LEBENSMITTEL

Transcription

LEBENSMITTEL
OTTMAR ETTE,
YVETTE SÁNCHEZ,
VERONIKA SELLIER (HG.)
LEBENSMITTEL
ESSEN UND TRINKEN
IN DEN KÜNSTEN UND KULTUREN
diaphanes
INHALT
VORSPEISEN
Ottmar Ette, Yvette Sánchez, Veronika Sellier
Zur Einführung
Felix Philipp Ingold
Lesehunger und Textessen
Ein minimalistischer Versuch vor Tisch
9
15
LITERARISCHER HAUPTGANG
Ottmar Ette
LebensMitte(l) Literatur
Vom Lesen des Lebens als Mittel des Lebens
Überlegungen im Anschluss an Honoré de Balzacs La peau de chagrin
21
Joseph Jurt
Über das Essen schreiben
Die Ausbildung eines kulturellen gastronomischen Feldes in Frankreich
47
Dietrich Scholler
Vom Leben der Lebensmittel in Zolas Le ventre de Paris
61
Yvette Sánchez
Ohne Literatur kein Daiquiri
Enrique Vila-Matas’ Konsultation literarischer Klassiker
für die praktischen Dinge des Lebens
73
Leonhard Fuest
Materia Cruda
Zur Essentialität des poetopharmakon
81
Gesine Müller
Vom Hunger nach Guaven und Goethe
Literatur als LebensMittel in der kolonialen Karibik
91
ZWISCHENGERICHT
André Blum
Essen
Vom Lebensmittel zur Leidensquelle
105
Hartmann Römer
Essen diesseits des Diskurses
Seinsbezug vs. Ontophobie
125
Regula Bochsler
»Profitieren Sie heute schon von der Zukunft!«
Die Amerikanisierung des Schweizer Lebensmittelhandels durch die Migros
139
FILMISCHER UND KÜNSTLERISCHER HAUPTGANG
Hansmartin Siegrist
»You … you eat like a bird!«
Der Suspense der Leib-Speisen von Alfred Hitchcock
157
Beate Ochsner
Lebens-Mitte oder Lebens-Mittel?
Zur Produktion von Fettleibigkeit in Film und Fernsehen
177
Harald Lemke
Gastrosophische Ästhetik und das Essen in der zeitgenössischen Kunst
197
Judith Welter
Leben als Mittel zur Kunst?
Über das (Auf)bewahren von Lebensmitteln im Museum
207
Katja Jug
Ich werde mein eigener Hermes sein
Eine jugoslawische Reise. Künstlerbuch
221
FROMAGE
Gabriel Vetter
The Big Lebauchski
235
DESSERT
Wencke Schmid/Veronika Sellier
Im Reich der Rosentorte
241
Margret Kreidl
Der Küchentisch ist mein Schreibtisch
245
Autorinnen und Autoren
253
DIETRICH SCHOLLER
VOM LEBEN DER LEBENSMITTEL IN ZOLAS »LE VENTRE DE PARIS« 1
I VON GEMÜSEBERGEN: LEBENSMITTEL ALS REALISTISCHE
HINTERGRUNDKULISSE
Im Roman des 19. Jahrhunderts gewinnen Deskriptionen an Bedeutung, weil die
tonangebenden Romanciers darauf bedacht sind, den soziokulturellen Hintergrund
ihrer Geschichten auszuleuchten, was im Französischen in der Regel über das Hintergrundtempus des imparfait erfolgt. Bei Honoré de Balzac etwa sind es insbesondere
die Interieurs von Häusern und Wohnungen, welche systematisch unter die Lupe des
Erzählers geraten, oftmals zu breiten Umstandsschilderungen ausgeweitet werden
und dabei nicht ganz zufällig einen mehr oder weniger direkten Bezug zu den Romanfiguren stiften – wie zum Beispiel in Le père Goriot. Man denke nur an die ärmliche
Stube der Figur des Vaters Goriot in der bescheidenen Pension der Madame Vauquer.
Emile Zola, der zweite große französische Romanschriftsteller des 19. Jahrhunderts,
behält diese Technik bei, richtet aber im Unterschied zu Balzac seine Aufmerksamkeit verstärkt auf die neuen öffentlichen Räume im Paris der Architekten Baltard und
Haussmann, nämlich auf Warenhäuser, Bahnhöfe und Markthallen. Letztere stehen
im Zentrum des Romans Le ventre de Paris und werden daher bereits im Titel evoziert. Bei der Darstellung des Markthallen-Lebens ging es Zola zunächst einmal um
die möglichst präzise Veranschaulichung der kolossalen Stahl-Glas-Architektur und
der mit diesem neuen soziokulturellen Ort verbundenen ökonomischen Abläufe der
Anlieferung, Verarbeitung, Lagerung und Veräußerung von Lebensmitteln in einer
bislang nicht bekannten Dimension. Schon der Romananfang dient offensichtlich
diesem Ziel. Er zeigt, wie sich eine Kohorte von Lieferwagen um zwei Uhr morgens
auf dem Weg nach Paris befindet, voll beladen mit Gemüse, das für die neuen Markthallen bestimmt ist.
»Au milieu du grand silence, et dans le désert de l’avenue, les voitures de maraîchers montaient vers Paris, avec les cahots rythmés de leurs roues, dont les échos
battaient les façades des maisons, endormies aux deux bords, derrière les lignes
1
Für Lieselotte Steinbrügge zum 60. Geburtstag.
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Dietrich Scholler
confuses des ormes. Un tombereau de choux1 et un tombereau de pois2, au pont
de Neuilly, s’étaient joints aux huit voitures de navets3 et de carottes4 qui descendaient de Nanterre ; et les chevaux allaient tout seuls, la tête basse, de leur allure
continue et paresseuse, que la montée ralentissait encore. En haut, sur la charge
des légumes, allongés à plat ventre, couverts de leur limousine à petites raies
noires et grises, les charretiers sommeillaient, les guides aux poignets. Un bec
de gaz, au sortir d’une nappe d’ombre, éclairait les clous d’un soulier, la manche
bleue d’une blouse, le bout d’une casquette, entrevus dans cette floraison énorme
des bouquets rouges des carottes4, des bouquets blancs des navets3, des verdures
débordantes des pois2 et des choux1. Et, sur la route, sur les routes voisines, en
avant et en arrière, des ronflements lointains de charrois annonçaient des convois
pareils, tout un arrivage traversant les ténèbres et le gros sommeil de deux heures
du matin, berçant la ville noire du bruit de cette nourriture qui passait.«2
Bei dem vorliegenden Romaneinstieg handelt es sich um ein epochentypisches
statisches Incipit,3 das heißt, der erzählerische Hintergrund dominiert, was man
schon an der Tempusdistribution ablesen kann: Belegt sind ausschließlich ImperfektFormen, die in Kombination mit den ebenfalls zahlreich vorhandenen deiktischen
Ausdrücken (au milieu, dans, vers, derrière, en haut, sur, dans, sur, en avant et
en arrière) ein wohlgeordnetes, informationsgesättigtes Tableau eines nächtlichen
Nahrungsmitteltransports entstehen lassen. Der Erzähler nimmt den Leser an die
Emile Zola: Le ventre de Paris, in: Ders.: Les Rougon-Macquart, Bd. 1. Paris 1960, S. 604 (meine
Hervorh.). Dt. Übersetzung aus Emile Zola: Der Bauch von Paris, hrsg. von Rita Schober, München 1974, S. 5: »In dem tiefen Schweigen und der Öde der breiten Straße zogen die Wagen
der Gemüsebauern nach Paris hinauf mit dem rhythmischen Rumpeln der Räder, das von den
Fassaden der Häuser widerhallte, die zu beiden Seiten hinter den verschwommenen Reihen der
Ulmen schliefen. Ein Karren mit Kohl und ein Karren mit Schoten waren an der Pont de Neuilly
zu acht Wagen mit Kohlrüben und Möhren gestoßen, die von Nanterre herunterkamen; und die
Pferde gingen ganz von allein mit hängenden Köpfen in ihrer stetigen und trägen Gangart, die
durch die Steigung noch langsamer wurde. Oben auf den Gemüseladungen lagen die Fuhrleute
unter ihren schwarz und grau gestreiften großen Mänteln auf dem Bauch ausgestreckt und
dösten, die Zügel um die Handgelenke gelegt. Immer wenn ein Wagen aus dem Dunkel in den
Bereich einer Gaslaterne kam, traf ihr Licht die Nägel einer Schuhsohle, den blauen Ärmel eines
Kittels, das Stück einer Mütze, die zwischen der ungeheuren Üppigkeit der roten Möhren- und
der weißen Kohlrübenbüschel und dem überquellenden Grün von Schoten und Kohl hervorsahen,
und vor und hinter ihnen auf dieser Landstraße und auf den benachbarten Straßen ließ entferntes Rattern auf ähnliche Geleitzüge schließen, die die Finsternis und den schweren Schlaf
der zweiten Morgenstunde durchquerten, das ganze Heranbranden der Nahrungszufuhr, das mit
dem Lärm seines Vorbeiziehens die schwarze Stadt wiegte.«
3 Zur Typologie von Romananfängen vgl. Andrea Del Lungo: L’incipit romanesque, Paris 2003.
2
Vom Leben der Lebensmittel in Zolas »Le ventre de Paris«
Hand und rückt ihm die beschriebene Szene in optimaler Weise vor das geistige Auge,
zumal auch der Einsatzzeitpunkt der Fiktion – »deux heures du matin« – benannt
wird. Es lassen sich keinerlei Vordergrundhandlungen feststellen, stattdessen wird
der Eindruck des Statischen durch die detaillierte Beschreibung von textilen Details
der Fuhrleute sowie – für unseren Zusammenhang noch wichtiger – durch die wiederholte Benennung bzw. geordnete Aufzählung der Gemüseladungen erzeugt. Die
aufgezählten Gemüsesorten (Kohl, Erbsenschoten, weiße Rübchen, Möhren) werden
dabei in doppelter Weise als realistischer Hintergrund eingesetzt. Zum einen bilden
sie auf der syntagmatischen Ebene der sprachlichen Zeichen einen entsprechenden
Rahmen für die erwähnten Fuhrleute, insofern sie Letzteren voran- und dann in
umgekehrter Reihenfolge nachgestellt werden (vgl. Hervorhebung). Zum anderen
bilden sie auch auf der Ebene der bezeichneten Sachen einen im wahrsten Sinne
des Wortes dinglichen Hintergrund, insofern sich die Körper der Fuhrleute in der
»floraison énorme« bzw. in den »verdures débordantes« zu verlieren scheinen, aber
eben nur »scheinen«, denn zugleich bilden die Gemüseberge monochrome Kontrastflächen, vor deren Hintergrund die Akteure des Gemüsetransports überhaupt erst
erkennbar werden, ein Phänomen, das durch den Ausdruck »entrevus« sinnfällig
wird, ein Dazwischen, das sich vor dem frugalen Hintergrund abzeichnet. Dieser Eindruck wird im Verlauf des ersten Kapitels noch verstärkt. Insbesondere der am Straßenrand aufgelesene Protagonist Florent wird vor dem dinglichen Hintergrund der
Gemüseberge wie ein verlorenes Detail in Szene gesetzt, etwa dann, wenn die ansonsten fürsorgliche Fuhrfrau Mme François zu ihm sagt »Je vous déballerai avec mes
légumes«4 oder wenn es von ihm heißt, seine Beine seien »perdues dans les tas des
navets«5 bzw. wenn er in »montagnes de pois«6 verschwindet und schließlich in Paris
»sur un lit de légumes«7 ankommt und dabei ein Bauernmädchen beobachtet, »ayant
des choux jusqu’aux épaules«.8 Unter diesen Vorzeichen erstaunt es nicht, wenn die
als realistischer Hintergrund dargestellten Lebensmittel schon im Incipit zum beinahe unheimlichen Agens der erzählten Geschichte promoviert werden, nämlich zu
einer automobilen »nourriture qui passait«.9 Fast spürt man schon an dieser Stelle
den Riss, der durch den Versuch realistisch-positivistischer Wirklichkeitsdarstellung
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Zola: Le ventre de Paris, a.a.O., S. 605.
Ebd.
Ebd., S. 607.
Ebd., S. 612.
Ebd., S. 614.
Ebd., S. 604.
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Dietrich Scholler
geht. Die exakte und möglichst vollständige Erfassung von empirischen Oberflächenphänomenen wird kaum merklich unterlaufen durch eine Beimischung amimetischer
Unschärfe und Vagheit, die sich u.a. darin manifestiert, dass die Akteure der Eingangsszene nicht als vollständige Gestalten sondern als Fragmente wahrgenommen
werden. Nur für den Bruchteil weniger Sekunden – nämlich solange die Kippwagen
im Lichtkegel der Gaslaternen aufleuchten – werden Details der Kleidung wie bloße
Indizien fokussiert: der Nagel eines Schuhs, der blaue Ärmel einer Bluse, die Spitze
einer Mütze. Da die dazugehörigen namenlosen Körper der Fuhrleute nicht weiter
identifiziert werden und zudem reglos bleiben, entsteht der Eindruck einer herrenlosen Geisterfahrt mit groteskem Anstrich: kolossale Gemüseberge, die sich wie von
unsichtbarer Hand geführt Richtung Kapitale bewegen.
II VON FISCHEN, MILIEUS UND VERERBUNG (METONYMISIERUNG)
Folgt man Roman Jakobson,10 dann muss die realistisch-naturalistische Prosa des
19. Jahrhunderts als dominant metonymische Schreibweise aufgefasst werden. Im
Unterschied zur romantischen Poesie, die in der Regel dem paradigmatischen Prinzip
der Metapher verpflichtet ist, richten Autoren wie Balzac und Zola ihre Schreibweise
nach syntagmatischen Prinzipien aus, das heißt, es geht ihnen um Oberflächenphänomene der Kontiguität und der Kombination. Substituens und Substituendum stehen
im Falle der Metonymie nicht in einer semantischen Relation der Abwesenheit zueinander wie im Fall der Metapher, sondern in einer Relation der Nebenordnung, die auf
Realitäten in der physikalischen Welt beruht. Auf diese Weise kann der Zusammenhang zwischen den beschriebenen Objekten, dem Ereignis und der involvierten Figuren auf differenzierte Weise dargestellt werden. In der Romanpraxis manifestiert sich
diese Tendenz in regelmäßig wiederkehrenden langen deskriptiven Pausen, in denen
die Erzählung stagniert. An deren Stelle treten Schilderungen der Atmosphäre oder
ausufernde Beschreibungen der Objektwelt, die schließlich ein bestimmtes Milieu in
seiner Totalität erfassen sollen. In Balzacs Roman Le père Goriot zum Beispiel werden
aus dem jeweiligen Beschreibungsobjekt entsprechende Nominalparadigmen entlassen, deren Elemente den Beschreibungsgegenstand über metonymische Relationen
spezifizieren. Die salle à manger etwa wird über Kontiguitätselemente wie »buffets«,
10 Roman Jakobson: »Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen«, in: Ders.:
Aufsätze zur Linguistik und Poetik, hrsg. von Wolfgang Raible, München 1979, S. 117–141.
Vom Leben der Lebensmittel in Zolas »Le ventre de Paris«
»carafes«, »piles d’assiettes«, »boîte à cases« usw. weitergehend ausdifferenziert.
Dabei erweisen sich derartige Elemente häufig als Ausweitungen der Physiognomik
ihrer Bewohner.11 Diese Relation verkehrt sich bei Zola, denn die Figuren werden
unhintergehbar determiniert durch Milieu und Vererbung.
Einen mehr als deutlichen Eindruck erhält man von diesem Verfahren, wenn man die
Beschreibungen im Hinblick auf die Figur der Fischverkäuferin alias »belle Normande«
in den Blick nimmt. Die im Roman als »belle Normande« firmierende Mme Méhudin
gilt als attraktiv und geschäftstüchtig und steht daher in Opposition zur Fleischerin
Lisa, die sich durch ähnliche Eigenschaften auszeichnet und schon aufgrund dieses
Merkmalsbündels als natürliche Konkurrentin in Zolas Reißbrettgeschichte eingeplant ist. Als Zimmerwirtin ihres Schwagers Florent ist Lisa unterschwellig eifersüchtig, weil Florent auch bei den Méhudins verkehrt. Dort gibt er Muche, dem Sohn der
Fischhändlerin »belle Normande«, Nachhilfeunterricht und lernt dabei dessen Mutter
näher kennen, aufgrund seiner Keuschheit aber nur im Rahmen einer »véritable
amitié« (wirklichen Freundschaft, S. 223).12 Denn die objektiv attraktive, wenn nicht
appetitliche Normannin schüchtert den als mager-trocken geschilderten Florent ein,
als Letzterer in der Nachhilfestunde aus der Figurensicht ihre »poitrines grasses«
(üppigen Brüste[n], S. 223) und ihren »souffle fort« (starken Hauch, ebd.)13 spürt.
Und als sich ihr Negligé einen Spalt weit öffnet, glaubte er »voir sortir, entre deux
blancheurs, une fumée de vie, une haleine de santé qui lui passait sur la face, chaude
encore, comme relevée d’une pointe de la puanteur des Halles […]«.14 Mit anderen
Worten: Das dampfende Leben (»fumée de vie«), das aus diesem beeindruckenden
Frauenkörper aufsteigt, verwandelt sich im Medium der erlebten Rede in Markthallengestank, denn trotz aller Waschanstrengungen und trotz massivem Einsatz von
Parfum vermag die schöne Normannin Milieu und Vererbung nicht abzuschütteln:
»Elle avait tenté toutes les huiles aromatiques; elle se lavait à grande eau; mais dès
que la fraîcheur du bain s’en allait, le sang reamenait jusqu’au bout des membres
la fadeur des saumons, la violette musquée des éperlans, les âcretés des harengs
et des raies. Alors, le balancement de ses jupes dégageait une buée; elle marchait
11 Vgl. hierzu im Detail Rainer Warning: »Physiognomik und Serialität. Beschreibungsverfahren bei
Balzac und bei Robbe-Grillet«, in: Ders.: Die Phantasie der Realisten, München 1999, S. 77–88.
12 Zola: Le ventre de Paris, S. 738.
13 Ebd.
14 Ebd. Dt. Übersetzung, S. 224: »glaubt er zwischen den zwei weißen Hügeln einen Dunst von
Leben, einen Atem von Gesundheit hervorkommen zu sehen, der ihm noch heiß über das Gesicht
strich, gleichsam gewürzt mit einer Prise Markthallengestank«.
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Dietrich Scholler
au milieu d’une évaporation d’algues vaseuses; elle était, avec son grand corps de
déesse, sa pureté et sa pâleur admirables, comme un beau marbre ancien roulé par
la mer et ramené à la côte dans le coup de filet d’un pêcheur de sardines.«15
Auf den ersten Blick zitiert die ichthyologische Enumeration (»saumons«, »éperlans«, »hareng«, »raies«) jene erschöpfende, an anderer Stelle befindliche enzyklopädische Aufzählung, mit deren Hilfe der Erzähler den Leser im Fischsegment der
Markthallen orientiert. Dafür spricht auch, dass die Erzählgegenstände weitergehend
spezifiziert werden, indem sie zusätzliche Attribute erhalten, nämlich »fadeur«, »violette musquée«, »âcretés«. Aber an dieser Stelle dienen die Lebensmittel nicht länger
als Elemente zur Darstellung einer Fülle, die den Bauch von Paris konstituieren, sondern sie bilden die milieubedingte Ursache für den unmöglichen Sexappeal der schönen Normannin: Sie kann sich waschen und parfümieren, wie sie will, stets haftet ihr
der Fischgeruch ihres Metiers an. Ihre Wirkung auf Florent bleibt umso aussichtsloser,
als ihr Blut und damit ihre hereditäre Disposition die milieubedingte Einschränkung
auf negative Weise verstärkt, weil es den Geruch gleichmäßig über den gesamten
Organismus der Fischverkäuferin verteilt (»le sang reamenait jusqu’au bout des membres la fadeur des saumons« usw.). Diese Erklärung wird in der Nullfokalisierung des
ersten Satzes angeboten. Spätestens ab dem zweiten Satz, der mit »Alors« beginnt,
ist der gebildete Florent der Perspektivträger, der nicht nur den noch metonymisch
erzeugten Fischgeruch wahrnimmt, sondern darüber hinausgehend – und damit auch
über den positivistischen Gestus der Erzählung hinausgehend – eine Eingebung in
der Art einer mémoire involontaire oder auch einer Vision hat, die ins Metaphorische
ausgreift und den Rahmen physiologischer Rede sprengt. Denn der Duft, der aus
ihren Rockschößen emporsteigt, evoziert in der Vorstellung des keuschen Florent
den metaphorisch absenten Körper einer Göttin, die in ihrer wunderbaren Reine und
Blässe einer antiken Marmorstatue gleicht, die an die Küste gespült wurde, um als
Beifang im Netz eines Sardinenfischers zu landen. Das heißt, das Lebensmittel »Fisch«
dient hier in seiner ganzen nutritiven Banalität als Bildspender und sorgt dadurch
für die Herabsetzung antiker Schönheit am Ende der sogenannten Kunstperiode im
15 Ebd. Dt. Übersetzung, S. 224: »Sie hatte alle duftenden Öle versucht; sie wusch sich unter
fließendem Wasser, aber sobald die Frische des Bades verflog, führte das Blut die Fadheit der
Lachse, den veilchenartigen Moschus der Stinte, die Schärfe der Heringe und Rochen bis in die
Spitzen ihrer Glieder. Das Wiegen ihrer Röcke entfachte einen Brodem; sie schritt inmitten von
Verdunstung schlammiger Algen. Mit ihrem Leib einer Göttin, ihrer wundervollen Reinheit und
Blässe, glich sie einer schönen antiken Marmorstatue, die vom Meer angespült und im Netz
eines Sardinenfischers als Land gezogen worden war.«,
Vom Leben der Lebensmittel in Zolas »Le ventre de Paris«
hässlichen 19. Jahrhundert. Indem die göttinnengleiche «belle Normande« in einem
Fischnetz mit Sardinen landet, die im 19. Jahrhundert als Arme-Leute-Essen galten,
schafft Zola ein komplexes und doch sehr anschauliches Denkbild. Dessen innere
Gegenstrebigkeit bringt zugleich den Glanz und das Elend des naturalistischen Charakters zum Ausdruck. Dabei wird die Ebene metonymisch-positivistischen Erzählens
mittels grotesker Verzerrung umgepolt, und an dessen Stelle spannt sich ein mythopoetischer Horizont vor dem geistigen Auge des Lesers auf.
III VON KÜCHENGERÜCHEN ZUR GERÜCHTEKÜCHE (METAPHORISIERUNG)
Wie das Beispiel der »belle Normande« gezeigt hat, fungieren Lebensmittel auf der
Vermittlungsebene des discours nicht nur als Hintergrund, wie im ersten Abschnitt
gezeigt, sie gehen auch nicht in ihrer Funktion als metonymische Begleiter und
Determinanten der erzählten Figuren auf, sondern sie verselbständigen sich mitunter
und werden darüber hinaus auch als uneigentliche Bildspender herangezogen, um
abstrakte Sachverhalte auf anschauliche Art und Weise zu konzeptualisieren.
In der Theorie sprach sich Zola im Zeichen naturalistischer Darstellung für eine
neutrale Sprachkonzeption aus. In diesem Zusammenhang sollten Deskriptionen eine
rein dienende Funktion besitzen: So etwa heißt es in seiner theoretischen Schrift
Du Roman (1878): »Je définirai donc la description: un état du milieu qui détermine
et complète l’homme. […] J’ai dit parfois que j’aimais peu le talent descriptif de
Théophile Gauthier. C’est que je trouve chez lui justement la description pour la
description […].«16 Tatsächlich aber mutet so manche Zolasche Deskription so an,
als stamme sie von dem kritisierten Parnassien Gauthier. Im Ventre de Paris sind es
insbesondere die Lebensmitteldeskriptionen, die sich dem selbst gesetzten Anspruch
mehr als einmal entziehen, indem sie eine auffällige Eigendynamik entwickeln, fast
so, als treibe das Leben der Lebensmittel den Erzähler vor sich her. Ein besonders
eindrückliches Beispiel bietet die Darstellung von Molkereiprodukten, insbesondere
die der Käsesorten:17
16 Emile Zola: Du Roman. Sur Stendhal, Flaubert et les Goncourt, Bruxelles 1989, S. 62. Zu den
Widersprüchen zwischen Zolas literaturtheoretischen Positionen und seiner narrativen Praxis
vgl. Elke Kaiser: Wissen und Erzählen bei Zola. Wirklichkeitsmodellierung in den Rougon-Macquart,
München 1990, insbes. S. 15–76.
17 Zu dieser Szene vgl. auch Pauline Wahl Willis: «Comestibles et commérages dans Le Ventre de
Paris», in: Excavatio 14 (1–2) (2001), S. 63–72.
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Dietrich Scholler
»Autour d’elles, les fromages puaient. […] Sous la table d’étalage, de marbre rouge
veiné de gris, des paniers d’œufs mettaient une blancheur de craie; et, dans des
caisses, sur des clayons de paille, des bondons posés bout à bout, des gournays
rangés à plat comme des médailles, faisaient des nappes plus sombres, tachées de
tons verdâtres. Mais c’était surtout sur la table que les fromages s’empilaient. Là, à
côté des pains de beurre à la livre, dans des feuilles de poirée, s’élargissait un cantal
géant, comme fendu à coups de hache; puis venaient un chester, couleur d’or, un
gruyère, pareil à une roue tombée de quelque char barbare, des hollandes, ronds
comme des têtes coupées, barbouillées de sang séché, avec cette dureté de crâne
vide qui les fait nommer têtes-de-mort. Un parmesan, au milieu de cette lourdeur
de pâte cuite, ajoutait sa pointe d’odeur aromatique. Trois bries, sur des planches
rondes, avaient des mélancolies de lunes éteintes; deux, très secs, étaient dans leur
plein; le troisième, dans son deuxième quartier, coulait, se vidait d’une crème blanche, étalée en lac, ravageant les minces planchettes, à l’aide desquelles on avait
vainement essayé de le contenir. Des Port-Salut, semblables à des disques antiques,
montraient en exergue le nom imprimé des fabricants. Un romantour, vêtu de son
papier d’argent, donnait le rêve d’une barre de nougat, d’un fromage sucré, égaré
parmi ces fermentations âcres. Les roqueforts, eux aussi, sous des cloches de cristal,
prenaient des mines princières, des faces marbrées et grasses, veinées de bleu et de
jaune, comme attaqués d’une maladie honteuse de gens riches qui ont trop mangé
de truffes; tandis que, dans un plat, à côté, des fromages de chèvre, gros comme
un poing d’enfant, durs et grisâtres, rappelaient les cailloux que les boucs, menant
leur troupeau, font rouler aux coudes des sentiers pierreux. Alors, commençaient
les puanteurs: les mont-d’or, jaune clair, puant une odeur douceâtre; les troyes,
très épais, meurtris sur les bords, d’âpreté déjà plus forte, ajoutant une fétidité de
cave humide; les camemberts, d’un fumet de gibier trop faisandé; les neufchâtels,
les limbourgs, les marolles, les pont-l’évêque, carrés, mettant chacun leur note
aiguë et particulière dans cette phrase rude jusqu’à la nausée; les livarots, teintés
de rouge, terribles à la gorge comme une vapeur de soufre; puis enfin, par-dessus
tous les autres, les olivets, enveloppés de feuilles de noyer, ainsi que ces charognes
que les paysans couvrent de branches, au bord d’un champ, fumantes au soleil. La
chaude après-midi avait amolli les fromages; les moisissures des croûtes fondaient,
se vernissaient avec des tons riches de cuivre rouge et de vert-de-gris, semblables
à des blessures mal fermées; sous les feuilles de chêne, un souffle soulevait la peau
des olivets, qui battait comme une poitrine, d’une haleine lente et grosse d’homme
endormi; un flot de vie avait troué un livarot, accouchant par cette entaille d’un
peuple de vers. Et, derrière les balances, dans sa boîte mince, un géromé anisé
Vom Leben der Lebensmittel in Zolas »Le ventre de Paris«
répandait une infection telle que des mouches étaient tombées autour de la boîte,
sur le marbre rouge veiné de gris.«18
Von Charles de Gaulle ist das Zitat verbürgt »Comment voulez-vous gouverner un
pays où il existe plus de 300 sortes de fromage?«, eine Aussage, in der – wie mir
scheint – weniger die Furcht vor der Unregierbarkeit der Franzosen als vielmehr der
Stolz auf die kulturelle Differenz durchdringt, eine Aussage zudem, die schon zu
Zeiten Zolas Gültigkeit besessen hätte, auch wenn in diesem Zitat ›nur‹ 21 Käsesorten
18 Le ventre de Paris, S. 826–828 (meine Hervorh.). Dt. Übersetzung, S. 367-369: »Rings um die
drei stanken die Käse. […] Unter den Auslagentisch aus rotem, graugeädertem Marmor setzten
Eierkörbe ein Kreideweiß; und in Kisten bildeten die auf Strohhürden dicht an dicht gelegten
Bondons und die wie Medaillen flach angeordneten Gournaykäse dunklere, mit grünlichen Tönen
gefleckte Flächen. Aber vor allem auf dem Tisch stapelten sich die Käse. Neben Pfundstücken
Butter in Runkelblättern breitete sich, gleichsam von Axthieben gespaltener Auvergnerkäse;
dann kamen ein goldfarbener Chesterkäse, ein Schweizerkäse, der einem von einem Barbarengefährt abgefallenen Rade glich, und Edamer, rund wie abgeschlagene Köpfe, mit angetrocknetem
Blut beschmiert und hart wie hohle Schädel, weswegen sie Totenköpfe heißen. Ein Parmesankäse brachte in diese Schwere gekochten Breis seine Prise aromatischen Dufts. Drei Briekäse auf
runden Brettern hatten die Schwermut glanzloser Monde; zwei, die sehr trocken waren, bildeten
Vollmonde; der dritte war im zweiten Viertel und lief, entleerte sich von weißer Sahne, die sich
zu einem See ausgebreitet hatte und die dünnen Brettchen einriß, mit denen vergeblich versucht
worden war, ihn zusammenzuhalten. Port-Saluts, die antiken Diskusscheiben glichen, zeigten
als Inschrift den aufgedruckten Namen der Fabrikanten. Ein in sein Silberpapier gekleideter
Romadour vermittelte das Trugbild einer Nougatstange, eines gezuckerten Käses, der sich unter
diese scharfen Gärungen verirrt hatte. Auch die Roqueforts unter ihren Kristallglocken setzten
fürstliche Mienen auf, marmorierte und feiste, blau und gelb geäderte Gesichter, gleichsam von
einer schändlichen Krankheit reicher Leute angegriffen, die zuviel Trüffeln gegessen haben,
während daneben in einer Schüssel harte, leicht graue, kinderfaustgroße Ziegenkäse an Kiesel
erinnerten, die die Böcke, wenn sie ihre Herde führen, an den Biegungen der steinigen Pfade
ins Rollen bringen. Dann begannen die Stinkerkäse: die hellgelben, süßlich stinkenden Montd’or-Käse; die sehr dicken, an den Rändern gequetschten Troyes-Käse von bereits kräftigerer
Schärfe, die einen Gestank nach feuchtem Keller hinzufügten; die Camemberts mit dem strengen
Duft zu lange abgehangenen Wildbrets; die viereckigen Neufchâteller, Limburger, Marolles und
Pont-l’Evêques brachten jeder seine grelle und besondere Note in diesen bis zur Übelkeit herben
Tonsatz; die Livarots, die rot gefärbt und in der Kehle furchtbar waren wie Schwefeldampf;
schließlich dann über allen anderen die Olivets, die in Nußbaumblätter gewickelt waren gleich
dem in der Sonne dampfenden Aas, das die Bauern am Rand eines Feldes mit Zweigen zudecken.
Der heiße Nachmittag hatte die Käse erweicht. Der Schimmel der Rinden schmolz, überzog sich
mit den üppigen Tönen von rotem Kupfer und Grünspan gleich schlechtgeschlossenen Wunden.
Unter den Eichenblättern hob ein Hauch die Haut der Olivets, die wie eine Brust schlug beim
langsamen und weiten Atem eines schlafenden Menschen. Eine Woge von Leben hatte Livarot
durchlöchert, der durch diese Kerbe ein Volk von Maden gebar. Und hinter der Waage verströmte
ein mit Anis gewürzter Géromé in seiner dünnen Schachtel eine solche Verpestung, daß rings
um ihn Fliegen auf den graugeäderten Marmor gefallen waren.«
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Dietrich Scholler
belegt werden können. Wie man schon aus der Distribution der Käsenamen ersehen
kann, handelt es sich nicht um eine bloße Aufzählung, da jeder Käsesorte längere
Prädikate zugeordnet sind. Letztere sind allerdings kontraintuitiv weit davon entfernt, die Produkte im Sinne positivistischer Episteme näher zu bestimmen, etwa
hinsichtlich ihrer lebensmittelkundlichen Spezifika. Ganz im Gegenteil werden wir
unverhofft konfrontiert mit einem Netz aus brutalen bis unflätigen assoziativen
Metaphern, die sich aus der Farbe, der Form oder aus dem Geruch speisen und Isotopien eines Schlachtfeldes, der Krankheit und Verwesung entstehen lassen:19 Der
Cantal mutet an, als sei er von einer Streitaxt gespalten worden, der radähnliche
Chester, als habe er sich von einem barbarischen Streitwagen gelöst, der holländische
Käse ist so rund wie abgeschlagene Köpfe, zudem besudelt mit trockenem Blut und
der nicht zuletzt aufgrund seines Härtegrades auch Totenkopf genannt wird. Dürften schon diese Vergleiche sich als Appetitzügler erweisen, so wird einem nach der
Lektüre der dann folgenden Assoziationen endgültig der Appetit vergangen sein: Die
wie marmorierten, fett glänzenden Oberflächen des Roquefort sind durchzogen von
blauen und gelben Venen, die auf eine schändliche Krankheit deuten, und der in
Nussbaumblätter eingehüllte Olivet erinnert aufgrund seiner Umhüllung an ein Stück
Aas, das der Bauersmann mit Zweigen zu bedecken pflegt und am Rande seiner Felder
deponiert, wo es in der Sonne dampft: Baudelaire lässt grüßen! Schließlich wird die
fatale Käse-Ontologie in ihrer Summe mit einem blutenden Organismus verglichen,
dessen offene Wunden schlecht verheilen, der aber gleichwohl Leben atmet, weil in
Gestalt des Livarot-Käses eine Lunge in ihm schlägt, und zwar »d’une haleine lente
et grosse d’homme endormi« (beim langsamen und weiten Atem eines schlafenden
Menschen).20 Dass dieser Organismus lebt und auf aggressive Weise anderes Leben
zerstört, bekommen die Fliegen zu spüren, denn der Géromé-Käse bildet einen tödlichen Ansteckungsherd, der die Fliegen infiziert, so dass sie nicht nur sprichwörtlich
tot wie Fliegen umfallen.
Es sollte deutlich geworden sein, dass die ausufernde Deskription der Käsesorten
weit über die üblichen Anforderungen des discours descriptif hinausgeht. Durch
19 Was Zola nicht sagt, das malt er häufig mit Worten, weshalb seine naturalistischen Beschrei-
bungen wiederholt mit der zeitgenössischen Stillleben-Malerei verglichen worden sind. In den
Markthallen von Paris können Lebensmittel nur als tote Dinge existieren. Analog zur Malerei der
natures mortes erweckt Zola dieses tote Leben der Pflanzen und Tiere zu neuem Leben im Modus
der Beschreibung, indem er der Darstellung von Gemüse, Fischen und Geflügel einen Ereignischarakter verleiht. Zu diesem Komplex vgl. Beate Steinhauser: Les natures mortes dans Le ventre
de Paris, Frankfurt am Main 2006.
20 Ebd.
Vom Leben der Lebensmittel in Zolas »Le ventre de Paris«
anthropomorphisierende Bildsequenzen entsteht unter der Schicht der toten Buchstaben ein ungezügeltes Leben, das sich summa summarum zu einem gefährlichen
Organismus zusammenschließt und in einem Schlussbild kulminiert, das vom Erzähler mittels Montage zu einer abermaligen Analogie auf der Makroebene des récit
ausgebaut wird. Denn die Käsedeskription ist nicht ganz zufällig eingebettet in zwei
Redezüge der intriganten Mlle Saget, und zwar wie folgt:
»›Il vient [Florent] du bagne‹, dit-elle enfin, en assourdissant terriblement sa
voix.
Autour d’elles, les fromages puaient. Sur les deux étagères de la boutique, au
fond, s’alignaient des mottes de beurre énormes; les beurres de Bretagne, dans des
paniers, débordaient; les beurres de Normandie, enveloppés de toile, ressemblaient
à des ébauches de ventres; […]. Et, derrière les balances, dans sa boîte mince,
un géromé anisé répandait une infection telle que des mouches étaient tombées
autour de la boîte, sur le marbre rouge veiné de gris.
Mlle Saget avait ce géromé presque sous le nez. Elle se recula, appuya la tête contre
les grandes feuilles de papier jaunes et blanches, accrochées par un coin, au fond
de la boutique.
›Oui, répéta-t-elle avec un grimace de dégoût, il vient du bagne … Hein!‹«21
Die unmittelbaren Nahtstellen der Deskription sind mit Letzterer auf ingeniöse
Weise verfugt. Kaum hat Mlle Saget das gefährliche Geheimnis Florents im Kreise
neugieriger Damen gelüftet – politische Lagerhaft und Flucht –, als das Gerücht
scheinbar intensiven Käsegeruch auslöst. Das Ende der Passage ist wiederum eng verzahnt mit Mlle Saget, insofern die zuletzt beschriebene und, wie gehört, besonders
fatale Käsesorte, der infektiöse Géromé, sich in nächster Nähe zu der Intrigantin
21 Ebd., S. 828. Dt. Übersetzung, S. 367 und 370: »›Er kommt aus dem Zuchthaus‹, verkündete sie
endlich mit furchtbar gedämpfter Stimme.
Rings um die drei stanken die Käse. Im Hintergrund reihten sich die auf beiden Wandbrettern
des Ladens riesige Butterklumpen aneinander: Butter aus der Bretagne in Körben quoll über; die
in Leinwand gewickelte Butter aus der Normandie ähnelte den ersten Entwürfen von Bäuchen;
[…]. Und hinter der Waage verströmte ein mit Anis gewürzter Géromé in seiner dünnen Schachtel eine solche Verpestung, daß rings um ihn Fliegen auf den graugeäderten Marmor gefallen
waren.
Diesen Géromé hatte Fräulein Saget fast unter der Nase. Sie wich zurück und lehnte ihren Kopf
gegen die großen Bogen gelben und weißen Papiers, die hinten am Stand an einer Ecke aufgehängt waren.
›Ja‹, wiederholte sie mit einer Grimasse des Ekels, ›er kommt aus dem Zuchthaus … Na!‹«
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Dietrich Scholler
befindet. Zieht man dessen Konnotationen in Betracht, dann handelt es sich hier
selbstverständlich nicht um eine rein metonymische Kontiguitätsrelation im Sinne
realistischer Wirklichkeitsmodellierung. Vielmehr wird zwischen der zersetzenden
Lebenskraft der Molkereiprodukte und der zerstörerischen Gewalt intriganter Rede
eine Similaritätsbeziehung hergestellt, die letztlich für den Ausgang des Romans von
entscheidender Bedeutung ist. Denn das Erzählgift der Mlle Saget entfaltet schnelle
Wirkung. Nach und nach entsolidarisieren sich die Markthändler mit dem Republikaner Florent, bis hin zur feigen Denunziation bei den Behörden. Kurz bevor der
Magen von Paris den Hungerleider Florent ausscheidet und der gestörte Organismus
der Markthallen endlich wieder in Schwung kommt, stellt sich eine kurze Ruhe vor
dem Sturm ein:
»Il y eut comme un silence dans la poissonnerie. Les ventres et les gorges énormes
retenaient leur haleine, attendant qu’il [Florent] eût disparu. Puis, les gorges s’étalèrent, les ventres crevèrent d’une joie mauvaise. La farce avait réussi.«22
22 Dt. Übersetzung, S. 464: »Es lag gleichsam ein Schweigen über dem Fischmarkt. Die ungeheuren
Bäuche und Busen hielten den Atem an, warteten, bis er verschwunden war. Dann quoll alles
über, die Brüste breiteten sich aus, die Bäuche platzten vor böser Freude. Der Schabernack war
geglückt.«