ist nicht nur eine Sache der Bejahung. Um es zu verstehen, müssen Sie daran arbeiten; und dann werden Sie erleben, dass der Geist zu einem blossen Beobachter wird. Ein solcher Geist befindet sich dann nicht länger in dem Zustand des Widerspruchs und besitzt daher gewaltige Energie. Diese Energie ist Liebe, Leidenschaft - nicht körperliche Leidenschaft; die ist ziemlich einfach, ziemlich alltäglich, sie ist das Vergnügen, das jedermann kennt. Ich spreche von einer Leidenschaft, die keine Ursache hat und die daher ohne Widerpruch ist, die keinen Beweggrund hat und daher ohne Ende ist. Wo Liebe ist, ist auch der Tod; diese beiden können nicht getrennt werden, weil Liebe ohne Wunsch und Ziel ist. Der vom Widerspruch unberühr te Geist ist, da er die ganze Struktur des Widerspruchs, des bewussten wie des unbewussten, verstanden hat, vollkommen still, weil jede Bewegung eine Vergeudung der Energie ist. Nur wenn der Geist vollkommen still und mit gewaltiger Energie geladen ist - nur dann geschieht eine Explosion; und diese Explosion ist Schöpfung, die sich als solche ausdrücken mag oder nicht. Wenn diese Transformation nicht in jedem menschlichen Wesen - das ein Teil der Gesellschaft, das die Gesellschaft selbst ist - geschieht, kann keine neue Gesellschaft entstehen. Paris, 30. Mai 1965 KOMMUNIKATION UND DAS UNERMESSLICHE LEBEN Schönheit existier t nur, wenn der Geist vollkommen ruhig ist, weder persönlich noch unpersönlich; und aus diesem Schweigen kommt ein Unermessliches. Saanen, 11. Juli 1965 LEITBILDER 1 Warum habe ich dieses Lagerhaus angefüllt mit dem, was ich denke, was ich fühle, was ich bin, was ich sein sollte, warum ist da diese Anhäufung von Erfahrung und Wissen? Und was würde geschehen, wenn ich es nicht getan hätte? Verstehen Sie das? Wenn ich keine Vorstellung von mir hätte, was würde mit mir geschehen? Ich würde zugrunde gehen, nicht wahr? Ich würde unsicher sein, ich würde mich vor dem Leben schrecklich fürchten. Darum errichte ich ein Bild von mir, einen Mythos, eine Vorstellung, eine Überzeugung, weil das Leben für mich ohne dieses Rahmenwerk völlig sinnlos, ungewiss, furchterregend werden würde. Es gäbe keine Sicherheit. Ich mag nach aussen gesicher t sein, ich mag einen Beruf, ein Haus und manches andere haben, aber auch innerlich möchte ich vollkommen sicher sein. Und dieser Wunsch nach innerer Sicherheit ist es, der mich zwingt, ein Bild von mir zu errichten - was nur eine Phrase ist. Verstehen Sie das? Es hat überhaupt keine Realität; es ist nur ein Begriff, eine Erinnerung, eine Idee, eine Gedankenfolgerung. Ich habe das Bild aufgebaut, und ich erkenne, warum ich es getan habe. Die Gesellschaft verlangt es; und auch abgesehen von der Gesellschaft möchte ich meiner selbst vollkommen sicher sein. Die Gesellschaft unterstützt mich darin, dieses Bild, diese Idee, dieser Gedankenkomplex zu sein. Was geschieht nun, wenn ich der Tatsache gewahr bin, dass ich ein Leitbild von mir aufgebaut habe - wenn ich dessen so gewahr bin, wie ich mir des Hungers bewusst bin? Wir sind so gewohnt uns anzustrengen. Von Kindheit an werden wir ermunter t, uns anzustrengen und zu kämpfen, weil wir besser sein müssen als irgendein anderer. Wir beten den Erfolg an, und darum strengen wir uns an. Wie ich zu Anfang sagte, muss Freiheit vorhanden sein - nicht nur Freiheit von törichten kleinen Ängsten und dergleichen, sondern vollkommene Freiheit. Ein Geist, der durch Probleme verkrüppelt ist, kann nie frei sein. Man muss sich befreien, muss frei sein von der Gesellschaft, so dass eine neue Gemeinschaft menschlicher Wesen entsteht und dann eine neue Gesellschaftsstruktur gebildet werden kann. Es ist etwas ganz anderes, wenn kein Bild mehr von Ihnen besteht. Und kein Bild von sich zu haben, verlangt gewaltige Achtsamkeit, gewaltige Ernsthaftigkeit. Es ist nur der Achtsame, der Ernsthafte, der lebt, nicht die Menschen, die Leitbilder von sich haben. Saanen, 13. Juli 1965 LEITBILDER 1I Wenn für den einzelnen Menschen als soziales Wesen eine grössere äussere Sicherheit besteht - wie in der westlichen Welt, wo es praktisch für jedermann Sicherheit gibt -, so korrespondier t damit ein entsprechend grösseres Verlangen nach innerer Sicherheit. Und innere Sicherheit sucht man durch organisier te Religionen, durch die verschiedenen Möglichkeiten des Ausweichens, durch Belustigungen, durch politischen Dogmatismus der extremen Linken oder der extremen Rechten und so weiter. Was es auch immer sein mag, zu diesen Dingen nehmen wir unsere Zuflucht und erzeugen dadurch ein gewisses Gefühl innerer Sicherheit. Wenn wir dieses Gefühl der Sicherheit in uns erlangt haben, widersetzen wir uns jeder Verwandlung. Wenn wir diese fiktiven, unwirklichen Bilder haben, werden die meisten von uns neu rotisch, völlig unausgeglichen. Wir wünschen diese Bilder nicht zu prüfen, wir möchten nicht wahrhaben, was sich tatsächlich ereignet. Wenn wir dessen gewahr werden, entsteht ein grosser Konflikt, dem wir zu entrinnen trachten, und so widerstreben wir jeglicher Ar t der Verwandlung. Jeder Druck, der uns zur äusseren Wandlung zwingt, hat für das Innere keine Bedeutung. Die menschliche Natur kann radikal, fundamental, weitgehend verwandelt werden. Es gibt nicht so etwas wie ein Leitbild, das natürlich ist. So seien Sie sich des Bildes, das Sie von sich haben, gewahr. Wir kennen Handlung nur als Willen, und aus dem Willen kommt die sogenannte Tugend. Wir sagen, “Ich will dieses sein, und jenes will ich nicht sein”. Unsere Tugend, unsere Moral, unsere Ethik basieren auf der Auswahl, und das ist der Wille in der Handlung. So basier t unsere Moral auf der Auswahl, auf der Willenshandlung, die wir bewusst zustande bringen, liegt innerhalb dieser Schablone, so dass unsere Handlung immer in sich widerspruchsvoll ist. Wenn Handlung auf Auswählen und Wollen basier t, kann sie nur in einem Zustand des Selbst-Widerspruchs sein; denn dahinter steht das Bild von uns, die Vorstellung dessen, was wir gerne sein möchten, sei es neurotisch oder nur phantastisch, angenehm oder schmerzlich. Nach diesem Leitbild handeln wir, und da die Handlung sich ständig ändern muss, widerspricht sie sich selbst. Sie können nicht bei einer konstanten Handlung bleiben, weil das Leben es nicht zulassen würde; so ist ihre Handlung immer in einem Zustand des Widerspruchs. Ich erkenne also, dass Ordnung sein muss, die kein Widerstand ist, die keine Isolierung, keine Flucht ist, und dass sich solche Ordnung durch einen Zustand einstellt, in dem nicht mehr ausgewählt wird, in dem kein Wille mehr als Widerstand handelt. Ich sehe, dass die Ordnung, die ich zuvor innerlich und äusserlich geschaffen habe, in Wirklichkeit Unordnund ist. Äusserlich passe ich mich der übernommenen Schablone, der sozialen Norm an; das heisst: ich bin ehr geizig, neidisch, gierig, wetteifernd, und das erzeugt schreckliche Unordnung in der Welt. Innerlich wünsche ich Frieden und Ruhe, wünsche ich Klarheit und Sicherheit; und auch dor t - weil mein Wunsch auf Wohlsein gerichtet ist - erzeuge ich Unordnung. So sehe ich, dass mein ganzes Handeln, mag es nach innen oder nach aussen gerichtet sein, zur Unordnung führ t. Obgleich das, was ich äusserlich tue, als moralisch, ethisch oder sonstwie bezeichnet werden mag, bringt es in Wirklichkeit Unordnung her vor. Ich sehe das sehr klar. Jede Form des Wählens und der Willensausübung, die auf dem Wunsch nach Wohlsein basier t, erzeugt Widerstand und damit Unordnung. Wenn Sie hingegen verstehen, was in der Schablone der alten Lebensweise enthalten ist, nämlich Gedanken und Handlungen, die vom Willen und Wählen abgeleitet sind, dann fällt das Alte auf natürliche Weise von Ihnen ab. Um daher Ordnung in mir als einem menschlichen Wesen her vorzubringen - nicht als einem Individuum in der Isolierung, sondern als einem menschlichen Wesen, das Teil der übrigen Menschheit ist -, muss ich diesen ungewöhnlich komplexen und subtilen Prozess des Willens, des Wählens und des Leitbildes verstehen. Aber wenn nur noch die Tatsache besteht, die Ihre ganze Energie und Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, dann werden Sie erfahren, dass das Bild explodier t; es hat überhaupt keine Gültigkeit mehr, keine Substanz. Es ist vollkommen verschwunden. Dann beginnen Sie ein neues Leben, denn dann gibt es nicht länger einen Zensor, der Ihnen vorschreibt, was Sie tun sollten oder nicht tun sollten. Dann ist da eine vollkommene Revolution, eine totale Verwandlung und daher eine grosse Ordnung. Saanen, 15. Juli 1965 GEDANKEN ÜBER DAS GUTE, ÜBER ORDNUNG, RAUM, DISZIPLIN UND FREIHEIT Die Gesellschaft betrachtet die Freiheit als eine gegen sich gerichtete Gefahr, weil der Mensch in der Freiheit seiner eigenen persönlichen Initiative folgt. Durch seine Klugheit und Geschicklichkeit beherrscht das Individiuum andere, die weniger unternehmungslustig sind, und so entsteht im allgemeinen das Gefühl, die Vorstellung, die Ansicht, dass Freiheit und eine gute Gesellschaft einander entgegengesetzt sind. Darum versuchen die politischen Diktaturen, den menschlichen Geist zu kontrollieren, zu beherrschen, sowohl in religiöser als auch in wir tschaftlicher und sozialer Hinsicht; sie hemmen den Geist, indem sie versuchen, den Menschen am freien Denken zu hindern. In der sogenannten demokratischen Gesellschaft gibt es grössere Freiheit, offensichtlich. Aber die Freiheit wird auch in den Demokratien abgelehnt, wenn sie die Form einer Revolte annimmt. Nun, wir sprechen nicht über eine Revolte im politischen Sinne, sondern vielmehr über eine vollkommene Entfaltung menschlicher Güte, die allein eine schöpferische Ge sellschaft her vorbringen kann. Aber Ordnung wird gerade durch die Struktur, durch die grundlegende psychologische Struktur der Gesellschaft verneint. Obgleich sie etwas anderes proklamieren mag, basier t die Gesellschaft, wie wir sie kennen, auf Wettstreit, Gier, Neid, auf einem agressiven Streben des Menschen nach eigener Erfüllung und Leistung; und in einer solchen Gesellschaft kann es überhaupt keine wirkliche Freiheit geben und daher auch keine Ordnung. Wir leben heute in einer Welt, die so zerstörerisch ist, so voller Leid, Elend und Verwirrung, in der wir so sehr durch unsere Probleme, durch unsere Enttäuschungen und Verzweiflungen gepeinigt werden, dass sich das Gute nicht entfalten kann, es sei denn, dass Sie und ich als menschliches Wesen in totaler Verbundenheit mit anderen menschlichen Wesen herausfinden, was Freiheit ist. Güte ist nicht bloss ein sentimentales Wor t, sie hat eine ausserordentliche Bedeutung; und ohne Güte sehe ich nicht, wie man ohne Reaktion, die Elend, Angst und Verzweiflung in sich birgt, handeln kann. Das Gute kann nicht blühen und gedeihen, ausgenommen in der Freiheit. Freiheit ist keine Reaktion; sie ist nicht die Freiheit von etwas, noch ist sie ein Widerstand oder eine Revolte gegen etwas. Sie ist ein Zustand des Geistes; und dieser Zustand der Freiheit kann nicht verstanden werden, wenn kein Raum vorhanden ist. Freiheit verlangt Raum. Um den begrenzten Raum zu betrachten, den Sie als menschliches Wesen in Ihrer Beziehung zu anderen um sich geschaffen haben – als menschliches Wesen, das in einer Welt der Zerstörung und Brutalität lebt, als menschliches Wesen, das Beziehung zu einer bestimmten Gesellschaft hat. Ich meine den inneren Raum, den jeder von uns um sein Leitbild, um ein Zentrum, um eine Überzeugung geschaffen hat. So ist denn der einzige Raum, den wir kennen, ein Raum, der ein Objekt als sein Zentrum hat. Ich versuche zu sagen, dass es überhaupt keine Freiheit gibt, solange ein Zentrum besteht, um das Raum ist oder das den Raum erzeugt. Und wenn keine Freiheit vorhanden ist, gibt es keine Güte, kann sich keine Güte entfalten. Das Gute kann nur blühen und gedeihen, wo Raum ist – Raum, in dem das Leitbild, das Zentrum nicht existier t. Kann der Mensch jemals frei sein, wenn er nicht grenzenlosen Raum in sich gewonnen hat – Raum, der nicht erzeugt wurde durch eine Vorstellung vom Raum, der nicht geschaffen wurde durch ein Leitbild, das einen gewissen begrenzten Raum um sich, das Zentrum hat? Bloss das Rauchen aufzugeben oder ein Beatnik oder ein Beatle oder Gott weiss was zu werden, das hat keine Bedeutung, weil das alles nur Formen der Revolte innerhalb des Gefängnisses sind. Nun, wir versuchen herauszufinden, ob es eine Freiheit gibt, die keine Revolte ist – Freiheit, die keine begriffliche Schöpfung des Geistes, sondern eine Tatsache ist. Um das herauszufinden, muss man die Frage des Raumes tiefschürfend erforschen. Ein engstirniger, kleinlicher Spiessbürger – oder ein Aristokrat, der ebenso unbedeutend ist – mag glauben, dass er frei ist. Aber er ist es nicht, weil er innerhalb der Grenzen seines persönlichen Raumes lebt, des eingeengten Raumes, der durch das Leitbild geschaffen wurde, in dessen Grenzen er funktionier t. Sie können keine Ordnung ohne Freiheit haben, und Sie können keine Freiheit ohne Raum haben. Raum, Freiheit und Ordnung – diese drei ge hören zusammen, sie sind nicht getrennt. Eine Par tei kann keine Ordnung schaffen, weder wir tschaftliche noch soziale noch irgendeine andere, weil Ordnung eine Freiheit verlangt, die im Menschen selbst liegt – nicht in dem Menschen, der als Einzelwesen seine unbedeutende, kleine, schmutzige Seele retten möchte, sondern in dem menschlichen Wesen, das seit zwei Millionen Jahren oder länger gelebt hat, mit den unermesslichen Erfahrungen der Menschheit. Und dennoch, sieht man ein, dass im Leben irgendeine Ar t von Disziplin sein muss – eine Disziplin, die keine blosse Gleichschaltung ist, die keine Anpassung an eine Schablone ist, die nicht auf Furcht und ähnlichem beruht. Denn wenn es überhaupt keine Disziplin gibt, kann man nicht leben. Man muss also herausfinden, ob es eine Disziplin gibt, die nicht Anpassung ist, weil Anpassung die Freiheit zerstör t; sie lässt niemals Freiheit aufkommen. Können Sie und ich für ein paar Stunden oder auch nur für eine Minute mit einer Intensität, einer Eindringlichkeit, in gleicher Tiefe und zur gleichen Zeit leben? Nur dann besteht Kommunion, nur dann gibt es ein Teilhaben. Sonst geht nur ein Austausch vor sich oder etwas Sentimentales, Emotionales, das überhaupt keine Bedeutung hat. Im Teilhaben ist kein Gefühlsüberschwang, keine Sentimentalität; es ist ein Zustand des Geistes, in dem wir beide ernsthaft, intensiv, lebendig sind. Dann fragen wir nicht danach, ob wir irgendein Ding mit irgend jemandem teilen können. Saanen, 18. Juli 1965 KONFORMITÄT UND DAS URSPRÜNGLICHE Die meisten führen ein Leben aus zweiter Hand. Wir wissen von uns aus nicht, was das Ursprüngliche, das Schöpferische ist oder ob es überhaupt etwas gibt, das das Ursprüngliche genannt werden kann. Muss ich mich einer bestimmten Lebensform, einer bestimmten Denkar t gleichschalten, die die Gesellschaft mir aufzudrängen trachtet und durch die mein Geist geformt wird – sei es durch eine organisier te Religion oder durch wir tschaftliche und soziale Einflüsse? Wenn ich ein Leben führen möchte, in dem eine gelöste Beziehung zur Umwelt besteht, eine rechte Lebensführung, ein rechtes Verhalten, muss ich herausfinden, ob es möglich ist, ohne Anstrengung zu leben; denn durch Anstrengung wird das alles verneint. Haben Sie je damit experimentier t, Ihre ganze Energie zu sammeln – physisch, emontional, mental, visuell, jegliche Energie – und vollkommen in ihr zu verharren? Wenn unsere ganze Energie ruhig ist, entsteht eine Bewegung, die ursprünglich und daher explosiv ist. Wenn Sie ihre ganze Energie ohne Anstrengung sammeln können, dann ist der Geist mit Energie geladen, ohne Widerstand irgend welcher Ar t. Dann entsteht eine Explosion, und in diesem Ausbruch ist das Ursprüngliche. Saanen, 22. Juli 1965 DAS EINFACHE LEBEN UND DIE AUFHEBUNG DES LEIDES Um Leid zu beenden, muss man einen sehr klaren, einen sehr einfachen Geist haben. Einfachheit ist keien blosse Idee. Einfach zu sein verlangt sehr viel Intelligenz und Sen sitivität. Wir meinen, dass Einfachheit die Rückkehr zur Natur ist oder darin besteht, dass wir nur ein oder zwei Kleidungsstücke besitzen oder nur sehr wenige Mahlzeiten zu uns nehmen und gerade noch ein Dach über dem Kopf haben. Wir sind mit dieser ganzen äusseren Schau der Einfachheit ver traut; aber ich weiss nicht, ob wir jemals wirklich über diese Frage nachgedacht haben. Was bedeutet es, sehr klar, sehr einfach zu sein? Kein kluger Kopf, kein kenntnisreicher Verstand, sondern nur ein sehr einfacher Geist unmittelbar und ohne Verzerrung, und wir werden die Dinge so lange verzerr t sehen, als im Menschen das Leitbild des Wohlseins besteht. Wir sprechen von einer Strenge, in der es überhaupt keine Konformität irgend welcher Ar t gibt. Wir gebrauchen das Wor t streng nicht in dem Sinne, dass man sich nach einer Schablone disziplinier t, sondern im Sinne einer Bewusstheit vor dem Leitbild oder Zentrum und vor allen Verwicklungen, die mit dem Hang nach Wohlsein verbunden sind. Diese Bewusstheit bringt eine spontane Disziplin hervor – und das ist die Strenge, von der ich spreche. Sie können nicht streng sein, wenn Sie nicht leidenschaftlich sind. Die meisten von uns interpretieren Leidenschaft als Lust, oder wir sprechen über die Leidenschaft, die wir für die Arbeit haben. Aber ich gebrauche das Wor t im Sinne von Intensität. Es ist eine Zusammenballung der Energie möglich, die ungeheuer intensiv wird – und das ist Leidenschaft. Ohne diese Leidenschaft gibt es keine Strenge und daher keine Einfachheit. Sie müssen gewaltige Leidenschaft besitzen, um einfach zu sein; und mit dieser Leidenschaft, mit dieser Intensität können sie dem Leid nahe kommen. Nur wenn das Leid beendet ist, entsteht Freiheit, und nur wenn der Geist frei ist, ist er weise und aktiv. Wenn wir das Leid beendet haben, dann werden wir vielleicht wissen, was Liebe ist. Aber ohne die Beendigung des Leides wird Liebe zur Tyrannei, wird Liebe etwas, das überhaupt keine Bedeutung hat, es sei denn als Erinnerung, als Genuss. Saanen, 25. Juli 1965 LIEBE UND TOD So ist als erstes herauszufinden, ob es überhaupt möglich ist, niemals das Vergangene anzusammeln. Wenn Sie das Vergan gene nicht ansammeln, besteht keine Notwendigkeit, vor der Vergangenheit zu sterben. Wenn Sie genauso den Schmerz, die Beleidigungen, die Ärgernisse nicht ansammeln, dann gibt es nichts zu vergeben. Ein Mensch, der verzeiht, ist grausam. Der Geist, der wachsam seiner selbst gewahr ist, der seiner eigenen Bewegungen völlig bewusst ist, erkennt sich selbst; und Selbst-Erkennen ist der Anfang der Weisheit. Selbst-Erkennen bringt Freiheit; und in der Freiheit von dem Bekannten, das ja das Abbild des Wohlseins ist, gelangt der Mensch in einen völlig anderen Zustand, betritt er eine völlig andere Dimension. Saanen, 27. Juli 1965 ENTARTUNG UND VERFALL Das ganze Gefüge der Entar tung liegt in der egozentrischen Betätigung des Menschen. Er mag seine Tätigkeit durch Wissen, durch Fürsorgearbeit, durch den Versuch, eine wer tvolle Gesellschaft zu schaffen, ausweiten; aber wenn er bewusst oder unbewusst Ruhm, Prestige, gesellschaftlichen Rang sucht oder wenn seine Betätigung in irgendeiner anderen Weise egozentrisch ist, dann erzeugt diese Tun Unordnung und damit Entar tung. So muss der Geist herausfinden, was es bedeutet, schweigend zu sein. Und wenn Sie vollkommen achtsam sind, sich nicht widersetzen, sich nicht zwingen – hören Sie dann nicht aus einem totalen Schweigen? Und wenn ihr Geist gänzlich still ist, vollkomen frei vom Denken, hat er in sich einen unermesslichen Raum ohne ein Zentrum, das den Raum schafft. Dieses Schweigen verlangt ein grosses Verständnis für das Leben und nicht ihre Flucht davor. Es verlangt eine gewaltige Sensitivität Ihres ganzen Seins, Ihres Herzens, Ihres Geistes, Ihres Körpers. Darum kommt es so sehr darauf an, in welcher Ar t Sie leben, was Sie essen, jegliches Ding wird ausserordentlich bedeutsam. Solange man ein Sklave der Gesellschaft ist, solange man gierig, neidisch, ehrgeizig ist, nach Wohlsein und Presige trachtet – solange man von diesen Dingen nicht frei ist, gibt es keine Erneuerung, keine Frische, keine Verjüngung, kein Schweigen, keine Freiheit und deshalb keinen Raum, in dem sich Schöpfung ereignen kann. Saanen, 29. Juli 1965 DAS HEILIGE Schöpfung kann sich nur ereignen, wenn wir an jedem Tag vor jeglichem Ding sterben, so dass es keine Anhäufung als Erinnerung gibt. Es ist klar, dass Sie hinsichtlich Ihrer Kleidung, Ihres Heimes und Ihres persönlichen Besitzes einiges ansammeln müssen – darüber spreche ich nicht. Es ist des Menschen inneres Gefühl für Anhäufung und Besitz – von wo Herrschsucht, Autorität, Konformität, Gehorsam ihren Ausgang nehmen –, das die Schöpfung verhinder t, weil solch ein Geist niemals frei ist. Nur ein freier Geist weiss um den Tod und um die Liebe; und für diesen Geist allein gibt es Schöpfung. In diesem Zustand ist der Geist religiös, in diesem Zustand ist Heiligkeit. Um ein anderes menschliches Wesen entstehen zu lassen und damit eine andere Gesellschaft, eine andere Welt, muss das Leid zu seinem Ende kommen; denn nur mit der Aufhebung des Leides entsteht ein neues Leben. Saanen, 1. August 1965