steeldoc - Stahlbau Zentrum Schweiz
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Bauen in Stahl Bautendokumentation des Stahlbau Zentrums Schweiz 02/04 steeldoc Rauten – Konstruktion und Ornament Inhalt Editorial 3 Rauten – zwischen Konstruktion und Ornament Essay von Alois Diethelm 4 Swiss Re London Intelligenter Knoten 10 Prada Aoyama Epicenter, Tokio Verborgene Hierarchie 18 Impressum 27 Kompetenz im Stahlbau Das Stahlbau Zentrum Schweiz ist das Schweizer Kompetenz-Forum für den Stahlbau. Als Fachorganisation vereint das SZS die wichtigsten stahlverarbeitenden Betriebe, Zulieferfirmen und Planungsbüros der Schweiz und erreicht mit seinen Aktionen mehr als 8'000 Architektinnen, Bauplaner, Entscheidungsträger und Institutionen. Das SZS informiert das Fachpublikum, fördert die Forschung, Entwicklung und Zusammenarbeit im Stahlbau, pflegt internationale Verbindungen und unterstützt die Aus- und Weiterbildung von Fachleuten. Seine Mitglieder profitieren von einem breiten Leistungsangebot zu günstigen Konditionen. www.szs.ch Stahlbau Zentrum Schweiz Centre suisse de la construction métallique Centrale svizzera per le costruzioni in acciaio Editorial Raute ist das deutsche Wort für Rhombus. Ein Rhombus, man erinnere sich an die Geometriestunde, ist ein Parallelogramm mit vier gleich langen Seiten, jedoch ungleichen Winkelgrössen. Man könnte auch von einem verzogenen Quadrat sprechen. In diesem Heft geht es um die geometrische und formale Definition von stabförmigen Tragwerken, welche mit Diagonalen in der Fassadenebene nebst der Aussteifung auch noch ornamentale Absichten an den Tag legen. Steeldoc hat sich zu diesem Zweck einen Autoren geleistet, der die Thematik nicht nur aus konstruktiver Sicht darlegt, sondern auch formal unter die Lupe nimmt und in Beziehung zur Geschichte und zum zeitgenössischen Architekturschaffen setzt. Alois Diethelm ist Architekt, war Assistent am Lehrstuhl für Konstruktion und Entwurf von Professor Andrea Deplazes an der ETH Zürich und ist engagierter Architekturkritiker, wie sich an dieser Ausgabe von Steeldoc ablesen lässt. Die gewandte Feder des Autors sowie die Idee, zwei aktuelle Bauwerke anhand ihrer verwandten Fassadenstruktur zu vergleichen, schien uns Grund genug, diesem Thema die zweite Ausgabe der neu gestalteten Publikationsreihe von «Bauen in Stahl» zu widmen und dem Autor Hand für die Entwicklung seiner Analyse zu bieten. Bisherige Leser und Abonnenten von «Bauen in Stahl» werden vom neuen Ton, den Steeldoc anschlägt, sicher verblüfft sein. In der Tat soll die Bautendokumentation des Stahlbau Zentrums Schweiz mehr bieten als bisher, was sich nicht nur im Seitenumfang niederschlägt, sondern auch in der Qualität der Inhalte. Der Fokus richtet sich weiterhin aufs Detail, wird aber neuerdings auch auf die Erläuterung konstruktiver Konzepte und deren Umsetzung gelenkt, welche für den Stahlbau prägend und letztlich entscheidend sind. Der Stahlbau lebt von der konstruktiven Intelligenz. Gerade weil diese so eng an die Statik geknüpft ist, stellt sie an Architekten besonders hohe Denkanforderungen und führt sie oft in eine mehr oder weniger intensive Zusammenarbeit mit Ingenieuren, welche die gestalterischen Absichten verstehen und unterstützen sollten. Steeldoc will Grundlagen zum besseren konstruktiven Verständnis des Stahlbaus bieten und sowohl Architekten wie Ingenieure dazu anregen, besser und intelligenter in Stahl zu planen und die Möglichkeiten und Freiräume auszuschöpfen, die das Material bietet. Wir wünschen der alten und neuen Leserschaft von Steeldoc viel Vergnügen und Erkenntnis beim Studium der nachfolgenden Seiten. Evelyn C. Frisch 3 Essay Rauten – zwischen Konstruktion und Ornament Alois Diethelm Schräge Stützen stehen wieder hoch im Kurs. Vor dem Hintergrund einer tragwerksrelevanten Funktion ermöglichen sie sachlich begründete Strukturen mit ornamentaler Qualität. Kreuzweise angeordnet, formen die diagonalen Druckstäbe Rauten. Ob der einprägsamen Form geht aber häufig vergessen, dass es sich aus statischer Sicht fast immer um Dreiecke handelt. Von jeder Bauweise wird erwartet, dass sie auch den Einwirkungen von Wind und Erdbeben Stand hält; die damit verbundenen Konsequenzen für den architektonischen Ausdruck sind aber nicht immer gleich. Während im Massivbau Decken und Wände automatisch eine aussteifende Funktion übernehmen und selbst bei einer Vielzahl von Öffnungen Scheiben auszumachen sind, ruft die horizontale Aussteifung bei stabförmigen Tragwerken nach zusätzlichen Massnahmen. Sichtbarer und häufigster Zeuge eines stabilisierten Stabwerkes ist die Diagonale. Im Verbund mit einer Stütze und einem Träger bildet sie ein biegesteifes Dreieck und erzielt dadurch bei maximaler visueller Durchlässigkeit und minimalem Materialverbrauch die Wirkung einer Scheibe. In der reinen Skelettbauweise ist je nach Grösse des Bauwerkes pro Geschoss und Fassade mindestens ein Feld mit einer Diagonalen ausgestattet. Häufig liegen sie hinter einer Verkleidung verborgen; genau so oft bleiben sie aber sichtbar. In der Fülle gleichgeschalteter Felder erscheinen Felder mit Diagonale als Ausnahme oder gar als etwas Hinzugefügtes. Will man die «Regelwidrigkeit» ausschliessen, bieten sich zwei Wege an: die Ausnahme eliminieren, indem die Verbindung von Stütze zu Träger unter Beizug zusätzlicher Mittel biegesteif wird (Vierendeel), oder den Sonderfall zum Prinzip erheben. Damit ist nicht gemeint, sämtliche Felder fernab statischer Erfordernisse mit Diagonalen auszustatten, sondern die Diagonalen derart auszubilden, dass sie unter Verzicht der Stützen auch noch die vertikalen Lasten abzutragen vermögen. Wie der Blick in die Architekturgeschichte noch zeigen wird, ist dies nichts Neues. Die Diagonale, respektive die schräge Stütze hat aber angesichts einer Reihe jüngst entstandener oder noch im Bau befindlicher Bauten wieder an Aktualität gewonnen. Renaissance der Diagonale Der Zeitpunkt für die Wiederentdeckung der Diagonale scheint nicht zufällig. Nach dem einengenden Minimalismus der neunziger Jahre und der nach einem Befreiungsschlag zur Beliebigkeit neigenden Opulenz vermögen nicht-orthogonale Tragwerke nämlich gleichermassen Sachlichkeit und eine neu gewonnene Freude am Ornament zu vereinen. Wies der Stahlbau mit den Nietverbindungen einst jene Verzierungen auf, die – weil technisch bedingt – selbst von den Puristen akzeptiert wurden, liegen Stahlbau und konstruktives Ornament zu Beginn des 21. Jahrhunderts erneut nahe beieinander. Im Zentrum stehen aber nicht mehr Verbindungen, sondern Strukturen, die vom Primat des rechten Winkels abweichen und aus statischen, wirtschaftlichen und /oder architektonischen Gründen (Schlankheit der Konstruktion) hauptsächlich aus Stahl gefertigt werden. Diese Strukturen müssen nicht schon im Rohbau einen ornamentalen Charakter aufweisen, sondern können zu einer dahingehenden Bearbeitung der Ausbauteile anregen. Damit ist das Aufgreifen einer strukturell bedingten Form gemeint, die massstäblich verändert und mehrfach wiederholt als Ornament wahrgenommen wird. Dabei dürfte es wohl unserer Kenntnis vom Formenvokabular kunsthandwerklicher Verzierungen oder facettierter Edelsteine zuzuschreiben sein, dass wir der Repetition nichtrechtwinkliger Flächen (Dreiecke, Waben, Schokoladenfabrik Menier, Noisiel-sur-Marne (F), 1873, von Jules Saulnier: Einzelne Fassadenstützen liegen hinter der Ausmauerung verborgen. Die Diagonalen sind nur aussteifend. 4 steeldoc 02/04 Trapeze oder Rauten) unweigerlich ornamentale Qualitäten zusprechen, während es bei Rechtecken unterschiedlicher Farben, Texturen oder Materialien bedarf, damit wir an Schmuck oder Verzierung denken. Raute oder Dreieck? In diesem Heft werden zwei Bauten vorgestellt, deren Fassaden rautenförmige Öffnungen aufweisen, wobei schiefwinklige Stützen das Tragwerk bilden. Auf den ersten Blick recht ähnlich, korrespondiert die engmaschige Fassadengliederung im Fall des Epicenter Store von Prada exakt mit dem Raster der dahinter liegenden Tragstruktur, während es sich im Fall des Swiss Re Towers um ein skaliertes Abbild davon handelt. Finden im ersten Fall innerhalb eines Geschosses zwei Rauten Platz, bedarf es im anderen Fall vier Geschosse, bis das Tragwerk überhaupt eine Raute formt. Es gibt noch weitere Unterschiede, den beiden Gebäuden aber gemein ist, dass Rauten dargestellt werden, obwohl Dreiecke gebaut wurden. So griff der Architekt Norman Foster beim Swiss Re Tower in London (2004) zu schwarzer Farbe, um die horizontalen Glieder gegenüber den weissen Diagonalen in den Hintergrund treten zu lassen, während die Architekten Herzog & de Meuron die waagrechten Zugbänder beim Prada Epicenter in Tokio (2003) in die Deckenebene verlegten. Es wurde also beiderorts eine Entflechtung gesucht: farblich hier und räumlich dort. Schon der Architekt Jules Saulnier unterdrückte bei der Schokoladenfabrik Menier in Noisiel-sur-Marne (1873) einzelne Glieder des Stahlskelettes, wodurch die Diagonalen, die hier nur eine aussteifende Funktion haben, als Rauten erscheinen. Darf man den Plänen der Fachwerkkonstruktion Glauben schenken, IBM-Building, Pittsburgh (USA), 1963, von Curtis & Davis Architekten: Eine der ersten Fassaden im mehrgeschossigen Hochbau ohne vertikale Stützen. Die Fassade des IBM-Buildings wurde in Elemente von 4 x 8 m aufgeteilt. 5 Essay gibt es nämlich mehr Stützen als das fertige, mit Backsteinen ausgemauerte Gebäude Preis gibt. Unterschiedliche Lagen der Profile innerhalb des Fassadenquerschnittes und Ausfachungen, die auf dem Prinzip von Vor- und Hintermauerungen basieren, verwischen die statische Ordnung. Dazu gehört auch, dass nicht nur einzelne Stützen verborgen liegen, sondern auch die Decken unsichtbar bleiben. Obgleich das viergeschossige Gebäude als frühestes Beispiel eines Skelettgeschossbaus gilt und entsprechend häufig publiziert wurde, blieb Saulnier wegen dem mangelnden Zusammenhang zwischen Skelett und architektonischem Ausdruck nicht frei von Kritik. So soll der Architekt Konstantin Lipsius 1878 in einem Vortrag vor dem Verband Deutscher Architekten und Ingenieure bemängelt haben, dass die Eisenkonstruktion wie eine Verstärkung des schadhaft gewordenen Mauerwerkes wirke. Swiss Re-Konzernzentrale, London (GB), 2004, von Foster & Partners: Andere Erdgeschossnutzung ohne Wechsel der Tragstruktur. Die diagonalen Druckstäbe sind weiss und die horizontalen Zugglieder schwarz gestrichen. 6 Bei Saulnier noch eine Frage der gestalterischen Rangordnung, entstand mit dem IBM-Building der Architekten Curtis & Davis fast hundert Jahre später, 1963, in Pittsburgh (USA) ein Bürohaus, das eine der ersten tragenden, mehrgeschossigen Fassaden ohne vertikale Stützen aufwies. Unzählige Diagonalen, die sich im flachen Winkel kreuzen, bilden dort eine rautenförmige Gitterstruktur, die nicht nur die Längssausteifung übernimmt, sondern zusammen mit dem Kern auch die bis zu 16 m weit gespannten Decken trägt. Verkleidet mit einem dreidimensionalen Fassadenrelief aus Chromstahl, das aus klimatechnischen Gründen sowohl die Fenster beschatten soll, als auch deren Grösse einzuschränken hat, weist die Konstruktion aus Winkelprofilen eine Schlankheit auf, die eine unerwartete Nähe zu Saulnier aufweist. Baut das statische steeldoc 02/04 Gerüst der Fassade von Swiss Re auf einzelnen Rundrohren auf, die an speziell dafür entwickelten Knoten aufeinandertreffen, und basiert der Stahlbau bei Prada auf einzelnen Diagonalen mit angeschweissten Teilstücken der gegenläufigen Schrägen, wurde die Fassade beim IBM-Building in annähernd 8 m hohe und 4 m breite Rechtecke aufgeteilt. Die Elemente, die auf halber Geschosshöhe gefügt wurden, vereinen acht Rauten und weisen zwei horizontale Zugbänder auf, an welche die Deckenträger anschliessen – Dreiecke auch hier! Eine Besonderheit stellte damals die Anwendung von fünf verschiedenen Stahlsorten dar. Statt die Wandungen der Profile zu variieren (Swiss Re und Prada), wurden unterschiedliche Stahlqualitäten verwendet, was man als die «vierte Dimension der Stahlkonstruktion» bezeichnet. Darunter war auch der Typ USS T-1, der beim IBM-Building erstmals in einem Haupttragwerk zum Einsatz gelangte. Verglichen mit einer konventionellen Konstruktion konnten damit rund 200 Tonnen Stahl eingespart werden. Erdgeschoss zwischen Zäsur und Kontinuität Aufgrund seiner Bedeutung für die Stadt und als Zugang für die Nutzungen in den oberen Stockwerken, unterliegt das Erdgeschoss häufig eigenen Bedingungen. Ausgestattet mit Ladenlokalen und Restaurants, die gesehen werden wollen, wünscht man sich die Fassaden auf Strassenniveau durchlässiger. Und der enge Stützenraster, der in den Bürogeschossen angebracht erscheint, ist einer mondänen Grosszügigkeit eher hinderlich. In solchen Fällen ist der Wechsel der Tragstruktur ein üblicher Weg und die damit verbundene Zweiteilung des Baukörpers häufig nicht unerwünscht – sei der Wechsel mit einer expressiven Tischkonstruktion kraftvoll inszeniert oder zur Erlangung eines schwebenden Eindruckes bewusst unterdrückt. In der Frage der abweichenden Erdgeschossnutzung warten die Rautenkonstruktionen von Norman Foster und Curtis & Davis mit Lösungen auf, die sich nicht deutlicher unterscheiden könnten, im Begriffspaar «Kontinuität» und «Weglassen» aber einen gemeinsamen Nenner finden. So ruhen beim IBMBuilding die Fassaden auf jeweils zwei Pylonen, deren Form aus der Verlängerung einzelner Diagonalen resultiert. Die Tatsache reflektierend, dass es sich bei den Decken um ein gerichtetes Tragwerk handelt, liegen sie bei den Längsfassaden dicht beieinander, während sie an den Kurzseiten – kraft der scheibenartigen Fassade – gleichmässig verteilt sind. Die Gebäudeecken bleiben dadurch frei, was die Obergeschosse – unterstützt durch die zusätzlich eingezogene Erdgschossverglasung – in eine spannungsvolle Ambivalenz versetzt. Ein Zustand, bei dem der Hauptkörper gleichermassen autonom als auch auf dem Boden ruhend erscheint. Sieht man in den Pylonen von Pittsburgh jenen Teil der Hauptfassade, der durch das Abschneiden oder Weglassen unbenötigter Teile entstand, sind die Unterschiede zum Londoner Swiss Re Tower gar nicht mehr so gross. Das Tragwerk erfuhr hier zwar keine Veränderung, denn die grobmaschige Struktur mit einer Stützenweite von 9 m ist genügend durchlässig; das Prinzip des Weglassens fand aber trotzdem Anwendung. Die Curtain-Wall, die dem Gebäude wie ein Strumpf übergestreift ist, trifft nämlich nur punktuell auf den Boden. Ein Zick-Zack weggelassener Dreiecke ziert den Saum, der im Bereich des Einganges um die Grösse einer Raute hochgezogen ist und dadurch das Tragwerk räumlich erlebbar macht. IBM-Building, Pittsburgh (USA), 1963, von Curtis & Davis Architekten: Kontinuierlicher Wechsel der Tragstruktur im Parterre – die Pylonen entstanden aus der Verlängerung einzelner Diagonalen. 7 Essay Raute und Gebäudeform Nebst dem Tragverhalten der Diagonalstrukturen stellt sich nun die Frage nach ihrer Bedeutung für die Volumetrie des Hauses. Halten wir uns an die bisherigen Beispiele, so scheint nur beim Swiss Re Tower ein Zusammenhang zwischen Struktur und Form gegeben. Das IBM-Building ist ein quaderförmiger Block, und sieht man beim Prada Epicenter von jener einzelnen Dachfläche ab, deren Neigung dem Verlauf der Rauten folgt, scheinen auch hier die Diagonalen ohne Einfluss auf die Geometrie des Baukörpers zu sein. Mit dem rautenförmigen Gitter, das sich beim Prada Epicenter über die gesamte Gebäudeoberfläche erstreckt, fiel die Wahl aber auf eine Struktur, die sowohl tektonisch wie formal die Kontinuität zwischen den geknickten Flächen des prismatischen Körpers herstellt. Verläuft eine Gebäudekante nicht parallel zum Fassadenraster, wird die Abweichung innerhalb der ohnehin von Schrägen dominierten Hülle kaum wahrgenommen. Anders als bei orthogonalen Teilungen, wo der Betrachter die Felder nur horizontal und vertikal zueinander in Beziehung setzt, bilden Rauten, selbst wenn sie vertikal über- und horizontal nebeneinander angeordnet sind, schräg verlaufende Bänder, die das Zuweisen einer eindeutigen Richtung erschweren. Die Gitterstruktur des Prada Epicenters wirkt deshalb in einem Mass hierarchielos, als dass sie nie in Konflikt mit der Ordnung des Baukörpers gerät. Prada Aoyama Epicenter, Tokio (JPN), 2003, von Herzog & de Meuron: Die Rauten bilden schiefe Bänder; auf der Zugangsseite folgt die Dachkante dem Band. Fast unbemerkt bleibt der Knick an der rechten Gebäudekante. Folgen für den Innenraum Beim Swiss Re Tower von Norman Foster vermutet man die rautenförmige Struktur als Mittel eingesetzt, um das Ideal des ellipsoiden Rotationskörpers mit geraden Stäben nachbilden zu können. Auf den ersten Blick ist die Struktur mit Bruno Tauts Glashaus für die Deutsche Werkbund-Ausstellung 1914 in Konzernzentrale Swiss Re, London (GB), 2004, von Foster & Partners: Die Drehbewegung wird von den dunklen Gläsern der «Lightwells» vorgegeben. 8 steeldoc 02/04 Köln vergleichbar, wo die netzartige Kuppel als Novum ausschliesslich aus Diagonalen bestand – also weder Gratsparren (Meridiane) noch Ringe (Parallelkreise) aufwies. In London gibt es jedoch weiterhin Ringe, die sich in der dreidimensionalen Betrachtung als Knicke erweisen, um die zylinderähnliche Fassadenabwicklung mit planen Gläsern überhaupt beschreiben zu können. Die horizontalen Eckpunkte einer Raute sitzen nämlich weiter vom Zentrum entfernt als ihre Fuss- und Kopfstücke, die exakt übereinander liegen. Auf Deckenhöhe angeordnet, dienen die horizontalen Fugen also nicht allein dem Einlass von Frischluft, sondern sie halbieren die Hälfte aller Rauten auch aus geometrischen Gründen. Der Spiralwirkung, die sich mit der erwähnten Bandbildung einstellt, tut dies keinen Abbruch – wohl auch deshalb nicht, weil die Diagonalen der Primärstruktur prägender sind. Überliess es Bruno Taut dem Betrachter, ob er eine links- oder rechtsgerichtete Drehbewegung erkennen wollte, gibt es bei Norman Foster keine Wahlmöglichkeit: dunkle Gläser zeichnen eine Rotation im Uhrzeigersinn vor. Wer darin einen blossen Gestaltungswillen vermutet, sieht sich getäuscht. Dahinter befinden sich mehrgeschossige Bereiche, sogenannte «Lightwells», die aus der Rotation der keilförmig eingeschnittenen Decken hervorgehen. Der Neigung der Stützen folgend, verschieben sich die Einschnitte um 5° pro Geschoss. Das (trianguläre) Skelett steht somit nicht nur in Verbindung mit der äusseren Erscheinung des Gebäudes, sondern aus den schrägen Stützen lassen sich auch Kriterien für die Formfindung im Innern ableiten (wobei anzumerken ist, dass die Spitze des Turmes ein anderes Tragwerk aufweist). Dieses Potenzial wurde beim IBM-Building gar nicht erst aufgegriffen. Beim Prada Epicenter ist die Verflechtung von Innen und Aussen in den «Tubes» wieder zu finden, deren Querschnitt dem Zusammenschluss von jeweils vier Rauten entsprechen. Deformation als Potenzial Strukturen, die sich nicht auf das gesamte Gebäude anwenden lassen, Rauten, die sich als Dreiecke erweisen und verborgene Hierarchien: alles Klammerbemerkungen, die bei Tauts Glashaus nicht nötig wären, denkt man, besteht doch die Kuppel ausschliesslich aus rautenförmigen Gläsern, die ohne weitere Unterteilung von einem Netz aus armiertem Beton gehalten werden. Nicht ganz: denn gegen die Spitze werden die Rauten zu Drachenvierecken! Die «reine» Raute scheint sich demnach weder als Verkleidung noch als Tragstruktur besonders gut zu eignen. Aus mathematischer Sicht zur Familie der Vierecke gehörend, ist das Potenzial der Raute in ihrer formalen Wandlungsfähigkeit zu sehen. Ausgehend von einem auf die Spitze gestellten Quadrat, ändert sich durch Stauchen und Strecken der Diagonalen fast unmerklich die Proportion; andere Deformationen führen zum Parallelogramm oder zum Trapez. In dieser Kategorie ist der rechte Winkel die Ausnahme und der spitze oder stumpfe Winkel die Regel – ein Formenvokabular also, in das sich selbst Dreiecke mühelos einfügen lassen: Dreiecke, die einen statischen Sachverhalt wiedergeben oder stereometrische Ursachen haben. Fragt sich am Ende, weshalb Architekten trotzdem Rauten, statt Dreiecke darstellen. Es ist wie bei den orthogonalen Strukturen eine Frage der formalen Rangordnung: zeichnet die Horizontale oder die Vertikale mehr, sollen die Decken oder die Stützen hervorgehoben werden? Glashaus an der WerkbundAusstellung in Köln (D), 1914, von Bruno Taut: Rechts- oder linksgerichtete Spiralen? Die Kuppel wurde als Eisenkonstruktion geplant, aber in Eisenbeton ausgeführt. 9 Swiss Re London Intelligenter Knoten Bauherr Swiss Re Investments Ltd, London Architekten Foster & Partners, London Tragwerksplaner Ove Arup & Partners, London Baujahr 2000–2004 Im Herzen der Londoner City hat Norman Foster das zweithöchste Hochhaus der Stadt gebaut. Von der Bevölkerung auch als «erotische Gurke» bezeichnet, ist die ungewohnte Form des neuen Domizils von Swiss Re London aber mehr als der Auswuchs blühender Architektenfantasie oder Imponiergehabe des Auftraggebers. Dass sich der Schweizer Rückversicherer ernsthaft um gute Architektur bemüht, hat er schon mehrfach bewiesen. Und dies nicht erst seit dem Seminargebäude von Meili & Peter in Rüschlikon (2000): erinnert sei auch an die Bauten am Zürcher Mythenquai, etwa an das Clubhaus von Hans Hofmann (1958) oder an den Bürokomplex von Werner Stücheli (1969). Mit Norman Foster steht ein Architekt hinter dem Entwurf des 180 Meter hohen Turmes, dessen Bauten und deren Gestalt meist massgeblich vom Interesse an neuen Technologien und nachhaltigen Lösungen geprägt sind. So rechnet Foster damit, dass mit dem Swiss Re Gebäude der britische Richtwert für ein Niedrigenergie-Büro, der bei 175 kWh/m2 liegt, um bis zu 25 kWh/m2 unterschritten werden kann. Dazu trägt auch die Gebäudeform bei. Hohe Räume im Hochhaus Im dichten Gefüge der Londoner Innenstadt scheint der 40 Stockwerke zählende Turm nur mit der Fussspitze aufsetzen zu wollen. An der breitesten Stelle einen Durchmesser von 56 Metern aufweisend, reduziert sich dieses Mass im Erdgeschoss, wo die Glasfassade zur Steigerung der Transparenz zusätzlich über grosse Öffnungen verfügt, auf 49 Meter: Die neu geschaffene Plaza, in deren Zentrum das Gebäude steht, soll möglichst hell und grosszügig wirken. Ladenlokale im Parterre charakterisieren den Aussenraum als öffentlich, und Sitzgelegenheiten laden zum Verweilen ein. Der Aufenthalt soll hier angenehmer sein als vor anderen Hochhäusern, da die aerodynamische Form des Turmes nicht nur die Angriffsfläche auf die Fassade reduziert – was sich für die Bemessung des Stahlskelettes und der Curtain-Wall besonders positiv auswirkte –, sondern auch die lästigen Fall- 10 winde mindert. Im Innern profitieren bis zu sechsgeschossige Höfe, die sich an der Fassade als spiralförmige Bänder abzeichnen, von der Tannenzapfenform des Gebäudes. Als wesentliche Komponente des Energiekonzeptes werden die so genannten «Lightwells» nicht nur als Mittel zur besseren Belichtung der Büroflächen genutzt, sondern fungieren gleichermassen als die Lungen des Gebäudes. Unterschiedliche Druckverhältnisse an der Fassade unterstützen nämlich den natürlichen Luftstrom in den mit ausklappbaren Fenstern ausgestatteten Höfen. Davon ziehen auch die angrenzenden Büroflächen Nutzen. Gleichwohl gibt es aber auch eine mechanische Lüftung, deren zentrales Element in der Abluftfassade zu finden ist. Mit den «Lightwells» ist jener Punkt des Projektes angesprochen, der wie kein zweiter räumliche, ökologische, betriebliche und konstruktive Aspekte des Gebäudes in sich vereint. Die Büroflächen in überschaubare Bereiche von durchschnittlich 16 x 11 Meter zonierend, dienen die sechs Deckeneinschnitte auch als Balkone und lassen geschossübergreifende Sichtverbindungen entstehen. Und ist Höhe etwas, was in Hochhäusern nur beim Blick durchs Fenster, also in Relation zu den Nachbarbauten, erfahrbar ist, gibt es hier bis zu 24 Meter hohe Räume im Innern. Von aussen zeichnen sich die «Lightwells» als dunkle Bänder ab, die sich spiralförmig um das Gebäude winden und mit der Neigung der diagonalen Druckstäbe korrespondieren. Steifes Korsett und stützenfreie Grundrisse Zusammen mit horizontalen Zugstreben bilden die Diagonalstützen der Fassade ein steifes Korsett, den so genannten «Diagrid», so dass der Kern nur noch vertikale Lasten abzutragen hat. Die Grossmassstäblichkeit der Tragstruktur – die A-förmigen Fassadenrahmen reichen über zwei Geschosse und weisen eine Spreizung von rund neun Metern auf – schlägt sich auch in der Konstruktion der Decken nieder. Auf steeldoc 02/04 11 Swiss Re London radial angeordneten Breitflanschträgern basierend, überbrücken die 54 cm hohen Profile eine Distanz von 14 Metern ohne eine einzige Stütze. Die Träger liegen im Grundriss um je 10° zueinander versetzt, so dass die Deckenfelder an der Fassade eine maximale Spannweite von 4,5 Meter aufweisen. Dieses Mass korrespondiert allerdings nur auf jedem zweiten Geschoss mit der Stützenlage; auf Höhe der Knoten ist die Distanz doppelt so gross, so dass zusätzlich ein tangentialer Randträger eingeführt werden musste. Besondere Beachtung verdienen die Knoten. Da die Druckstäbe keine Krümmung aufweisen, erfolgen an ihnen sämtliche Richtungsänderungen – sowohl im Grundriss als auch im Schnitt. Die Knoten bestehen aus zusammengeschweissten, facettenartig angeordneten Stahlplatten mit vorbereiteten Schraubverbindungen für die anzuschliessenden Tragwerksteile: Druckstäbe aus Rundrohren, Zugstreben als Kastenträger und Deckenbalken in Form von Breitflanschträgern. Letztere lagern auf den Knoten gleitend auf und werden von Gewindestangen in ihrer maximalen Ausdehnung limitiert. Beim Errichten des Stahlbaus dienten die Stangen als Hilfsmittel, den Abstand zum Zentrum konstant zu halten und die Deformationen unter zunehmender Eigenlast zu regeln. Einem gänzlich anderen Konstruktionsprinzip folgt die Spitze des Gebäudes, wo sich neben haustechnischen Räumen auch ein Panoramarestaurant befindet. Die Kuppel bildet ein eigenständiges, von den Decken abgelöstes Tragwerk, dessen netzartige Struktur keine separaten Knoten aufweist. An den Kreuzungspunkten sind die Rechteckprofile (Querschnitt 110 x 150 mm) auf gleicher Ebene gestossen und miteinander verschweisst. Die Verglasung liegt wie bei einer Pfosten-Riegelkonstruktion direkt auf den Profilen und wird von Pressleiten gehalten. Doppelte Fassade Von Level 0 bis 38 basiert die Verglasung auf geschosshohen Elementen, die mittels Konsolen am Stahlskelett befestigt sind. Die 4 Meter hohen Gläser werden von umlaufenden, thermisch getrennten Aluminiumprofilen gerahmt, deren Bauhöhe so gross bemessen ist, dass sie nur am Fuss und an der Spitze gehalten werden müssen. An den Befestigungspunkten schliessen insgesamt vier Elemente an, darunter auch die angrenzenden Dreiecke, die mittels aussteifender Einschieblinge mit den rautenförmigen Panelen verbunden sind. Hinter den horizontalen Fugen befinden sich trichterförmige Stutzen für die Ansaugung von Frischluft, die geschossweise aufbereitet wird und via abgehängter Decke in die Büros gelangt. Eine Glasfront, die auf der Innenseite des «Diagrids» liegt und nur zu Reinigungszwecken geöffnet werden kann, vervollständigt die Gebäudehülle zur Abluftfassade. Auf Grundriss Massstab 1: 600 Hinter den spiralförmigen Bändern befinden sich die sogenannten «Lightwells» – mehrgeschossige Bereiche, die der zusätzlichen Belichtung und der natürlichen Belüftung der Büroflächen dienen. 12 steeldoc 02/04 Während in den oberen Geschossen die Montage des Stahlbaus noch voll im Gange war, wurde unten bereits die Fassade angebracht. 13 Swiss Re London 1 3 8 2 6 7 5 4 1 4 3 8 7 2 Axonometrie Massstab 1 : 50 1 Diagonalstütze 2 Knoten 3 Zugstrebe 4 Deckenträger, gleitend gelagert 5 Gewindestangen, regeln die radiale Ausdehnung 6 Platten für die tangentiale Fixierung von Pos. 4 7 Deckenträger 8 Konsole für die Glasfassade 14 steeldoc 02/04 dem Weg zur Lüftungszentrale passiert die Abluft aus den Büroräumen diesen Zwischenraum, wodurch gleichzeitig von der Sonneneinstrahlung erwärmte Luft abgesaugt wird. Bei den «Lightwells» wurde statt einer inneren Verglasung dunkel gefärbtes Sonnenschutzglas eingesetzt. Knoten im Übergang zwischen der Geschossdecke und dem Luftraum eines «Lightwells». Neutralisierende Verkleidung Wurde beim Prada Epicenter von Herzog & de Meuron darauf geachtet, dass das Fassadentragwerk keine Querschnittveränderungen erfährt, weil die Brandschutzverkleidung wie eine zweite Haut die Träger umwickeln soll, wurde bei Swiss Re genau umgekehrt verfahren: die Verkleidung aus einbrennlackiertem Aluminiumblech beschreibt einen Hohlkörper, in dem unterschiedlich geformte Tragwerksglieder genauso Platz finden wie Brandschutzmassnahmen und Haustechnikinstallationen. Das Resultat ist aber in beiden Fällen gleich: die Konstruktion kann nur noch erahnt werden. (ad) An jeder einzelnen Konsole sind vier Fensterelemente befestigt. Die geschosshohen Rauten sind unten und oben eingehängt; mit den angrenzenden Dreiecken sind sie über aussteifende Einschieblinge verbunden. 15 Swiss Re London Ort 30 St Mary Axe, London Bauherr Swiss Re Investments Ltd, London Architekten Foster & Partners, London Generalunternehmer Sanska Construction UK Ltd, London Tragwerksplaner Ove Arup & Partners, London Fassadenplaner Emmer Pfenninger Partner AG, Münchenstein Stahlbau Victor Buyck-Hollandia Joint Venture Ltd, Wraysbury Fassade Schmidlin AG, Fassadentechnologie, Aesch Kuppel Waagner Biro, Wien Konstruktion Tragstruktur: Tragende Fassade («Diagrid») aus Rundrohren, an facettiertem Knoten verschraubt; Kerne aus Breitflanschträgern (nur vertikal belastet); Betonverbunddecke. Curtain-Wall: Glaselemente mit Rahmen aus thermisch getrennten Aluminiumprofilen, mittels Konsolen punktuell an Stahlkonstruktion befestigt. Stahlverbrauch 8’358 Tonnen; davon 29% für «Diagrid», 24% für Kern und 47% für Deckenträger Nettonutzfläche 46’450 m 2 Bauzeit Dezember 2000 – Mai 2004 H V V H Fassadenausschnitt Massstab 1:100 9 C 5 4 A 2 10 D B Vertikalschnitt Massstab 1:25 16 steeldoc 02/04 1 3 8 Horizontalschnitt Massstab 1 : 25 1 Diagonalstütze Stahlrohr Ø 508/40 mm – Ø 273/12,5 mm 2 Zugstrebe Kastenprofil 300/250 mm 3 Deckenträger, radial I-Profil 540/300 mm 4 Deckenträger, tangential I-Profil 540/300 mm 5 Profilblech-Verbunddecke 160 mm 6 Konsole für Glaselement 7 Glaselement mit Rahmen aus thermisch getrennten Aluminiumprofilen (Glas: ESG 10 mm, SZR 16 mm, VSG 2 x 5 mm); dreieckig 8 dito 7; rautenförmig 9 Schiebefenster (Glas: VSG 2 x 5 mm) 10 Verkleidung Aluminiumblech 3 mm A Frischluft, geschossweise aufbereitet B Zuluft Büro via Decke C Abluft Büro via Schwelle D Abluft Zwischenraum (Abluftfassade) 7 2 4 9 6 17 Prada Aoyama Epicenter, Tokio Verborgene Hierarchie Bauherr Prada Japan Co., Ltd Architekten Herzog & de Meuron, Basel Tragwerksplaner WGG Schnetzer Puskas, Basel; Takenaka Corporation, Tokio Baujahr 2001–2003 Das italienische Modelabel Prada hat sich in Tokio von Herzog & de Meuron einen «Epicenter Store» bauen lassen. Als Epicenter bezeichnet Prada Läden für die wichtigsten Städte der Welt, die niemals gleich, aber immer innovativ sein sollen: Ein Anspruch, den das Bauwerk der Basler Architekten auf jeder Ebene einlöst – auch konstruktiv. 18 einer Werft für U-Boote näher als die Vermutung, dass hier ein Haus gebaut wird. Doch bei all den Bildern, die selbst die Baustelle hervorruft, wirkt das Gesehene nicht unvertraut; denn der Rohbau und der fertige Bau unterscheiden sich nur durch die Oberflächenbeschaffenheit. Raum- und Tragstruktur sind eins. Der Ausbau nimmt sich lediglich als eng anliegendes Kleidungsstück aus, das die Form des dahinter liegenden Körpers fast unverändert wiedergibt. An der Flanier- und Modemeile Omotesando im Stadtteil Aoyama gelegen, hat der Epicenter Store von Prada auch für Tokio eine neue Ära der Einkaufskultur eingeläutet. Mit einem unorthodoxen Materialmix von Holz- und Steinböden über Kunststoff- und Lederverkleidungen bis hin zum fellbezogenen Kleiderständer, werden die Sinne ebenso angesprochen wie über die räumliche Konfiguration. Allseitig verglaste, lichtdurchflutete Verkaufsebenen kontrastieren mit intimeren Raumzonen für Umkleidekabinen, den so genannten «Tubes», die sich wie horizontale Rohre durch den offenen Raum bohren. Die Architekten Herzog & de Meuron sprechen von einem «materiellen Kontrastprogramm», das sich zwischen «hypernatürlich» und «hyperkünstlich» bewegt. Im dichten städtebaulichen Gefüge Tokios wirkt der Baukörper als Solitär, der sich in die Höhe entwickelt, um Raum für eine in Tokio selten anzutreffende Plaza zu schaffen. Die Form des Baukörpers wird je nach Standort als sattelbedachtes Haus oder, seiner skulpturalen Erscheinung wegen, als Bergkristall wahrgenommen. Das rautenförmige Fassadengitter generiert mit dem punktuellen Einsatz von sphärisch gebogenen Gläsern mannigfach verzerrte Spiegelungen. Trotz der dünnen Linie zwischen Roh- und Ausbau verrät das fertige Gebäude aber wenig über seine Machart; verwischt sind die Spuren handwerklicher Arbeit, ausgelöscht die tektonischen Merkmale. So scheint das Konstrukt auch vielmehr gegossen als aus Walzprofilen und dickwandigen Blechtafeln gefügt. Diese «Verschleierung» der Tragstruktur lässt im schlanken Fassadengitter zuerst eine klassische Curtain-Wall vermuten, obwohl es sich um eine tragende Wand handelt. Diese Vermutung verstärkt sich noch durch die liegend statt stehend angeordneten Rauten. Denn eine senkrechte Stellung wäre für den Lastabtrag geeigneter gewesen. So wird das Gerüst eher als Glashalter denn als Träger der Decken in Erwägung gezogen. Der unbedarfte Betrachter wird sodann an eine biegesteife Ausführung der Rauten glauben. Wie sich noch zeigen wird, weist dieses vermeintlich hierarchielose Aussenwandsystem aber eine unerwartete Rangordnung und eine unauflösbare Verbindung mit der Gesamtstruktur auf. Konstruktives Verwirrspiel Angesichts der atmosphärischen Dichte und Vielfalt an Wahrnehmungsmöglichkeiten wurde die Konstruktion in den bisherigen Architekturpublikationen meistens nur am Rande erwähnt. Wer aber schon mal Aufnahmen von der Baustelle gesehen hat, dem ist unbegreiflich, weshalb man sie kaum kennt. Der stählerne Käfig mit den rostfarbenen «Tubes» erinnert an die Welt eines Ken Adams, dem Designer zahlreicher James Bond-Filme. Und so liegt die Assoziation Japanischer Zuschnitt In Japan ist die Gefahr und Intensität eines Erdbebens ungleich grösser als in Europa. Von dieser Tatsache ist der Entwurf für den Epicenter Store aber nur am Rande berührt: das Gebäude ruht auf Gummilagern, wodurch das Tragwerk lediglich noch Krafteinwirkungen ausgesetzt ist, denen es auch in Europa Stand halten müsste. Die gewählte Ausführung in Stahl würde es sogar erlauben, auf die kostspieligen Lager zu verzichten – selbst in Japan. steeldoc 02/04 19 Prada Aoyama Epicenter, Tokio Decken, die nicht bis zur Fassade reichen, generieren überhohe Räume. Im Erdgeschoss bildet eine schräge Brüstung den Abschluss. Dies hätte jedoch eine Vergrösserung der Profilquerschnitte um 5 bis10 cm bedingt, was die Architekten ablehnten: Zu gross war die Gefahr, dass das Fassadengitter zur Scheibe mit Löchern wird. Die Verbindungen des Stahlbaus wurden fast ausschliesslich geschweisst. Die hohen Präzisionsanforderungen an die Schweiss-Verbindungen wären nicht überall auf der Welt erreicht worden. Doch in Japan ist das Bauen mit Stahl so selbstverständlich wie bei uns die Massivbauweise. Hunderte von Baustellenschweissungen, von denen jede einzelne einen Arbeiter einen Tag lang beschäftigt, waren erforderlich. Da überrascht es auch nicht, dass das Aufrichten des Stahlbaus fast ein halbes Jahr beanspruchte. Komplementäre Statik Das statische System des Epicenter Stores zeichnet sich dadurch aus, dass gewisse Tragwerkskomponenten ihre Grundfunktion erst im Verbund erfüllen. Eindrücklich zeigt dies das rautenförmige Fassadengitter, das sich nur im Zusammenschluss mit den Decken zum Abtrag vertikaler Lasten eignet und das zusätzlich von der Aussteifung durch die horizontalen «Tubes» profitiert. Diese «Tubes», deren Konstruktion mit 6 mm dicken Stahlplatten und innenlie- 20 genden Rippen dem Schiffsbau entlehnt ist und im Hochbau eher selten angewendet wird, reduzieren die Knicklänge der Diagonalen und fungieren zugleich als Deckenauflager. Die Decken selbst, respektive deren Randträger, dienen der Fassade als Zugbänder, die mit einzelnen Diagonalen Dreiecke bilden und somit den horizontalen Kraftanteil aus den flach geneigten Rauten aufnehmen. Voraussetzung für das Einbinden von Diagonalen in übergeordnete Dreiecke ist, dass sie innerhalb der gleichen Fassade von Decke zu Decke reichen. Das kommt weniger häufig vor, als man zunächst vermutet. Schuld daran sind die kurzen Fassaden und die zweigeschossigen Bereiche ohne Deckenanschluss. Der Haupteingang, welcher dreieinhalb Rauten zu einer einzigen Öffnung zusammenfasst, hätte daher in der gleichen Fassade an keiner anderen Stelle liegen können. Auf die Bildung von Dreiecken zu verzichten und die Rauten biegesteif auszubilden, hätte an die Grenzen des statisch Machbaren geführt, sowie eine Verdickung der Knoten und eine wesentliche Verteuerung der Konstruktion zur Folge gehabt. Ob eine Diagonale zu einem Stockwerksdreieck gehört, ist im fertigen Zustand nicht mehr zu sehen und war selbst im Rohbau nur an der Wandung ausmachbar. Die Diagonalen der einen Richtung, zum Beispiel steeldoc 02/04 1 Schnitt A-A Massstab 1 : 300 1 Technik 2 Verkaufsebene 3 Lager 4 Umkleideraum 5 Verkauf/Administration 6 Besprechung/VIP 7 Administration 7 5 6 2 4 2 2 4 2 1 3 2 3 A A 1 2 1. Obergeschoss Massstab 1: 300 1 Verkauf 2 Umkleide 3 Luftraum Blick vom «Tube» zur höher gelegenen Verkaufsebene im 4. Obergeschoss. 21 Prada Aoyama Epicenter, Tokio Axonometrie Massstab 1 : 50 1 tragende Fassadenstruktur I-Profile 250/180 mm in Teilstücken mit angeschweissten «Armen» auf die Baustelle geliefert 2 Baustellenschweissung 3 Deckenrandträger I-Profil 600/400 mm 4 Verbindungsblech Decke/ Fassade 5 Deckenträger I-Profile 350/175 mm 6 Betonverbunddecke 150 mm 7 Brandschutzverkleidung Calziumsilikat-Board min. 25 mm (Prinzipzeichnung: erst am Träger zur Schale gefügt) 8 Glaselemente 3,20/2,00 m Befestigung nach System «Vario DZ» auf PfostenRiegelkonstruktion aus Aluminium 3 5 4 2 1 7 6 8 22 steeldoc 02/04 Dach und Fassade weisen die gleiche Konstruktion auf. Spiegelung und Durchsicht im Nebeneinander von gebogenen und planen Gläsern. von unten links nach oben rechts, fanden sich nämlich bei der Vorfabrikation auf einzelne Arme aufgeteilt, die mit den durchlaufenden Trägern der entgegengesetzten Richtung eine Serie schiefwinkliger Kreuze bildeten. Generell wurde auf unterschiedliche Belastungssituationen, wie sie beispielsweise durch die abnehmenden Eigenlasten in den oberen Geschossen auftreten, nie mit einer Reduktion des Profilquerschnittes reagiert, sondern nur über die Dicke von Steg und Flanschen – dies nicht in erster Linie, um den Stahlverbrauch zu mindern, sondern um die Schweissflächen zu reduzieren. Dem Prinzip gleichbleibender Querschnitte folgend, kamen entlang der Gebäudekanten an überdurchschnittlich stark beanspruchten Knoten sogar Gussteile zum Einsatz. Im Nebengang zu den grossen Anstrengungen, eine tragende Fassade mit liegenden Rauten zu schaffen, ist ein starrer Käfig entstanden, der sämtliche Horizontalkräfte durch Wind und Erdbeben aufzunehmen vermag und dadurch die Stahlstrukturen der kleinen Kerne für Lifte und Treppen von jeder aussteifenden Funktion befreit. (ad) 23 Prada Aoyama Epicenter, Tokio Fassadenabwicklung Massstab 1:500 Um die Horizontalkräfte aus den flach geneigten Rauten aufnehmen zu können, ist es erforderlich, dass die Diagonalen innerhalb der gleichen Fassade von Decke zu Decke reichen und Dreiecke bilden (schwarz angelegt). Aufgrund der stärkeren Beanspruchung weisen diese Träger eine dickere Wandung auf. Bei grossem Lastanfall wurden an den Gebäudekanten Gussteile eingesetzt. Dank der aussteifenden Wirkung der Fassade konnten die Stahlstrukturen in den Kernen ohne Windverbände ausgeführt werden. 24 steeldoc 02/04 Eine Szenerie wie aus einem James Bond-Film. Der statisch wirksame Blechmantel der «Tubes» wurde vollständig verschweisst. Die abstehenden Bügel fixieren die Bleche temporär. Ort 5-2-6 Minami-Aoyama, Minato-ku, Tokio Bauherr Prada Japan Co., Ltd Architekten Herzog & de Meuron, Basel Assoziierte Architekten/Generalunternehmer Takenaka Corporation, Japan Tragwerksplaner WGG Schnetzer Puskas, Basel; Takenaka Corporation, Japan Fassadenplaner Emmer Pfenninger Partner AG, Münchenstein Stahlbau Kawada Industries, Japan Fassade Josef Gartner GmbH, Japan Konstruktion Tragende Fassade aus Breitflanschträgern, alle Verbindungen geschweisst; Kernstrukturen aus Rundrohren (nur vertikal belastet); «Tubes» als Deckenauflager und als zusätzliche Knickaussteifung der Fassade aus Stahlblech mit Verstärkungsrippen; Betonverbunddecken. Curtain-Wall: Pfosten-Riegelkonstruktion aus Aluminium; Verglasung nach System «Vario DZ». Bruttogeschossfläche 2’860 m 2 Bauzeit April 2001 – April 2003 25 Prada Aoyama Epicenter, Tokio 26 steeldoc 02/04 Impressum steeldoc 02/04 , Juni 2004 Bauen in Stahl Bautendokumentation des Stahlbau Zentrums Schweiz Herausgeber: SZS Stahlbau Zentrum Schweiz, Zürich Evelyn C. Frisch, Direktorin Designkonzept: Gabriele Fackler, Reflexivity AG , Zürich Redaktion und Layout: Alois Diethelm (ad) Fotos: Titel, S. 8 (links), 19, 20 , 21, 23, 26: Christian Richters, Münster S. 3, 10: Grant Smith (Bell-Pottinger, London) S. 4: Kurt Ackermann (Hrsg.), Industriebau, Stuttgart 1994 S. 5, 7: Carnegie Library, Pittsburgh (USA) S. 6, 12, 15 (unten): Schmidlin AG, Aesch S. 8 (unten), 13, 15 (oben): Victor Buyck – Hollandia Joint Venture Ltd, Wraysbury S. 9: Akademie der Künste (Hrsg.), Bruno Taut 1880–1938, Berlin 1980 S. 11: Nigel Young (Bell-Pottinger), London S. 24, 25: Takenaka Corporation, Tokio Administration, Abonnemente, Versand: Andreas Hartmann, SZS Druck: Kalt-Zehnder-Druck AG, Zug ISSN 0255-3104 Jahresabonnement Inland CHF 40.– Einzelexemplar CHF 15.– Preisänderungen vorbehalten. Bauen in Stahl/steeldoc © ist die Bautendokumentation des Stahlbau Zentrums Schweiz und erscheint mindestens viermal jährlich in deutscher und französischer Sprache. Mitglieder des SZS erhalten das Jahresabonnement und die technischen Informationen des SZS gratis. Die Rechte der Veröffentlichung der Bauten bleiben den Architekten vorbehalten, das Copyright der Fotos liegt bei den Fotografen. Ein Nachdruck, auch auszugsweise, ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Herausgebers und bei deutlicher Quellenangabe gestattet. 27 SZS Stahlbau Zentrum Schweiz Centre suisse de la construction métallique Centrale svizzera per le costruzioni in acciaio Seefeldstrasse 25 Postfach CH-8034 Zürich Tel. 01 26 1 89 80 Fax 01 262 09 62 E-Mail [email protected] Website www.szs.ch