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KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 – 4 Gunter Narr Verlag Tübingen “Mit dem Gürtel, mit dem Schleier …” Semiotik und Dialektik der Ver-/Enthüllung bei Schiller, Fontane und Picasso Klaus H. Kiefer (München) “Die Enthüllung selbst ist nur eine Illusion unter anderen.” Botho Strauß: Niemand anderes, München: dtv 1990, 42 Semiotics and Dialectics of Unveiling in the Works of Schiller, Fontane and Picasso. Schiller’s Lied von der Glocke, Fontane’s Adultera and Picasso’s Demoiselles d’Avignon unveil the female body, in parts or in whole. Probably for reasons of decency, the object itself is not specified by the two writers. In Schiller’s work the exposure is prompted by a bridal’s deflowering and in Fontane’s work by the adultery committed by a young woman. It is only possible for the reader to gather the “unspeakable” by a different code. The silent body and its discreet sexuality are emblematically reproduced in clothing, interior etc. Picasso’s “Demoiselles” display less and less the unveiling of the female body – as exposure belongs to their trade anyway – whereas their bodies work their way out of the (“cubist”) canvas, and the sexual action is relocated in the view of the beholders, whom the “primitivistic” masquerade unmasks in their desire. Schillers Lied von der Glocke, Fontanes Adultera und Picassos Demoiselles d’Avignon enthüllen den weiblichen Körper, partiell oder ganz, indem die beiden Schriftsteller, wohl aus Dezenzgründen, das Faktum selbst nicht benennen. Anlass der Entblößung ist bei Schiller die Defloration einer Braut bzw. bei Fontane der Ehebruch einer jungen Frau. Der Leser kann den “unaussprechlichen” Sachverhalt nur über andere Zeichensysteme erschließen. In Kleidung, Interieurs etc. bilden sich der stumme Körper und seine verschwiegene Sexualität zeichenhaft ab. Picassos “Demoiselles” enthüllen weniger den weiblichen Körper – Entblößung gehört ohnehin zu ihrem Gewerbe –, vielmehr arbeitet sich ihr Körper (“kubistisch”) aus der Leinwand heraus, und die sexuelle Handlung wird in den Blick des Zuschauers verlagert, den die “primitivistische” Maskerade in seinem Begehren demaskiert. 1 Sauglocke und Ritual “Mit dem Gürtel, mit dem Schleier …” – jedem Deutschen, zumal wenn er zu denjenigen gehört, die Das Lied von der Glocke (1800) noch auswendig gelernt haben, klingt unweigerlich der folgende Satzteil im Ohr: “Reißt der schöne Wahn entzwei” (SW 1, 429–442, V. 101). Ich will dem sprichwörtlich gewordenen Schiller-Vers (Büchmann 2002: 189) keine weitere – wohlverdiente – Parodie hinzufügen (Segebrecht 2005), vielmehr sollen in dieser Sentenz einige Strukturen aufgezeigt werden, die ich später an zwei weiteren epochentypischen Beispielen, Fontanes Adultera (1882) und Picassos Demoiselles d’Avignon (1907), vertiefe. 260 Klaus H. Kiefer Offenbar wird in der Glocke ein archaisches Ritual der Entblößung und des “Gebrauchs” des jungfräulichen Körpers synekdotisch – sprachlich und gestisch – inszeniert: Momentaufnahme einer weiblichen Biographie. Nicht nur im Deutschland des 18. Jahrhunderts sind Gürtel und Schleier bekannte Teile eines vestimentären Codes der Braut;1 der Schleier (griech. hymen) ist zugleich aber auch Sexualmetapher, so dass in Schillers “Lied”, für jeden halbwegs Erwachsenen erkennbar, eine Defloration beschrieben wird: eine so konkrete wie symbolische Handlung als Beginn des Ehestandes. Der Text beschreibt und betreibt ein semantisches Glissando vom Kleid (Gürtel, Schleier …) zum Körper, d.h. von der Kultur zur Natur, und von da wiederum zurück zur Kultur, denn der weibliche Körper wird (erst) in der Ehe zum gesellschaftlichen, ja ökonomischen Gegenstand: sei dies eine freundliche, sei es eine feindliche Übernahme. Gewiss folgt er seiner biologischen Bestimmung, Kinder zu gebären, aber er rührt nicht nur “hurtig”, wie es ein galanter Anonymus des 17. Jahrhunderts noch ausdrückt (zit. Schöne 1968: 485, V. 1), die “Lenden” – bis die “Windel überquillt”2 –, sondern er regt auch “ohn Ende” – wiederum synekdotisch – die “fleißigen Hände” (SW 1, V. 123f.). Ich will nicht erörtern, was der Dichter mit “Wahn” bzw. “schönem Wahn” bezeichnet, und ob und wie anders der neue gesellschaftliche, d.h. eheliche, Zustand post festum zu bewerten sei. Offenbar gelangen die Protagonisten vom Regen in die Traufe eines – freilich grundverschiedenen – Verblendungs-, aber auch Wirkungszusammenhangs, der weder von ihnen hinterfragt wird, noch in Schillers Absicht hinterfragt werden soll.3 Interessant an den beiden zur Diskussion stehenden Versen ist, mit welch geringem Aufwand komplizierte Vorgänge oder Handlungen beschrieben werden, so dass sie jedermann erkennt – zumindest in einer rudimentären Stammtischversion.4 Umgekehrt verblüfft aber auch, was die auktoriale, ja patriarchale Rhetorik alles einspart bzw. an Kulturwissen und kulturellem Zwang stillschweigend voraussetzt. Eigentlich ist ja vom Körper, genauer: einem bestimmten Körperteil (Benthien & Wulf 2001), gar nicht die Rede – das gälte wohl als Pornographie –, sondern er wird metonymisch durch Kleidungsstücke evoziert: Gürtel und Schleier sind bekanntermaßen “Gefäße” für Körperteile. Diese Metonymie funktioniert jedoch nur auf der Basis eines uralt-kulturellen Codes, um Joanne Entwistle (2000: 6) zu zitieren: “[…] human bodies are dressed bodies. The social world is a world of dressed bodies.” Kurzum: “The body and dress operate dialectically […].” (Entwistle 2001: 36) Bei Schiller ist im übrigen nicht weiter die Rede von Brautmode oder Brautschmuck, Dinge, denen bei Hochzeiten in der Regel große Bedeutung beigemessen wird – wenn es sich das Paar leisten kann –, ganz zu schweigen von der Unterwäsche (Mosbach 2005). Nicht nur Karl Krauss (1909: 46) zufolge kommt es ja gar nicht so sehr “auf das Äußere einer Frau” an, sondern “[a]uch die Dessous” seien, so Krauss, wichtig. Diese wirken in der Tat nach Gürtel und Schleier als letzte vestimentäre Bastion, die sich dem Begehren des frischgebackenen Ehemanns entgegensetzt – allerdings erst im 19. Jahrhundert. Im 18. Jahrhundert trug die Dame unter den Unterröcken nichts, außer Kniestrümpfe (Haumann 2001: 13).5 Das Zerreißen von Schleier und Gürtel stellt demnach einen relativ unvermittelten Gewaltakt der Inbesitznahme dar. Trotz dieses Gewaltzusammenhangs sind Text und Körper in Schillers Glocke so weit auseinander gerückt, dass die Parodie die Rechte des Körpers – wenn auch mehr stumpfsinnig denn spitzfindig – wieder einfordern musste, freilich nur die Rechte des männlichen Körpers, zumal Schiller beim Glockenguss die Herstellung des (phallischen) Klöppels vergessen hatte – “eine verräterische Fehlleistung” (Zimmermann 2003: 123). Die junge Frau in ihrer Leiblichkeit kommt bei alledem nicht zu Wort.6 Nur als Mutter “lehret” sie die Mädchen (vermutlich das alte Rollenspiel) und “wehret” sie den Knaben (V. 121f.). Ihre “Mit dem Gürtel, mit dem Schleier …” 261 Opferrolle ist ansonsten züchtig-stumm, während der jungdeutsche Parodist lautstark die “Sauglocke” läutet.7 Nicht nur reizt Schillers hyperperfekte Form zur Parodie, so dass schon die Jenaer Romantiker vor Lachen “fast von den Stühlen gefallen” sind (Caroline Schlegel an Auguste Böhmer, 21. Oktober 1799, zit. Segebrecht 2005: 37), sondern die “gravitätische Zeigefingerdidaktik und altbackene Normativität” (Wellershoff 2001: 21) des Gedichts provoziert geradewegs die Überschreitung – auch dies ein Verfahren der Entlarvung. 2 Lebensfülle und Fragment Ich habe die beiden Zeilen des “Moral-Trompeters von Säckingen” – so Nietzsche (KSA 6, 111) über Schiller – etwas gegen den Strich gelesen,8 nicht um Schillers klammheimlichen Sexismus zu entlarven oder gar meine Neugier als Voyeurismus zu enthüllen, sondern zu allererst um die “Fülle des Lebens”9 gegenüber der Kargheit der Literatur zu kontrastieren, die bei Schiller graduell besonders hoch ist (Volli 2002: 204). Sabine M. Schneider (1998: 16f.) bringt Schillers “Ausdrucksnot” in Zusammenhang mit der von Michel Foucault (1966: 229ff.) konstatierten “crise de la représentation” Ende des 18. Jahrhunderts. Aber auch kein anderer als Goethe, Verfasser hüllenloser “Erotica”, betont (Kiefer 1996), Literatur sei “das Fragment der Fragmente”: “das Wenigste dessen, was geschah und gesprochen worden, ward geschrieben, vom Geschriebenen ist das Wenigste übrig geblieben.” (MA 17, 814, Nr. 512). Und dieses Wenige wird nicht selten selber als “Schleier” umschrieben, so von Goethe selber: “Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit” (MA 2.1, 96, V. 96).10 Wie Johannes Endres (2003: 2) an mehreren Fallbeispielen aufgezeigt hat – bei Schiller insbesondere am Motiv des Sais-Schleiers –, unterliegt Textinterpretation selber einer Dialektik der Enthüllung. Die Wertschätzung der Literatur in unserer Kultur, die sich noch als “literarisch” versteht, scheint demzufolge etwas zu unterschlagen, und erst recht gilt dieser Vorbehalt für Germanistik und Deutschunterricht, obwohl dank der feministisch und der kulturwissenschaftlich orientierten Forschung der beiden letzten Jahrzehnte das “Territorium der Sprache” (Böhme 2006: 57) erheblich erweitert wurde. Es gilt, die Aphasie der Dinge, Körper, Gesten, Bilder, auch der inneren, etc. – die gesamte Semiosphäre (Lotman 1990) – zum Sprechen zu bringen und umgekehrt die verbalen Zeichen in ihren lebensweltlichen Handlungszusammenhang zurück zu übersetzen. Jedes Zeitalter besitzt eine eigene Konfiguration, in die sich die Individuen mehr oder weniger einpassen. Dieser “Abdruck” ist erkennbar. Zwar fordern heute die hochentwickelten visuellen Medien, d.h. mehr noch als Malerei und Plastik – die es schon immer gab – der Film in seinen verschiedenen Formen, die in der Literatur fehlende Körperlichkeit oder Dinglichkeit zu zeigen, die vorher nur mehr oder weniger vage imaginiert wurde oder einfach selbstverständlich war, d.h. verbalsemiotisch “stumm”, aber auch die “Traumfabrik” zeigt nicht alles, und dies auch nicht nur aus Gründen der freiwilligen Selbstkontrolle. Auch die ikonischen Zeichen sind Zeichen, d.h. auch sie stehen quasi uneigentlich und notwendigerweise verkürzt an der Stelle des eigentlichen Objekts (Derrida 1968: 47).11 Die Ähnlichkeitsrelation zwischen Ikon und Objekt, so umstritten deren genauere Bestimmung sein mag, führt notwendigerweise eine Renaissance des Mimesispostulats herauf, so dass Fragen nach der Wahrscheinlichkeit von Raum, Zeit, Körper, Kleidung, Praktiken etc. wieder legitim werden, Fragen, die uns die moderne (nach-realistische) Literatur und ihre bürgerliche Didaktik eigentlich abgewöhnt hatte. Literatur als Erziehungsinstrument ermöglichte – ad usum delphini – eine Entsinnlichung, die mit der Maxime des “literarischen” Lesens oder Lernens Klaus H. Kiefer 262 verbrämt wurde.12 Es liegt mir fern, das “Phantasietraining” durch Literatur in Abrede zu stellen, aber der vielzitierte (und wenig problematisierte) “linguistic turn” bedarf einer synästhetischen bzw. (umfassend) semiotischen Revision (Kiefer 2003b). Vor allem muss geklärt werden, wie Wörter Körper, Dinge etc. formen, so dass sie lesbar – und fühlbar, vorstellbar – werden und wie letztere wiederum nach einem verbalen Ausdruck “rufen” – wie weiter unten ausgeführt: über indexalische Zeichen –, der sie aus ihrer Stummheit befreit, ihnen aus der bloßen Präsenz zur Repräsentation verhilft. Zeichenbildung, Semiose, ist ein “dialektischer” Prozess, wie es Ernst Cassirer (1990: 50) treffend beschrieben hat: Er [der Mensch] lebt nicht mehr in einem bloß physikalischen, sondern in einem symbolischen Universum. Sprache, Mythos, Kunst und Religion sind Bestandteile dieses Universums. Sie sind die vielgestaltigen Fäden, aus denen das Symbolnetz, das Gespinst menschlicher Erfahrung gewebt ist. Aller Fortschritt im Denken und in der Erfahrung verfeinert und festigt dieses Netz. Der Mensch kann der Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar gegenübertreten; er kann sie nicht mehr als direktes Gegenüber betrachten. Die physische Realität scheint in dem Maße zurückzutreten, wie die Symboltätigkeit des Menschen an Raum gewinnt. Statt mit den Dingen hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe. 3 Fontane im Treibhaus Es wäre müßig, hier über Theodor Fontanes “Realismus” zu diskutieren, aber wenn, mit Walter Müller-Seidel (1975: 172) zu sprechen, der “Gegensatz von Typus und Individualität, von Kopie und Original” das zentrale Motiv der Adultera (1882; SR 2, 7–140) ist, so wird man eine zentrale Szene dieser Ehebruchsgeschichte doch auch auf ihre Originalität hin zu überprüfen haben. Während in unserem Schiller-Beispiel der Akt selber durch das Ritual und die Körper/Kleid-Dialektik umschrieben und konstituiert wird, modelliert Fontane als Erzähler den weiblichen Körper quasi von außen her, sobald sich dieser im gegebenen Fall überhaupt wieder – nach zehn Jahren glücklicher Ehe (SR 2, 9) – zu regen beginnt: Die entscheidende Szene spielt im Treibhaus des Bankiers van der Straaten, wie es auch der Fontaneschen Quellenlage entspricht (Grawe 2000: 526).13 Melanie van der Straaten, so der Erzähler, gehört den “von äußeren Eindrücken, von Luft und Licht abhängigen Naturen” zu (SR 2, 82), und als sie mit ihrem Geliebten in spe in der vom Erzähler geradewegs schwülstig präparierten Laube (Eilert 1978: 503ff.) anlangt, geschieht denn auch, was nach der Ordnung der Körper und Dinge geschehen muss: “[…] diese weiche, schlaffe Luft machte sie selber weich und schlaff, und die Rüstung ihres Geistes lockerte sich und löste sich und fiel.” (SR 2, 82) Ein Treibhauseffekt! Jeder weiß, was nach dem “Endlich” des nächsten Abschnitts geschehen ist, nur wie? Die etwas klapprige Rüstungs-Metapher hilft da freilich nicht weiter. Erzähler bzw. Leser verlassen das Paar: Melanie in der engen Laube der Treibhauskuppel auf einem kleinen Stuhl sitzend, Rubehn vor ihr kniend (SR 2, 81f.). Im Grunde ginge auch alles Weitere den Leser nichts an, wenn nicht der frivole Erzähler14 selber von Anfang an das Thema von Sagen und Sehen (SR 2, 10) aufgeheizt hätte, ja selbst der Gärtner, der “galante [!] Kagelmann” (SR 2, 77), bringt – etwas weit hergeholt und im geheimen Einverständnis mit dem Erzähler – die Rede auf Kleidung und Anstand. Welches Kleid, Korsett etc. Melanie getragen haben mag, ignoriert Fontane allerdings, typisch Mann.15 Die für ihre spätere “Mit dem Gürtel, mit dem Schleier …” 263 Schwangerschaft notwendige zumindest partielle Entblößung der Heldin (auf engem Raum und gewiss in der Furcht vor Entdeckung: Anastasia und Kagelmann sind in der Nähe) wird dadurch plausibler, dass die Damenunterwäsche noch im späteren 19. Jahrhundert im Schritt offen war,16 zeitgenössisch – fast unaussprechlich heute – als “Stehbrunzhose” bezeichnet. Auch die feinere Dame, nicht nur die Bäuerin auf dem Feld, hat sie getragen, denn man hielt sie für hygienischer und gesünder – und sie war auch für gewisse Minuten praktischer … Wenden wir, was der 60jährige Professor für alte Sprachen und deutsche Literatur am Gymnasium zum heiligen Geist Willibald Schmidt, Fontanes alter ego in Frau Jenny Treibel (Grawe 1996: 279), gelegentlich äußert, auf den gegebenen Fall an: “Das Nebensächliche […] gilt nichts, wenn es bloß nebensächlich ist, wenn nichts drin steckt. Steckt aber was drin, dann ist es die Hauptsache, denn es gibt einem dann immer das eigentlich Menschliche.” (SR 4, 360) Das war es für Fontane wohl nicht, aber es ist unübersehbar bzw. -hörbar, wie Natur und Kultur17 – wie gesagt: von außen her – bis auf Körperhaltung, Atmung, Nerven, aber nicht weiter, ein Triebgeschehen kommunizieren, das ansonsten keine (verbale) Sprache findet: “[…] dabei war es, als ob hundert Geheimnisse sprächen” (SR 2, 82), heißt es bezeichnenderweise, und dabei ist jedes Wort als emphatisch-bedeutsam zu verstehen. Im Bildungszitat aus Goethes Wahlverwandtschaften, “Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen […]” (MA 9, 457; vgl. SR 2, 83), verbirgt sich der Exotismus des Unausgesprochenen und enthüllt zugleich die diskursive Leerstelle. Körper und Dinge (dazu zählen auch Kleider- und Körperöffnungen) kommunizieren eigenmächtig, mehr als es Sprache und Bewusstsein erlauben. Das bürgerliche Individuum beginnt, so Freud, die Herrschaft, die Diskursmacht, “im eigenen Haus” (GW 11: 295 u. GW 12: 11) zu verlieren. Fontane, der sich schon früh mit dem Motiv des Treibhauses befasst hatte, musste den Sachverhalt förmlich “ausschwitzen”, ja die gesamte Novelle ist ein Treibhaus, das die verbal charakterisierten Figuren in ihrer Sinnlichkeit bloßstellt, und Fontanes dialektisch-anspielungsreiche Sprachkunst (Verhüllung/Enthüllung) – die er auch persönlich pflegte – ist gerade aus dieser Perspektive zu würdigen. Die Adultera-Verfilmung durch Thomas Langhoff (Regie) aus dem Jahr 1982 bildet Fontanes Vorlage relativ werktreu nach.18 Melanie in einem hochgeschlossenen, langen weißen Teekleid – das modisch über die 70er Jahre hinausweist19 – zeigt, kaum in der Teibhauskuppel angelangt, Hitzewallungen, worauf sie und Rubehn überraschend rasch zur Sache kommen und in die Horizontale gleiten, so beengt diese auch erscheinen mag. Entsprechend der diskreten Vorlage wird keine Enthüllung vorgeführt, vielmehr wird der anthropologisch erwartbare Liebesakt – durch Kameraschwenk – mit Palmblättern verhüllt. In der aktualisierenden Verfilmung des Adultera-Stoffes durch Dagmar Damek (Buch und Regie) aus dem Jahr 1990 – die Handlung spielt wohl ein Jahrzehnt früher – wird das Treibhaus-Motiv nicht mehr so realisiert wie bei Fontane und Langhoff.20 Gewiss gibt es Gewächshäuser auf dem Grundstück Felix (sic) van der Straatens, sie dienen vor ihrer eigentlichen bzw. nach ihrer früheren Bestimmung (die Pflanzen sind in den Hintergrund gerückt) als zeitgeistiges Kunstatelier und als Partyraum, aber auch als “Liebesnest” (mit Diwan am Boden). Die Heldin besitzt als moderne Frau eine relative Bewegungsfreiheit in Raum und Zeit, die damit auch nicht auf einen einzigen (wahrhaft) “prägnanten Moment” fixiert erscheint. Sexuelle Peinlichkeiten, etwa nach Art der hitzig-schlüpfrigen Treibhausszene bei Fontane, bleiben ausgespart; erotische Körperkontakte werden über die räumliche Nähe des Gastes und Alltagspraktiken motiviert, wie z.B. dem Öffnen von Reißverschlüssen oder einer Demaskierung – bei einem Faschingsfest zeigt sich Melanie zunächst signifikant verhüllt.21 Klaus H. Kiefer 264 4 Das “philosophische Bordell” Pablo Picassos Les Demoiselles d’Avignon (1907) trug zunächst den Arbeitstitel “Bordel philosophique” (Rubin 1994: 17ff.), auch wenn sich der Namensgeber, angeblich Guillaume Apollinaire, hinsichtlich der Kombination von Sexualität und Philosophie nicht so viele Gedanken gemacht haben dürfte22 wie die späteren Interpreten dieses Schlüsselwerks des 20. Jahrhunderts. Ob der junge Picasso tatsächlich in der Carrer d’Avinyó seiner Heimatstadt Barcelona ein Freudenhaus besucht (oder nur Pinsel und Farben gekauft) hat, ist strittig – es geht aber wohlgemerkt weder um das Factum noch um die Frequenz seiner sexuellen Aktivitäten, sondern nur um den Orts- bzw. Straßennamen. Dieser war ohnehin sprechend, denn Avignon galt dank seiner päpstlichen Vorgeschichte gewissermaßen als Sündenbabel des Midi – die zölibatären Kleriker mussten ja erotisch entsorgt werden –, und entsprechende Redewendungen mit “Avignon” lassen keinen Zweifel, dass selbst unter dem späteren Decknamen “demoiselles” eigentlich “des filles” gemeint waren und sind. Warum und wie aber wird aus einer biographischen Anekdote ein Kunstwerk? Hier nur einige Aspekte der so komplexen wie breit dokumentierten Entstehungsgeschichte (Seckel 1988). Die Figur eines jungen Mannes, der von links mit einem Totenschädel in der Hand, in anderen Skizzen und Entwürfen mit einem Buch, das Etablissement betritt, gilt einer späteren Aussage Picassos zufolge als Medizinstudent; dieser besitzt aber auch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Künstler selber. Allerdings wandelt er sich in späteren Skizzen und Entwürfen zur weiblichen Figur. Auch ein Matrose, der zunächst im Zentrum des Bildes saß, wird zur Frau – weitere Metamorphosen, auch des Mobiliars, lasse ich beiseite –, so dass in der Endfassung fünf mehr oder weniger bekleidete – und vom Typ her ziemlich gleichartige – Frauenfiguren die Bildfläche einnehmen. William Rubin zufolge ist damit die narrative Konzeption zugunsten einer “ikonischen” aufgegeben. Rubin (1984: 260) selber setzt “ikonisch” in Anführungszeichen; er meint damit, dass Picasso die Spannung zwischen den Geschlechterrollen, d.h. den Freiern und den Huren, und auch die zwischen den beiden unterschiedlichen Männern, dem Debütanten und dem Insider, aus dem Bild herausgenommen hat. Während die beiden Männer, solange sie in den Vorarbeiten präsent waren, voll bekleidet waren – der angebliche Student trägt merkwürdigerweise einen Business-Anzug, der Matrose einen Pullover mit V-Ausschnitt (Steinberg 1988: 40) –, ist die Arbeitskleidung der “demoiselles” eher leicht. Die Nacktheit der fünf Akte unterscheidet sich jedoch graduell, und sie liegt im übrigen fernab pornographischer Konnotationen, wenn man eines ihrer möglichen “Vor-Bilder”, z.B. Ingres’ Türkisches Bad, vergleicht. Die von links eintretende Figur – das Bild ist von links nach rechts zu “lesen”23 – ist mehr bekleidet, als die zweite und dritte, ja man könnte zwischen Nr. 2 und 3 insofern einen Fortschritt der Entkleidung feststellen, als Nr. 2 ein Gewand noch mit einer Hand festhält, die zentrale Figur Nr. 3 hingegen sich mit beiden lasziv erhobenen Armen noch weiter entblößt und anbietet. Sowohl die eintretende Figur als auch die beiden “Randfiguren” rechts zeigen sich allerdings “maskiert”, wobei diese beiden, die stehende wie die hockende, ansonsten völlig nackt sind. Doch handelt es sich bei den paar Tuchzipfeln überhaupt um Kleidung? Das Interieur des Bordells ist in der Endfassung völlig verschwunden und die genannten Stoffreste gehen mit dem Hintergrund eine textile Verbindung ein: Die Leinwand wirkt wie zerknittert, und aus diesen “Kuben” treten die Figuren samt Falten ihrer spärlichen Bekleidung hervor – womit ich allerdings nicht das Thema “Kubismus” anschneiden will (Green 2001: 9). Interessanterweise taucht die sehr unnatürlich wirkende linke Hand der Eintretenden schon in frühsten Skizzen, etwa bei dem “Mit dem Gürtel, mit dem Schleier …” 265 sog. Medizinstudenten auf; sie schiebt einen Vorhang beiseite. Dieser Vorhang, der ursprünglich die Bordellszene eröffnete, ist nunmehr die Leinwand selber. Zwar schaut auch die am rechten Rand stehende Figur aus einem Raum hinter den Kulissen durch eine Art Vorhangsspalte (ihre beiden Arme bleiben hinter dem Tuch) auf das Bühnengeschehen; letztendlich wirkt aber auch diese ursprüngliche “Tiefendimension” Carl Einstein zufolge (Kiefer 1994: 134ff.) wie auf die Leinwand projiziert. Alle Körper und Dinge (die Fruchtschale unten Mitte) erscheinen von einer Grundfläche aus nach vorne gekippt.24 Picasso hat nachweislich nach dem Besuch einer Afrika-Ausstellung im Trocadéro, dem heutigen Musée de l’Homme, Juni 1907, drei seiner Figuren “maskiert”. Die afrikanischen Masken – Picasso versieht sie mit iberischen und ozeanischen Einschlägen – interessierten ihn nicht nur aus formalen Gründen. Den Ausstellungsobjekten war durch Beschriftung eine heilende, ja exorzistische Funktion zugesprochen worden, wurden sie doch bei Heilungsritualen – auch bei Geschlechtskrankheiten – eingesetzt (Rubin 1984: 262ff.). Kein Wunder, dass der ins Bordell getriebene junge Mann Picasso, der zugleich – und zeitlebens – von einer ständigen Angst vor Ansteckung und Tod besessen war,25 in seinem Werk so etwas wie eine “toile d’exorcisme” sah, wie er gegenüber André Malraux (zit. 1974: 19) bekennt. Notwendigerweise ist in der Endfassung der “Demoiselles” das (konventionelle) memento mori-Motiv des Totenschädels, den – wie schon bemerkt – der Medizinstudent in den frühen Entwürfen trägt, verschwunden. Analog zu den Stammesmasken wird das gesamte Bild zur “chose magique” (zit. Malraux 1974: 18), zum Fetisch. Gegenüber Rubin und Steinberg26 möchte ich eine weitere mögliche Bild-Lektüre behaupten: Letzterer vor allem betont die Dissoziation der Figuren untereinander, obwohl er Reste von Handlung, die ja Kontinuität bedeutet, erkennt und bei anderen Picasso-Akten die Komplementarität zweier gegenüberstehender Figuren27 als zu einer einzigen verschmolzen denkt. Vor dem Hintergrund der chronophotographischen Experimente Eadweard Muybridges, die nicht nur futuristische “Bewegungsbilder”, sondern auch z.B. Marcel Duchamps Nu descendant un escalier inspirierten,28 kann man die Demoiselles d’Avignon nach Art eines “filmscripts”29 wahrnehmen, sie gleichsam als “comic strip” lesen: mit einer “bewegten” Frau. Die Handlung ist ja seit den frühsten Entwürfen zwischen Introitus (links) und Coitus (rechts) eingespannt, in der Endfassung freilich ohne ersichtlichen Partner; die Position der Hockenden signalisiert aber eindeutig Paarung. Ohne Zweifel ist der abwesende Partner der (männliche) Bildbetrachter selbst, der in den Striptease der Darstellung hineingezogen wird, wie es Lucinda Jarret (1999: 8) beschreibt: “Beim erotischen Tanz und beim Striptease entsteht eine gewisse Intimität zwischen Darstellerin und Publikum: Jeder Zuschauer soll das Gefühl haben, dass der Auftritt nur für ihn allein bestimmt ist und dass die Darstellerin seine Phantasien auslebt.” Die “Masken” halten jedoch auch der Betrachterin einen Spiegel vor: In der Maskierung enthüllt sich die weibliche Sexualität überhaupt als afrikanisch-wild, ja bedrohlich, mit dem kunstgeschichtlich einschlägigen (neutralen) Begriff: als primitiv – ein Primitivismus, der das zeitgenössische Publikum beiderlei Geschlechts schockiert und zugleich fasziniert, wenn es im unausweichlichen Blickkontakt mit den Demoiselles der nackten Tatsache ins Auge schaut. Nicht nur steigert sich die Entkleidung von links nach rechts, sondern die zunächst diagonal aufsteigende Handlungskurve kulminiert paradoxerweise im “horizontalen Höhepunkt” rechts unten; sämtliche Oberkörper der weiblichen Figuren verharren jenseits einer vertikalen Linie, die etwa das obere Drittel des Bildes abtrennt. Der Unterleib zeigt sich im unteren Drittel. Der Begriff der Maske bedarf einer zusätzlichen Erläuterung: Natürlich ist der gesamte Kopf der Eintretenden wie auch der am rechten Rand Stehenden “afrikanisch” ge- Klaus H. Kiefer 266 staltet, und nur die Hockende hält sich – etwas deutlicher erkennbar – eine Maske vor, d.h. die Maskerade wird eigentlich annulliert; eher ist die Mimik selber maskenhaft, besser: zeichenhaft. Eine einfache Deutung könnte das Minenspiel als “Erröten” der erotischen Debütantin und derjenigen Frau interpretieren, die sich selber beim Liebesspiel beobachtet. Steht sie nur zufälligerweise über dem Haupt der Hockenden wie ihr “Über-Ich” und schlägt sie nicht (fast) die Hände vor Erstaunen über dem Kopf zusammen? Eine solche Spaltung (Mallet 1990: 148ff.) taucht wenn nicht oft im Alltag, so doch in etlichen “Kinder- und Hausmärchen” der Brüder Grimm, etwa dem Räuberbräutigam, auf (1996: Bd. 1, 210). 5 Zeichen und Fetisch Ganz im Sinne von Carl Einsteins “Ethnologie du Blanc” (zit. Kospoth 1931: 5)30 entlarven Picassos Demoiselles d’Avignon die Moderne in ihrem – bei Schiller und bei Fontane mehr oder weniger verdrängten – Primitivismus; Fontane hatte bereits zur exotistischen Motivierung gegriffen, doch der (literaturwissenschaftliche) Begriff des Motivs sagt nicht alles. War bei Schiller die Entblößung des weiblichen Körpers in Rhetorik und Ritual verborgen, bei Fontane die Triebdynamik architektonisch und modisch eingekleidet, so bietet Picasso, den “dark continent” weiblicher Sexualität – wie ihn Freud (StA-Ergbd., 303) nicht zufällig (primitivistisch) nennt – maskiert und nackt zugleich. Für Leo Steinberg (1988: 55) ist hier das Bordell das “hothouse”, das die Wahrheit heraustreibt; er nennt es auch – fast wie in Anspielung auf Fontane – “caged jungle”. In unterschiedlicher Weise, aber vergleichbar, ist diese Entblößung in allen drei Fallbeispielen zeichenhaft. Man fragt sich allerdings nicht nur, wie kommen diese Zeichen zustande, sondern auch, wie bringen sie das zuwege, was man als Handlung im literarischen bzw. plastischen Kunstwerk erkennt. Zeichenbildung und Zeichenwirkung werden bislang kaum in einer fungiblen Theorie zusammengefasst. Bislang war die Semiotik vorwiegend repräsentationistisch orientiert (Nöth 2000: 162ff.), und eine neuere Arbeit, die Hartmut Böhmes (2006: 321 u.ö.), die diese Konzeption überwindet, fasst jene auch noch in dieser Weise auf. Was zur pragmatischen Dimension der Semiotik gehört, wurde akzidentiell behandelt. Begriffe wie “Ideologie” spielten dabei eine Rolle, oder es wurde die Raumstruktur Venedigs etwa bei Schillers Geisterseher oder Thomas Manns Todes-Novelle für die mysteriöse Handlung mit-verantwortlich gemacht (Kiefer 2004: 258). Zeichen als Agenzien (von “Agens”) oder Pragmeme (analog zu “Phonem”, “Semem” etc.) – so mein terminologischer Vorschlag – wurden kaum klassifiziert. Damit aber wäre die Semiotik nach dem Wunsch Ferdinand de Saussures (1976: 33) endlich “au sein de la vie sociale” angekommen. Die Sprechakt-Theorie hat immerhin erkannt, dass keine Sprechhandlung gelingt, wenn nicht die Macht einer “Institution” hinter ihr steht (Searle 1976: 51f.), wobei der Gebrauch von Zeichen im Unterschied zum instinktive Reaktionen auslösenden Signal (bei Tieren) stets einen Spielraum lässt. In diesem Sinne bewirkt das Hochzeitsritual bei Schiller die Handlungsfolge, im American Wedding heute noch durch das “You may kiss the bride”, das ein Heben des Schleiers erfordert, in zahlreichen Filmschmonzetten verewigt.31 Machtausübung bedient sich in der Regel der Gewalt, die Worte in das Register der Dinge und der Körper übersetzt. Diese wiederum nötigen nicht nur zur Einsicht, sie verhindern sie auch. Der Schleier ist nicht nur “visibler Träger des Invisiblen” (Endres 2005a: VIII), sondern er fordert zugleich auch Aktion: entweder Respekt oder Entschleierung – aus welchem Grund und zu “Mit dem Gürtel, mit dem Schleier …” 267 welchem Zweck auch immer. Indessen hat, um noch einmal Johannes Endres (2005b: 3) zu zitieren, “die europäische Aufklärung im Schleier einen ihrer größten Opponenten gesehen.” Ohne Zweifel kann der Schleier als Fetisch, als magisches Dingzeichen,32 verstanden werden, er besitzt exemplarisch – und daher habe ich ihn ja bei Schiller aufgegriffen (und “abgerissen”) – eine synekdotische wie eine performative Struktur.33 Er ist ein artefaktisches Zeichen, dem ein – wie schon Alfred Binet (1887: 143) erkannte – “pouvoir mystérieux” innewohnt. Er ist also Zeichen und Agens zugleich: eben ein Pragmem. Die Frage stellt sich, ob ein ideologisch belasteter Begriff wie “Fetisch” eine theoretische Generalisierung aushält, die soweit geht, dass sie für jedes Zeichen gilt, das repräsentiert, kommuniziert und wirkt. Jean Pouillon (1970: 147) kommt auf anderen Wegen zu der Einsicht: “Le fétiche d’un côté, le mot abstrait de l’autre déterminent le champ symbolique; ils font partie du même système qu’ils fondent ensemble.” Nicht selten geraten solche Verallgemeinerungen freilich zu Allgemeinplätzen wie bei Binet (1887: 144), demzufolge “tout le monde est plus ou moins fétichiste en amour”, oder bei Freud (1992: 15), demzufolge alle Frauen “Kleiderfetischisten” sind.34 Der Fetischismus thematisiert ein Kräfteverhältnis. Den Zaubertrank im Leibe sieht Faust Helenen “in jedem Weibe” (MA 6.1, 608, V. 2604), und ich habe mich schon immer gefragt, wie wohl Kants kategorischer Imperativ eigentlich, d.h. praktisch, funktionieren soll.35 Doch wie ist dieser Ersatz des “Ganzen” durch ein Partialobjekt in ihrer (dialektischen) Wechselwirkung semiotisch zu vermitteln?36 Das Zeichen kann aus dem “dynamischen Objekt” – mit Charles Sanders Peirce zu sprechen – nie das “Ganze” herausholen; es begnügt sich prinzipiell, wenn auch immer vorläufig, mit einer Substitution, was nicht hindert, dass sich der Zeichenbenutzer bzw. der Fetischist einer ganzheitlichen Illusion hingibt. Pouillon (1970: 137) bezeichnet den Fetischismus als “la négation de l’écart entre l’objet et ce dont il est le véhicule”, d.h. der Fetischist ist im Grunde ein religiöser Typ (Kohl 2003: 155f.), er glaubt an die Konvention zwischen Signifikant und Signifikat und handelt danach. Ein Künstler wie Picasso oder ein “post-konventioneller” Glaubensstifter37 hingegen kann dieses Verhältnis umkehren, der Wissenschaftler kann es analysieren – stets unter der Gefahr, die Freud (1992: 13) bei einem Patienten erkannt hat, der “spekulativer Philosoph” geworden war: “Es hat sich […] auf intellektuellen Gebiet etwas ähnliches […] vollzogen wie auf erotischem Gebiet: er hat sein Interesse von den Dingen weg auf die Worte gewendet, die ja gewissermaßen die Kleider der Begriffe sind u. das erklärt sein Interesse für die Philosophie.” Das o.g. Kräfteverhältnis lässt sich ermitteln, wenn man alle Zeichen als “indexalisch” codiert versteht, wenn man also nicht wie Peirce aus dem Index (oder mit einem anderen Terminus: dem Symptom) eine autonome Zeichenklasse macht. Ich folge Peirce (1960: 170 = CP 2.305) jedoch in der Definition des Index: “in dynamical (including spatial) connection both with the individual object, on the one hand, and with the senses or memory of the person for whom it serves as a sign, on the other hand”.38 Das seit Urzeiten kulturell eingespielte Verhältnis des Index “Rauch” für das Objekt “Feuer”, das das quid pro aliquo setzt, bietet das semiotische Standardbeispiel. Das Kausalverhältnis ist jedoch nur ein Sonderfall. Es gibt zahllose natürliche Fälle – und auch die Naturwissenschaft bleibt ja nicht stehen. Agenzien können neben Naturgesetzen sein: Glaubenswahrheiten, Triebe, Rituale, Sitten und Gebräuche, Trends, Erziehungsmaßnahmen, Werte und Normen,39 aber auch Körper und Dinge, denen allesamt “Handlungsschemata” (Böhme 2006: 82) inkorporiert sind. Das Zeichen als Pragmem ist also die Handlung oder zumindest die Einstellung (kognitiv, affektiv, appreziativ), die als Interpretant ausgebildet wird.40 Ähnliches meint wohl auch Wittgenstein (1969: 311), wenn er die Bedeutung als Gebrauch versteht. Klaus H. Kiefer 268 Macht der Begriff des Rituals bei Schiller plausibel, dass das Schleier-Zeichen ein Fetisch ist, und leuchtet wohl auch ein, dass Picassos Werk selber einen Fetisch darstellt, so hat es der “realistische” Roman ungleich schwerer, Wirkungsverhältnisse zu konstruieren, die in der zivilisierten Gesellschaft tabuisiert, ja vor Freud auch noch gar nicht erforscht waren. Stattdessen werden Goethes “Wahlverwandtschaften” bildungsbeflissen zitiert, um die primitiven – inclusive fetischistischen – “Gesinnungen” von “Mohren” (MA 9, 457) außen vor zu halten. Van der Straaten freilich ist ein heimlicher Fetischist; er sammelt Kopien statt Originale, pflegt im kühlen Berlin (oder lässt pflegen) exotische Gärten, und er hat sich auch seine (jüngere, adlige, französische, kurzum: “märchenhafte”) Frau aus ähnlichen Gründen zugelegt. Mit Mühe – da Melanie keine Kunst-, sondern (aktive) Musikliebhaberin ist – versucht er sie auf seine Bildkopien, man kann auch sagen: seinen Lebensentwurf, seinen Fetischismus – umzukodieren, aber das “Treibhaus” ist stärker, sobald sich die Gelegenheit bietet. Van Straatens “Spiel” mit des “Feuers Macht”, um Dagmar Dameks Filmtitel mit einem anderen bekannten Glocken-Vers zu komponieren (SW 1, V. 156), misslingt. Natürlich ist das Treibhaus, wie gesagt, zunächst nur ein kleiner van Straatenscher Privatfetisch, es ist aber auch ein Zeichengebilde, das repräsentiert, was die Figuren im Inneren treibt, und das als Katalysator ihren Kontrollverlust bewirkt. Es ist Medium, Mittel und Interpretant der – an sich unwahrscheinlichen – Entblößung, denn kein Ritual gibt sie vor, ja sie verstößt gegen jede gute Sitte, auf die Melanie ja ansonsten größten Wert legt. Diesbezüglich schafft Picasso eine tabula rasa. Die “Dialektik der Aufklärung” bleibt jedoch nicht stehen, was ihr (Mit-)Erfinder Theodor W. Adorno am eigenen Leib zu spüren bekam, als eine Gruppe von Studentinnen den tausendjährigen Muff unter den Talaren entlarvten, indem sie sich selbst enthüllten. um den schon genannten Dialektiker, schlicht genannt: Teddy (auch er selber nannte sich so), an der Ausübung seines “Denkgeschäftes” (Gernhardt 2000: 55–61, V. 94) zu hindern. Drei Studentinnen entblößten im Hörsaal ihren Busen und umtanzten flowerpower-blütenstreuend den prominenten Prof, der sich die Aktentasche vors Gesicht hielt und fluchtartig den Raum verließ. Robert Gernhardt (2001: Spur 10) hat dieses “Busenattentat” – der Begriff ist historisch verbürgt (Stelzer 2005) – nach Art einer Max-und-Moritz-Moritat besungen. Fatalerweise ist Adorno wenige Wochen nach diesem Mißbrauch einem Herzinfarkt erlegen, 66-jährig. Er hatte es nicht verwunden, als alter Mann – wenn auch renommierter “Fraunaufreißer” (Gernhardt 2000: V. 71) – und Reaktionär bloßgestellt zu werden. Letzteres war er wohl nicht, obwohl in den Augen der Studenten/innen damals schon als reaktionär galt, wer berühmt war oder zumindest Vorlesungen hielt. 6 Literatur Abgekürzt zitierte Literatur CP = GW KSA = = MA = Charles Sanders Peirce: Collected Papers, hg. v. Charles Hartshorne & Paul Weiß, Cambrige/Mass.: The Belknap Press of Harvard UP 1960, Bd. 2: Elements of Logic Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, London: Imago 1940–1952 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. 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Der Gürtel entfaltet aber auch magische Wirkungen (Harmening 2005: 187f.). Offenbar bedarf es eines Rituals, um die Transgression der Ordnung vom ethischen Tabu zur ehelichen Pflicht zu sanktionieren. Zur Funktion von Kleidung und Mode allgemein s. Bovenschen 1986. 272 Klaus H. Kiefer 2 So auf dem Münchner Nockherberg 2007 als satirischer Angriff auf die derzeitige Familienministerin Ursula von der Leyen; Quelle: www.merkur-online.de: Singspiel: Die besten Sprüche: “Geh ich abends leise durch die Kinderzimmer / spür ich, wie es mich erfüllt / glücklich bin ich jetzt und immer / wenn die Windel überquillt.” (3. April 2007). 3 Die hochzeitliche Urszene wurde aller Wahrscheinlichkeit nach auch bei allen zeitgenössischen “tableaux vivants” der Glocke ausgespart (Segebrecht 2005: 49). 4 In Wilhelm Raabes Chronik der Sperlingsgasse weniger mit erotischen Akzenten, denn mit Erfahrungswerten der “Ehehölle”: “[…] der Oberlehrer Besenmeier hat Fräulein Julie Frey geheiratet und steht – ‘mit dem Gürtel, mit dem Schleier reißt der schöne Wahn entzwei’ – fürchterlich unter dem Pantoffel” (1981: 142). 5 Das Thema “Unterwäsche” bzw. “Dessous” findet mehr und mehr wissenschaftliche und auch museale Berücksichtigung, weil es mit dem Thema der Emanzipation gekoppelt ist; vgl. die beiden Ausstellungen des Rheinischen Industriemuseums Dessous. 150 Jahre Kulturgeschichte der Unterwäsche sowie Kleider & Körper seit 1850, 15. Oktober 2006–20. Mai 2007. 6 Vgl. dagegen Denis Diderots Les Bijoux indiscrets. Leibliche Konnotationen entfaltet in Schillers Gedicht allenfalls die Vereinigung des “Spröde[n] mit dem Weichen” (SW 1, 432, V. 86). 7 Im restringierten Code von Ignaz Franz Castellis (1979, ca. 1840) Männerphantasie, aber immerhin, reagiert das Geschlechtswesen Frau in der Sauglocke mit Seufzen, Stöhnen und Zittern. Die neuere Zeit kennt auch genderbewußte Parodien der Glocke von Autorinnen (Segebrecht 2005: 141). 8 Schillers philosophische Ballade Das verschleierte Bildnis zu Sais (SW 1, 224–226) wäre komplexer als die beiden Glocken-Verse, die allerdings sich ihrer brutalen brevitas als Einleitungsbeispiel eignen. Ein Motivvergleich ist hier nicht beabsichtigt; zum epistemologischen Sais-Gedicht vgl. Endres 2003: 39ff. 9 Der Ausdruck (griech. pleroma) hat religiöse Ursprünge und Konnotationen, die ich hier aber nicht übernehme, sondern es geht zum einen um “Fülle” als semiotischen “Quellgrund”, wo sich Zeichen bilden und zu wirken beginnen, d.h. um das “dynamische” Objekt (Nagl 1992: 38f. in Auseinandersetzung mit Jacques Derrida); zum anderen beziehe ich mich auf Schillers mit der Antike konnotierten Begriff “Lebensfülle” (Die Götter Griechenlands, SW 1, 163 u. 169, V. 11). 10 Vgl. Schiller: Die Götter Griechenlands [1800]: “der Dichtung zauberische Hülle” (SW 1, 169–173, V. 9), durchaus eine hellsichtige Verbesserung gegenüber der Erstfassung [1788]: “der Dichtung malerische Hülle” (SW 1, 163–169, V. 9). Allgemein s. Landfester 1995 u. bes. Janssen 2000: 66. 11 Zur Diskussion der Ikonizität s. Nöth 2000: 193ff. u. 471ff. sowie Kiefer 2007a. Überraschenderweise hat Kanzog (2001: 112f. u. 2007) mehrfach die Übertragung von Begriffen wie Metapher, Metonymie, Synekdoche etc. auf die Filmrhetorik zurückgewiesen. 12 Abraham & Kepser (2006: 82) erklären diese literarästhetische Konzeption allerdings für überwunden. 13 Auch das van Straatensche Treibhaus war nur eine kleinere Kopie (SR 2, 81) der englischen Vorbilder (Kew Gardens). Daß es als “altmodisch” (SR 2, 76) bezeichnet wird, weist auf den Archaismus dessen, was in ihm passiert. Ein weiteres “Treibhaus” besucht man in Stralau (SR 2, 57). 14 Gegen Grawe (2002: 205) meine ich, dass die Treibhausszene keineswegs “ins Kitschige” entglitten ist, sondern eine lustvolle Komik aufweist: wie sich zwei der Etiquette durchaus verpflichtete Menschen näher kommen (“an die Wäsche gehen”). Gerade bei Melanie ist der Triebschub beachtlich. 15 Fontanes “Ehebriefwechsel” ist unergiebig. – Neben meiner editionsphilologischen Beschäftigung mit der Mode des Directoire (Kiefer 1988 u. 2004), die, interpretatorisch fruchtbar, ein Licht auf Goethes Revolutionsrezeption warf, hat mich vor allem eine Ausstellung im Museum of Costume in Bath (UK) auf die Semiotik von Körper und Kleidung aufmerksam gemacht: Jane Austen – Film and Fashion, Kat. hg. v. Heritage Services Division of Bath & North East Somerset Council, 2004. 16 Dieses pikanten Details war sich der Erzähler bewußt, so dass das bei Fahrradfahren verrutschte Kleid Heths (SR 2, 76) als eine unmittelbare Vorausdeutung auf die Kleidung der Mutter verstanden werden muss; vgl. auch Fontanes obszönes Gedicht “In Sachen der Radlerinnen” (SR 6, 550). Die Kinderkleidung wird authentisch gezeigt in Langhoffs Adultera-Verfilmung (s.u.). Natürlich kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden, welche Unterwäsche Melanie van der Straaten getragen hat. In den 70er Jahren (des 19. Jahrhunderts) bahnt sich jedenfalls ein Umbruch – dem der späte Fontane wohl entrückt war – erst allmählich an (Saint-Laurent 1986: 103ff.) 17 Die Natur “spricht” bzw. läßt Worte “fließen”, so schon bei der Flussfahrt, Kap. 10; das Treibhaus entfaltet eine wirkungsvolle Dynamik von Natur und Kultur. 18 Eine Leihkopie des Melanie van der Straaten betitelten Films ist über das Deutsche Rundfunkarchiv Babelsberg erhältlich. Der L’Adultera (schwed. Original: Beröringen) betitelte Film Ingmar Bergmanns aus dem Jahr 1971 “Mit dem Gürtel, mit dem Schleier …” 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 273 hat – soweit aus Inhaltsangaben erschließbar (der Film war mir nicht zugänglich) – nur hinsichtlich der zentralen Personenkonstellation Ähnlichkeiten mit dem Fontane-Text. Vgl. Loschek 1999: 451. Man wird sich Melanie “altmodischer”, eher wie ihr Urbild Therese Ravené oder Effis Urbild Elisabeth von Ardenne vorzustellen haben; s. die Abb. in: Wagner-Simon 1992 bzw. Franke 1994. Dagmar Damek (Buch und Regie): Spiel mit dem Feuer, München: Infa-Film 1990, ausgestrahlt im Bayerischen Rundfunk, 88 Min. Für die Zusendung einer VHS-Kopie danke ich Konstantin Schirk von der Infafilm GmbH. Sie trägt das glockenförmige Drahtgestell einer altmodischen Krinoline. Daß Melanie van der Straaten bei öffentlichen Auftritten noch einen solchen mit Stahlbändern armierten Unterrock getragen hat, etwa in Form einer Turnüre o.ä., ist wahrscheinlich (Loschek 1999: 72f., 229f., 460). Guillaume Apollinaire, der auch Verfasser pornographischer Schriften (Les onze mille verges ou les amours d’un Hospodar – Picasso besaß das Originalmanuskript) und zudem de Sade-Kenner war, spielt vermutlich auf de Sades Philosophie dans le boudoir an. Das Sadesche “boudoir” kann im 18. Jahrhundert als Synomym zu “bordel” verstanden werden (Adriani 2005). Die “Lektüre” von links nach rechts entspricht dem Zulaufen auf einen Höhepunkt; s. mit Berufung auf Heinrich Wölfflin Clausberg 1999: 4. Zu den von Getrude Stein Picasso nahegebrachten Kippbildern als kubistische Bildinspiration Teuber 1982: 27f. u. 39. Geschlechtskrankheiten bedeuteten in Picassos jungen Jahren noch den sicheren Tod. Ebenso gegen Herding (1992: 11), der nur die “handlungslose Schaustellung einer unzusammenhängenden Figurenversammlung” erkennt. Vgl. Picasso: Deux Femmes nues, Paris Herbst 1906 ebenfalls mit dem “revelatorischen” Griff der einen Figur in einen “Vorhang”, Abb. in: Rubin 1994: 43. Vgl. Eadweard Muybridge: Animal Locomotion [1887], Schwarz/Weiß-Photographie, Abb. in: Hulton 1986: 51 u. Marcel Duchamp: Nude Descending a Staircase no. 2 [1912], Öl auf Leinwand, Abb. in: Hulton 1986: 281; s. dazu auch Kiefer 2003a. Steinberg (1988: 52) lehnt dieses Verfahren ab, vgl. auch Dalyremple Henderson 1983: 79. Aus der Perspektive dieser “Ethonologie du Blanc” verliert die antikolonialistische Kritik am Fetisch-Begriff, etwa seitens Marcel Mauss’ oder Claude Lévi-Strauss’, ihren Anhaltspunkt. Auch in diesem Fall entlarvt ein Cartoon den archaischen Gewaltakt: Der Schamane vor dem steinzeitlichen Paar, der Bräutigam mit Keule angetreten: “Congratulations, you’re now man and wife. You may club the bride.” (http://www.cartoonstock.com/directory/y/you_may_kiss_the_bride.asp; 11. April 2007). Das gilt auch für die muslimische Verschleierung, die mittels Kopftuch den weiblichen Haarzauber bannt und Scham erzeugt; das Kopftuch ist demnach kein “Dessous”, sondern ein “Dessus”. In dieser stillschweigenden Anleihe bei der Sprechakttheorie sind sich Endres (2003: 2) und Böhme (2006: 190) einig. Freuds Erklärung des Fetichismus durch den angeblichen “Penisneid” der Frau ist so wahnwitzig, daß sie nur durch das Bonmot des “Stadtneurotikers” Woody Allen entlarvt zu werden verdient, er – im Film heißt er Alvy Singer (genannt: Allen) – sei wohl der einzige Mann, der darunter leide. Habe ich in diesem Zusammenhang (Kiefer 2004: 37f.) auf einen versteckten Animismus Kants hingewiesen, so könnte ich jetzt mit Böhme (2006: 188) von einem wirksamen “magischen Milieu” sprechen, das sein Postulat realisiert. Vgl. “Ganzes/Teil” (versch. Verf.), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, in Verb. m. Guenther Bien u.a. hg. v. Joachim Ritter, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974, Bd. 3, 3–20. Ich greife hier einen Begriff von Kohlberg 1995 auf, dessen Konzeption ich ansonsten nicht teile. Zur Wichtigkeit des Index-Begriffes Short 2004: 222f. Zu meiner Wertetheorie s. Kiefer 2007b. Der Interpretant repräsentiert also nicht nur einfach das Zeichen auf eine andere Weise, sondern er bewirkt etwas; vgl. Nöth 2000: 64 u. dagegen Eco 1972: 77.