Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten
Transcription
Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten
Integration durch Partizipation argumente 2 Integration durch Partizipation Interkulturelle Ansätze im Jugendschutz argumente 2 Integration durch Partizipation Interkulturelle Ansätze im Jugendschutz Die vorliegende Publikation wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Bei den Beiträgen handelt es sich um die Vorträge, die im Rahmen der Fachtagung »Integration durch Partizipation. Interkulturelle Ansätze im Jugendschutz« am 3. Dezember 2002 in Hannover gehalten wurden. Die Veranstaltung wurde von der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e.V. und der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen durchgeführt. Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e.V. Mühlendamm 3, 10178 Berlin www.bag-jugendschutz.de Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen Leisewitzstr. 26, 30175 Hannover www.jugendschutz-niedersachsen.de Druck: Druckcenter Meckenheim Berlin 2003 Inhalt Begrüßung Prof. Dr. Bruno W. Nikles..................................................................................5 Integration auch durch Sprache Andrea Urban ...................................................................................................8 »Deutsch – türkisch?« Lebenspraxis und Identität von Kindern und Jugendlichen in der multikulturellen Gesellschaft Elly Geiger ...................................................................................................... 12 Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Prof. Dr. Richard Münchmeier ........................................................................28 Sprachenvielfalt durch Zuwanderung – ein verschenkter Reichtum Prof. Dr. Ingrid Gogolin ..................................................................................48 Gefährdung durch gute Absichten Prof. Dr. Franz Hamburger.............................................................................. 61 Anti-Aggressionskurse mit Jugendlichen aus dem Herkunftsland Türkei Dr. Ahmet Toprak ...........................................................................................64 Sex ohne Grenzen? Praxis einer interkulturellen Sexualpädagogik Olaf Jantz & Hatice Krischer............................................................................79 Integration durch Partizipation Verwaltung des Elends oder Verbesserung der Situation? Willy Eßmann .................................................................................................87 Kompetent für Courage! Anregungen für die Arbeit mit Jugendlichen zum Thema Rechtsextremismus Kerstin Brockamp...........................................................................................97 Herkunft Ankunft Zukunft Internet-Workshop mit Aussiedlerjugendlichen aus Russland und Kasachstan Yvonne Fietz................................................................................................. 104 Gesucht – Gefunden Medien für die praktische Arbeit Eva Hanel .................................................................................................... 109 Vergessen Sie Integration! Peter Grünheid & Markus Kissling.................................................................114 Bruno W. Nikles Begrüßung Begrüßung Bruno W. Nikles Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch bei dieser Tagung werden wir – wie in vergleichbaren thematischen Kontexten – unsere liebe Not haben, allein mit den Begriffen und Bezeichnungen zurecht zu kommen. Die geradezu babylonische Sprach- und Begriffsverwirrung um die »Ausländer«, die schon längst im Inland leben, nur noch nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, um die »Migranten«, die hier sind, also auch einstweilen nicht mehr migrieren, um »Flüchtlinge«, die schon geflohen sind oder weiter flüchten, um »Asylanten« im Zustand des Asyls und solche, die sich noch um Asyl bewerben. Und auch mit der Bezeichnung der jungen Menschen kommen wir sprachlich nicht zurecht: junge Menschen mit Migrationshintergrund heißt es in modernistischer Verbrämung. Wie lange wird der Migrationshintergrund »berechnet«, reden wir bei der dritten Generation, hier geboren und in der Regel »Bildungsdeutsche«, wie es so schön heißt, immer noch von Menschen mit Migrationshintergrund? Diese Unbestimmtheiten und Sprachprobleme haben etwas mit unseren gesellschaftlichen und politisch-rechtlichen Definitionswelten zu tun, mit denen wir seit Jahrzehnten auf Kriegsfuß stehen und mit denen wir uns in dieser Gesellschaft häufig selbst ein Bein stellen. Auch der Integrationsbegriff schillert, weil wir ihn nicht sauber definitorisch füllen und politisch vielfach unbestimmt lassen. Die Problematik wird nicht geringer, wenn wir uns auf Tagungen befinden, bei denen auch Mitmenschen der oben genannten Kategorien teilnehmen. Da 5 Begrüßung Bruno W. Nikles wird der Integrationsbegriff noch einmal anders gefüllt, häufig in individualistischer Sichtweise. Vielfach wird er auch abgelehnt, weil sich hinter ihm eine die eigene Identität bedrängende Perspektive zu verbergen scheint – so »gebrochen« oder patchworkartig sie auch zusammengefügt sein mag. Viele junge Menschen, die heute bei uns als Angehörige von Minderheitenkulturen, als Angehörige sozialer Gruppen zwischen verschiedenen kulturellen Horizonten leben, wollen selbst und müssen aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive aus der Randständigkeit heraus in die Normalität einer inzwischen vielgestaltig gewordenen Gesellschaft geführt werden. Wir können und dürfen es nicht länger zulassen, dass sie Fremde bleiben. Fremde im Sinne der Beschreibung von Georg Simmel, der 1908 in seinem berühmten Exkurs ausführte: »Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen potentiell Wandernde, der obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat.« Solange unsere Gesellschaft dieses Phänomen für größere soziale Gruppen nicht zu bearbeiten und abzubauen in der Lage ist, begeben wir uns auf einen riskanten und soziale Konflikte produzierenden Weg. Zweifellos gibt es in Kontexten der Fremdheit und gesellschaftlicher Desintegration höhere Belastungen, gefährdenden Einflüssen zu erliegen. Das spielt auch jenseits unserer Thematik heute eine Rolle: es gibt ja nicht nur eine deutsche Sozio-Kultur, sondern auch deutsche Teilkulturen, kulturelle Muster, die in bestimmten sozialen Schichten stärker oder schwächer ausgeprägt sind als in anderen. Die Lebenslagen junger Menschen mit einem spezifischen zusätzlichen kulturellen Hintergrund mögen noch einmal in besonderer Weise akzentuiert sein. Aber mir persönlich wäre es lieber, wir würden eine solchermaßen differenzierte Diskussion und gesellschaftspolitische Strategie verfolgen, dass wir auf die ständige Betonung von »multikulti«, »interkulti« oder »bikulti« verzichten könnten. Normalität ist inzwischen in unserer Gesellschaft eine vielgestaltige und wir müssen uns darauf endlich entsprechend einlassen. 6 Bruno W. Nikles Begrüßung Auch der Kinder- und Jugendschutz, hier einmal sehr generalistisch definiert als eine Leitidee zur Sicherung der personalen Integrität junger Menschen und ihrer sozialen Integration, hat selbstverständlich in diesem Prozess der »Normalisierung« seinen Platz. Aber auch seine Schwierigkeiten, ist doch der Umgang mit dem Schutzgedanken in einer offenen und liberalen Gesellschaft, in einer durch individualisierte Lebensentwürfe mit selbst gestrickten Wertmustern geprägten Gesellschaft nicht ohne Vermittlungsarbeit akzeptanzfähig. Wenn wir uns also dem Thema »Integration durch Partizipation« nähern, dann sollte vor allem die Partizipation im Vordergrund des Zielbildes stehen. Partizipation ist die Zielperspektive, Integration ergibt sich dann vielfach von alleine. Teilhabe an den Lebensangeboten der Gesellschaft in Familie, Ausbildung und Beruf, das sind die entscheidenden Punkte. Wenn diese Teilhabe nicht ermöglicht wird, dann sind auch die vielfältigen Begleitmusiken, die wir uns ausdenken, trügerische Schalmeienklänge. Ich wünsche der Tagung Differenzierungsvermögen, Offenheit für die Positionierungen anderer und eine gemeinsame Orientierung, die für die Arbeit zukunftsweisend sein kann. Prof. Dr. Bruno W. Nikles Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e.V. 7 Integration auch durch Sprache Andrea Urban Integration auch durch Sprache Andrea Urban Wer kennt sie noch, die Begrüßung: »Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger«. Dieses berühmte Zitat von dem ehemaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke, das er während eines Staatsbesuches in Afrika zu Beginn einer Rede benutzt hat, soll ihm allerdings nur in den Mund gelegt worden sein. Aber immerhin: die ganze Republik hat es ihm zugetraut. Was ist jetzt so komisch oder befremdlich an dieser Ansprache: »Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger?« Einerseits erinnert es sicher an: »Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kinder« und damit untermauert es, dass Bundespräsident Lübke eigentlich nur den Leuten in Afrika helfen wollte und das von Herzen. Ein Herz für Kinder – ein Herz für Neger. Andererseits sind neben dieser oberflächlich lustig anmutenden Interpretation auch andere Lesarten möglich, die einem das Schmunzeln im Gesicht erstarren lassen. Das Wort Neger war in den 60er Jahren noch political correct, bzw. gab es gar nicht das Bewusstsein darüber, dass so etwas nicht korrekt sein könnte. Viele Frauen bestanden zu der Zeit ja auch noch darauf mit Fräulein angesprochen zu werden, unter anderem deswegen, um zu signalisieren, dass sie noch zu haben waren. Natürlich ist es gar nicht unüblich, bei einer Anrede eine ganz besondere Gruppe von Menschen gesondert hervorzuheben. Dabei muss aber gut überlegt werden, mit welcher Zuordnung man wen eventuell eher verletzen als 8 Andrea Urban Integration auch durch Sprache positiv hervorheben kann. Eine Begrüßung auf einer Tagung mit den Worten: »Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwule« wäre z.B. je nach Kontext eventuell nicht adäquat und darüber hinaus möglicherweise potenziell diskriminierend. Dagegen ist auf der sicheren Seite, wer bei einer Jugendschutzveranstaltung aus Höflichkeit eine ganz besondere Berufsgruppe hervorheben will, also z.B. mit der Anrede: »Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Jugendschützerinnen und Jugendschützer«. Die Frage ist also, durch was wird die Betonung und das Anderssein wertvoll und kostbar und wodurch wird die Besonderheit zur Bedrohung mit der Folge der Ausgrenzung und der Stigmatisierung als minderwertig? Mit einem gewagten Sprung von Heinrich Lübke zu den Errungenschaften der Frauenbewegung möchte ich das Thema Integration von einer anderen Seite beleuchten. Zu Lübke und den Frauen fällt den Lübke-Fans natürlich ein, dass er gerne eines seiner Bonmots angefügt und gesagt hätte: »Und Wilhelmine auch« und er meinte seine Frau damit. Aber das ist ja gerade wieder das Problem. Nicht Wilhelmine auch, sondern Wilhelmine aus sich heraus und ohne Heinrich. Will sagen: die Zeiten sollten endgültig vorbei sein, in denen Jugendarbeit gesagt wurde und Jungenarbeit gemacht wurde, mit dem Hinweis, die Mädchen seien doch mit gemeint, explizit ausgeladen hätte sie jedenfalls keiner. Es hat lange gedauert, bis sich in der Jugendarbeit und auch im Jugendschutz herumgesprochen hat, dass Jugendliche aus Jungen und Mädchen bestehen und dass sie sich nicht nur in wesentlichen Bereichen voneinander unterscheiden, sondern dass sie auch dann am besten gefördert und gefordert werden können, wenn sie auch als Mädchen und als Jungen angesprochen werden. Das heißt: der differenzierende Blick auf die Jugendlichen macht es erst möglich, ihnen je nach Bedürfnis und Problemlage adäquate Angebote zu unterbreiten. Und auch da haben wir lernen können, dass nicht alle Mädchen gleich denken und nicht alle Jungen über einen Kamm zu scheren sind. In den letzten 20 Jahren hat sich viel getan in Richtung Gleichberechtigung und Selbstbewusstsein von Mädchen und jungen Frauen. Noch in den 80er Jahren konnten chauvinistische Witze über frauenbewegte Frauen in der Jägermeister-Werbung gemacht werden: »Frauen sind gleichberechtigt, aber nicht sofort!« 9 Integration auch durch Sprache Andrea Urban Nun ist es bestimmt zehn Jahre her, dass wir Richtlinien für die korrekte Schreibweise mit dem großen I oder dem Querstrich-innen diskutiert haben. Ich war nie eine Verfechterin solcher Vorschriften, einerseits weil so etwas die Phantasie kaserniert, andererseits weil mein Germanistinnenherz das kaum ertrug und zu guter Letzt, weil wir uns doch bitteschön nicht mit ein paar korrigierten Worten abspeisen lassen sollten. Nichtsdestotrotz war diese Entwicklung gut, hat sie doch viele dafür sensibilisiert, dass sich in der gesellschaftlichen Realität eine Menge getan hat und noch mehr zu tun sein würde. Die Präsenz von Frauen in der Sprache ist ein Mosaikstein in dem großen Bild der Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit. Sprache ist ein wichtiges Vehikel, können wir doch darüber unsere Gedanken und teilweise auch Gefühle mitteilen. Sprache kann aber auch entlarvend sein, weil sie zum Teil Einstellungen transportiert, die womöglich noch gar nicht bis ins eigene Bewusstsein vorgedrungen sind. Hier könnte jetzt der alte Mantafahrer-Witz passen, der das Unbewusste dieses Prototyps eines Deutschen zum Ausdruck bringt: »Fragt ein Mantafahrer einen Türken: Wo geht’s denn hier nach Aldi? Daraufhin der Türke: Zu Aldi. Der Mantafahrer: Was? Schon zu? Ist doch noch nicht mal fünf!« Hier kann man lachen und es wäre sogar political correct. Ja, aber mit welchen Worten, in welcher Sprache nähern wir uns denjenigen, die ihre kulturellen Wurzeln eventuell woanders haben als in Deutschland, die vielleicht erst seit kurzer Zeit hier leben oder aber noch gar nicht sicher wissen, ob sie in Zukunft noch hier bleiben dürfen? Und jenseits der Sprache, die uns in der Werbung und in der Unterhaltungsindustrie eine glatte Multikulti-Gemeinschaft vorgaukelt und nicht zuletzt mit Popgruppen wie »BroSis« oder »No Angels« zeigt, wie liberal und aufgeschlossen wir mittlerweile sind, jenseits dieses kommerziellen Getues stellt sich doch die Frage: Mit welcher Haltung nähern wir uns diesen Kindern und Jugendlichen, den Mädchen und Jungen, mit denen wir in unserer beruflichen wie privaten Welt zusammentreffen? Mittlerweile können wir nicht mehr ungestraft von den lieben Negern sprechen, nicht mehr ruhigen Gewissens vertreten, dass Frauen doch immer mitgemeint seien. Jetzt braucht es noch eine kleine Anstrengung, um klar zu machen, dass nicht von den Ausländern gesprochen werden kann, ohne sich die Mühe zu machen auch dort genauer hinzuschauen! Denn nur wenn wir 10 Andrea Urban Integration auch durch Sprache aufhören die Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund – und das gilt für diejenigen ohne Migrationshintergrund gleichermaßen – sie als Objekte zu behandeln und abzuhandeln, wenn wir sie als Subjekte akzeptieren, so wie uns das mit den Frauen durch die Frauenbewegung ja schon ganz gut gelungen ist, dann haben sie auch die Chance, nicht nur als Problemverursacher wahrgenommen zu werden, sondern als junge Menschen mit eigenen Fähigkeiten, Wünschen und Hoffnungen. In seinem Artikel »Gefährdung durch gute Absichten« hat Franz Hamburger geschrieben, »auch das Kind mit Migrationshintergrund ist ein Individuum«. »Solange dies nicht respektiert wird, ist keine Interaktion unter gleichberechtigten Personen, erst recht kein pädagogisches Verhältnis möglich.« In diesem Sinn benötigen wir alle eine erhöhte Sensibilität und Wachsamkeit. Andrea Urban Leiterin der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen 11 »Deutsch – türkisch?« Elly Geiger »Deutsch – türkisch?« Lebenspraxis und Identität von Kindern und Jugendlichen in der multikulturellen Gesellschaft Elly Geiger Nachdem eine Journalistin in Ruanda einen alten Mann stundenlang über die Massaker in seinem Land interviewt hatte, wollte sie am Ende des Gespräches noch wissen: »Entschuldigen Sie bitte, ich habe Sie gar nicht gefragt, sind Sie nun ein Hutu oder ein Tutsi?« Der Mann schwieg lange, bevor er der Journalistin entgegnete: »Darauf werden Sie von mir nie eine Antwort bekommen. Genau solche Fragen waren es, die dazu geführt haben, dass wir uns wechselseitig abgeschlachtet haben.« Einführung Im gesellschaftlichen Diskurs, der die so genannte multikulturelle Gesellschaft zum Gegenstand hat, sind die Begriffe der – ethnischen oder kulturellen – Identität und, damit zusammenhängend, der Kultur zentral. »Multikulturelle Gesellschaft« war und ist immer zugleich Zustandsbeschreibung wie auch gesellschaftspolitische Programmatik. Es ist interessant nachzuvollziehen, wie das Paradigma der multikulturellen Gesellschaft, wissenschaftlich gestützt, im Bereich Politik, aber auch bei der Konzeptionierung sozialer Arbeit, zu einem zentralen Erklärungsmodell und zur handlungsleitenden Zielperspektive geworden ist. 12 Elly Geiger »Deutsch – türkisch?« Das Paradigma der multikulturellen Gesellschaft hat das der Klassengesellschaft und jenes, das die Differenz männlich/weiblich als zentral für gesellschaftliche Zuweisungsprozesse definierte, abgelöst. Und es stellte den Versuch dar, das Verhältnis von Aufnahme- bzw. Einwanderungsgesellschaften zu Migrantinnen und Migranten neu zu beschreiben und zu ordnen: Noch bis Ende der 1970er-Jahre wurde in der Bundesrepublik kulturelle Differenz und Fremdheit als Integrationshindernis im Hinblick auf die deutsche Aufnahmegesellschaft definiert. Als Voraussetzung für Integration galt die einseitige Anpassungsleistung von Migrantinnen und Migranten. Die hierfür konzipierte Pädagogik war mit Ausländerpädagogik überschrieben, ging von einem defizitären Verständnis der Zielgruppe aus und arbeitete demzufolge kompensatorisch. Ein wichtiger Ausgangspunkt für die Kritik an diesem Integrationsmodus war die darin enthaltene Zumutung für die Identität der zu integrierenden Migrantinnen und Migranten. Diesem Integrationsmodus unterworfene Ausländer wurden in ihrer Identität als ›zerrissen‹, die Entwicklung zu einer bi- oder mehrkulturellen Identität als individuell schwierig, letztlich pathogen definiert. Ende der 1970er/Anfang der 1980er-Jahre wurde dann – im Rahmen des ›Multi-Kulti-Diskurses‹ – der Perspektivenwechsel von der Gast- zur Aufnahmegesellschaft und von der Ausländerpädagogik zur interkulturellen Pädagogik vollzogen. Bei Aufrechterhaltung der Annahme, dass die Preisgabe der kulturellen Identität von Einwanderern eine Zumutung sei und bi- bzw. mehrkulturelle Identitäten hochgefährdete Identitäten seien, ging es nun nicht mehr um einseitige Anpassungsleistungen, sondern um das Postulat der wechselseitigen Akzeptanz und Toleranz, um die jeweilige kulturelle Identität bewahren zu können. Gesellschaft wurde durch die Vielfalt der in ihr lebenden ›Kulturen‹ gekennzeichnet, die gleichberechtigt neben- und miteinander leben können sollten. Die folkloristischen, vereinnahmenden und ungewollt an rassistische Vorstellungen sich anlehnenden Seiten dieses – sehr einfach dargestellten – Konzeptes werden deutlich an der Aussage auf einem Wahlplakat. »Vielfalt statt Einfalt« stand dort und sollte die Position einer Partei zu Ausländern in München kennzeichnen. Ohne Ausländer nur Einfalt, könnte man deuten, oder – 13 »Deutsch – türkisch?« Elly Geiger nicht ganz so zugespitzt – Vielfalt im Gemeinwesen stellt sich her durch die Kultur, die die Ausländer ›mitbringen‹. Die Handlungsziele, die für die multikulturelle Gesellschaft und eine interkulturelle Pädagogik formuliert wurden, lassen sich exemplarisch deutlich machen. Hiernach ist Aufgabe interkultureller Erziehung: »1) (Das) Erkennen des eigenen, unvermeidlichen Ethnozentrismus. Ethnozentrismus meint die unvermeidliche Eingebundenheit des eigenen Denkens und Wertens in die selbstverständlichen Denkgrundlagen der eigenen Ethnie, wobei Ethnie nur ein anderer Zugang auf die Phänomene von Besonderheiten von Lebenswelt und Kultur ist. Dieser Ethnozentrismus kann überhaupt nur sichtbar werden in der Konfrontation mit anderen Sichtweisen auf die Welt. Wenn Angehörige verschiedener Ethnien, die auch verschiedene Deutungsmusterhorizonte, d.h. Kulturen haben, im Alltag, z.B. in der Schule, zusammenleben und miteinander auskommen müssen, können Verständnisprobleme entstehen, wenn jemand aus der einen Kultur seine Deutungen selbstverständlich für jedermann bekannt unterstellt, jemand aus einer anderen Kultur aber diese nicht kennt oder an ihrer Stelle andere hat. Aufgabe interkultureller Erziehung wäre es, solchen Verständnisproblemen im gemeinsamen Alltag nachzuspüren, sie in ihrer kulturellen Bedingtheit deutlich zu machen, um so Missverständnisse aufzuklären oder ihnen vorzubeugen (...) 2) Umgang mit der Befremdung. Das Andere, Unbekannte, Fremde an einer anderen Kultur kann interessant sein; dann wirkt es exotisch. Im Alltag verunsichert es zumeist die eigenen Handlungsgewissheiten, Weltsichten und Wertüberzeugungen, weil es sich auf dieselben Alltagsbereiche richtet wie die eigenen Deutungen und Orientierungen. Dann ist es nicht nur fremd, sondern befremdlich und erzeugt unvermeidlich Irritation und zumeist Abwehr. Aus diesem Abwehrimpuls entsteht die direkte und indirekte Ablehnung des Andersartigen, wie sie sich hierzulande als Ausländerfeindlichkeit – oder genauer: Zuwandererfeindlichkeit – manifestiert. (...) 3) Grundlegung von Toleranz gegenüber den in einer anderen Kultur Lebenden und Denkenden, selbst wenn Teile dieser Kultur den eigenen Orientierungen und Wertüberzeugungen widersprechen; (...) 14 Elly Geiger »Deutsch – türkisch?« 4) Akzeptanz von Ethnizität, also der Präsentation kulturell bedingter Andersartigkeiten durch Angehörige ethnischer Minoritäten; hierzu gehört auch die Einübung in einen reflektierten Umgang mit dem Fremdheitserlebnis, das durch die Auseinandersetzung mit der anderen befremdenden Kultur ausgelöst wird und das eigene kulturelle Selbstverständnis in Frage stellt; dabei wäre der eigene und unvermeidliche Ethno- oder Soziozentrismus ins Bewusstsein zu heben, um zu einer Haltung eines aufgeklärten Eurozentrismus zu gelangen. Eine solche Akzeptanz von Ethnizität kann sich auf den verschiedenen Institutionalisierungsebenen von Erziehung und Bildung realisieren: in der verständnisvollen Reaktion auf lebensweltlich, d.h. kulturell bedingte Äußerungsformen, Kleidungsgewohnheiten und -vorschriften oder religiös bestimmte Essensvorschriften im alltäglichen Umgang. (...) Der Fremde lebt in Selbstverständlichkeiten, die mir alles andere als selbstverständlich sind, häufig nicht nur exotisch, sondern auch falsch vorkommen müssen, weil sie meinen eigenen Selbstverständlichkeiten widersprechen. Seine Selbstverständlichkeiten, d.h. seine Lebenswelt und Kultur, stellen meine Selbstverständlichkeiten, d.h. meine Lebenswelt und meine Kultur in Frage; denn beides kann nicht zugleich richtig sein.. Jeder aber muss seine Überzeugungen für die richtigen halten; denn sonst hätte 1 er andere.« Diese Aussagen beinhalten eine ganze Reihe von Behauptungen, Gleichsetzungen, Definitionen und Postulaten, die es lohnt, näher anzuschauen. Vor allem anderen aber: In dieser Sichtweise von Wahrnehmungen, Deutungen, Reaktionen und Interaktionen ist das Individuum vollständig verschwunden. Es agieren nicht mehr Individuen, sondern Ethnien und Kulturen bzw. die agierenden Personen werden zu Medien, zu Trägerinnen und Trägern einer genau auszumachenden, abgrenzbaren Ethnie bzw. Kultur gemacht, die sie ohnmächtig exekutieren, was dann zum so genannten ›Kulturkonflikt‹ führt, in 1 Alle Zitate aus: Nieke, Wolfgang (1993), S. 110 ff. Diese zitierten Aussagen Niekes sind insofern exemplarisch, als sie ohne weiteres in anderen Fachveröffentlichungen der Sozial- und Bildungsarbeit nachweisbar sind. 15 »Deutsch – türkisch?« Elly Geiger 2 dem bekanntlich Samuel Huntington mögliche und wahrscheinliche Ursachen für künftige politische Konflikte und Auseinandersetzungen sieht. Die so genannte Kulturkonflikthypothese ist einer der beliebtesten Mythen im ›Multi-Kulti-Diskurs‹. Schauen wir uns die oben vorgetragene Argumentationskette noch einmal an: Wir alle sind Angehörige einer bestimmten Ethnie, welche Besonderheiten in Lebenswelt und Kultur meint; diese Besonderheiten werden als selbstverständliche Denkgrundlagen bezeichnet. Das unvermeidliche Eingebundensein in diese selbstverständlichen Denkgrundlagen führt wiederum zum unvermeidlichen Ethnozentrismus. Da sich begegnende ›Ethnien‹ so unvermeidlich und selbstverständlich ihre Besonderheiten von Lebenswelt und Kultur für das einzig Richtige halten, kommt es zu Verständnisproblemen, die eben ethnisch-kulturell bedingt sind. Der Umgang mit dem Unbekannten, Fremden verunsichert, erzeugt Irritation und Abwehr; die Ablehnung des Andersartigen manifestiert sich in Ausländerfeindlichkeit. Es muss also geübt werden: der reflektierte Umgang mit dem Fremdheitserlebnis; Akzeptanz ist das Ziel; weg vom Ethnozentrismus hin zum Eurozentrismus. Fremdheit und Befremdung Zunächst möchte ich anknüpfen an das Fremdheitserlebnis, die Befremdung durch die Begegnung mit der anderen Ethnie bzw. Kultur bzw. mit der fremden Person, die sich in Fremden- bzw. Ausländerfeindlichkeit manifestieren kann. In dieser Argumentation wird Fremdenangst, Fremdenfeindlichkeit zur anthropologischen Konstante, zum Bestandteil der menschlichen Natur, die mit den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, innerhalb derer sie entsteht oder auch geschürt wird, nichts zu tun hat. 2 Es handelt sich um das zum Zeitpunkt seines Erscheinens heftig diskutierte Buch von Samuel P. Huntington: Clash of Civilizations, deutsch: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert (1997) 16 Elly Geiger »Deutsch – türkisch?« »Die Angst vor dem Fremden« ist aber, so Frank-Olaf Radtke, eben »keine Naturvariante. Sie stellt die nachträgliche subjektive Rechtfertigung für tief in der europäischen Tradition verwurzelte Praktiken der letztlich mörderischen Ausgrenzung dar. Sie kann offenbar in solchen Situationen auf Knopfdruck aktiviert werden, die durch Faktoren wie Wohnungsnot, Arbeitsplatzmangel oder -verlust gekennzeichnet sind.« (Radtke 1993, S. 95) Und Gertrud Nunner-Winkler schreibt: »Die These einer spezifisch modernen Fremdenscheu (unterschlägt), dass aufgrund der Anonymität in modernen Massengesellschaften ›der Fremde‹ eine erst neuerdings massenhaft auftretende und darum normalisierte Sozialkategorie darstellt: Im Straßenverkehr, in den Geschäften – stets begegnen wir uns Unbekannten, die wir – anders als dies etwa in geschlossenen Dorfgemeinschaften üblich oder möglich war – längst zu ignorieren gelernt haben bzw. mit denen wir problemlos in eingegrenzte Interaktionen (etwa Erteilen einer Auskunft, Abwicklung kleinerer Geschäfte) eintreten können.« (Nunner-Winkler 1997, S. 25-26) Der oder die Fremde als, wie Nunner-Winkler sagt, normalisierte Sozialkategorie begegnet mir – und Ihnen – dauernd, ohne dass er oder sie mich im mindesten verunsichert oder sogar Ablehnung oder Aggression entstehen: Selbst habituell ausdrucksvolle Fremde, die häufig in Jugendkulturen oder -subkulturen sich bewegen oder auch als national anders abstammend oder zugehörig zu erkennen sind, irritieren mich nicht weiter: Mein Internist ist Inder, mein Gemüsehändler ist schwul, mein Zeitungshändler hat andere politische Auffassungen als ich, meine Nachbarin ist für autoritäre Erziehung – so könnte ich fortfahren, meinen lebensweltlichen Kontext zu beschreiben als einen, der bevölkert ist von Menschen, die anders sind als ich, anders denken als ich und anders handeln als ich, die mir fremd oder Fremde sind. Es irritiert mich nicht, es ärgert mich nicht, ich empfinde keine Abwehr. Warum also die Rede von der unvermeidlichen Irritation und Abwehr? Die Fremden, die im Multi-Kulti-Diskurs immer eigentlich gemeint sind, sind die ethnisch-kulturell Fremden, insbesondere jene, denen gewissermaßen ins Gesicht geschrieben ist, dass sie aus einer jener ›Kulturen‹ kommen, die im zitierten Text als exotisch auf uns wirkend beschrieben sind. 17 »Deutsch – türkisch?« Elly Geiger Sie und ihre ›Kultur‹ seien uns fremd, erzeugen Abwehr, so heißt es. Meine selbstverständlichen Denkgrundlagen würden in Frage gestellt. Eine kühne Behauptung, die voraussetzt, dass ich als Angehörige der ›deutschen Kultur‹ ein unverrückbares Paket an selbstverständlichen Denkgrundlagen besitze und mein ethnisch-kulturell fremdes ›Gegenüber‹ ebenfalls. Kultur und Denken Selbstverständliche Denkgrundlagen sind Kultur und gesellschaftliche Normalität, sie prägen Identität. Nur: was sind noch selbstverständliche Denkgrundlagen, was ist gesellschaftliche Normalität, was ist – um in Deutschland zu bleiben – ›deutsche Kultur‹ und Kultur überhaupt? Schauen wir uns um: Prozesse der Globalisierung und Individualisierung lassen Traditionszusammenhänge und Deutungsgemeinschaften zerfallen, es ereignet sich eine, wie Ulrich Beck sagt, »Freisetzung aus lebensweltlichen Bindungen« nie gekannten Ausmaßes in rasantem Tempo. Es gibt eben keine selbstverständlichen Denkgrundlagen mehr, und aus gesellschaftlicher Normalität sind gesellschaftliche Normalitäten geworden. Das Fremde ist das Normale geworden. Es gibt keine geschlossene ›deutsche Kultur‹, es gibt Kulturen, Teil- und Subkulturen und internationale Suprakulturen, die entstehen, auftauchen, sich verändern, verschwinden. Es ist ja gerade Kennzeichen der Globalisierung, dass dieses Zerbröseln von Traditionszusammenhängen, dieses Zerbrechen der Selbstverständlichkeiten, der Zwang (und die Freiheit), sich sein eigenes, individuelles »Wertepaket« zu basteln, eben nicht nur die hochentwickelten Industrienationen und die in ihnen lebenden »Identitätsbastler« beschäftigen, sondern in zunehmender Tendenz auch jene ›Kulturen‹, denen wir meinen hier tolerant begegnen zu wollen, weil sie so fremd, so exotisch und so unveränderlich anders sind. »Warum«, fragt Radtke, »werden die Neuankömmlinge« (und auch die hier seit Generationen lebenden Migrantinnen und Migranten, könnte man ergänzen, E. Geiger), »die mit den Ansässigen den Wunsch nach Wohlstand, Anerkennung, Erfolg und sozialer Sicherheit teilen und mit denen sie angeblich oder tatsächlich um Wohnungen, Arbeitsplätze, Karrierechancen und Sozial- 18 Elly Geiger »Deutsch – türkisch?« leistungen konkurrieren, zu ›Fremden‹ gemacht, die doch offenbar keineswegs unkundig oder unfähig sind, die Spielregeln der sozialen Marktwirtschaft erfolgreich zu beherrschen? Neid, Geiz, Mißgunst und Eifersucht, ja Aggression mögen die Folge verschärfter Konkurrenz sein. Aber hier handelt es sich eigentlich gar nicht um ein speziell mit Fremdheit verbundenes Phänomen. Fast ist man versucht zu sagen: im Gegenteil.« (Radtke 1997, S. 3940) Die kulturelle Identität, die man diesen ›Fremden‹ andichtet, wird im MultiKulti-Diskurs zum unveränderlichen Wesensmerkmal, das man den Fremden – tolerant, wie man ist – ›lassen‹ will, damit sie keine Identitätsschwierigkeiten bekommen. In diesem Verständnis ist Kultur eine »klar abgegrenzte, unabhängige und isolierte Entität (...) Die Welt gleicht einem Mosaik, dessen Steinchen die Kulturen sind.« (Breidenbach;Zukrigl 1998, S. 21) Es handelt sich hierbei um kulturdeterministische Zuschreibungen, die dem Rassismus nicht unähnlich sind. Das Individuum wird unter ein statisches Kulturverständnis subsummiert, in dem das Subjekt und sein Verhältnis zur Gesellschaft verschwindet mit seiner Fähigkeit, sich Gesellschaft und ihre Deutungssysteme anzueignen, sie zu verwerfen und zu verändern. »Kultur«, so formuliert es Heidrun Czock, »ist ein in Bewegung befindliches adaptionsfähiges System. Kultur stellt die symbolische Ordnung des sozialen Lebens dar und muß in diesem Bezug ein dynamisches Moment enthalten. Kultur ist danach kein statischer Block, sondern bleibt im Sinne einer Bewältigungsleistung auf praktische gesellschaftliche Probleme bezogen. Sie ist in einem wechselseitigen Transformationsprozeß an die sozialen Strukturen gebunden. Der Fundus kultureller Formen wird im Zuge der materiellen Umorganisation der Gesellschaft mit neuen Problemen konfrontiert, neue Formen kommen hinzu, andere, obsolet gewordene treten in den Hintergrund. Kulturelle Muster bzw. Kulturpraktiken enthalten, da auf die materiellen und sozialen Verhältnisse gesellschaftlicher Teilgruppen bezogen, keine einheitliche, territorial begrenzte Gültigkeit. Schon innerhalb einer nationalstaatlich begrenzten Gesellschaft ist daher mit unterschiedlichen Kulturen zu rechnen.« (Czock 1993, S. 91-92) Es war in einer ethnisch-national eingrenzbaren Gruppe von Menschen immer schon ein kultureller Unterschied, ob man dem Konstrukt Mann oder Frau zugeordnet wurde, ob man gebildet war oder nicht, welcher Klasse bzw. 19 »Deutsch – türkisch?« Elly Geiger Schicht man angehörte, ob man vom Land kam oder in einer Großstadt lebte, welche sexuelle Identität, welchen Glauben man hatte und praktizierte, etc. Das hat sich nicht geändert, es ist eigentlich nur komplexer geworden. »Die Idee des ›Volksgeistes‹«, kritisiert Radtke, »oder der ›völkischen Eigenart‹, die alle kulturellen Hervorbringungen bestimmt, bleibt auch nach dem Reinigungsbad in der modernen sozialwissenschaftlichen Theorie an dem Konzept ›Ethnizität‹ erkennbar. (...) An die Stelle des Rassenkonflikts, dem die Absicht von Unterdrückung und Vernichtung anzusehen war, ist der ›Kulturkonflikt‹ getreten, der das Individuum gegen seinen Willen in unüberwindbare Schwierigkeiten bringen kann. Ein ganzer Diskussionsstrang hat sich um diese Konstruktion gebildet und im Erziehungs- und Gesundheitsbereich verheerende Wirkungen erzeugt.« (Radtke 1990, S. 29-30) Verheerende Wirkungen? Ein starker Vorwurf. Verfolgt man aber die politischen Diskussionen über Integration und Einwanderung in Deutschland der letzten Jahre, ist augenfällig, dass das Konzept Ethnizität und die Kulturkonflikthypothese jenen politischen Akteuren die Munition geliefert haben, die Ausländer eben wegen ihres prinzipiellen, ethnisch-kulturell bedingten Andersseins für nicht integrierbar halten. Selbst der frühere Bundeskanzler Kohl bezog sich auf eine vermeintliche ›Kulturdifferenz‹, um die Türkei im Hinblick auf den von der Türkei gewünschten EU-Beitritt hinzuhalten. Konsequenzen für die Jugendhilfe Den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern erleichterte die Ethnisierung ihrer Klientel eine Reduktion des komplexen Arbeitsfeldes und der darin auftretenden Konflikte zwischen verschiedenen Adressaten-Gruppen, aber auch zwischen den Professionellen und ihrer Klientel auf eine zentrale Perspektive: auf den Kulturkonflikt. Alles erschien erklärbar durch den Kulturkonflikt; alles erschien pädagogisch bearbeitbar durch interkulturelle Pädagogik: Der Konflikt zwischen rivalisierenden Gruppen von Jugendlichen in einer Freizeitstätte z.B. war nun nicht mehr ein Kampf um das Territorium Freizeitstätte, um die Aufmerksamkeit der Mädchen in der Einrichtung usw., sondern mutierte zum Kampf der Kulturen 20 Elly Geiger »Deutsch – türkisch?« im Mikrokosmos Jugendarbeit, dem mit interkultureller Toleranzpädagogik entgegengetreten wurde. Die Projekte und Maßnahmen der so genannten interkulturellen Begegnung sind Legion: interkulturelle Friedensfeste, interkulturelles Fußballspielen, türkische Kochkurse, Einführung in die afrikanische Kultur durch Trommelkurse, kurdischer Volkstanz etc. Diese pädagogische Konzeption und Praxis geht an der Lebenswirklichkeit der Mehrzahl der Jugendlichen vorbei. So findet man im Forschungsprojekt Jugendliche in ethnisch heterogenen Milieus. Die Entwicklung multikultureller Lebenswelten als alltäglicher Prozess den Befund: »in der Jugendarbeit (hat sich) häufig eine Praxis durchgesetzt, wonach Jugendliche als Exponenten ihrer nationalen und ethnisch-kulturellen Herkunft zum Gegenstand sozialpädagogischen Handelns werden. Dies selbst dann, wenn sie in ihrem Verhalten längst deutlich machen, dass in ihrem Umgang mit ihresgleichen und anderen nicht einzig oder vornehmlich die ethnisch-kulturelle Karte sticht. Wohlgemerkt, es geht nicht um die generelle Zurückweisung eines kulturellen Blicks auf Jugendliche, wohl aber um Einlassungen und Widerständigkeit gegen seinen hegemonialen Erklärungsanspruch im Alltag von Jugendlichen.« (Lösch, H. u.a. 1998, S. 10) Wenn ich morgens mit der U-Bahn zu meiner Arbeitsstelle fahre, habe ich Gelegenheit eine größere Anzahl von Schülerinnen und Schülern einer ganz in der Nähe liegenden Berufsschule zu beobachten. Die Schule wird erkennbar von einer großen Anzahl von Schülerinnen und Schülern besucht, die nach ihrem äußeren Aussehen nicht so ohne weiteres als Deutsche durchgehen würden. Diese Jugendlichen erstaunen mich, sie befremden mich auch: aber nicht, weil sie erkennbar ethnisch-kulturell zuzuordnen und mir also ethnisch-kulturell fremd sind, sondern weil sie geeignet sind, sämtliche Klischees und Kulturstereotype auszuhebeln: Ich sehe (vermutlich) türkische, vielleicht auch arabische, wahrscheinlich moslemische Mädchen mit einem Kopftuch; ich sehe (vermutlich) türkische, vielleicht auch arabische Mädchen, die kein Kopftuch tragen und eigentlich so ohne weiteres gar nicht mehr als Mädchen erkennbar sind, weil sie – mit superweiten Schlabberhosen und riesigen Daunenjacken – habituell als sich zugehörig zur Hip-Hop-Subkultur, zumindest temporär, sich outen. Das kann sich ändern: das Hip-Hop-Mädchen, türkisch oder deutsch, das heute mit Sackhosen daherkommt, nutzt morgen die Symbole einer ande- 21 »Deutsch – türkisch?« Elly Geiger ren Konstruktion von Weiblichkeit und vielleicht auch Ethnizität und trägt hautenge Röcke mit oder ohne Kopftuch. Manchmal umarmen sich die Mädchen, manchmal die Mädchen und Jungen, manchmal die Jungen die Jungen; die Jugendlichen sprechen deutsch, dazwischen Brocken Türkisch, es werden Sprach- und kulturelle Codes getauscht, die ich nicht verstehe. Ihr Verhalten lässt eben keine ethnisch-kulturelle Sortierung zu; habituell ist selbst eine Sortierung Mädchen/Junge manchmal schwierig. Vermutlich könnte ich über das eine oder andere Mädchen sagen: sie ist türkischer Herkunft. Aber was sagte mir das? Nicht einmal der selbstverständliche und kompetente Umgang mit der türkischen Sprache kann mit dieser Zuschreibung verbunden werden. Es gibt unterdessen massenhaft Heranwachsende aus z.B. türkischen Familien, die besser Deutsch als Türkisch sprechen und die eine Identität, auch sprachliche Identität besitzen, die in keines unserer Denkmuster mehr hineinpasst. Sprache ist ein bedeutender Teil persönlicher Identität. Und da wir uns in Deutschland, in diesem oben geschilderten Fall der Jugendlichen im Umfeld einer Münchener, also deutschen Schule befinden, könnte man meinen, dass Deutsch die sprachliche Interaktion der Jugendlichen dominiert, dass überhaupt ›das Deutsche‹, soll heißen: die »deutsche Kultur« die Interaktion dominiert. Dies ist nach meiner Wahrnehmung nicht der Fall. Peter Auer und Andreas Hieronymus haben in einer soziolinguistischen Untersuchung von Jugendlichen einer Schule in Hamburg festgestellt, dass die türkische Sprache, die – neben dem Deutschen in Deutschland unterdessen bei weitem wichtigste Sprache – in Teilen auch von nicht-türkischen Jugendlichen angeeignet und verwendet wird und daraus ein neues, drittes Idiom entsteht, das situativ von den Jugendlichen verwendet wird und nur ihnen verständlich ist. Jugend und Identität Haben diese Jugendlichen Identitätskonflikte? Identität ist, so heißt es, die als »Selbst« erlebte innere Einheit der Person. Identitätsentwicklung und -bildung sind zentral für die Entwicklungsphase 22 Elly Geiger »Deutsch – türkisch?« Jugend. Und am Ende dieses Entwicklungsprozesses steht ein (erwachsener) Mensch, der eine besondere Person ist und eine klar umrissene Identität hat. Eine Identität als Mann oder Frau zu entwickeln z.B., gehört zum Entwicklungsprogramm junger Menschen. Die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, die soziale Abkunft, die ethnischkulturelle Abkunft, das Leben in der Metropole oder auf dem Land etc. prägen Identität. Kein Zweifel. Aber auch hier ist es so, dass Identität kein einmal gepackter Rucksack ist, den ich mein Leben lang mit mir herumschleppe. Identität ist kontextgebunden, eingebettet in konkrete gesellschaftliche Verhältnisse. Individuen – und auch Gruppen – haben ein reflexives Verhältnis zur Gesellschaft, in der sie leben, zu deren Normen und Werten. Die Lebenspraxis von Individuen und deren individuelle und kollektive Identität erfahren ihre Sinnhaftigkeit und Brauchbarkeit nur und ausschließlich im ambivalenten und widersprüchlichen Prozess der Aneignung und Auseinandersetzung mit den sie umgebenden materiellen und immateriellen gesellschaftlichen Bedingungen. Und auch diese, nämlich die gesellschaftlichen Verhältnisse, befinden sich in einem ständigen Änderungs- und Verwandlungsprozess. Die Individuen sind gezwungen, damit umzugehen. Ich plädiere hier für ein Verständnis von Identität als eine Art lebendigen Organismus, der aus verschiedenen Teilidentitäten sich zusammensetzt, die in ihrer Existenz und Bedeutung immer wieder sich wandeln, neu entstehen, vergehen, stärker oder schwächer betont, mal hervorgekehrt, mal verborgen werden – je nach individuellem Bedürfnis, sozialem Kontext, gesellschaftlichen Vorgaben und Zwängen, vorhandenen Ressourcen, biographischen Ereignissen usw. Identität ist also – teilt man diese Beschreibung – etwas, was in Zeit und Raum in ständiger Veränderung sich befindet, immer wieder konstruiert wird und keinen Abschluss erfährt. Dieses Verständnis von Identität steht in einem Widerspruch zu den teils expliziten, teils impliziten Annahmen über ethnisch-kulturelle Identität bei 23 »Deutsch – türkisch?« Elly Geiger Migrantinnen und Migranten, die nachhaltig ihre Wirksamkeit in der Praxis sozialer Arbeit entfaltet haben. Gerade in diesem Bereich wird jener Rucksack angedichtet, ich möchte fast sagen: ihnen gegen ihren Willen aufgeschultert, der sie festschreibt auf eine erkennbare, klar abgrenzbare und ethnisch-kulturell determinierte, unveränderbare Identität, die – egal in welchen Verhältnissen sie leben – ihr Denken und Handeln bestimme. Mecheril (1997), der in Bielefeld über Migranten – ›andere Deutsche‹, wie er sie nennt – forscht, kritisiert an der oben skizzierten Ansicht über kulturelle Identität und Kultur- und Identitätskonflikte bei den anderen Deutschen hauptsächlich zwei Aspekte: • dass die von Migrantinnen und Migranten erlebten Konflikte primär als Kulturkonflikte definiert werden; • dass die Erfahrung kultureller Inkonsistenz immer nur ein Handicap sei. Bikulturelle Identität wird als eine spannungsreiche und bedrohte Identität gesehen, weil die personale Identität in ihrer gelungenen Variante nur einwertig sei. Gegen den Mythos, dass die von Migrantinnen und Migranten erlebten Konflikte immer als Kultur-Konflikte erlebt werden, wendet er ein, »daß es eine Reihe weiterer Themen gibt, die neben und gegebenenfalls vor dem ›Kulturthema‹ für Andere Deutsche vordergründig und grundlegend sind. Anzuführen ist hier das Thema ›Rassismus‹, aber auch das Thema ›Verwehrte Möglichkeiten der gesellschaftlichen Partizipation‹ usw. (...) Neben diesen Themen, die aus der spezifischen Lebenssituation Anderer Deutscher resultieren, müssen wir aber – so profan es klingen mag – davon ausgehen, daß auch allgemein, geschlechts- oder schicht- bzw. klassenspezifisch bedeutsame Themen wie Berufswahl, Arbeitslosigkeit, Zukunftsgestaltung und materielle Zukunftssicherung, eigene Kinder, Partnerschaft, Krankheit und Gesundheit usw. für Andere Deutsche im Vordergrund stehen. Der Mythos, daß sich die Lebenssituation Anderer Deutscher deskriptiv oder analytisch auf den ›Kulturkonflikt‹ reduzieren lasse, kann folglich als eine ungebührliche Pauschalisierung bezeichnet werden, die die Lebenssituation von Anderen Deutschen kulturalisiert.« (Mecheril 1997, S 91) 24 Elly Geiger »Deutsch – türkisch?« Und gegen die vermeintliche pathogene Qualität eines ›Lebens zwischen den Kulturen‹ argumentiert er: »Der (...) Mythos, daß die Erfahrung kultureller Inkonsistenz ein Handicap sei, ist eine einseitige Diagnose, die die andere Seite – die der positiven Möglichkeiten, die in der Lebenssituation (...) angelegt sind – nicht in den Blick geraten lässt. In der Lebenssituation können Chancen und Risiken ausgemacht werden. Das Risiko eines Lebens in, zwischen oder jenseits von zwei Kulturen besteht unter Umständen in der Möglichkeit der Verunsicherung und der Orientierungslosigkeit, zu deren individuellen Bewältigung keine adäquaten Mittel zur Verfügung stehen. Aber dieser ›multi- oder interkulturelle‹ Aufenthalt kann auch als Freisetzungserfahrung und Freisetzung aus dem Verbindlichkeits- und Vorgabenpool sozialer Gemeinschaften beschrieben werden, die das Individuum befähigen kann, in ein reflektiertes Verhältnis zu seinen eigenen Handlungen, Wahlen, Absichten, Neigungen, Vorlieben, Sehnsüchten, Idealen usw., kurz: zu sich selbst zu treten.« (Mecheril 1997, S. 91) Ist es nicht so, dass die Hilflosigkeit vor dem Uneindeutigen, vor den mehrkulturellen »Hybriden« die Apologeten der Kultur-Konflikt-Theorie in ein dichotomes, paternalistisches Weltbild »Wir und die Anderen« zwingt? Das, was sie zu entdecken geglaubt haben, haben sie überhaupt erst konstruiert: Ethnisch-kulturelle Unterschiede als wissenschaftlich gestütztes Erklärungsmodell für gesellschaftliche Desintegrationserscheinungen und -prozesse, Kulturkonflikte als Folie, auf der Konflikte verstehbar und handhabbar gemacht werden. Wir alle machen die Erfahrungen rasanter gesellschaftlicher Veränderungen, kultureller Brüche, persönlicher Krisen und inkonsistenter Identitäten, die uns vor hohe Anforderungen stellen. Die Identitäten werden konstruiert, die Bedeutungen und Verbindlichkeiten müssen ausgehandelt werden. Meine Identität, mein »Selbst« entsteht jeden Tag neu in einem reflexiven Prozess, den ich bis zum Ende meines Lebens gestalten werde – und muss. Dies ist für hier lebende »Andere Deutsche«, wie Mecheril sie nennt, nicht anders. Die Jugendlichen der Schule, die ich beschrieben habe, sind ein konkretes, lebendiges Beispiel dafür. 25 »Deutsch – türkisch?« Elly Geiger Zusammenfassung Wir sollten nicht das Geschäft derer besorgen, die Unterschiede in den Orientierungen und Lebensgewohnheiten zu unveränderlichen Wesens- und Kulturunterschieden erheben, um dann, sozialwissenschaftlich begründet, die »Anderen«, die »Fremden« außen vor lassen zu können, Ihnen elementare Teilhabe zu verweigern. Das Reden von den ausländischen ›Mit‹Bürgern ist ein beredtes Beispiel für die Legitimation einer kulturkonflikt-gestützten Verordnung einer Randexistenz von Migrantinnen und Migranten. Die Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft ist ein folgenreiches Beispiel dafür, was der Siegeszug ethnischer Semantiken, die zum festen Bestandteil national-konservativer und auch rechter Politikkonzepte geworden sind, an fatalen Effekten bewirkt hat. Ich möchte mit der Selbstbeschreibung eines jungen Türken abschließen, der nachdenklich über Identität macht: »Ich fühle mich eher (als) so eine Art Mischprodukt, ja, weil das ändert sich immer nach Sachlage. Also wenn es sich um politische Sachen handelt oder ja, wirklich so politisch und mit sozialen Inhalten, bestimmten Themen, ich fühle mich da schon eher türkisch, weil ich hab‘ da andere politische Kultur, andere politische Tradition sozusagen, ja, und deswegen so. Bei anderen Sachen, sagen wir mal Freundschaft, Arbeit und Studium oder sonst was, da fühle ich mich eher (als) Deutscher, weil diese meinen Vorgehensweisen entsprechen, das weiß ich schon, weil ich nichts anderes gelernt habe in dieser Hinsicht, ich meine, ich kenne ja nichts anderes als das, was ich hier gelernt habe, verstehst Du? Also nicht, dass ich das unbedingt das so bewirkt hab‘, weil, es hat sich so ergeben. Wir sind eigentlich also ein Mischprodukt aus beiden Kulturen«. (Atabay 1998, S. 186) 26 Elly Geiger »Deutsch – türkisch?« Literatur Atabay, Ilhami (1998): Zwischen Tradition und Assimilation. LambertusVerlag, Freiburg i. Breisgau. Auer, Peter; Hieronymus, Andreas (Hrsg.) (1997): Das versteckte Prestige des Türkischen. In: Kreisjugendring München-Stadt, S. 77 ff. Beck, Ulrich (1. Auflage 1986): Risikogesellschaft. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt. Breidenbach, Joana; Zukrigl, Ina (1998): Tanz der Kulturen. Kulturelle Identitäten in einer globalisierten Welt. Antje-Kunstmann-Verlag, München. Czock, Heidrun (1993): Der Fall Ausländerpädagogik. Cooperative-Verlag, Frankfurt. Huntington, Samuel P.(1997) : Kampf der Kulturen. München, Wien. Kreisjugendring München-Stadt (Hrsg.) (1997): Multikulturalität in den Metropolen, München. Lösch, Hans u.a. (1998): Multikulturelle Lebenswelten. In: DJI-Bulletin, H. 45. Mecheril, Paul (1997): Kulturkonflikt oder Multistabilität? Zugehörigkeitsphänomene im Kontext von Bikulturalität. In: Kreisjugendring München-Stadt (Hrsg.), a.a.O. Nieke, Wolfgang (1993): Wie ist interkulturelle Erziehung möglich? In: Kalb; Petry; Sitte (Hrsg.): Leben und Lernen in der multikulturellen Gesellschaft. Zweite Weinheimer Gespräche. Beltz-Verlag, München, Basel. Nunner-Winkler, Gertrud (1997): Wider die Mystifizierung des Fremden. In: Kreisjugendring München-Stadt (Hrsg.), a.a.O. Radtke, Frank-Olaf (1990): Der Beitrag der Wissenschaften zur Konstruktion ethnischer Minderheiten. Vorwort in: Dittrich; Radtke (Hrsg.): Ethnizität. Westdeutscher Verlag, Opladen. ders.. (1993): Multikulturalismus – Ein Gegengift gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus? In: Heßler (Hrsg.): Einwanderung und Fremdenfeindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland. Hitit-Verlag, Berlin. Elly Geiger, Leiterin der Abteilung für Grundsatzfragen der Jugendarbeit und Jugendpolitik beim Kreisjugendring München-Stadt 27 Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier Gesellschaftliche Bedingungen Die gesellschaftliche Realität der Bundesrepublik Deutschland ist in der Gegenwart und wird in der Zukunft dadurch gekennzeichnet sein, dass in ihr Menschen aus unterschiedlichen Kulturen leben, Menschen, die teils schon hier geboren wurden, teils aus unterschiedlichen Gründen hierher gezogen sind (Motte u.a. 1999). Der analytische soziologische Begriff einer »multikulturellen Gesellschaft« hebt zunächst einmal auf diese Realität einer ethnisch, national, religiös, kulturell gemischten Bevölkerung ab und stellt Gesellschaft und Politik vor die Frage, welche Art des Zusammen- oder Nebeneinanderlebens, der Integration, Assimilation oder Segregation angestrebt werden soll. Schon die Tatsache freier Wanderungsmöglichkeiten innerhalb der EU zeigt, dass sich Fragen interethnischen Zusammenlebens vermehrt stellen werden. Verstärkt wird dies noch durch Umbruchprozesse und bewaffnete Konflikte in Ost- und Südosteuropa und anderen Regionen der Welt sowie durch den Beitritt neuer zentral- und osteuropäischer Länder zur EU — alles Entwicklungen, die weitere Wanderungsbewegungen auslösen werden. 28 Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Multikulturalität Der Ausdruck »Multikulturelle Gesellschaft« tauchte etwa Mitte der achtziger Jahre in intellektuell-liberalen sowie in kirchlichen Kreisen im urbanen Milieu Westdeutschlands auf, nachdem die Zuwanderungszahlen von Ausländern angestiegen waren und Integrationsprobleme virulent wurden. In den USA hat der Begriff eine weiter zurück reichende Geschichte bis in die 1920er Jahre. Er entstand dort, als es wegen wirtschaftlicher Probleme (Börsenkrach) und immer größerer Zahlen von Immigranten unmöglich geworden war, an der traditionellen Akkulturations- und Assimilationspolitik des »melting pot« festzuhalten. Außerdem brauchte man die ethnischen Selbsthilfe- und Unterstützungsnetze (Familienclans, subkulturelle Solidargemeinschaften), um eine totale Verelendung dieser Gruppen zu verhindern (Tilly 1990). In Deutschland haben die Debatten um Multikulturalität ihren Höhepunkt in der öffentlichen, politischen Diskussion im Vorfeld der Änderung des Artikel 16 des Grundgesetzes (sog. »Asylparagraph«) 1993 gefunden. Seither ist die Debatte um Multikulturalität spürbar zurückgegangen. Vonseiten der Sozialwissenschaften liegen inzwischen Ansätze zu einer Kritik des Konzepts »Multikulturelle Gesellschaft« als konfliktblind und praktisch schwer einlösbar vor (Münz u.a. 1999). Mit dem Konzept »Multikulturelle Gesellschaft« sollte ursprünglich nicht die Realität, der empirische Zustand einer Gesellschaft beschrieben, sondern ein normatives Leitbild formuliert werden. Seine Intention war es, einen Beitrag zur Lösung der Integrationskonflikte mit Minderheitsangehörigen durch Verpflichtung auf weitgehende interkulturelle Toleranz zu leisten (Hamburger u.a. 1997, 214 ff.). Erst durch den Prozess der Trivialisierung in den Medien, in den Parolen populistischer Politik (jedweder Couleur) hat sich das Missverständnis eingeschlichen, man könne mit Bezug auf Deutschland auch im empirischen Sinne von Multikulturalität sprechen. Dem steht nicht zuletzt ein Staatsbürgerschaftsrecht entgegen, das am Abstammungsprinzip einerseits und am Integrationsprinzip andererseits festhält. Wer das deutsche Bürgerrecht erwerben will, muss – in einem gewissen Mindestumfang auch im kulturellen Sinn, z.B. durch Erwerb deutscher Sprachfertigkeit – »Deutscher« werden wollen. Multikulturalität im normativen, konzeptionellen Sinn würde aber ein akzeptierendes »Miteinander« (und nicht bloß ein Nebeneinander) bei Toleranz der Verschiedenheit und der Unterschiedlichkeit der Kulturen und 29 Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier Sprachen etc. implizieren. Ob dies gesellschaftliche Realität ist, mag mit guten Gründen bezweifelt werden (Radtke 1992), obwohl – durch die Tendenzen zur Entmischung und Ballung von Ausländern in bestimmten Stadtvierteln – bestimmte städtische Sozialräume durchaus äußerlich betrachtet den Eindruck des Zusammenlebens vielfältiger Kulturen machen. Die öffentliche Debatte über Probleme, Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten des sozialen und politischen Lebens einer multikulturellen Gesellschaft hat vielfältige politische und sozialwissenschaftliche Diskussionen entfacht. Neben diesen Diskussionen um die multikulturelle Gesellschaft, nimmt die Frage der »Akzeptanz von Fremdheit« vonseiten der Mehrheitsgesellschaft bzw. deren dominanten Gruppen und Kulturen heute eine gesellschaftspolitische Schlüsselposition ein. Es handelt sich dabei um eine Problematik, die auch von großer Relevanz für Jugendpolitik und somit auch für Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit ist. Partielle Integration Der Status von Arbeitsmigranten bzw. Angehörigen ethnischer Minderheiten in der »deutschen Version« einer multikulturellen Gesellschaft kann als ein Zustand partieller Integration bei gleichzeitiger partieller Ausgrenzung charakterisiert werden. Diese Situation partieller Integration und Teilausgrenzung wurde bereits in vielen Forschungsarbeiten sowohl hinsichtlich der sozial-strukturellen Dimensionen von Integration (z.B. hinsichtlich des rechtlichen Status von Migranten in der Gesellschaft; ihrer Positionierung im Bildungswesen sowie auf dem Ausbildungs-, Arbeits- und Wohnungsmarkt) als auch hinsichtlich der sozialen Integration in Primärgruppen und Kultur festgestellt. Am deutlichsten und am problematischsten manifestiert sich bisher das Phänomen der sozialen Ausgrenzung im politischen Bereich, wo Arbeitsmigranten bzw. Minderheitsangehörige auf Grund ihres rechtlichen Status nicht oder nur in eingeschränktem Maße am Prozess politischer Meinungsbildung bzw. politischer Entscheidung partizipieren können. Auch wenn mit der Novellierung des Staatsbürgerschaftsgesetzes von 1999 diese Situation sich insbesondere für Jugendliche ändern wird, bleibt dieser Bereich von »Integration«, auch wegen des in der Gesellschaft vorherrschenden politischen und sozialpsychologischen »Klimas«, höchst sensibel und problematisch. 30 Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten In bestimmten (nicht immer) unterprivilegierten Schichten und Gruppen der Mehrheitsgesellschaft werden Stimmen laut, »Ausländer«, »Fremde« nicht nur weiter wie bisher von bestimmten Rechten und Partizipationsmöglichkeiten auszuschließen, sondern sie sogar aus erreichten Positionen zu verdrängen. Diese Stimmen finden, wie man seit geraumer Zeit beobachten kann, ihren Ausdruck auch in der allgemeinen politischen Auseinandersetzung, wobei Diskussionen, wie sie bezüglich der Veränderung des Asylrechts oder vor kurzem der Novellierung des Staatsangehörigkeitsgesetzes bzw. der eventuell gesetzlichen Regelung einer möglichen doppelten Staatsangehörigkeit erlebt wurden, schwer einschätzbare Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Mehrheits- und Minderheitsgruppen innerhalb der multikulturellen Gesellschaft haben können. Migration im Wandel Dennoch und trotz der genannten politischen Auseinandersetzungen kann faktisch die zunehmende Multikulturalität und Multiethnizität des Gemeinwesens, insbesondere in den Ballungsgebieten, nicht geleugnet werden. Dabei sind seit Ende der 80er Jahre in engem Zusammenhang mit dem Prozess der deutschen Vereinigung entscheidende Veränderungen eingetreten, sowohl in den Einstellungen der Mehrheitsgesellschaft zur eigenen »Identität« und zu den ethno-kulturellen Minderheiten als auch in den Einstellungen der Migranten zur deutschen Gesellschaft. Diese Wandlungsprozesse kommen heute zu ihrer vollen Entfaltung. So ist z.B. unter bestimmten Migrantenpopulationen, insbesondere solchen türkischer Herkunft, eine Veränderung des Selbstverständnisses festzustellen. Sie fühlen sich heute eher als Angehörige einer ethnischen Minderheit denn als vorübergehend in Deutschland lebende »Gastarbeiter« oder »ausländische Arbeitnehmer« bzw. »ausländische Mitbürger«. Als Ausdrucksformen dieses veränderten Selbstverständnisses können Phänomene gelten wie eine immer längere Aufenthaltsdauer in Deutschland, die Entwicklung eigener sozialer und kultureller Sub-Systeme (»Einwandererkolonien«), über die Migranten viele Probleme des Alltags lösen und über die sie leichter mit ihrer deutschen Umwelt eigene Interessen aushandeln; die zunehmenden Betriebsgründungen in Deutschland vonseiten türkischer und anderer Migranten sowie deren Investitionen in Wohnungskauf. 31 Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier Auch das Entstehen einer zweiten und dritten Generation, die ihre Zukunft ausschließlich in Deutschland sieht, ist Bestandteil eines solchen Wandels. Die jugendlichen Migranten leben im Spannungsfeld zwischen »Teil-Integration« und »Teil-Ausgrenzung«, ein Aspekt, der bei der Analyse ihrer Lebenslage mit einbezogen werden muss: Die Lebenslagen und Arbeitswelten von jugendlichen Migranten werden von den Modernisierungs- und Wandlungsprozessen, die zur Zeit in modernen Industriegesellschaften stattfinden, in besonderem Maße bestimmt. Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft hat das Verschwinden unqualifizierter Arbeitsplätze, immer längere Qualifizierungsphasen für junge Menschen, schwierige Konkurrenzbedingungen, neue Unterschichtungsphänomene und das Schwinden der Integrationskraft des Arbeitsmarktes zur Folge. Die Beschäftigungssituation der jungen ArbeitsmigrantInnen spiegelt deren allgemeine Situation von partieller Eingliederung bei gleichzeitiger Marginalisierung wider: Es ist festzustellen, dass sie in weniger attraktiven Tätigkeitsbereichen überrepräsentiert sind, insbesondere im Baugewerbe (13,6 Prozent), im verarbeitenden Gewerbe (11,6 Prozent) und in Land- und Forstwirtschaft (13,5 Prozent). In den prestigeträchtigeren und besser bezahlten Bereichen, wie z.B. dem Versicherungs- und Banksektor (2,5 Prozent) und im öffentlichen Dienst (Gebietskörperschaften 3,4 Prozent), liegt ihr Anteil noch weit unter dem Durchschnitt der Gesamtarbeitnehmerschaft (Lederer, 1997). Auch bei den registrierten und nicht registrierten Arbeitslosen sind vor allem die jugendlichen ArbeitsmigrantInnen überrepräsentiert. Die schlechte Arbeitsmarktsituation in der Bundesrepublik hat auch zur Folge, dass die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze in der Bundesrepublik sinkt, während gleichzeitig die Zahl der BerwerberInnen ansteigt (insbesondere in den neuen Bundesländern; vgl. Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie 1997). Durch die zunehmende Konkurrenz bei der Ausbildungsplatzsuche werden die Probleme für jugendliche MigrantInnen sowie andere sozial benachteiligte Jugendliche und generell für junge Frauen größer: Sie werden auf dem engen Ausbildungsstellenmarkt ab 1994 zunehmend ausgegrenzt. 32 Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Miteinander – Nebeneinander – Gegeneinander: Zum Verhältnis von deutschen und ausländischen Jugendlichen Für den Alltag in einer so genannten multiethnischen Gesellschaft spielen nicht allein die Angebote von ausländerpädagogischen Maßnahmen, von Begegnungs- und Integrationsprojekten eine Rolle. Wichtiger ist das Ausmaß der informellen Begegnungsmöglichkeiten und die Art des zwanglosen Umgangs miteinander. Zwischen den Polen Miteinander, Nebeneinander und Gegeneinander pendelt sich die spezifische Qualität einer multikulturellen Umgangskultur ein, und macht sie auch ihre Probleme. Zur Klärung dieser Umgangskultur greife ich auf die Befunde der 13. Shell Jugendstudie (2000) zurück. Danach lässt sich folgendes Bild zeichnen. Begegnung – in der Schule ja, sonst aber kaum Die einfachste Frage, die sich in unserem Zusammenhang stellen lässt, ist: »Wie häufig hast Du mit ausländischen Jugendlichen zu tun?«. Gefragt waren nur Deutsche. Die Jugendlichen hatten die Möglichkeit, zwischen vier Antwortvorgaben von »sehr häufig« bis »überhaupt nicht« zu wählen. Die Ergebnisse sind eindeutig: fast ein Viertel der jungen Deutschen bekundet, »überhaupt nicht« mit ausländischen Altersgenossen zu tun zu haben; fast die Hälfte (46,9%) gibt an »weniger häufig«. Das sind zusammengenommen gut zwei Drittel. Und das bedeutet, dass wir davon auszugehen haben, dass sich Begegnung und Kontakt zwischen deutschen und ausländischen Jugendlichen eher noch in Grenzen halten und bei der großen Mehrheit eher selten sind. Es fällt aber auf, dass Schüler und – noch deutlicher – Studenten häufiger Kontakte zu Ausländern angeben. Ihre Prozentwerte für »häufig« und »sehr häufig« steigen auf 37,1% (Schüler) bzw. 41,1% (Studenten). Die besondere Bedeutung der Bildungsinstitutionen für die Begegnung von jungen Leuten verschiedener Nationalität wird hier bereits sichtbar (vgl. ausführlicher dazu weiter unten). Dagegen scheinen in der Arbeitswelt, also bei Auszubildenden und Berufstätigen, auch bei Arbeitslosen – anders als man vielleicht vermuten würde – Erfahrungen mit Ausländern seltener als im Durchschnitt zu sein. Lässt man die Auszubildenden unberücksichtigt (weil in ihrer Situation die Pflichtberufsschule immer noch für Begegnungen sorgt), so sind es weniger 33 Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier als ein Viertel der berufstätigen Jugendlichen, für die Kontakte mit ausländischen Jugendlichen normal, weil häufig sind. Ein genauerer Blick zeigt überdeutlich, dass zu diesem Gesamtbefund vor allem Jugendliche aus Ostdeutschland beitragen. Für sie gilt: nach ihren Auskünften haben sie so gut wie gar keinen oder nur weniger häufigen Kontakt zu Nichtdeutschen. Fasst man die Antworten »überhaupt nicht« und »weniger häufig« zusammen, so trifft das für mehr als 90% der ostdeutschen Jungen und Mädchen zu. 1 »Die Deutschen ziehen hier alle weg« – Wohnverhältnisse Die Prozesse der Segregation und Verdichtung von Ausländern und ausländischen Familien in bestimmten Wohnvierteln, ja sogar Mietwohnungen – die hier nicht weiter zu verfolgen sind – beschäftigen seit langem Urbanisten und Stadtplaner. Sie haben dazu geführt, dass Deutsche und Ausländer immer noch relativ »entmischt« jeweils in ihren eigenen Wohnumgebungen leben. Auch dies ist ein starker Einwand gegen die Vorstellung, Multikulturalität sei eine Beschreibung der Realität. Wir haben deutsche und ausländische Jugendliche danach gefragt, ob sie in ihrem Haus und in ihrer Wohngegend überwiegend mit deutschen Familien, mit ausländischen Familien oder (im Fall der Wohngegend) mit etwa gleich vielen deutschen und ausländischen Nachbarn wohnen. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass Differenzierungen der geläufigen Thesen von Entmischung und Separation notwendig sind. Während die deutschen Jugendlichen fast alle (94 %) mit deutschen Hausnachbarn leben und die italienischen Altersgenossen noch recht gut integriert sind (71% mit deutschen), geben mehr als die Hälfte (55%) der jungen Türken an, in Häusern mit überwiegend türkischen Familien zu leben. Die Segregation betrifft also vor allem Jugendliche türkischer Nationalität und ihre Familien. Keinesfalls darf andererseits übersehen werden, dass nach den Angaben der Befragten fast 44% der türkischen Familien mit deutschen Nachbarn leben. 1 Zitat eines türkischen Jugendlichen aus einem explorativen Interview. 34 Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Interessant ist der deutliche Zusammenhang mit dem Ausstattungsniveau (nach »Ausstattungsindex«) der Jugendlichen. Wie zu erwarten ist, leben umso mehr deutsche Jugendliche in Häusern mit ausländischen Nachbarn, je geringer ihre Ressourcenausstattung ist. Entscheidend hierfür dürften die schon erwähnten materiell-finanziellen Aspekte (billige Wohnungen) sein. Etwas verallgemeinernd gesprochen: je niedriger der soziale Status, desto mehr Integration von deutschen und ausländischen Familien ergibt sich – meist wider Willen und nicht aus Überzeugung, sodass hier potenzielle Konfliktkonstellationen entstehen. Freizeit mit wem? Deutschen und ausländischen Jugendlichen haben wir eine Liste mit unterschiedlichen Aktivitäten in der Freizeit, also außerhalb von Bildungsinstitutionen oder Arbeitsplatz, vorgelegt und sie gebeten, uns zu sagen, ob sie diese Beschäftigungen »allein, mit deutschen Freunden, mit ausländischen Freunden, gemischt – je nachdem« unternehmen. In den Antworten der westdeutschen Jugendlicher spiegelt sich ein großer, um 50% schwankender Anteil von solchen, die ihre Aktionen »mit deutschen Freunden« unternehmen (mit Ausnahme der Beschäftigungen Hausaufgaben und Computern, was man natürlich eher »allein« macht). Die Kategorie »gemischt« fällt dagegen schwächer aus; sie erreicht in der Mehrzahl der Beschäftigungen Werte zwischen einem Fünftel und gut einem Drittel. Ein Gewicht von über 40% erreichen bei dieser Antwortkategorie nur Sport, Jugendzentrumsbesuch, Feiern/Partys, Kneipenbesuch und Musikmachen (letzteres wird aber nur von vergleichsweise wenigen Jugendlichen betrieben). Das bedeutet, zwangloses Miteinander zwischen Deutschen und Ausländern stellt sich für die Westdeutschen am ehesten an den klassischen Freizeitorten her, seien sie organisierter (Sport, Jugendzentrum) oder informeller Art (Party, Kneipe). Die Antwort »mit ausländischen Freunden« erfährt insgesamt so gut wie keine Zustimmung; die Werte schwanken zwischen 0,5% und 1,9%. Freizeit »nur« mit Ausländern spielt also keine Rolle. Bei den ausländischen Jugendlichen unserer Stichprobe stellt sich das anders dar. Hier ist die Antwortkategorie »gemischt« bei fast allen abgefragten Beschäftigungen die gewichtigste und erreicht häufig einen Wert um 60% oder 35 Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier darüber. Im informellen Freizeitbereich (Partys, Kneipen) werden Werte von über 70% erreicht. Ausnahmen sind nur Hausaufgabenmachen und Computern (aus dem schon genannten Grund) und Urlaubsreise (bei der man vermuten darf, dass hier – wie bei den Deutschen auch – die Landsleute deshalb eine größere Rolle spielen, weil es sich um Verwandte oder Familienangehörige handelt). Im Vergleich mit den Deutschen (dort ist die Antwort »mit ausländischen Freunden« die Entsprechung) ergeben sich aber auch bei der Kategorie »mit deutschen Freunden« erheblich höhere Prozenthäufigkeiten. Sie liegen fast durchweg zwischen 10% und 15%. Zumindest im Freizeiterleben der (west-)deutschen Jugendlichen spielen deutsche Freunde die Hauptrolle. Freizeit »nur« mit ausländischen Freunden kommt eher nicht oder nur in marginalem Umfang vor. Meist bleibt der Kontakt zu ihnen in der Freizeit dem Zufall überlassen, eben »je nachdem«, wie es sich so ergibt. Bei italienischen und türkischen Jugendlichen sieht das anders aus; für sie ist es unerlässlich, auch in der Freizeit mit gemischten Gruppen zurechtzukommen. Italiener scheinen in dieser Hinsicht weitgehend assimiliert, während für Türken die eigenen Landsleute eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Meinungen – Urteile – Vorurteile Was deutsche und ausländische Jugendliche übereinander denken Wo Menschen zusammenleben, gibt es Meinungen, Urteile und Vorurteile übereinander. Das gilt natürlich in besonderem Maß im Fall von fremden Kulturen und Nationalitäten. Uns hat nicht interessiert, die im Schwange befindlichen wechselseitigen Vorurteile zu erfassen. Wir wollten vielmehr jene Urteile und Meinungen kennenlernen, die etwas mit dem Zusammenleben – sei es im Miteinander, im Neben- oder Gegeneinander – von deutschen und ausländischen Jugendlichen zu tun haben und die möglicherweise die Art des Zusammenlebens beeinflussen. Wir wollten z.B. untersuchen, was sie voneinander halten (Frage: Können deutsche und ausländische Jugendliche voneinander lernen?), wie sie sich im Vergleich mit Jugendlichen anderer Nationalität erleben (eher ähnlich oder eher anders?), ob sie sich vorstellen könnten, jemanden mit einer anderen Nationalität zu heiraten usw. Kurz gesagt, wir wollten die Meinungen und Urteile erfahren, die mit den Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen zu tun haben. 36 Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Leben zu viele Ausländer bei uns? Eine wichtige Bedingung für die grundsätzliche Haltung ausländischen Jugendlichen gegenüber mag vielleicht das Urteil darüber sein, ob es eher zu viele oder eine akzeptable Zahl von Ausländern in der Bundesrepublik gibt. Wir haben deshalb gefragt »Ist nach Deiner Meinung der Anteil von Ausländern in Deutschland zu hoch, gerade richtig oder zu niedrig?« Jungen und Mädchen in Ost und West sind sich einig: der Anteil der Ausländer ist zu hoch. Das sagen im Durchschnitt gut 62% der deutschen Jugendlichen unserer Stichprobe. Es gibt deutliche Unterschiede zwischen Ost und West und zwischen Jungen und Mädchen. Am entschiedensten geben dieses Urteil die Jungen und jungen Männer in Ostdeutschland (71,1%) ab. Die Mädchen und jungen Frauen in den neuen Bundesländern sind etwas weniger entschieden, erreichen aber immer noch 67,7%. Wie oben schon gesagt gibt die Bewertung, ob der Anteil von Fremden zu hoch oder nicht sei, nicht unbedingt konkrete eigene Erfahrungen, sondern eher so etwas wie eine allgemeine Stimmung oder allgemeine Befürchtungen bzw. politisch-moralische Richtungen wieder. Deshalb mag es interessant sein zu prüfen, ob ein größeres Ausmaß von Kontakten und Begegnungen mit größerer Akzeptanz der Situation verbunden ist als geringere Kontaktmöglichkeiten. Um dies zu prüfen, haben wir die Jugendlichen nach den Antworten auf die Frage »Wie häufig hast Du mit ausländischen Jugendlichen zu tun?« in die vier vorgegebenen Antwortgruppen neu geordnet und geprüft, ob sich Unterschiede finden lassen zwischen denen mit »sehr häufigen« Kontakten und anderen, die »weniger häufig« oder »gar nicht« Begegnungen haben. 37 Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier Einschätzung des Ausländeranteils nach Häufigkeit der Kontakterfahrung Ausländeranteil ist ... Deutsche Jugendliche insgesamt Wie häufig hast Du mit ausländischen Jugendlichen zu tun? sehr häufig häufig weniger überhaupt häufig nicht zu hoch 62,2 48,3 48,5 64,0 78,0 gerade richtig 35,9 45,1 49,5 34,3 21,6 zu niedrig 1,9 6,6 2,0 1,7 0,5 Die Befunde sprechen für sich selbst. Sie bestätigen den (nur scheinbar paradoxen) Zusammenhang zwischen Kontaktlosigkeit und Einschätzung des Ausländeranteils als zu hoch. Sie zeigen aber auch, dass zahlreichere Kontakte zu ausbalancierteren Bewertungen zwischen zu hoch und gerade richtig führen. Wenn man sich die oben berichteten Ergebnisse darüber vor Augen hält, welche Gruppen dichtere Begegnungen haben, kann dies nicht verwundern. Selbstbilder im Vergleich mit den anderen: Nähe und Fremdheit Die Jugendlichen wurden gefragt: »Es gibt Gewohnheiten und Dinge im Leben, in denen sich Deutsche und Ausländer eher ähnlich sind und solche, in denen sie sich eher unterscheiden. Wie ist das bei Dir persönlich?« Wir fragten also nach einer persönlichen Selbsteinschätzung, nach dem Selbstbild im Blick auf die anderen. Von diesem Selbstbild darf natürlich nur sehr eingeschränkt auf das tatsächliche Verhalten geschlossen werden. Es sagt aber sehr viel über die erlebte Nähe bzw. Fremdheit im Vergleich mit den jeweils anderen Nationalitäten. 38 Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Die in der Liste erfragten Verhaltensbereiche beziehen sich auf • potenziell ethnisch spezifische, kulturelle Verhaltensbereiche (Essen und Trinken, Kleidung, Familienleben, Religion, Verhältnis zu Kindern), • cliquen- und freizeitorientiertes Jugendleben (Fernsehen, Musik hören, Zusammensein mit Freunden, Sport treiben, in Diskotheken gehen, Urlaubsgestaltung), • Erfüllung der Qualifikationsaufgaben (Schule/Ausbildung/Arbeit), • Eigene Verselbständigung/Eigenleben (Geld ausgeben, Umgang mit fester Freundin/festem Freund, Verhältnis zwischen Jugendlichen und Erwachsenen), • Politik und Zukunftsgestaltung. Betrachtet man die Befunde, fällt ein Generalergebnis auf: Türkische Jugendliche, und noch stärker italienische, betonen sehr viel stärker, sie würden sich ähnlich wie die deutschen verhalten; dagegen sind deutsche energischer auf Unterschiede bedacht und betonen entschiedener, sie würden sich anders verhalten. Der Überblick zeigt außerdem: • mit nur drei Ausnahmen (Familienleben, Religion und – schon weitaus weniger deutlich – Verhältnis zwischen Jugendlichen und Erwachsenen) liegt die Zustimmung bei allen Befragten über 50%; d.h. in Bezug auf fast alle abgefragten Bereiche erleben sich junge Leute mehrheitlich als »eher ähnlich«; • beim Sport treiben werden die höchsten wechselseitigen Ähnlichkeiten registriert; das gilt für die Antworten aller drei Gruppen; Sport scheint am wenigsten mit Ethnizität zu tun zu haben; • bei der Religion sind die größten Unterschiede festzustellen, allerdings nur in Bezug auf die Türken; dies spiegelt den Unterschied zwischen christlicher und muslimischer Religion wider, bei dem die Verhaltensweisen gewissermaßen durch die religiösen Gemeinschaften vorgegeben und durch die Jugendlichen nur in begrenzter Weise modifizierbar sind; immer aber gilt, dass Türken und Italiener die Ähnlichkeit zu den Deutschen stärker betonen als umgekehrt. 39 Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier Fundamental scheinen sich die Selbstbilder der in Deutschland lebenden Jugendlichen der genannten Nationalitäten nicht zu unterscheiden. Die Unterschiede sind vielmehr gradueller Art. Jedoch nehmen sie sich im Vergleich doch auch unterschiedlich wahr. Konsens besteht bei allen darin, dass die Bereiche Religion und Familie sehr verschieden gelebt werden. Abgesehen davon überwiegen in fast allen anderen Bereichen die Ähnlichkeiten. Offensichtlich überformt und nivelliert der Jugendstatus (das gemeinsam geteilte Jugendleben) den kulturellen, ethnospezifischen Status. Italiener und Türken sind nicht einfach Ausländer, sondern zuerst einmal Jugendliche und teilen die jugendtypischen Verhaltensstile. Aber: Während deutsche Jugendliche, die Vertreter der Mehrheitskultur, die Feststellung von Ähnlichkeiten zwischen ihnen und den Ausländern eher sparsam handhaben, betonen Türken und noch mehr Italiener diese Ähnlichkeiten sehr stark. Es könnte sein, dass sich dahinter ein unterschiedliches Bewusstsein verbirgt. Für die deutsche Jugend wird durch ihre jugendtypischen Lebensformen kein Konflikt mit ihrer Herkunftskultur markiert. Das ist bei einem Teil der Italiener und bei einem größeren Teil der Türken anders, besonders bei den Mädchen. Das lässt die Spannung deutlicher spüren und führt im Vergleich der eigenen Lebensweise mit den tradierten Verhaltensstandards der eigenen Kultur dazu, sich bewusster für die deutschen Lebensstile zu entscheiden, so gut es geht wie deutsche Jugendliche auch zu leben. Ausnahmen hiervon sind nur die genannten kulturspezifischen Bereiche, wiederum vor allem für die Mädchen. Die viel beklagte und v.a. den Türken und einigen weiteren Ausländer- und Flüchtlingsgruppen zugeschriebene Unwilligkeit zur Anpassung an die deutschen Lebensweisen scheint damit zumindest für die hier untersuchten Gruppen von Jugendlichen nicht zuzutreffen. Vielmehr kommt in manchen Problemen wohl eher das unterschiedlich große Spannungsverhältnis zwischen Jungsein und Ausländersein zum Tragen. Mit diesem Spannungsverhältnis hat sich Bendit (1997, 133 ff.) ausführlich auseinander gesetzt. »Die Liebe ist eine Himmelsmacht« – Interkulturelle Heiratsneigungen »In welchem Maße ausländische Migranten oder ihre Abkömmlinge eine Ehe mit Personen der angestammten Wohnbevölkerung eingehen, ist ein Hinweis 40 Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten auf ihren Grad der gesellschaftlichen Integration; somit stellt die Zahl dieser Eheschließungen einen Indikator für die soziale Eingliederung dar« (europäisches forum für migrationsstudien, 1997, 33). Unsere diesbezügliche Frage lautete: »Unter welchen Voraussetzungen würdest Du jemanden, der/die nicht Deiner Nationalität ist, heiraten?« Die Antwortvorgaben (Mehrfachnennungen wurden zugelassen), waren: • dass er/sie dieselbe Religion hat wie ich, • dass er/sie meine Religion annimmt, • dass meine Eltern einverstanden sind, • dass er/sie unsere Kinder so erzieht, wie ich mir das vorstelle, • dass er/sie mir gefällt, alles andere ist nicht wichtig, • dass er/sie bereit ist, mit mir in mein Heimatland zu ziehen, • dass seine/ihre Familie mich akzeptiert, • dass ich ihn/sie liebe und sonst nichts, • ich kann mir eigentlich gar nicht vorstellen, jemanden mit einer anderen Nationalität zu heiraten. Beginnen wir mit der letzten, der Ausschlussposition. Sie wird von einem reichlichen Viertel (28,4%) der Deutschen, einem guten Fünftel (21,5%) der Türken, aber von nur 3% der Italiener vertreten. Die schon öfter in diesem Zusammenhang bei den Italienern auffällige Offenheit, und geringe Verhaftung an die Eigengruppe, zeigt sich hier noch einmal drastisch. Wichtigste Bedingung für das Eingehen einer gemischten Ehe ist bei allen Gruppen die Liebe. Mehr als die Hälfte der Deutschen und Türken sowie drei Viertel der Italiener äußern sich so. Keine andere Vorgabe erfährt diese mehrheitliche Zustimmung. Das ähnlich formulierte Item »dass er/sie mir gefällt«, das aber doch mehr auf die erotische Anziehung abstellt, erhält weniger Zustimmung. Es erreicht aber bei Deutschen (vor allem bei Jungen) mit etwa 33% noch eine recht starke Betonung. Türkische und italienische Jugendliche finden das nur zu etwa einem Viertel wichtig. Erstaunlich gering wird die Bedeutung der gleichen Religion geschätzt. Allenfalls bei den türkischen Jugendlichen (vor allem bei Jungen) spielt sie als Heiratsbedingung noch eine gewisse Rolle; aber auch bei ihnen eine viel kleinere 41 Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier als etwa das Einverständnis der Eltern oder umgekehrt die Akzeptanz durch die Partnerfamilie. Die ganz herausgehobene Bedeutung der Liebe für das Eingehen einer Heirat mit einem Partner/einer Partnerin anderer Staatsangehörigkeit zeigt zweierlei: Der für moderne Gesellschaften kennzeichnende Prozess der Individualisierung führt dazu, dass für die Gesellschaftsmitglieder die individuelle IchIdentität wichtiger wird als die kollektive Wir-Identität (Elias 1987). Dass junge Leute das subjektiv-individuelle Gefühl der Liebe so deutlich über soziale Erwartungen oder ethnische Bindungen stellen, ist ein guter Beleg hierfür. Noch einmal wird daran deutlich, dass die Eigentümlichkeiten des Jugendlebens den ethnischen Status überformen und nivellieren. Zu den Eigentümlichkeiten der Jugendphase gehört eben zentral der Bereich der Liebeserfahrungen und -beziehungen; sie sind eine wichtige Bedingung für die Lösung jener jugendtypischen Aufgabe, die im Amerikanischen »pairing«, also Partnerfindung, genannt wird (Oerter 1987). »Die Ausländer nehmen den Deutschen die Arbeit weg« Ausländerfeindlichkeit unter Jugendlichen Die Diskussionen über Fremden- bzw. Ausländerfeindlichkeit waren in der jüngeren Vergangenheit ein Standardthema in den öffentlichen und politischen Diskussionen über Jugend. Eine Fülle von Literatur mit zum Teil sich widersprechenden Thesen über Ausmaß und Ursachen ist erschienen. Ein Konsens zwischen den konkurrierenden Ansätzen – außerhalb des synkretistischen kleinsten gemeinsamen Nenners: an allem ist etwas dran – ist bisher nicht zu erkennen. Dabei geht es nicht ohne Pauschalisierungen und Unschärfen ab. So werden etwa Rechtsradikalismus, Gewaltbereitschaft und Fremdenfeindlichkeit in einen Topf geworfen und als so genanntes Syndrom ohne scharfe Konturen beliebig postuliert, auch dramatisiert und skandalisiert. Insbesondere drängen sich wissenschaftlich fragwürdige, weil ungeheuer vereinfachende Fragen in den Vordergrund, allen voran die scheinbar so einfache Frage: wie groß ist eigentlich der Anteil »ausländerfeindlicher Jugendlicher« an der Gesamtpopulation der Jugend heute? 42 Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Natürlich hat eine solche Frage eine verführerische Schlichtheit. Sie unterschlägt aber, dass Fremden- oder Ausländerfeindlichkeit unbestimmte Begriffe sind. Es gibt keine eindeutige Füllung dieser Termini. Was darunter zu verstehen ist, darüber geht ja gerade der Streit der Konzeptionen und Theorieansätze. Es ist keineswegs einfach, diese Pauschalkategorien inhaltlich-konkret zu füllen bzw. – forschungspraktisch gewendet – sie zu operationalisieren. Weil sie je nach theoretischem Vorverständnis ganz unterschiedlich interpretiert werden, sind die bisher vorliegenden Forschungsergebnisse auch außerordentlich heterogen, schwer miteinander zu vergleichen und zusammenzuführen (vgl. Münchmeier 1997). Weiter wird unterschlagen, dass Fremdenfeindlichkeit nicht etwas Bestimmtes oder Konsistentes meinen kann, sondern ein Kontinuum bezeichnet. Die Übergänge von »normalen«, rational begründeten Argumenten gegen weitere Zuwanderung zu einer grundsätzlich ablehnenden oder gar feindlichen Gesinnung Ausländern gegenüber vollziehen sich nicht abrupt, sondern gleitend. Die Frage nach dem Umfang oder der Verbreitung von Fremdenfeindlichkeit ist deshalb immer auch ein Maßstabsproblem. Ganz übersehen wird in solchen »einfachen Fragen«, dass ausländerfeindliche Einstellungen nicht einfach zu einem Jugendproblem gemacht werden können. Ob junge Menschen in höherem Maß »anfällig« für solche Haltungen sind als Erwachsene, lässt sich angesichts der Forschungslage kaum mit einiger Sicherheit beantworten. Vieles spricht im Gegenteil dafür, dass Xenophobie kein typisches Jugendproblem ist, das mit den spezifischen Konstellationen des Jugendalters (z.B. mangelnde Einsicht oder Reife, Verführbarkeit, schlechte Vorbilder, Neigung zum Provokanten usw.) zu tun hat, sondern eine Erscheinung, die ebenso bei Erwachsenen zu konstatieren ist und damit auf allgemeinere Bedingungen verweist. Um diese und andere Probleme zu vermeiden und in der grundsätzlichen Vorgehensweise der Shell Jugendstudien zu verbleiben, haben wir uns trotz der genannten Schwierigkeiten auch in diesem Zusammenhang entschieden, auf eine vorab getroffene und durch irgendeine der vielen Theorien gestützte Definition von Ausländerfeindlichkeit zu verzichten. Erst recht wollten wir nicht aus einem bestimmten Verständnis heraus, Items zur Fremdenfeindlichkeit »deduzieren« und den Jugendlichen vorlegen. Wie im Kapitel »Beschreibung der Skalen« erörtert, haben wir vielmehr mit den explorativen Interviews 43 Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier beginnend in der quantitativen Vorstudie eine Skala »Ausländerfeindlichkeit« konstruiert, sind also induktiv vorgegangen. Die Schwierigkeiten und Überraschungen, auf die wir dabei stießen, sind dort erläutert. Die Skala besteht aus den folgenden 10 Aussagen. • Ausländer, die in Deutschland kriminell werden, sollten sofort abgeschoben werden. • Die Ausländer nehmen den Deutschen die Arbeit weg, weil sie für weniger Geld arbeiten. • Vielen Ausländern geht es in Deutschland zu gut. • Ausländer, die sich nicht anpassen wollen, haben hier nichts verloren. • Deutschland ginge es wirtschaftlich viel besser, wenn nicht so viele Ausländer hier leben würden. • Deutsche sollten keine Ausländer heiraten. • Die meisten Politiker in Deutschland sorgen sich zu sehr um die Ausländer, nicht um den normalen Deutschen. • Es gibt in Deutschland einfach zu viele Ausländer. • Ausländer sollten sich in der Öffentlichkeit nicht so herausfordernd benehmen. • Ich versuche, mich von ausländischen Jugendlichen möglichst fernzuhalten. Der Abfragemodus sah vier Stufen vor, von »trifft überhaupt nicht zu« bis »trifft sehr zu«. Gefragt waren nur deutsche Jugendliche. Insgesamt ergibt sich daraus ein Skalenmittelwert von 25,4. Wegen des schon genannten Maßstabproblems lässt sich damit aber wenig anfangen. Deshalb haben wir folgendes Verfahren gewählt: Aus den erreichten Skalenpunkten haben wir Gruppen von jeweils etwa einem Quartil gebildet, indem die Werte zwischen dem Minimum (10) und dem Maximum (40) in vier Intervalle eingeteilt werden. Das ermöglicht es, das Quartil mit den höchsten Skalenwerten und jenes mit den niedrigsten Werten als gewissermaßen zwei Extremgruppen miteinander zu vergleichen. 44 Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten In der Zusammensetzung der beiden Gruppen überwiegen besonders in Ostdeutschland männliche Jugendliche beim oberen Quartil. Bei denen mit niedrigem Niveau ist es umgekehrt, besonders im Westen. Erheblich mehr Jugendliche mit niedrigerem Schulabschluss (in Westdeutschland, in Ostdeutschland dominiert wegen der Unterschiede im Schulsystem die Realschule), früherem Eintritt in die Arbeitswelt und – natürlich – geringerer Ressourcenausstattung finden sich unter den Ausländerfeindlichen im oberen Quartil. Die Bildungsabschlüsse der Eltern von stark Ausländerfeindlichen sind erheblich niedriger als bei den wenig Fremdenfeindlichen. Vater und Mutter sind bei ihnen häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen, insbesondere in Ostdeutschland. Dort sind auch viele hoch-fremdenfeindliche mit ihrer finanziellen Situation nicht zufrieden. Auch im Blick auf Parteienpräferenz finden sich deutliche Unterschiede, was eigentlich nicht verwundern kann. Zwar geben hochausländerfeindliche Jugendliche öfter an, sie stünden »keiner« Partei nahe; es fällt aber auf, dass sie deutlich zahlreicher mit der CDU/CSU sympathisieren und ganz erheblich weniger mit den Grünen. Republikaner werden von 6 % genannt, bei denen mit niedrigen Werten dagegen überhaupt nicht (0 %). Besonders erwähnenswert ist ein Umstand, der uns oben schon begegnet ist: Ausländerfeindlichkeit resultiert offenbar nicht aus persönlichen Erfahrungen mit Ausländern; im Gegenteil. Gerade hoch-ausländerfeindliche Jugendliche haben erheblich weniger Kontakte zu Nichtdeutschen, etwa in der Schule, am Arbeitsplatz oder in der Freizeit. Dazu passt auch, dass Ausländerfeindlichkeit auf dem Lande und in Kleinstädten wesentlich mehr verbreitet ist als in den Städten, obwohl auf dem Land kaum Fremde wohnen. Eindeutig dagegen wohnt die Mehrheit der Jugendlichen mit niedrigem Level an Ausländerfeindlichkeit in Städten, insbesondere im Westen. All das gibt mit aller gebotenen Vorsicht dazu Anlass, als Hintergrund für ausländerfeindliche Einstellungen schlechtere Lebensbedingungen, geringere Bildung, schlechtere Ausstattung oder zumindest eine Selbsteinschätzung in dieser Richtung zu behaupten. Im Kern der Ausländerfeindlichkeit scheinen sich Konkurrenzgefühle zu verstecken, bzw. die Furcht, in der wachsenden Konkurrenz um Arbeitsplätze und Zukunftschancen (projektiv verlängert: um Anerkennung, Mädchen und öffentliche Aufmerksamkeit) zu unterliegen. Das zeigt sich deutlich bei einem Blick auf einzelne Items unserer Skala. Bei allen Aussagen, die Konkurrenz zwischen Deutschen und Ausländern ansprechen 45 Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier (insbesondere Konkurrenz um den Arbeitsplatz), sind die Differenzen zwischen hoch und niedrig Ausländerfeindlichen sehr groß. Die Items, die Kulturund Verhaltensunterschiede problematisieren (mangelnde Anpassung, heiraten, sich herausfordernd benehmen) zeigen dagegen kleinere Abstände. Wichtige Bedeutung für die Entstehung von Ausländerfeindlichkeit haben die unmittelbar biografisch wirksam werdenden Probleme der gegenwärtigen sozio-ökonomischen Krisen, die durch die Sondersituation nach der Wende in Ostdeutschland noch verstärkt werden. Hier muss allen voran von der Jugendarbeitslosigkeit bzw. von der Angst vor Arbeitslosigkeit und Benachteiligung gesprochen werden. Dies muss im Blick behalten werden, wenn verstanden werden soll, wie die Übernahme fremdenfeindlicher Ideologeme bei jungen Menschen zustande kommt. Nicht die Attraktivität rechtsextremer Milieus oder autoritäre Verhaltensmuster begünstigen die Adaption xenophobischer Motive, sondern die Angst vor eigener Arbeits- und Chancenlosigkeit, die sich in der These von der Konkurrenz zu Asylanten und Ausländern, die zu zahlreich seien und einem deshalb die Stellen wegnähmen, niederschlägt und ihr »Objekt« findet. Eine geeignete politische Gegenstrategie ergibt sich deshalb nicht aus dem Ansatz an der Widerlegung und argumentativen Auseinandersetzung mit »rechten« Thesen oder Gruppierungen, sondern aus einem arbeits- und ausbildungsplatzbezogenen Programm. Literatur Bendit, R.: »Wir wollen so unsere Zukunft sichern«. Der Zusammenhang von beruflicher Ausbildung und Lebensbewältigung bei jungen Arbeitsmigranten in Deutschland, Aachen 1997 Böhnisch, L.; Fritz, K.; Seifert, T. (Hrsg.): Die wissenschaftliche Begleitung. Ergebnisse und Perspektiven. Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt AgAG, Band 2, Münster 1997 Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie: Grund- und Strukturdaten 1997/98, Bonn 1997 46 Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Deutsche Shell (Hrsg.): 13. Shell Jugendstudie: Jugend 2000. Gesamtkonzeption und Koordination: Fischer, A.; Fritzsche, Y.; Fuchs-Heinritz, W.; Münchmeier, R., 2 Bände, Opladen 2000 Elias, N.: Die Gesellschaft der Individuen, Amsterdam 1987 europäisches forum für migrationsstudien (efms): Migration und Integration in Zahlen, Bamberg 1997 Hamburger, F.; Koepf, T.; Müller, H.; Nell, W.: Migration. Geschichte(n), Formen, Perspektiven, Schwalbach 1997 Lederer, H. W.: Migration und Integration in Zahlen. In: Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen (Hrsg.): Bericht über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1997 Motte, J.; Ohliger, R.; Oswald, A. von (Hrsg.): 50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte, Frankfurt a.M./New York 1999 Münchmeier, R.: Jugend und Gewalt. Forschungserträge im Kontext des AgAGProgramms. ISS-Materialien, Frankfurt a.M. 1997 Münz, R.; Seifert, W.; Ulrich, R.: Zuwanderung nach Deutschland. Strukturen, Wirkungen, Perspektiven, Frankfurt/New York, 2. Aufl. 1999 Oerter, R.: Kapitel »Jugendalter«. In: Oerter, R.; Montada, L.: Entwicklungspsychologie, München und Weinheim 2. Aufl. 1987, S. 265 - 338 Radtke, F.-O.: Multikulturalismus und Erziehung. Ein erziehungswissenschaftlicher Versuch über die Behauptung: »Wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft«. In: Brähler, R.; Dudek, P. (Hrsg.): Jahrbuch für interkulturelles Lernen 1991: Fremde – Heimat. Neuer Nationalismus versus interkulturelles Lernen – Probleme politischer Bildungsarbeit, Frankfurt a.M. 1992 Tilly, C.: »Transplanted Networks«. In: Yans-McLaughlin, V. (Hrsg.): Immigration Reconcidered. History, Sociology and Politics, New York 1990, S. 19 - 95 Richard Münchmeier, Dr. rer. soc. habil., Professor für Sozialpädagogik im Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie an der Freien Universität Berlin. 47 Sprachenvielfalt durch Zuwanderung Ingrid Gogolin Sprachenvielfalt durch Zuwanderung – ein verschenkter Reichtum Ingrid Gogolin Die Bundesrepublik Deutschland ist durch Einwanderung auf Dauer multikulturell und vielsprachig; das Rad der Geschichte lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Allmählich kommen wir in die Situation, dass auch auf höchster politischer Ebene nicht mehr geleugnet wird: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Weit entfernt aber sind wir nach wie vor davon, dass die Folgen dieses Faktums für das Zusammenleben in Deutschland, für die kulturelle und soziale Entwicklung der in Deutschland ansässigen – also sowohl der deutschen als auch der zugewanderten – Bevölkerung anerkannt und als Chance begriffen werden. Nötig wären dafür Perspektivenwechsel: zum Beispiel eine veränderte Sicht auf Lebenspraktiken und Ausdrucksformen, die hier als »normal« anerkannt und als wertvoll für die Gestaltung des Zusammenlebens verstanden werden. Geschieht das nicht, so kommt es zur Verschwendung wertvoller Ressourcen, zur Vergeudung gesellschaftlichen Reichtums. Im ersten Teil meines Beitrags stelle ich einige Überlegungen zu den »Normalitätsannahmen« vor, die überwunden werden müssen, damit sprachliche und kulturelle Vielfalt einen anderen Stellenwert in der deutschen Gesellschaft bekommen. Danach gehe ich darauf ein, wie Jugendliche, die mehrsprachig in Deutschland aufwachsen, versuchen, trotz der gesellschaftlichen Geringschätzung ihrer Kompetenzen aus ihrer Mehrsprachigkeit Gewinn zu ziehen. 48 Ingrid Gogolin Sprachenvielfalt durch Zuwanderung »Monolingualer Habitus« Zu den »Normalitätsannahmen«, die überwunden werden müssen, gehört die Überzeugung, dass Individuen und Staaten »normalerweise« einsprachig seien. Aus dieser Grundüberzeugung heraus – ich habe sie als »monolingualen Habitus« bezeichnet (vgl. Gogolin 1994) – werden in unserer Gesellschaft die Maßstäbe dafür gewonnen, Sprachkönnen und -praxis von Menschen zu beurteilen sowie den »Marktwert« eines sprachlichen Vermögens zu bestimmen. Die hierzulande als legitim geltende Sprache ist das Deutsche, und ein Leben, das in der einen Sprache Deutsch geführt wird, gilt als das normale. Andere Sprachen, die auf deutschem Boden existieren, bekommen unter bestimmten Umständen und mit Einschränkungen Legitimität zuerkannt. Dies kann durch staatliche Akte geschehen, wie etwa im Falle der in einigen Landesverfassungen anerkannten nationalen Minoritätensprachen Dänisch, Friesisch und Sorbisch. Die Bedingung für das Anerkenntnis ist hier die »Altansässigkeit« einer Sprache und ihrer Sprecher, verbunden mit der deutschen Staatsbürgerschaft. Die Einschränkung der Akzeptanz betrifft die Region, für die sie Geltung hat: die Rechte, die man daraus ableiten kann, gelten nur in genau festgelegten Gebieten und keineswegs »allgemein«. Ein anderer Modus, Sprachen mit »Legitimität« auszustatten, ist es, sie in den offiziell gültigen Kanon der Schulfremdsprachen aufzunehmen. Danach wird ihre Aneignung vom offiziellen Bildungswesen gesteuert, evaluiert und zertifiziert. Die Beherrschung solcher Sprachen gilt als Bildungswert. Aber persönliche Mehrsprachigkeit wird keineswegs unter allen Umständen gesellschaftlich anerkannt. Die für das Anerkenntnis notwendigen Bedingungen können speziell von Zuwanderern, die in mehreren Sprachen leben, oft nicht ohne weiteres erfüllt werden. Die mitgebrachten Sprachen der Migranten unterliegen hierzulande üblicherweise nicht den traditionell legitimierenden und zugleich marktwerterhöhenden Mechanismen. Diese Sprachen besitzen weder einen besonderen rechtlichen Status, der ihnen Legitimität verleihen würde, noch haben sie eine Aufwertung durch Aufnahme in den schulischen Fremdsprachenkanon erfahren. Das öffentliche deutsche Bildungswesen hat für den Ausbau und die Pflege dieser Sprachen in der Gemeinschaft ihrer Sprecher so gut wie keine Verantwortung übernommen; sie wurden nicht zum Teil des regulären Unterrichtsangebots erklärt. Lediglich in ausgewählten Regionen sowie einigen Schulformen und -typen sind sie überhaupt 49 Sprachenvielfalt durch Zuwanderung Ingrid Gogolin als Unterrichtsangebot vorfindlich. In diesen Fällen fungieren sie meist als gering geschätztes »schulisches Sonderangebot« – als ein Angebot, das unter anderem deshalb als minderwertig gilt, weil es sich prinzipiell nicht an alle, sondern nur an Nichtdeutsche richtet. Es erfolgt auf diese Weise nicht die Erhebung in den Rang eines allgemeinen Bildungsguts; die Legitimierung durch ein offizielles, allgemein gültiges Zertifikat bleibt diesen Sprachen versagt (vgl. hierzu die Analysen der schulischen Maßnahmen für Minderheiten in den 16 deutschen Bundesländern: Gogolin/ Neumann/ Reuter 2001). Die Sprachen Zugewanderter auf deutschem Boden sind in diesem Sinne illegitime Sprachen; die Praxis, sie alltäglich neben dem Deutschen oder zusammen mit ihm zu gebrauchen, gilt als illegitimer Sprachgebrauch (vgl. Gogolin 1994; Gogolin/ Neumann 1997). Die zunehmende Mobilität der Menschen lässt diese Konstruktionen von Normalität und ihre Konsequenzen für unsere Gesellschaft fragwürdig werden. Die Fragwürdigkeit erhöht sich zumal angesichts der folgenden Entwicklung: Wir wissen aus der Forschung, dass grenzüberschreitende Wanderung immer seltener als ein einmaliger, abschließbarer Prozess vollzogen wird. Zu beobachten ist statt dessen, dass Migranten auf vielfältige Weise die Verbindungen zur Region der Herkunft, zu Menschen und Institutionen dort offen halten. Dies schließt auch ein, dass man einmal oder wiederholt vorübergehend im Gebiet der ursprünglichen Auswanderung für längere Zeit lebt. Gewiss ist das Aufrechterhalten von Kontakt zur Herkunft keine völlig neue Praxis von Migranten. Ihre Bedeutung für die alltägliche Lebensführung wächst aber dadurch, dass sich inzwischen die Fülle und die Qualität der Möglichkeiten zum vergleichsweise mühelosen wechselseitigen Kontakt so dramatisch verändert hat. Hauptursache dafür ist die rasante Entwicklung der Transportmöglichkeiten und der technischen Kommunikationsmöglichkeiten. Zusätzlich gefördert wird diese Entwicklung dadurch, dass einige der Rechtsregelungen, die den Menschen traditionell die Sesshaftigkeit in einem Nationalstaat nahe legen, in Veränderung begriffen sind. Für den hiesigen Kontext sind die Bestimmungen zur Freizügigkeit der Niederlassung im Rahmen der (größer werdenden) Europäischen Union besonders bedeutsam, die den Wechsel des Lebensorts erleichtern, ja geradezu dazu ermuntern sollen. Als Folge solcher Entwicklungen entstehen »transnationale soziale Räume«, in denen sich dauerhafte Formen der sozialen Positionierung entwickeln kön50 Ingrid Gogolin Sprachenvielfalt durch Zuwanderung nen. Diese sozialen Räume weisen Elemente – also soziale Strukturen und Institutionen – auf, wie man sie üblicherweise den ortsgebundenen sozialen Räumen zurechnet; binationale Ausbildungsgänge sind ein Beispiel dafür (vgl. hierzu Pries 1997). »Integration« in die aufnehmende Gesellschaft und das Offenhalten einer Rückkehr- oder Weiterwanderungsperspektive sind, so betrachtet, keine unvereinbaren Gegensätze, sondern Ausdrucksformen einer neuen »normalen« Lebenswirklichkeit für eine wachsende Zahl von Menschen. Für diese Menschen ist die Pflege von mehr als einer alltäglichen Lebenssprache nicht nur üblich, sondern geradezu eine unabdingbare Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Lebensweltliche Sprachkompetenz – legitime Sprachkompetenz In unserer Forschung interessiert uns vor allem, wie Kinder und Jugendliche aus zugewanderten Familien in Deutschland diese sprachlich-kulturelle Lage meistern. Sie erfahren die Zeichen der Illegitimität ihrer durch die Familie mitgebrachten Sprache(n) früh, denn sie erleben, dass diese Sprachen hierzulande vielfach gering geschätzt werden, dass ihrem öffentlichen Gebrauch mit Abwehr begegnet wird. Untersuchungen ihrer Sprachpraxis zeigen, dass sie sich an diesen Erfahrungen orientieren, aber ungeachtet dessen enge Bindungen an die Sprache(n) der Familie entwickeln und sie so intensiv, wie es den Umständen entsprechend möglich ist, pflegen (vgl. Gogolin/ Neumann 1997). Die Vitalität der Mehrsprachigkeit Zugewanderter in den europäischen Einwanderungsstaaten steht nach den einschlägigen Forschungsergebnissen außer Zweifel (vgl. Broeder/ Extra 1999). Wir fragen uns deshalb, ob es Anzeichen für Prozesse der Legitimierung mehrsprachiger Lebenspraktiken in den von zunehmender sprachlich-kultureller Heterogenität gekennzeichneten europäischen Gesellschaften gibt. Von besonderem Interesse sind Untersuchungen, in denen wir der Frage nachgehen, wie Jugendliche ihre aus familialer sprachlicher Praxis mitgebrachte Mehrsprachigkeit verwerten, was sie für sie bedeutet. Die Dissertati- 51 Sprachenvielfalt durch Zuwanderung Ingrid Gogolin 2 on von Sara Fürstenau , aus der die nachfolgend vorgestellten Äußerungsbeispiele stammen, verfolgt diese Frage am Beispiel von Jugendlichen portugiesischer Herkunft, die in Hamburg leben. Betrachtet wird vor allem die Schwelle von der Schule in den Beruf. Jugendliche an dieser Schwelle werden nach ihren Erfahrungen mit den Möglichkeiten befragt, aus ihrer portugiesisch-deutschen Zweisprachigkeit beim Übergang in das Berufsleben Kapital zu schlagen (Fürstenau 2001). Die Erinnerungen, Hoffnungen und Wünsche der befragten Jugendlichen werden unter der Perspektive untersucht, ob die an den Nationalstaat gebundenen Formen der Legitimierung von Sprachen und Sprachpraxis, die uns bislang geläufig sind, durch das Entstehen von »transnationalen sozialen Räumen« (Pries 1997) Konkurrenz erhalten. Betrachten wir das Beispiel der jungen Hamburgerin »Claudia« – bei dem Namen handelt es sich selbstverständlich um ein Pseudonym. Claudia ist eine der 27 von Sara Fürstenau befragten Jugendlichen portugiesischer Herkunft. Bei Durchführung des Interviews ist Claudia 16 Jahre alt; sie ist – wie auch ihre beiden älteren Geschwister – in Hamburg geboren und aufgewachsen. Ihre Sommerferien hat die Familie regelmäßig in Portugal verbracht. Neben der »normalen« Schule, also der deutschen Regelschule, hat Claudia zehn Jahre lang einen portugiesischen Nachmittagsunterricht in Hamburg besucht. Dazu ist zu erläutern, dass Hamburg zu den Bundesländern gehörte, die solchen Unterricht für Kinder aus Migrantenfamilien bislang nicht in eigener Regie anboten, sondern den Konsulaten der ursprünglichen Herkunftsländer oder der privaten Initiative überließen. Claudia schildert im Interview ihr sprachliches Aufwachsen. Demnach waren für sie von Anfang an sowohl das Deutsche als auch die portugiesische Sprache der Familie von Bedeutung. Ihre Eltern haben in der frühen Spracherziehung beide Sprachen verwendet; parallel zum Eintritt in die »deutsche« Schule wurde auch der portugiesische Nachmittagsunterricht aufgenommen. Für den Stellenwert, den Claudia dem Portugiesischen beimisst, spricht der kontinuierliche Besuch des Nachmittagsunterrichts: ihre Bereitschaft, während der gesamten Schulzeit zwei ganze Nachmittage in der Woche in diesen Un2 In einem gemeinsamen Beitrag (vgl. Fürstenau/ Gogolin 2001) haben wir eine ausführlichere Analyse eines von Fürstenau ausgearbeiteten Fallbeispiels vorgestellt. Ich danke ihr für die Erlaubnis, das Material auch für diesen Beitrag zu verwenden. 52 Ingrid Gogolin Sprachenvielfalt durch Zuwanderung terricht zu investieren, deutet auf eine hohe Wertschätzung der mitgebrachten Sprache der Familie. Nach Claudias Auskunft im Gespräch stieg die Wertschätzung dieses zusätzlichen Unterrichts im Laufe ihres Schülerinnenlebens – nicht zuletzt, weil er die wichtige Funktion erfüllte, einen Rahmen für Verbundenheit und Geselligkeit mit den anderen portugiesisch lernenden Jugendlichen zu bieten. Claudia hat also zwei Sprachbildungsbiographien aufzuweisen: eine für die legitime Sprache Deutsch und eine zweite, parallel dazu durchlaufene für die in Deutschland nur eingeschränkt legitime Sprache Portugiesisch. Gewiss ist das Portugiesische in Deutschland auch mit Anteilen von Legitimität ausgestattet, da es durchaus zum Kanon der »erlaubten« Schulfremdsprachen gehört, wenn es auch nur sehr wenig angeboten wird. Von diesem Status des Portugiesischen in Deutschland aber profitiert Claudia zunächst einmal nicht. Sie ist »geborene« Sprecherin dieser Sprache; ihre Fähigkeit ist also nicht dadurch geadelt, dass sie sie als Fremdsprache unter strenger schulischer Kontrolle erworben hat. Ihr sprachlicher Alltag zeichnet sich zudem durch »sprachliches Grenzgängertum« aus – durch »unreine« sprachliche Praktiken (vgl. Gogolin 1997: 336ff.; dies. 1998b), in denen das Portugiesische und das Deutsche einander begegnen, ergänzen, durchdringen. Beide Sprachen können bei der Realisierung kommunikativer Absichten zusammenwirken; sie vermischen sich und erzeugen neue, aus der Sicht Einsprachiger oft befremdliche Ausdrucksformen, deren hauptsächlicher Geltungsbereich die Gemeinschaft der Gewanderten ist. Dies aber sichert ihnen nicht, sondern es behindert eher die Zuerkennnung von Legitimität. Für Claudia erfüllen ihre beiden Lebenssprachen unterschiedliche Kommunikationswünsche. Sie schildert ihre Präferenzen beim Sprachgebrauch: sie benutze am liebsten das Deutsche, »wenn ich herumschreie, also wenn ich richtig aggressiv bin und so. Dann spreche ich lieber Deutsch, weil das viel schneller geht. [...] Bloß denken tue ich auf Portugiesisch, es ist total lustig. Denken auf Portugiesisch und portugiesisch reden tue ich eigentlich nur innerhalb der Familie. Unter Freunden spreche ich lieber Deutsch«. Claudia ist sich der begrenzten Legitimität ihres Sprachvermögens durchaus bewusst. Sie vergleicht zum Beispiel ihr eigenes Portugiesisch mit dem ihrer Schwester, die seit zwei Jahren in Portugal lebt: 53 Sprachenvielfalt durch Zuwanderung Ingrid Gogolin C: Also meine Schwester hört sich schon so ein bisschen intellektueller an [lacht]. Manchmal sagt sie irgendwelche Begriffe und ich weiß nicht, was sie jetzt meint. Also das merkt man auf jeden Fall, weil sie jetzt schon zwei Jahre dort lebt. Ich kenne das ja nur unter den Portugiesen hier, und da spricht man halt das, was man kennt. Die Spezifik des Portugiesischen als »Migrantensprache« (Gogolin 1988) hat für ihren portugiesischen Sprachbesitz also klare Konsequenzen. Die ihr geläufige Variante des Portugiesischen ist funktional anerkannt und angemessen »unter den Portugiesen hier«. Damit ist zwar eine Grundlage für die Aneignung einer Variante des Portugiesischen vorhanden, die auch auf dem »angestammten Territorium« dieser Sprache anerkannt wäre. Aber die Erwartung ist, dass das Portugiesische dort ein anderes Niveau aufzuweisen habe – z.B. eine »intellektuellere Sprache«, wie die, über die die große Schwester zwei Jahre nach ihrer Übersiedelung nach Portugal verfügt. Claudia kann die Unterschiede zwischen dem Portugiesisch, das sie in Hamburg erworben hat und gebraucht, und dem Portugiesisch in Portugal gut einschätzen, und sie kennt die unterschiedliche Reichweite der beiden Varianten. Insgesamt zeigt Claudia ein gutes sprachliches Selbstbewusstsein und eine positive Einstellung gegenüber der eigenen lebensweltlichen Mehrsprachigkeit; sie würde sich eine ähnliche sprachliche Entwicklung auch für ihre eigenen Kinder wünschen, denen sie »auf jeden Fall beide Sprachen beibringen [würde], das ist klar, und wenn es geht, noch eine dritte, das wäre toll.« Ihre lebensweltliche Mehrsprachigkeit ist also wichtig und ohne Zweifel positiv für Claudia. Wie aber verhält es sich mit der Legitimität ihrer Spracherfahrung? In ihrer Schulkarriere – zum Zeitpunkt des Interviews war sie soeben dabei, die Realschule erfolgreich abzuschließen – erfuhr sie freundliche und positive Bewertungen ihrer Mehrsprachigkeit durch Lehrerinnen und Lehrer: I: Haben sich Deine Lehrer dafür interessiert, dass Du eigentlich zweisprachig bist? C: Ja, doch, also was heißt interessiert? Die reden schon darüber, weil ich ja halt auch im Französischen und Englischen gut bin. Und dann sagen sie: ‘Oh, ist toll, wenn man so viele Sprachen so gut beherrscht’. Das ist bei den meisten Portugiesen, also überhaupt bei den meisten Ausländern so, die mehrere Sprachen und nicht nur ihre 54 Ingrid Gogolin Sprachenvielfalt durch Zuwanderung eigene Sprache gut beherrschen. Besser als die Deutschen, das ist irgendwie so. Also im Englischen zum Beispiel bin ich momentan die Beste aus der Klasse. Ich weiß auch nicht, aber der Lehrer meint, dass ich halt auch Portugiesisch kann und so auf Deutsch sprechen kann. Und die finden das einfach toll. Claudia fühlte sich also von ihren Lehrkräften als Mehrsprachige anerkannt und hat sogar den Eindruck gewonnen, vor Jugendlichen aus nichtgewanderten Familien einen Vorteil zu haben (»besser als die Deutschen, das ist irgendwie so«). Bei genauerem Hinsehen allerdings hat sie die Anerkennung ihrer sprachlichen Fähigkeiten nur unter ganz bestimmten Bedingungen erhalten. Sie erzielt nämlich gute Leistungen auch in den »legitimen« Schulfremdsprachen Englisch und Französisch. Darin ist vielleicht sogar der eigentliche Grund für die positive Bewertung ihrer von zu Hause mitgebrachten sprachlichen Fähigkeiten durch Lehrerinnen und Lehrer zu sehen: »Die reden schon darüber, weil ich ja halt auch im Französischen und Englischen gut bin.« Eine der Bedingungen dafür, wie es zur Wertschätzung der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit Zugewanderter – mindestens im schulischen Raum – kommen könnte, liegt also anscheinend im Lernerfolg in den »legitimen Schulsprachen«; spekulieren könnte man, dass das Anerkenntnis davon abhängt, ob jemand ein »guter Schüler« ist oder nicht. Zaghafte Hinweise auf andere Bedingungen dafür, dass in den Augen von Lehrkräften auch die Kompetenzen in einer »illegitimen« Sprache wertgeschätzt werden, sind in weiteren Erinnerungen Claudias zu finden. So denkt sie z.B. gern an einen Lehrer zurück, der hat Portugiesisch gelernt, und der hat dann auch mit uns im Unterricht immer Portugiesisch gesprochen. Momentan ist der ein Jahr in Portugal, der hat sich halt ein Jahr Urlaub genommen. Und der fand das dann immer so toll, und das war auch immer schön, mit dem in Pausen Portugiesisch zu schnacken. [...] Es war ganz schön, weil man ihm selbst auch noch ein bisschen beibringen konnte, weil er das nicht perfekt beherrscht. [...] Ja, das hat Spaß gebracht, ihm Portugiesisch beizubringen. Das eigene Bestreben des Lehrers, die portugiesische Sprache zu lernen, hat eine Aufwertung von Claudias Sprachkönnen mit sich gebracht. Für den Leh55 Sprachenvielfalt durch Zuwanderung Ingrid Gogolin rer scheint Portugal ein attraktives Urlaubsziel gewesen zu sein; möglicherweise konnte er sogar angenehme Erinnerungen und einen praktischen Verwertungszweck mit seinen eigenen, und dadurch vermittelt: mit Claudias Kompetenzen verbinden. Die praktische Verwertbarkeit für die Angehörigen der Majorität, womöglich noch in positiv besetztem Kontext, könnte also eine weitere Bedingung für die Legitimierung der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit von Migranten sein. Vielleicht haben solche Erfahrungen Claudias Berufswünsche stark beeinflusst; jedenfalls interessierte sie sich zunächst vor allem für die Ausbildungsberufe Hotelfachfrau und Reisebürokauffrau. Zu vermuten ist, dass dieses Interesse auch durch die offizielle Berufsberatung beeinflusst war, die Schülerinnen und Schülern in Hamburg gegeben wird. Materialien zur Berufsberatung, die das Hamburger Arbeitsamt zur Verfügung stellt, legen es Jugendlichen aus zugewanderten Familien nahe, sich für die Tourismusbranche zu entscheiden. Aufgrund ihrer Herkunft seien sie »Experten« für das Land, das als ihr Herkunftsland gilt (auch wenn sie selbst, wie Claudia, es nur aus Urlauben kennen), und das ein attraktives Urlaubsland ist. Die Aufwertung der familialen sprachlich-kulturellen Kompetenzen beruht in diesem Fall auf einer »ethnischen Ressource«, die speziell Migranten zur Verfügung steht (vgl. Haug/ Pichler 1999). Vorerst aber hatte Claudia noch keinen Erfolg mit dem Einsatz dieser Ressource; sie macht im Bewerbungsgespräch die Erfahrung, dass ihre lebensweltlichen Sprachkompetenzen zwar mit Wohlwollen betrachtet werden, aber ihr nicht zum gewünschten Berufseinstieg verhelfen. Nach einigen vergeblichen Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz meldet sich Claudia bei einer Schule an, in der sie im Anschluss an den Realschulabschluss eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin beginnen könnte. Sie verfolgte also ihr Ziel weiter, auf ihre »ethnischen Ressourcen« gestützt einen gelungenen Berufseinstieg zu realisieren, denn mit dieser weiterführenden Schulausbildung besitzt sie auch die Chance auf ein Zertifikat für ihre mitgebrachten Kenntnisse des Portugiesischen. Bei der Verfolgung dieses Ziels hatte sie Vorbilder durch ihre Einbindung in ein transnationales Migrantennetzwerk. In jedem Sommerurlaub in Portugal traf sie Freunde und Verwandte, für die die Mobilität zwischen Portugal und anderen Ländern ebenfalls zur Lebensnormalität gehört. Claudia pflegt nicht 56 Ingrid Gogolin Sprachenvielfalt durch Zuwanderung nur Kontakte mit portugiesischen Migrantinnen und Migranten, die irgendwo in Deutschland wohnen, sondern auch mit solchen aus der Schweiz, aus Frankreich und Brasilien. Unter ihren in Portugal lebenden Kontaktpersonen waren reichlich Menschen, die anderswo gelebt hatten, aber wieder nach Portugal gezogen waren. In Claudias gewohnter Umgebung ist es also durchaus üblich, einen oder mehrere Wechsel des Lebensorts zu vollziehen. In diesem Rahmen nun rückt eine »Kapitalisierung« ihrer Mehrsprachigkeit dicht an den Horizont. Allerdings setzt dies unter den herrschenden Umständen möglicherweise voraus, dass sie an einem anderen Ort leben muss. Claudia wünscht sich, C: [...] Fremdsprachenlehrerin in Portugal [zu] werden. Ich würde gerne Französisch und Deutsch und Englisch unterrichten. Das wäre mein Ziel. I: Und warum dann in Portugal? C: Ich weiß nicht, ich habe es ja noch nicht ausprobiert, dort zu leben. Aber ich denke, es ist einfach schön. Und vor allem habe ich da mehr Möglichkeiten als hier. Auch wegen dem Deutschen hat man da in Portugal viele Möglichkeiten, auch mit dem Englischen. Da ich da auch sehr gut bin, im Englischen, habe ich da sehr große Chancen, denke ich. [...] Ja, doch, Deutsch unterrichten, das wäre schön, das wäre wirklich schön. Mit dem Wechsel des Lebensorts würden sich für Claudia die sprachlichen Marktverhältnisse ändern, in denen sie ihr sprachliches Kapital einsetzt. Das Ansehen des Deutschen in Portugal ist hoch. Es ist die Sprache eines reichen, einflussreichen Landes, wichtig für die Geschicke der Europäischen Union – und so weiter. In Portugal also wäre ihr Deutsch ein wertvolles zusätzliches Sprachkapital, umso mehr, als es mit dem Zertifikat der Schule in Deutschland gesegnet ist. Zugleich wäre in Portugal ihr Portugiesisch, ungeachtet des vorerst nicht verfügbaren Zertifikats, in den Status der legitimen Sprache gehoben; es ist schließlich die herrschende Nationalsprache. Falls Claudia ihre Schulbesuchswünsche realisieren kann, wird sie zusätzlich eine offizielle Legitimierung ihrer lebensweltlich erworbenen Portugiesischkenntnisse erhalten. Damit erhält sie die Chance, dass ihr Meistern des Portugiesischen auch an Wert für ein (Arbeits-)Leben außerhalb Portugals gewinnt: falls sie es als formale Qualifikation in einen Beruf einbringen kann. Ihre Englisch- und 57 Sprachenvielfalt durch Zuwanderung Ingrid Gogolin Französischkenntnisse würden in dem Falle gewiss nicht an Wert verlieren – aber wohl eher an die dritte und vierte Stelle rücken, als Sprachen, die sie »nur« gelernt hat, aber in denen sie nicht gelebt hat. Die Vorzeichen beim Bemessen des Werts der Sprachen, zu denen sie Zugang hat, ändern sich also, wenn sie den Lebensort wechselt. Soweit Claudias Erinnerungen, Hoffnungen, Wünsche. Wir wissen noch nicht, ob sich die Investitionen, die sie in den Ausbau ihrer Migrantensprache getätigt hat, für sie auszahlen werden. Unter den gegebenen Umständen, die Claudia sehr klug beobachtet hat, wird eine Kompetenz erst mit dem Zertifikat zur legitimen Kompetenz. Der bloße Gebrauchswert einer Sprache, verstanden als praktischer Nutzen für die Kommunikation zwischen Menschen, spielt für ihren Tauschwert und für die allgemeine Akzeptanz, die ihr entgegengebracht wird, nur eine untergeordnete Rolle. Der offizielle Umgang, den sich Deutschland mit den Sprachen Zugewanderter leistet, trägt Züge von Kapitalvernichtung. Eine Sprachpolitik und Sprachbildungspolitik, die nicht auf Kapitalvernichtung setzen würde, sondern auf die Vermehrung des sprachlichen Reichtums in Deutschland, könnte aus dem Vollen schöpfen. Sie müsste sich nur darum bemühen, die unter den Menschen vorhandenen sprachlichen Fähigkeiten aufzugreifen und anzuerkennen, sie zur vollen Entfaltung zu führen und ein Klima zu schaffen, in dem jeder Mann, jede Frau die sprachliche Vielfalt um sie oder ihn herum als Reichtum zu erleben imstande ist. Literatur (zitierte und andere weiterführende Literatur) Benhabib, S. (1999): Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit, Frankfurt/M Bourdieu, P. (1990): Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien Broeder, P./ Extra, G. (eds., 1999): Language, Ethnicity and Education. Case Studies on Immigrant Minority Languages. Clevedon 58 Ingrid Gogolin Sprachenvielfalt durch Zuwanderung Fürstenau, S. (2001): Mehrsprachigkeit als »Kapital« im transnationalen sozialen Raum. Berufs- und Zukunftsorientierungen von Jugendlichen portugiesischer Herkunft. Inaugural Dissertation, in Vorbereitung. (Universität Hamburg) Fürstenau, S./ Gogolin, I. (2001): Sprachliches Grenzgängertum. Zur Mehrsprachigkeit von Migranten. In: List, G./ List, G. (Hrsg.), Quersprachigkeit. Tübingen Gogolin, I. (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster dies. (1997): »Arrangements« als Hindernis & Potential für Veränderung der schulischen sprachlichen Bildung. In: dies./ Neumann, U. (Hrsg.): Großstadt-Grundschule. Eine Fallstudie über sprachliche und kulturelle Pluralität als Bedingung der Grundschularbeit. Münster/ New York, S. 311 - 344 dies. (1998a): »Kultur« als Thema der Pädagogik der 1990er Jahre. In: Stroß, A. M./ Thiel, F. (Hrsg.): Erziehungswissenschaft, Nachbardisziplinen und Öffentlichkeit: Themenfelder und Themenrezeptionen der allgemeinen Pädagogik in den 1990er Jahren. Weinheim/ München, S. 125 - 150 dies. (1998b): Sprachen rein halten – eine Obsession. In: dies./ List, G./ List, G. (2001): Interkulturelle Bildungsforschung. In: Tippelt, R.: Handbuch Bildungsforschung. Opladen Gogolin, I./ Krüger-Potratz, M./ Meyer, M. A. (Hrsg., 1998): Pluralität und Bildung. Opladen, S. 251 - 276 Gogolin, I./ Neumann, U. (Hrsg., 1997): Großstadt-Grundschule. Eine Fallstudie über sprachliche und kulturelle Pluralität als Bedingung der Grundschularbeit. Münster/New York Gogolin, I./ Neumann, U./ Reuter, L. (Hrsg., 2001): Schulbildung für Minderheiten in Deutschland (1989 - 1999). Münster/ New York Haug, S./ Pichler, E. (1999): Soziale Netzwerke und Transnationalität. Neue Ansätze für die historische Migrationsforschung. In: Motte, J./ Ohlinger, R. (Hrsg.): 50 Jahre BRD – 50 Jahre Einwanderung. Frankfurt/ New York, S. 259 - 284 Hobsbawm, E. J. (1991): Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt/ M. 59 Sprachenvielfalt durch Zuwanderung Ingrid Gogolin Krüger-Potratz, M. (1999): Stichwort: Erziehungswissenschaft und kulturelle Differenz. In: Zeitschrift f. Erziehungswissenschaft, 2. Jg, H. 2, S. 149 - 165 Neumann, U./ Reuter, L. (1997): Alles, was Recht ist. Minderheiten im deutschen Schulwesen. In: Deutsch lernen, 22. Jg., S. 224 - 243 Nieke, W. (2000): Interkulturelle Erziehung und Bildung. Opladen Pries, L. (Hrsg., 1997): Neue Migration im transnationalen Raum. In: ders. (Hrsg.): Transnationale Migration. Sonderband 12 der Zeitschrift Soziale Welt. Baden-Baden, S. 15 - 36 Thränhardt, D. (1999): Ausländer im deutschen Bildungssystem. Ein Literaturbericht von 1975. Wiederabdruck in: Krüger-Potratz, M. (Hrsg.): Interkulturelle Studien. Heft 30. Münster, S. 138 - 171 Ingrid Gogolin, Dr., Professorin für international vergleichende und interkulturelle Bildungsforschung am Institut für International und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg 60 Franz Hamburger Gefährdung durch gute Absichten Gefährdung durch gute Absichten Franz Hamburger Das größte Risiko für Kinder und Jugendliche »mit Migrationshintergrund« ist, als solche identifiziert zu werden. Sie werden dabei als verschieden, »anders« wahrgenommen, einer Kategorie zugeordnet und zukünftig nur noch – oder: vor allem – als Angehörige dieser Kategorie behandelt. Was immer sie tun – es wird im Zusammenhang des ihnen auferlegten Etiketts interpretiert. Erving Goffman hat in seinem Buch »Stigma« diese Prozesse beschrieben und darauf hingewiesen, dass vor allem die gut gemeinten Reaktionen und Interventionen die Etikettierten in besonderer Weise kränken. Gerade weil sie durchschauen, dass es sich um gut gemeinte Verhaltensweisen handelt, fällt ihnen die Reaktion schwer, sind sie doch in einer Doppelbindungsfalle gefangen. Reagieren sie nämlich abweisend auf die Behandlung als »Merkmalsträger« (und eben nicht als Individuum) dann enttäuschen sie die »gute Absicht«. Ziehen sie sich aber zurück und wollen nicht direkt auf die Kränkung reagieren, dann bestätigen sie scheinbar das Stereotyp von den desinteressierten Migranten. Man kann annehmen, dass in Schule und Jugendhilfe tagtäglich und tausendfach genau diese Prozesse ablaufen und die Blockaden gegen Bildungserfolg und Subjektwerdung errichten. Aggression und Apathie gehören aber nicht in besonderer Weise zur Charakterausstattung von Migrantenkindern, sie werden gerade in pädagogischen Institutionen hervorgebracht. Dabei gibt es keine Hinweise, dass dort der Rassismus und die Angst um das Eigene und vor dem Fremden weniger verbreitet wären als in der gesamten Gesellschaft. 61 Gefährdung durch gute Absichten Franz Hamburger Doch kann man sich gegen einen nicht gewaltsamen, aber doch offenkundigen Rassismus noch besser zur Wehr setzen als gegen die betuliche Förderung der »armen Ausländerkinder«. In jedem Fall ist die entscheidende Kränkung die der Vorenthaltung des Subjektstatus. Kinder und Jugendliche »mit Migrationshintergrund« werden eben nicht als unverwechselbare und einmalige Individuen erkannt und anerkannt wie alle anderen Kinder und Jugendlichen auch, aus ihnen spricht der Hintergrund. Gerade die – durch eine Interkulturelle Pädagogik »aufgeklärten« – Pädagogen und Pädagoginnen stehen in der Gefahr, die Differenz der Kulturen vor das Individuum zu stellen und es damit prinzipiell zu verfehlen. Das, was die Erziehung in der Moderne im Kern ausmacht, dass nämlich die Zuerkennung der individuellen Einmaligkeit die Bedingung der Subjektwerdung ist, wird verfehlt. Doch zum Menschen kann nur werden, wer als solcher wahrgenommen und behandelt wird. Und was wir als fortschrittliche Differenzierung feiern, ist der subtile Ausbau des Gefängnisses. Hinter dem Begriff »Ausländerkinder« steckte ja noch die einfache objektive Differenz des Rechtsstatus. Die damit verbundene objektive Problematik konnte man bewältigen, wenn sie in ihrer rechtlichen und politischen Relevanz erkannt und nicht psychologisierend umgedeutet wurde. Die Formel »mit Migrationshintergrund« ist eine scheinbar verständnisvolle Differenzierung; doch in wie vielen Fällen wirkt sie tatsächlich wie die Aufforderung zum detektivischen Nachspüren und zum Herausfinden der Kategorie, der man zuordnen kann? Auch wessen Eltern Migranten waren, wird noch dingfest gemacht und in die interkulturellpädagogisch vorfabrizierte Schublade gesteckt. Was den Pädagogen und Pädagoginnen zur Orientierung verhilft, desorientiert diejenigen, die nur ein normales Individuum sein wollen. Sicherlich ist es ein widerliches Schauspiel, wenn die Migranten – und genau dies ist wichtig: es geht nicht um Migration, sondern um die fremd gemachten Menschen – in der politischen Auseinandersetzung der Wahlkämpfe von der deutschen Front national zum Instrument gemacht und die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft erneut reduziert wird, doch die Pathologien einer Gesellschaft, die immer noch von Zuwanderung spricht, wo Einwanderung geschehen ist, sind weit verästelt. Wenn die Kinder und Jugendlichen »mit Migrationshintergrund« für die Defizite des Bildungssystems verantwortlich gemacht und mit einem typisch deutschen Kindergartenpflichtjahr auf Vordermann 62 Franz Hamburger Gefährdung durch gute Absichten gebracht werden sollen, dann werden solche Pathologien sichtbar. Aber sie schlagen auch, in welcher Form auch immer, auf pädagogisch strukturierte Interaktionen durch. Ein wichtiger erster Schritt, ihre unbemerkte Wirkung abzumildern, ist Reflexion und Selbstreflexion. Darüber hinaus ist eine Alternative zur identifizierenden Entindividualisierung einfach formuliert und manchmal schwer zu realisieren: Auch das Kind »mit Migrationshintergrund« ist nichts anderes als ein Individuum. Über seine Zugehörigkeiten, die ihm auferlegt sind, verfügt es selbst, insbesondere darüber, was sie ihm bedeuten. Solange dies nicht respektiert wird, ist keine Interaktion unter gleichberechtigten Personen, erst recht kein pädagogisches Verhältnis möglich. Der Kinder- und Jugendschutz steht immer in der Gefahr, durch die Definition seiner Adressaten als Problemgruppen zur Produktion der Umstände beizutragen, die er dann verbessern will. Diese Paradoxie lässt sich aus allen Hilfeund Erziehungsintentionen nicht wegdefinieren. Nur durch eine Kritik der Stigmatisierung und durch starke Selbstreflexion lässt sich die Paradoxie offen halten, lassen sich durch die Respektierung des Individuums Wege zur Bildung ermöglichen. Franz Hamburger, Dr., Professor für Pädagogik am Pädagogischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Nachdruck aus: Kind Jugend Gesellschaft 3-2002 63 Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen Ahmet Toprak Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen aus dem Herkunftsland Türkei Ahmet Toprak Die Arbeiterwohlfahrt, Referat Migration in München führt seit 1979 Jugendgerichtshilfe (JGH) in Delegation vom Stadtjugendamt München durch. Mitte der 90er-Jahre konnte in der hausinternen Statistik der JGH festgestellt werden, dass Jugendliche türkischer Herkunft in ca. 40 Prozent der Fälle im Bereich der Körperverletzung, der gefährlichen Körperverletzung, Raub, Raubüberfall sowie Vandalismus auffällig werden. Die Maßnahmen, die im Stadtgebiet München für solche Jugendlichen angeboten wurden, waren nicht mit den Zielsetzungen und dem Programm des Anti-Aggressions-Kurses vergleichbar. Die Maßnahmen, die damals liefen, trugen den Namen Soziale Trainingskurse, d.h. es wurde nicht primär an der Gewalttätigkeit des Jugendlichen/ Heranwachsenden gearbeitet, sondern an seinem sozialen Verhalten insgesamt. Darüber hinaus konnte beobachtet werden, dass diese Jugendlichen aufgrund eines anderen Ehrbegriffes, Sich-Falsch-Verstanden-Fühlens sowie eines an1 deren Verständnisses von Freundschaft straffällig werden. Sie setzen sich bedingungslos, auch auf die Gefahr hin, dass sie verletzt werden, für den 1 Es soll hier hervorgehoben werden, dass diese Jugendlichen in der Gesellschaft einen schlechten Stand haben, wie z.B. kein Schulabschluss, Arbeitslosigkeit oder aber ausländerrechtliche Probleme. Um u.a. ihre Taten »rechtfertigen« zu können, begründen viele von ihnen ihre Taten mit der Besonderheit der Ehrenhaftigkeit und Männlichkeit eines türkischen Mannes. 64 Ahmet Toprak Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen Freund ein: Solidarität und sich für den Freund einsetzen ist eine tief verankerte Grundvoraussetzung, über die nicht nachgedacht und die auch nicht in Frage gestellt wird. Eine bedingungslose Solidarität heißt auch, dem Freund, ohne die Situation zu hinterfragen, Hilfe zu leisten. Wenn die bedingungslose Solidarität nicht gewährleistet wird, ist nicht nur die Freundschaft, sondern auch die Männlichkeit des Jugendlichen in Frage gestellt. Die Grenzen der Freundschaft werden verletzt, wenn die folgenden Punkte unter den Freunden nicht beachtet werden: • wenn die Mutter oder andere Familienmitglieder beleidigt oder beschimpft werden, • wenn Männlichkeit oder Potenz angezweifelt werden. Beim Begriff »Ehre« zeigt sich ein ähnlich rigides Verhalten. Jugendliche, die einen Anti-Aggressions-Kurs besuchen, obwohl sie mittlerweile zur dritten Migrantengeneration zählen, halten denjenigen für ehrenhaft, der sich, seine Freundin und andere weibliche Familienmitglieder nach außen bedingungslos schützt. Die Ehre des Mannes ist in Frage gestellt, wenn irgend jemand von außen ein Mitglied der Familie, insbesondere eine der Frauen, belästigt oder angreift. Ein Mann gilt als ehrlos, wenn er nicht bedingungslos und entschieden seine Angehörigen verteidigt. Die Ehre des Mannes begründet sich insbesondere auf dem Schutz seiner Ehefrau. Er muss nach außen Stärke und Selbstbewusstsein demonstrieren, um die Sicherheit seiner Frau garantieren zu können. Die Ehre einer verheirateten Frau wird im wesentlichen in ihrer Keuschheit gesehen. Eine Frau, die Ehebruch begeht, »befleckt« nicht nur ihre eigene Ehre, sondern auch die ihres Mannes, weil er nicht Mann genug war, sie davon abzuhalten. Die Ehrenhaftigkeit einer ledigen Frau wird darin gesehen, dass sie bis zu ihrer Eheschließung ihre Jungfräulichkeit bewahrt. In diesem Zusammenhang äußert sich ein 15-jähriger Anti-Aggressions-KursTeilnehmer – das Gespräch wurde im Rahmen des Vorgespräches geführt – folgendermaßen: »Also, was ist für mich Ehre? Wenn jemand mich beleidigt oder er beleidigt meine Freundin, ne. Wenn ich dann nichts tue, also ihn nicht schlage, ne. Ja, dann heißt das ja, jeder kann mich schlagen und meine Freundin, ja Mutter, Schwester und so weiter beleidigen. Ich habe dann keine Ehre. (...) Dann kommt jeder kleine Wichser und will mich schlagen oder meine Freundin beleidigen. Wenn du dich nicht wehrst, 65 Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen Ahmet Toprak macht dich jedes kleines Kind dann an. (...) Für Mädchen ehrenhaft? Wenn ich ein türkisches Mädchen heirate, dann soll sie Jungfrau sein, ne. Wenn sie nicht Jungfrau ist, hat sie keine Ehre, ne.« Diese Jugendlichen bzw. Heranwachsenden lernen, dass sie in der Lage sein müssen, weibliche Familienmitglieder bedingungslos und um jeden Preis zu schützen. Es wird von ihnen erwartet, im Extremfall, auch Gewalt anzuwenden. Setzt einer sich nicht bedingungslos für seine Schwester bzw. seine Freundin/Frau ein, wird er nicht nur als ehrlos, sondern auch unmännlich und schwach bezeichnet. Er wird in der Familie nicht mehr hoch angesehen, seine Männlichkeit wird, vor allem vom Vater und anderen männlichen Familienmitgliedern in Frage gestellt, und er wird bei Entscheidungen, die die Familie betreffen, nicht mehr mit einbezogen. Die Vorstellungen der Jugendlichen von Freundschaft/Ehre und die »Realität« weichen jedoch stark voneinander ab und »kollidieren« miteinander. Viele Jugendliche sind nicht mal in der Lage, diese beiden Begriffe richtig zu definieren, weil sie es nicht gelernt haben zu reflektieren. Wenn es um Freunde bzw. um die Freundin/Schwester geht, ist die Hemmschwelle und das Unrechtsbewusstsein sehr gering; über die Konsequenzen der Tat und über das Opfer wird nicht groß nachgedacht. Anti-Aggressions-Kurse nach Paragraph 10 JGG Um diese Jugendlichen aufzufangen und gezielt an den oben ausgeführten Problemlagen zu arbeiten, wurde dieser Kurs nur für Jugendliche aus dem türkischen Kulturkreis konzipiert. Um den kulturspezifischen Hintergrund zu beleuchten, sollte der Kursleiter männlich und nach Möglichkeit türkischsprachig sein. Am 01.11.1996 wurde das auf fünf Jahre angelegte Projekt mit den Inhalten Täter-Opfer-Ausgleich, Anti-Aggressions-Kurs, Weisungsbetreuung sowie angeordnete Beratung gestartet. Rechtliche Grundlagen Die Anti-Aggressions-Kurse der Arbeiterwohlfahrt – Referat Migration – sind ein Teil der richterlichen Weisungen, die im Rahmen des § 10 Jugendgerichtsgesetz ausgesprochen werden können, d.h. es muss ein Gerichtsurteil vorlie- 66 Ahmet Toprak Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen gen, um am Anti-Aggressions-Kurs teilnehmen zu können. Im JGH werden diese Weisungen wie folgt definiert: »Weisungen sind Gebote und Verbote, welche die Lebensführung des Jugendlichen regeln und dadurch seine Erziehung fördern und sichern sollen. Dabei dürfen an die Lebensführung des 2 Jugendlichen keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden.« Der Jugendrichter kann folgende Weisungen auferlegen: 1. Weisungen zu befolgen, die sich auf den Aufenthaltsort beziehen, 2. bei einer Familie oder in einem Heim zu wohnen, 3. eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle anzunehmen, 4. Arbeitsleistungen zu erbringen, 5. sich der Betreuung und Aufsicht einer bestimmten Person (Betreuungshelfer) zu unterstellen, 6. an einem sozialen Trainingskurs teilzunehmen, 7. sich zu bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen (Täter-Opfer-Ausgleich), 8. den Verkehr mit bestimmten Personen oder den Besuch von Gast- oder Vergnügungsstätten zu unterlassen oder 3 9. an einem Verkehrsunterricht teilzunehmen. Die Überwachung der Weisung muss vom jeweiligen Richter vorgenommen werden. »Die Befolgung der Weisung kann nicht erzwungen, sondern die 4 5 Nichterfüllung mit JA geahndet werden (...)« Deshalb ist der Kursleiter verpflichtet, dem Jugendgericht mitzuteilen, ob der Jugendliche an dem Kurs teilnimmt oder nicht. Über die genauen Inhalte des Kurses wird dem Gericht kein Bericht eingereicht. Sollte der Kursteilnehmer am Anti-Aggressions-Kurs unregelmäßig teilnehmen, kann das Jugendgericht nach einer Anhörung bis zu vier Wochen Dauerarrest verhängen. Nach einem Dauerarrest ist der Ju2 JGH, kommentiert von Brunner, 9. Auflage, 1991, S. 120. 3 vgl. ebd. Jugendarrest vgl. ebd., S. 143. 4 5 67 Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen Ahmet Toprak gendliche – in der Regel – weiterhin verpflichtet, an diesem Kurs teilzunehmen; dies wird von Fall zu Fall vom jeweiligen Jugendrichter entschieden. Darüber hinaus werden Jugendliche und Heranwachsende in die Kurse aufgenommen, wenn sie den Anti-Aggressions-Kurs im Rahmen einer Freiheitsstrafe als Bewährungsauflage auferlegt bekommen haben: »Der Richter soll für die Dauer der Bewährungszeit die Lebensführung des Jugendlichen durch Weisungen erzieherisch beeinflussen. Er kann dem Jugendlichen auch Auflagen erteilen. Diese Anordnung kann er nachträglich treffen, ändern oder auf6 heben. Die §§ 10, 11 Abs. 3 (...) gelten entsprechend.« Die Überwachung der Auflage wird in diesem Falle nicht vom zuständigen Jugendrichter vorgenom7 men, sondern vom Bewährungshelfer . Darüber, ob der Jugendliche an dem Kurs teilnimmt oder nicht, wird der zuständige Bewährungshelfer zügig informiert. Sollte der Jugendliche an dem Anti-Aggressions-Kurs nicht teilnehmen, kann seine Bewährung widerrufen werden. Methodische Grundlagen Die Grundlagen des Anti-Aggressions-Kurses sind überwiegend entnommen aus Jens Weidners Konzeption des Anti-Aggressivitäts-Trainings. Eine hundertprozentige Umsetzung dieses Konzeptes ist nicht das Anliegen des AntiAggressions-Kurses der Arbeiterwohlfahrt – Referat Migration, allein des Zeitrahmens wegen nicht. Diese Konzeption wurde auf die Bedürfnisse der Klienten der Arbeiterwohlfahrt umgestellt. Burschky/Sames/Weidner schlagen im Sitzungscurriculum 19 Sitzungen mit einem Trainer, einem Co-Trainer, zwei Tutoren (Ex-User/Gewaltexperten), einer neutralen Person, ca. 5-7 Teilneh8 mern und einem zeitlichen Umfang von 54,5 bis 73,5 Stunden vor. Das AntiAggressivitäts-Training Jens Weidners beinhaltet folgende Eckpfeiler, die auch von der Arbeiterwohlfahrt in abgeschwächter Form umgesetzt werden: 6 7 8 §23 vgl. ebd., S. 230. vgl. ebd., S. 233. vgl. Burschky; Sames; Weidner, In: Weidner; Kilb; Kreft, 1997, S. 83-89. 68 Ahmet Toprak Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen Faktoren Lerninhalte Lernziele 1. Aggressivitätsauslöser Was sind provozierende Situationen? Wann ist für den Teilnehmer Gewalt »zwingend notwendig«? Wie weit verstärkt Alkohol die Gewaltbereitschaft? Das Infragestellen »zwingender Notwendigkeiten«. Das frühzeitige Erkennen gewaltaffiner Entwicklungen und der Rückzug oder die Schlichtung als Handlungsalternative. 2. Aggressivität als Vorteil Die gewalttätige Unterwerfung zur Erhöhung des Selbstwertgefühls, das Opfer als »Tankstelle« des Selbstbewusstseins. Anerkennung und Respekt durch Freunde. Die Kosten-Nutzen-Analyse: Jede weitere Körperverletzung kann Jahre an Haftzeiten kosten. 3. Selbstbild zwischen Idealund Realselbst Das Ideal des Teilnehmers ist hart, unbeugsam, »cool« und gnadenlos. Das reale Selbst ist dagegen leicht kränkbar, wenig selbstbewusst und als Versager »abgestempelt«. Widerlegung der Hypothese der Teilnehmer, »Härte macht unangreifbar«, Dissonanzausgleich durch veränderte Rollenerwartungen: statt Unbesiegbarkeit die kränkbaren Persönlichkeitsanteile respektieren lernen. 4. Neutralisierungstechniken Die Auseinandersetzung mit der real begangenen Tat. Die Analyse vorgeschobener Rechtfertigungen von Gewalttaten. Die Konfrontation der Neutralisierungen und die Einmassierung des Realitätsprinzips. Das Wecken von Schuld- und Schamgefühl. Übernahme von Verantwortung für die Taten. Die Veränderung des Selbstbildes: vom souveränen Kämpfer zum entschuldigenden Versager. 5.Opferkonfrontation/Opferperspektiven Schmerzen, Behinderungen, Ängste, Trauer von Gewaltopfern: Tonbandinterviews. Der fiktive (nicht abgesandte) Entschuldigungsbrief an Opfer. Kathartisches Durchleben des Opferleids. Steigerung des Opfereinfühlungsvermögens, Hass und Härte. Betroffenheit durch mögliche und reale Opferfolgen wecken. 69 Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen 6. Provokations- Das Aufstellen und Durchtests spielen einer Hierarchie von leichten Belästigungen bis zu Aggression auslösenden Provokationen, im Sinne systematischer Desensibilisierung. Ahmet Toprak Trotz Provokationen gelassen bleiben. Das »Austesten« der eigenen Grenzen im kontrollierten Umfeld. Erkenntnisgewinn: Die größte Niederlage des Provokateurs ist das Ignorieren der Provokation. Sich mit Worten, Humor, Ironie (statt Fäusten) wehren. Im Anti-Aggressions-Kurs der Arbeiterwohlfahrt werden die Faktoren 3-6 im Rahmen des »heißen Stuhls« umgesetzt, der weiter unten noch vorgestellt wird. Deskriptionsphase Unter Deskriptionsphase versteht Heilemann die persönliche Vorstellung des Teilnehmers, seinen Lebenslauf, testpsychologische Zusatzuntersuchung mit 9 Aggressionstest sowie die inhaltliche Überprüfung der Gerichtsurteile . Die Deskriptionsphase des Anti-Aggressions-Kurses der Arbeiterwohlfahrt unterscheidet sich von der Deskriptionsphase Heilemanns: Die Jugendgerichtshilfe, die im Haus untergebracht ist, eruiert im Vorfeld der Hauptverhandlung, ob ein Jugendlicher für einen Anti-Aggressions-Kurs geeignet ist. Dieses Anliegen bzw. der Ahndungsvorschlag wird im JugendgerichtshilfeGespräch mit dem jeweiligen Jugendlichen besprochen. Willigt er ein, an einem solchen Kurs teilzunehmen, schlägt die Jugendgerichtshilfe als Ahndung vor, an einem Anti-Aggressions-Kurs teilzunehmen. Die Akte mit dem aktuellen Urteil, Jugendgerichtshilfe-Bericht, Anklageschrift(en), alte Urteile, wenn welche vorhanden sind, sowie Schriftverkehr wird dem Kursleiter übergeben. Der Kursleiter studiert die gesamte Akte, versucht die Straffälligkeiten des Jugendlichen zu rekonstruieren und macht sich ein erstes Bild vom Jugendlichen. Wird der Kurs erst in einigen Monaten gestartet, werden die Teilnehmer 9 vgl. Heilemann, In: Weidner; Kilb: Kreft, 1997, S. 57 70 Ahmet Toprak Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen darüber informiert, wann genau der Kurs begonnen werden kann. Dieselben Informationsbriefe gehen auch an die Jugendgerichtshilfe, das Jugendgericht sowie die Bewährungshilfe. Einzelgespräche Das Hauptziel des Einzelgespräches besteht darin, zunächst einmal den Kontakt zum Teilnehmer herzustellen, und ihn darüber hinaus über den Kurs zu informieren. »Diese Informationen sollen vorhandene Ängste, Befürchtungen 10 und falsche Vorstellungen vom Kurs reduzieren und korrigieren helfen.« »Konkrete Informationen, die die Jugendlichen schon vor dem ersten Kurstag erhalten, erhöhen die Chance, daß sich ihre Energie weniger auf Abwehrverhalten konzentriert und ihre Grundhaltung eher durch Neugierde und Auf11 nahmebereitschaft gekennzeichnet ist« . Darüber hinaus soll, nach Möglichkeit, überprüft werden, ob der Kursteilnehmer für die Teilnahme geeignet ist, wie zum Beispiel, ob er stark drogenabhängig ist oder aber große psychische Probleme hat. Sollte der Kursleiter Bedenken bei einem Jugendlichen haben, soll dieser zu einem zweiten Vorgespräch, ggf. im Beisein eines Psychologen, eingeladen und intensiv interviewt werden. Konfrontativer und provokativer Ansatz In den Jahren 1996 bis 1998 fanden insgesamt fünf Kurse statt, in denen die verständnisvoll-nachsichtige (pädagogische) Methode angewandt, sowie viele Themen angesprochen und diskutiert wurden. Es wurde auch viel geschrieben, gebastelt und gezeichnet, was bei den Teilnehmern wenig Resonanz fand, da diese Methode die Teilnehmer an die Schule erinnerte. Im Jahre 1999 wurde die Methode der konfrontativ-provokativen Pädagogik gewählt, was bei den Kursteilnehmern besser ankam. Die Schreibarbeit wurde durch Übungen, die in der Regel körperlichen Einsatz erfordern, ersetzt. Im Folgenden sollen die beiden Ansätze kurz beschrieben werden: Konfrontation mit der eigenen Tat: Die Neutralisierungstechnik (»das Opfer ist Schuld«, »er hat mich provoziert« oder aber »ich habe mich nur gewehrt«) 10 11 Frey; Meyer, 1982, In: Frey u.a., 1997, S. 77 Northen, 1977, In: Frey u.a., 1997, S. 77 71 Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen Ahmet Toprak ist ein beliebter Umgang mit bzw. Rechtfertigung der eigenen Tat. Darüber hinaus soll den Teilnehmern die Opferperspektive aufgezeigt werden: »Die Opferkonfrontation ist ein Thema, das äußerst sensibel gehandhabt werden muss. Oberste Prämisse muss sein, dass das Opfer nicht als ›Werkzeug‹ im therapeutischen Setting missbraucht werden darf, um den Täter zu behan12 deln.« In diesen Kursen sollen nur symbolische Formen von Opferkommunikation praktiziert werden; d.h. »(...) dass Filme aus der Opferperspektive, Opferinterviews aus dem Fernsehen den Teilnehmern gezeigt werden, wobei 13 vom Täter Parallelen zur eigenen Tat aufzuzeigen sind.« Ein Treffen bzw. ein Gespräch mit dem Opfer soll in jedem Fall vermieden werden, weil das Opfer dadurch einer unzumutbaren Belastung ausgesetzt sein würde. Viele Opfer schaffen es nur mit viel Mühe, die psychischen Belastungen und Schäden zu vergessen. Ein Treffen bzw. Gespräch mit dem Täter würde das Opfer womöglich bei der Verarbeitung der Vorfälle um Monate »zurückwerfen«. Provokationen: Auch wenn die Teilnehmer wissen, dass das bewusste Provozieren seitens der Trainer einen »spielerischen« Charakter hat, wird vielen Teilnehmern die Grenze ihrer Belastbarkeit schnell deutlich. Ziel der Provokation soll es sein, dass »der Klient durch Humor, Ironie, Sarkasmus und Formen der paradoxen Intervention mit seinen persönlichen Schwachstellen konfrontiert wird. Dem Sozialpädagogen und Psychologen kommt dabei die Rolle des ›Advocatus Diaboli‹ zu, der den Finger in die konflikt- und aggressi14 onsgeladenen Wunden legt.« Während viele Jugendliche mit verbalen »Anmachen« sehr gut umgehen und die gesamte Situation mit Ironie und »Gegenanmache« entschärfen, können sie der körperlichen Nähe und dem Anfassen im Gesicht nicht viel entgegensetzen; sie werden sehr schnell unruhig, zappelig, und aggressiv. »Also sagen wir so: Du hast mich am Anfang mit Worten provoziert, ne. Ja, ne, das hat mir nix ausgemacht, ne. Das ist mir egal. Ich habe dich auch verarscht, ne. (...) Aber, ne, als du mich am Gesicht angefasst hast, da war ich schon aggressiv, ne. Das hat, sagen wir mal, mir über- 12 13 14 Burschyk; Sames; Weidner, In: Weidner; Kilb; Kreft 1997, S. 80 ebd. ebd., S. 81. 72 Ahmet Toprak Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen haupt nicht gefallen. Am Gesicht anfassen ist immer scheiße. Da wird jeder aggressiv. Ich war sehr aggressiv, ne. Aber ich durfte nix machen, ne. Ich habe gesagt, okay, du musst das aushalten, du musst das aus15 halten. (...) Ich habe gelernt endlich etwas Schlimmes auszuhalten.« Durch die physische und psychische Provokation sollen dem Teilnehmer die Grenzen der Selbstkontrolle, Erregbarkeit und Aggressivität vermittelt werden. »Praktisch werden die Teilnehmer während der Gruppensitzungen unangekündigt provoziert, wobei die Provokationen Situationen thematisieren, die 16 früher zu Gewalttätigkeiten geführt haben.« Darüber hinaus werden die Provokations- und Konfrontationstests gezielt auf dem heißen Stuhl eingesetzt und ausprobiert, der im folgenden Kapitel ausführlich beschrieben wird. Der heiße Stuhl Im Rahmen des heißen Stuhls wird eine Gruppe gebildet, die aus Trainern, Tutoren und Mittätern besteht. Ziel ist es, räumlich eng gehaltene Gegebenheiten zu schaffen, in welchen der Kandidat – in der Regel wird ein kleiner Kreis gebildet und der Kandidat sitzt in der Mitte – physische und psychische Nähe spürt. Ziel ist es, den in der Mitte sitzenden Jugendlichen mit seiner Tat zu konfrontieren und mit gezielten, teilweise beleidigenden Aussagen zu provozieren. Bei der praktischen Durchführung des heißen Stuhls gibt es zwei Regeln: 1. der auf dem heißen Stuhl sitzende Teilnehmer darf sich nur mit verbalen Mitteln zu Wehr setzen; 2. er darf jederzeit die Sitzung abbrechen, muss aber mindestens einmal im Laufe des Kurses diese Sitzung »aushalten«. Eine Videoaufzeichnung, um die Sitzung später besser auszuwerten, ist ratsam, aber nicht zwingend notwendig. Bei der Durchführung des heißen Stuhls 15 16 Der Interviewausschnitt wurde aus dem Auswertungsgespräch mit einem 18-jährigen Kursteilnehmer entnommen. Er antwortet auf die Frage, was ihm im Kurs nicht gefallen hat. ebd., S. 81. 73 Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen Ahmet Toprak sollen die einzelnen Bausteine bzw. Schritte, die aufeinander aufgebaut sind, beachtet werden: 1. Eins-zu-eins-Interview: Konfrontatives und provokatives Interview im Beisein der Gruppe, um dem Jugendlichen bereits im Vorfeld des heißen Stuhls »den Schneid abzukaufen«. Er soll bereits im Interview spüren, was ungefähr auf dem heißen Stuhl auf ihn zukommt. Es empfiehlt sich während des Interviews den Raum durch eine Trennwand zu teilen, d.h. die restlichen Gruppenangehörigen dürfen keinen Augenkontakt zum Interviewpaar aufbauen. 2. Strategiebesprechung: In Abwesenheit des Betroffenen bespricht die Gruppe eine Strategie, wie der heiße Stuhl auszusehen hat. Der wichtigste Punkt beim heißen Stuhl soll die Straftat des Jugendlichen sein. Es soll z.B. konkret und mit Nachdruck hinterfragt werden, wie die Tat zu Stande kam, ob er z.B. sie zu rechtfertigen versucht. Hier werden auch andere Themen an einzelne Jugendliche verteilt, die auf dem heißen Stuhl angesprochen werden sollen. Denn die größte »Niederlage« für die Gruppe ist es, wenn sie keine Argumente hat und während des heißen Stuhls große Pausen entstehen. 3. Durchführung des heißen Stuhls: In einem runden Kreis wird der Betroffene gezielt, wie in der Strategiebesprechung vereinbart wurde, mit der Tat konfrontiert und provoziert. 4. Auswertung: Gemeinsame Auswertung mit allen Beteiligten. Bei der Auswertung muss die folgende Reihenfolge eingehalten werden: I) Der in der Mitte sitzende Jugendliche setzt sich in den Kreis und gibt einem der Teilnehmer ein Plus, der ihn am intensivsten getroffen bzw. zum Nachdenken gebracht hat und einem Teilnehmer ein Minus, der bei ihm nichts bewirkt hat. Das wird zunächst unkommentiert im Raum stehen gelassen. II) In einem zweiten Schritt sollen alle im Kreis sitzenden Teilnehmer ihre subjektive Wahrnehmung wiedergeben, d.h. ob sie bei dem Jugendlichen etwas bewirkt haben bzw. ihn innerlich »zum Kochen gebracht« haben; eine kurze Begründung ist vonnöten. Der betroffene Jugendliche darf zunächst zu den einzelnen Meinungen keine Stellung beziehen. 74 Ahmet Toprak Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen III) Danach sollen die Gruppenmitglieder, die beim heißen Stuhl nicht aktiv mitgemacht haben und von außen (ohne Augenkontakt) die Sitzung verfolgt haben, ihre persönliche und subjektive Wahrnehmung darlegen und dabei kurz begründen. IV) Im vierten und letzten Schritt soll der Kandidat zu all den ausgeführten Meinungen und Wahrnehmungen Stellung beziehen und schließlich erläutern, wie es ihm auf dem heißen Stuhl ging. Wurde die Sitzung aufgezeichnet, ist es zu empfehlen einige kurze und prägnante Ausschnitte mit dem Teilnehmer auszuwerten. 5. Einzelgespräch: Nachdem die Kursteilnehmer den Raum verlassen haben, führen die Kursleiter ein Einzelgespräch mit dem Betroffenen. Hier sollen ggf. Dinge thematisiert werden, die bei der gemeinsamen Auswertung nicht zur Sprache kamen bzw. im Beisein der Gruppe nicht angesprochen werden konnten. Im Laufe eines Kurses werden folgende Themenblöcke, sei es im Rahmen der Gruppengespräche, auf dem heißen Stuhl oder aber nach Filmvorführungen in Form von Diskussionen, behandelt. Straffälligkeit und Gewalt: Einstellung zur Gewalt, Erlernen von gewaltfreien Verhaltensmustern, Umgang mit eigenen Aggressionen, Opferperspektive Migration: Diskriminierungserfahrungen, Familien- und Generationskonflikt, Bikulturalität/Bilingualität als Ressource, Lebensentwürfe zwischen »Tradition« und »Moderne«, Ethnisierung/Selbstethnisierung Umgang bzw. Verhalten in Konfliktsituationen: Konflikte in der Schule, am Ausbildungsplatz oder am Arbeitsplatz, Flüchten und Standhalten in Konfliktsituationen, Umgang mit Beschimpfungen und Beleidigungen, Gruppendruck in Cliquen Einsatz und Ziel der Übungen bzw. Filme Da die Teilnehmer dieser Kurse in der Regel eine niedrige Schul- und Berufsausbildung haben und darüber hinaus schreibfaul und Schulschwänzer sind, soll das Pensum an Schreibarbeit so niedrig wie möglich gehalten werden. Ein Jugendlicher äußert sich zu den Übungen und den Filmen folgendermaßen: 75 Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen Ahmet Toprak »Was ich an dem Kurs cool fand? Ja, das waren diese Spiele. Ich wollte zuerst nicht zu Anti-Aggression, ne. (...) Ich dachte das ist Schule, ne. Ich find gut, dass man nicht viel schreibt, ne. Ich mag nicht schreiben, und Schule habe ich immer gehasst. (...) Und ich fand die Filme gut, ne. Dieser Film mit dem Schwarzen war gut, ne. (...) Ja er hat das gut ge17 macht. Er ist nicht sofort aggressiv geworden, ne.« Um einerseits die Gruppenatmosphäre – längere Heiße-Stuhl-Sitzungen, die für beide Seiten anstrengend und belastend sein können – aufzulockern und andererseits durch Rollenübungen und Filmvorlagen gewisse Themen besser und konkreter anzuschneiden, werden viele Übungen und Filme eingesetzt. Darüber hinaus motivieren die körperbetonten und provozierenden Übungen Jugendliche, an dem Kurs kontinuierlich teilzunehmen. Zwischen- und Endauswertung mit den Teilnehmern Um den reibungslosen und an den »Bedürfnissen« der Teilnehmer ausgerichteten Kursablauf zu konzipieren, muss sowohl während als auch zum Abschluss eines Kurses eine Auswertung vorgenommen werden, um gegebenenfalls die Kursteile oder Kursbausteine zu modifizieren. Während die Zwischenauswertung gemeinsam in der Gruppe vorgenommen werden und kurz sein kann, soll die Endauswertung einzeln stattfinden und ausführlicher sein. Mitarbeiter Der Anti-Aggressions-Kurs soll mindestens von einem hauptamtlichen Pädagogen geleitet und von einem Co-Trainer oder einer Honorarkraft unterstützt werden. Eine berufsbegleitende Zusatzausbildung des hauptamtlichen Pädagogen zum Anti-Aggressivitäts-Trainer ist für diese Tätigkeit ratsam. Es empfiehlt sich mindestens einen männlichen Pädagogen einzusetzen, der gegenüber dem »männlich« geprägten Weltbild der Jugendlichen sensibel und aufgeschlossen ist. Die Erfahrungen zeigen, dass die Kenntnisse der türkischen 17 Der Interviewausschnitt wurde aus dem Auswertungsgespräch mit einem 17-jährigen Kursteilnehmer entnommen. Er antwortet auf die Frage, was ihm im Laufe des Kurses am besten gefallen hat. 76 Ahmet Toprak Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen Sprache wichtig, aber nicht ausschlaggebend sind. Vielmehr sind gute Kenntnisse der kulturellen-, sozialen- und Lebensbedingungen der Teilnehmer von Bedeutung. Literatur Brunner, Rudolf: Jugendgerichtsgesetz, 9. Auflage, Berlin und New York 1991 Burschyk; Sames; Weidner: Das Anti-Aggressivitäts-Training: Curriculare Eckpfeiler, Forschungsergebnisse. In: Weidner; Kilb; Kreft (Hrsg.): a.a.O. Frey, Maria u.a.: Jugendarbeit mit Straffälligen: Theorie und Praxis Sozialen Trainings, Freiburg i.B. 1997 Heilemann, Michael: Opferorientierter Strafvollzug. Über ein neues Professionalisierungsverständnis im Umgang mit Gewalt. In: Weidner; Kilb; Kreft (Hrsg.): a.a.O. Toprak, Ahmet: Anti-Aggressivitäts-Training mit türkischen Jugendlichen. In: Weidner; Kilb; Jehn (Hrsg.): Gewalt im Griff – Band 3, München Weinheim ders.: »Ich bin eigentlich nicht aggressiv!« Theorie und Praxis eines AntiAggressions-Kurses mit türkischstämmigen Jugendlichen, Freiburg 2001a ders.: Anti-Aggressions-Kurse mit türkischen Jugendlichen. In: iza Zeitschrift für Migration und Soziale Arbeit, Nr. 1, Frankfurt a.M. 2001b ders.: Anti-Aggressions-Kurse in München. Ein Abriss über die soziokulturellen Bedingungen der Teilnehmer. In: Die Brücke, Nr. 2, Saarbrücken 2000a ders.: Ehre, Männlichkeit und Freundschaft. Auslöser für Gewaltbereitschaft Jugendlicher und Heranwachsender türkischer Herkunft in München? In: DVJJ-Journal, Nr. 2, Hannover 2000b ders.: Türkische Jungen – Belastungsfaktor für die Mitte der Gesellschaft? Ein Abriss über die Sozialisationsbedingungen. In: DVJJ-Journal, Nr. 4, Hannover 2000c 77 Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen Ahmet Toprak ders.: Kulturell bedingte Konflikte? – Anti-Aggressions-Kurse für männliche Jugendliche aus der Türkei. In: Gropper; Zimmermann (Hrsg.): Raus aus Gewaltkreisläufen, Stuttgart 2000d Traulsen, Monika: Entwarnung. Zur Entwicklung der Kriminalität junger Ausländer. In: DVJJ-Journal, Nr. 4, 2000 Weidner; Kilb; Kreft (Hrsg.): Gewalt im Griff. Neue Formen des AntiAggressivitäts-Trainings, Weinheim und Basel 1997 Weidner, Jens: Anti-Aggressivitäts-Training für Gewalttäter, 4. unveränderte Auflage, Bonn 1997 Weidner; Kilb: »So hat noch nie einer mit mir gesprochen...« Eine erste Auswertung zu Möglichkeiten und Grenzen des Anti-Aggressivitäts- und Coolness-Trainings. In: DVJJ-Journal, Nr. 4, Hannover 2000 Weidner, Jens: Über Grenzziehung in sozialer Arbeit und Psychologie. Die sieben Levels der Konfrontation. In: Weidner, Kilb; Kreft (Hrsg.): a.a.O. Ahmet Toprak, Dipl.-Pädagoge, Dr., Referent für Gewaltprävention bei der Aktion Jugendschutz Landesarbeitsstelle Bayern e.V., Anti-AggressivitätsTrainer, Lehrbeauftragter an den Universitäten Eichstätt und Passau 78 Olaf Jantz / Hatice Krischer Sex ohne Grenzen? Sex ohne Grenzen? Praxis einer interkulturellen Sozialpädagogik Olaf Jantz / Hatice Krischer Obwohl die praktische Arbeit zumeist in geschlechtshomogenen Gruppen stattfindet, haben wir uns entschlossen, den Workshop zur interkulturellen Sexualpädagogik im Rahmen der Veranstaltung »Integration durch Partizipation« gemeinsam in der geschlechtsgemischten Gruppe durchzuführen. Dies bietet die Chance einer gegengeschlechtlichen Empathie, wie sie unseres Erachtens auch für die interkulturelle Sexualpädagogik unabkömmlich ist. Folgerichtig fassen wir unsere sexualpädagogischen Erfahrungen mit Mädchen und Jungen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft auch in diesem Beitrag gemeinsam zusammen. Damit findet bereits eine interkulturelle Begegnung auf der fachlichen Ebene statt, die wir auch in der Praxis für sinnvoll erachten: Männer und Frauen unterschiedlicher Herkunft begeben sich in den konstruktiven und kritischen Austausch über Möglichkeiten und Grenzen im Zugang zu Jugendlichen. Dafür bietet sich die Konzeptionierung von Projekten der interkulturellen Mädchen- und Jungenarbeit geradezu an. Geschlechtsbezogene Arbeit Interkulturelle Sexualpädagogik erfolgt in geschlechtshomogenen Gruppen, weil die Beschäftigung mit der eigenen Sexualität ein stark emotional besetztes Thema ist. Dadurch wird insbesondere vermieden, dass die Jungen und Mädchen in ihre jeweiligen (traditionellen) Rollen verfallen. Jungen fragen 79 Sex ohne Grenzen? Olaf Jantz / Hatice Krischer Männer, Mädchen fragen Frauen. Bei einer unbedingt wertschätzenden und akzeptierenden Atmosphäre trauen sie sich in »unerforschte Gebiete«. Sie erhalten durch die gleichgeschlechtliche Unterstützung überhaupt erst die Möglichkeit, über mädchentypische bzw. jungentypische Themen zu sprechen. Jenseits moralisierender Zuschreibungen explorieren die Jugendlichen das Typische von Junge sein und von Mädchen sein. Sexualität ist in den allermeisten Kulturen ein tabuisiertes und intimes Thema. Deswegen kann es peinlich und unangenehm sein, über das Thema Sexualität zu sprechen oder dazu Fragen zu stellen. Der pädagogische Raum einer interkulturellen Sexualpädagogik bietet über die explizite Behandlung von Geschlecht, sexueller Orientierung, Körper, Lust, Liebe und Freundschaft einen geschlechtsbewussten Zugang zu oftmals als neutral betrachteten Jugendlichen. Bewusst als Mädchen und bewusst als Jungen betrachtet, stellen auch die Jugendlichen selbst Verbindungen zwischen eigenen Wünschen, eigenem Handeln und frauen- bzw. männertypischen (An)Forderungen her. Weiblichkeit – Männlichkeit In diesem Zusammenhang erscheint es uns wichtig, Wissen über den eigenen Körper zu vermitteln. Der menschliche Körper wird über die geschlechtstypischen Zuschreibungen geschlechtsdichotom sozialisiert. Dabei können biologisch-psychische Veränderungsprozesse beobachtet werden, die Mädchen und Jungen in der Adoleszenz nach und nach kennen lernen. Diese werden stets im Verhältnis zu dem gesetzt, was die jeweilige Kultur unter Männlichkeit und Weiblichkeit versteht. Vor allem bezüglich der Veränderung während der Pubertät sollen die Jugendlichen (ganz im klassischen Sinne) über ihren Körper aufgeklärt werden. Für die Mädchen und Jungen ist es wichtig zu wissen, wie sich ihr Körper in der Pubertät verändert und wie sie zu Frauen und Männern werden, was dabei passiert und was es für sie bedeutet. Aber zur ganzheitlichen Aufklärung gehört auch, Wissen über den Körper und die Verhaltensweisen des jeweils anderen Geschlechts zu vermitteln. Dabei gibt es kulturtypische Besonderheiten, die wir von »unseren« Jugendlichen erfahren. Beispielsweise wird über die Menstruation in der islamischen Welt häufig nicht gesprochen. Wenn doch, dann geschieht dies nur unter Frauen. Manchmal wird behauptet, Mädchen seien währenddessen krank. 80 Olaf Jantz / Hatice Krischer Sex ohne Grenzen? Extreme Menstruationsbeschwerden dagegen deuten oft auf ein negatives Verhältnis der Mädchen zu ihrem Körper und ihrer Sexualität hin. In der christlich sozialisierten Welt ist die Menstruation als »Erbschuld« in die symbolischen Ordnung eingeschrieben, also als Strafe für den »weiblichen Ungehorsam«. Auch in deutsch-deutschen Familien werden oftmals unheilvolle Botschaften über Lust und Sexualität weiter gegeben, z.B. »Wie es Dir dabei geht, ist nicht so wichtig, Hauptsache er ist zufrieden.« Die extreme Selbstaufmerksamkeit von Jungen konzentriert sich in der frühen Pubertät auf den Genitalbereich und die Furcht davor, nicht männlich zu sein, potenziert sich in dieser Phase um ein Vielfaches. Alle Jungen sind i.d.R. sehr erstaunt, wenn sie erfahren, dass es eben diese Angst im Leistungsdruck ist, die die Hauptursache für Erektionsstörungen bedeutet. Besonders bei deutsch-deutschen Jungen entsteht oftmals die Angst, sie könnten bei einer Beschneidung impotent werden. Migranten, die aus einer »Beschneidungskultur« stammen, können hier viele Ängste entschärfen. Allen Jungen wird dann darauf aufbauend einsichtig, dass Sexualität mit einem Präservativ keine genitalen Schäden bringt und auch keine Lusteinbuße bedeutet. Im Wesentlichen wollen wir die körperlichen Veränderungen als natürliche Veränderungen nahe bringen. Das Einsetzen der Regel ist für Mädchen ebenso normal, wie das z.T. schmerzhafte Wachsen ihrer Brüste. Jungen lernen, dass es nicht auf die Größe der Geschlechtsorgane ankommt und dass jeder Junge und jeder Penis anders sein darf. Wenn ein Junge Schmerzen empfindet, dann darf er sich sorgen und andere um eine Einschätzung bitten. Dies gilt auch für den Gang zum Urologen oder gar zum Andrologen, dies ist auch für Männer erlaubt! In Bezug auf Verhütung sollen Jungen wie Mädchen wissen, welche Möglichkeiten es gibt und wie diese angewandt werden. Insbesondere in der Jugend wissen Mädchen und Jungen so wenig von einander, dass Ideologien von Männlichkeit (z.B. »ein Junge kann immer«) und Weiblichkeit (z.B. »Mädchen überlassen den Jungen die Initiative«) so rigide und dominant präsentiert werden. Es hilft beiden, sowohl über den männlichen als auch den weiblichen Körper informiert zu sein. Damit können »unnötige« Ängste abgebaut werden. 81 Sex ohne Grenzen? Olaf Jantz / Hatice Krischer Angeleitete Grenzerfahrung Häufig haben Mädchen und Jungen Ängste und den Eindruck einer für sie »chaotischen Gefühlswelt«. Es können Widersprüche zwischen den Vorstellungen der Eltern und eigenen Gefühlen bestehen. Bei Migrantinnen wie Migranten stehen diese Gefühle besonders oft im Widerspruch zu den vermittelten kulturellen Werten und Normen. Sie haben Interesse an Jungen oder an Mädchen und die Eltern wollen ihnen dieses verbieten. Es ist gesellschaftlich einfach nicht erlaubt, einen festen Freund oder eine feste Freundin zu haben. Verwandte und Bekannte achten besonders bei Mädchen mit darauf, dass sie nichts Unerlaubtes tun, während sich Jungen noch mal so richtig »die Hörner abstoßen« sollen. Wir versuchen, ihnen dieses hin-und hergerissen sein etwas zu erleichtern, indem wir ihnen zeigen, dass ihre Gefühle und Wünsche normal sind. Auch wenn sie keinen Freund bzw. Freundin haben dürfen, kann ihnen das Träumen keiner nehmen. Es geht darum, die sozial gesetzten Grenzen zu erfahren, ihnen nachzuspüren, sie einzuordnen und zu bewerten. Die Jungen und Mädchen entscheiden selbst, ob sie ihre Grenzen erweitern möchten oder nicht. Wir versuchen, ihnen für ihre ganz persönliche Entscheidung erlebnisnahe Kriterien anzubieten. Dafür ist es wichtig, auch Jungen und Mädchen mit einem uns nicht so vertrauten kulturellen Hintergrund an die Grenzen heranzuführen. Dafür müssen wir sehr vorsichtig vorgehen und stets in gutem Kontakt bleiben. Die Grenzen bei Jungen und Mädchen sind für alle Pädagoginnen und Pädagogen spürbar und damit zu achten! Angemessener Selbstbezug – Authentizität Dafür ist es wichtig, dass wir unsere eigenen Grenzen kennen (lernen). Es gibt keinen idealen Partner bzw. keine ideale Partnerin in der Sexualität: Wir sind alle anders. Wir zeigen ihnen, dass es für uns O.K. ist, besondere Gefühle, Träume und Wünsche zu haben. Die Frage ist, wie sich unser Selbstwertgefühl bezogen auf das eigene Gewordensein gestaltet – besonders im Hinblick auf eigene Grenzen und Grenzverletzungen. Zwei geschlechtsgetrennte Beispiele: a) Für türkische Mädchen ist es wichtig, dass ich ihnen als türkische/ moslemische Frau begegne und sie akzeptiere und sie davon erfahren, dass ich diese widersprüchlichen Gefühle kenne und auch meine Erfahrungen damit gemacht habe. Es ist aber genauso wichtig, dass sie von deutschen 82 Olaf Jantz / Hatice Krischer Sex ohne Grenzen? Pädagoginnen erfahren, dass es bei ihnen auch so gewesen ist oder auch, wie anders damit umgegangen wird. (Hatice Krischer) b) Für albanische Jungen kann es Türen zu sich selbst öffnen, wenn ich als deutsch-deutscher Mann davon berichte, dass ich früher viele Ängste hatte, etwas falsch zu machen »so als Mann« und dass es auch Auswege aus dem Leistungsdruck »im Sex« gibt. Wenn es uns gelingt, unsere eigenen biographischen Schritte für die Jungen erfahrbar zu machen, dann lernen sie weitaus mehr als nur die »Technik der Kopulation«. (Olaf Jantz) Stärkende Jungenarbeit – Stärkende Mädchenarbeit Die Stärkung des körperlichen Selbstbewusstseins ist bei Migrantinnen besonders wichtig, d.h. dass sie bezüglich ihres Körpers Grenzen setzen dürfen und eine aktive Rolle übernehmen können, um sich eigene Wünsche klarzumachen und zu äußern. Sie sollen informiert und selbstbewusst entweder in die Hochzeitsnacht gehen oder mit einem Jungen schlafen, den Geschlechtsverkehr nicht über sich ergehen lassen (müssen), sondern ihn aktiv mitgestalten (können). Sie sollen selbst über ihren Körper und darüber bestimmen, was mit ihm gemacht wird. Jungen lernen eigene Grenzen kennen, indem sie nachspüren und »sich selbst zulassen«. Insbesondere Männer können Jungen vorleben, dass sich Jungen gegenseitig unterstützen können. Fragen und »Besonderes« sind normal und »normal« ist irrelevant. Der Eigensinn ist gefragt und die Eigenart, die sich auch körperlich auszeichnet, ist die Quelle einer eigenen Persönlichkeit. Dafür ist im männlichen Normierungsdruck allzu oft kein Platz. In diesem Zusammenhang sind die bewährten Methoden aus der »allgemeinen Mädchen- und Jungenarbeit« sehr hilfreich. (Siehe auch Literatur S. 86) AIDS, Zwangsheterosexualität, Behinderung, Religion, Sexueller Missbrauch Vielmehr noch als in deutsch-deutschen Familien, die beispielsweise eine Vielzahl an massenmedialen Kampagnen gegen den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen (inkl. der Gegenreden) miterleben durften und mussten, ist es manchmal für bestimmte Familien, die durch eine andere 83 Sex ohne Grenzen? Olaf Jantz / Hatice Krischer Kultur sozialisiert sind, schwierig, solche brisanten Themen aufgreifen zu können. Das Thema AIDS gibt es in manchen Familien nicht, Homosexualität gibt es nur in Sport, Musik, Film, Literatur und zumindest für die Männerseite neuerdings in der Politik. Behinderte haben keine Sexualität zu haben, auch nicht in Deutschland. Den sexuellen Missbrauch zu offenbaren, ist besonders schwierig in Kulturen, in denen eine große Autoritätshörigkeit und ein hoher familiärer und gesellschaftlicher Druck herrschen. Der Respekt durch die Offenbarung des Missbrauchs wird gebrochen und der Stolz der Familie ist gefährdet. Besonders auf der Frauenseite wird das Thema Sexualität in religiösen Familien nicht thematisiert. Wenn ein Mädchen im Kindesalter Anlauf nimmt, etwas darüber zu erfahren, ist es klar, dass, wenn sie überhaupt die Mutter fragt, diese ihr zu verstehen gibt, dass über solche Dinge nicht gesprochen werden darf. Das ist »ayip«, d.h. das schickt sich nicht. Einem Mädchen wird vermittelt, dass sie als Jungfrau in die Ehe gehen und somit auf ihr Jungfernhäutchen acht geben muss. Auch die Mütter haben das nicht anders erlebt, weshalb es schwierig für sie ist, mit ihren Töchtern darüber zu reden. Aber sie wollen, dass es ihren Töchtern besser geht als ihnen, deshalb befürworten sie die Aufklärung für die Ehe. Auf der anderen Seite entdecken viele heutige Väter, dass ihre Söhne eine neue Chance erhalten, Männlichkeit auszuhandeln. Viele ihrer Leiden könnten ihren Sprösslingen erspart bleiben. Insbesondere Männer aus so genannten Krisengebieten erfahren dies auch für sich selbst in dieser multikulturellen Gesellschaft. Diese Wünsche können wir in unseren Projekten respektvoll aufgreifen. Mädchen und Jungen als Experten ihrer Lebenswelten akzeptieren In der sexualpädagogischen Praxis kann uns unser oftmaliges Halbwissen sehr im Wege stehen. Nicht jedes türkische Mädchen ist besorgt um ihr Jungfernhäutchen und den Eintritt in die Ehe, nicht jeder türkische Junge verteidigt seine Ehre gewaltvoll. Wir sollten lernen, den Jungen und den Mädchen zuzuhören. Das Gelingen einer stützenden interkulturellen Sexualpädagogik hängt entscheidend davon ab, ob es uns gelingt, an den Lebenswelten Jugendlicher anzuknüpfen, wissend, dass sich die jugendlichen Erfahrungsräume in den letzten 30 Jahren entscheidend verändert haben, so dass unsere Erfahrungen nur auf der persönlichen Ebene vergleichbar sind. Im Sinne eines kulturellen 84 Olaf Jantz / Hatice Krischer Sex ohne Grenzen? (Selbst-)Bewusstseins ist das Wissen um die eigene sexuelle Orientierungsfindung unter den damaligen kulturellen, (sub-) gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen eine wichtige Voraussetzung, wenn wir den Jugendlichen authentisch begegnen wollen. Auch erlerntes Wissen ist bei der Berücksichtigung seiner Reichweite selbstverständlich nützlich. Das bedeutet, dass wir Erkenntnisse darüber, wie Körper agieren und wie sie geschlechtstypisch geformt werden, vermitteln. Es bedeutet auch, dass wir Prinzipien aufdecken können, wie Weiblichkeiten und Männlichkeiten typischerweise funktionieren (Wissen wie Sexualität persönlich und gesellschaftlich »funktioniert«). Aber die eigentliche Tragkraft interkultureller Sexualpädagogik besteht darin, die Mädchen und Jungen selbst zu Wort kommen zu lassen. Wir animieren einen Austausch, begleiten sie in dem gegenseitigen Lernprozess. Wie Sexualität, Liebe, Freundschaft, Partnerschaft und Ehe in der jeweiligen Jugendkultur verhandelt wird und wie die jeweils unterschiedlichen familialen Vorstellungen dazu gestellt werden, das können nur die Mädchen und Jungen selbst beurteilen. Wir müssen allen pädagogisch gut begründeten Aufklärungsabsichten zum Trotz »unsere Jugendlichen« als die Spezialistinnen und Spezialisten ihres Lebens und ihrer Lebenswelt akzeptieren lernen. Auf der anderen Seite sind wir die Profis in der Prozessbegleitung und die Wissenden um typische Zuschreibungen an Frauen- und Männerkörper. Wir können die latenten Regeln aufspüren, aufdecken und in die Waagschale werfen. Doch die Mädchen und Jungen entscheiden selbst, was sie zu diesem Zeitpunkt als relevant erachten. Wir gestalten sexualpädagogische Angebote, die sich fachlich stets weiterentwickeln sollten. Dabei helfen uns die Rückmeldungen und Beteiligungen der Jungen und Mädchen in den Projekten im pädagogischen Alltag. Damit sind die pädagogischen Fachleute Lehrende und Lernende zugleich! Das Zentrale einer interkulturellen Kompetenz bedeutet in dieser Hinsicht – neben der Neugier und der Interaktionsfreudigkeit sowie der Kompetenz, die jugendlichen Ressourcen zu aktivieren – insbesondere die Fähigkeit, die umfassenden und unabwendbar (v.a. in unserer eigenen Wahrnehmung und Person) auftretenden Ambivalenzen aushalten zu lernen. 85 Sex ohne Grenzen? Olaf Jantz / Hatice Krischer Literaturempfehlungen Rauw, R.; Jantz, O.; Reinert, I.; Ottemeier-Glücks, F. G. (Hrsg.): Perspektiven geschlechtsbezogener Pädagogik. Impulse und Reflexionen zwischen Gender, Politik und Bildungsarbeit. Quersichten Band 1. Opladen 2001 Reinert, I.; Rauw, R.: Perspektiven der Mädchenarbeit. Partizipation, Vielfalt, Feminismus. Quersichten Band 2. Opladen 2001 Jantz, O.; Grote, Ch.: Perspektiven der Jungenarbeit. Konzepte und Impulse aus der Praxis. Quersichten Band 3. Opladen 2003 Olaf Jantz, Dipl.-Pädagoge/Medienpädagoge, Jungenbildungsreferent mit Schwerpnukt interkulturelle Projekte, Mitarbeiter bei mannigfaltig e.V. – Verein und Institut für Jungen- und Männerarbeit Hatice Krischer, Sozialpädagogin mit interkulturellem Schwerpunkt, freiberufliche Mädchenbildungsreferentin 86 Willy Eßmann Integration durch Partizipation Integration durch Partizipation Verwaltung des Elends oder Verbesserung der Situation? Willy Eßmann Das Thema der Tagung »Integration durch Partizipation« ist weder mit einem Frage- noch mit einem Ausrufungszeichen versehen. Es steht einfach so, quasi unvermittelt im Raum. Implizit, so vermute ich zumindest, ist wohl eher ein Ausrufungszeichen gemeint. Allerdings könnte das Weglassen eines entsprechenden Satzzeichens auch auf eine Verunsicherung verweisen. Im Klappentextes der Einladung werden ja dann auch Fragen formuliert, wie etwa die Frage wie es denn um die interkulturelle Kompetenz des Jugendschutzes bestellt ist? Oder ob die Tatsache der Zuwanderung oder Zugehörigkeit zu einer nichtdeutschen Ethnie eine besondere »Belastung«, vielleicht sogar eine »Jugendgefährdung« darstellt? In den Publikationen zur sozialen (und politischen) Partizipation von Zuwanderern ist viel von Begriffen wie Partizipationsbereitschaft und Partizipationsinteresse die Rede. Es geht um Unterscheidungen zwischen herkunftslandund aufnahmelandorientiertem Partizipationsinteresse. Ich habe manchmal den Eindruck, dass das alles wichtige und richtige Fragestellungen sind, die durchaus einer Untersuchung bedürfen. Ich habe allerdings auch gleichzeitig den Eindruck, dass die Entwicklung in den sozialen Brennpunkten dieses Landes und insbesondere in den großen Städten längst 87 Integration durch Partizipation Willy Eßmann weiter fortgeschritten ist. Die Menschen, die in diesen Brennpunkten leben, haben ihre eigene »Partizipationspraxis« entwickelt und haben sich längst entschieden, ob, wie und wo sie sich engagieren. Das genauere Hinschauen auf die schon vorhandenen Bewohneraktivitäten ist es, was am Anfang einer gelungenen »Aktivierung« und am Anfang gelungener Partizipationsbemühungen steht. Dabei verbietet sich allerdings auch eine allzu schnelle Klassifizierung. Ich stelle im Folgenden das Projekt »Mobile und sozialraumorientierte Jugendarbeit Berlin« vor, und anhand dieses Beispieles wird die Frage besprochen, welche Formen von Partizipation angemessen und erfolgreich in der Arbeit in sozialen Brennpunkten sind. Bevor ich dies tue, möchte ich allerdings noch zwei Bemerkungen voranschicken, die meines Erachtens wichtig sind, um sich dem Thema angemessen zu nähern: Erstens: Wenn wir uns mit Integration in sozialen Brennpunkten beschäftigen, so dürfen wir der Tatsache nicht aus dem Wege gehen, dass sich die Verhältnisse in den sozialen Brennpunkten der Städte signifikant in den letzten fünfzehn Jahren verändert haben. Bereits heute haben ca. 30% aller Neugeborenen zumindest einen Elternteil nicht deutscher Herkunft. In Großstädten wie etwa Berlin sind es zum Teil über 40%, in einigen Stadtvierteln kommen über die Hälfte aller Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter aus Familien mit Migrationshintergrund. Im Jahre 2010, also schon in 8 Jahren, wird in Deutschland schätzungsweise knapp die Hälfte der gesamten Bevölkerung zwischen 20 und 40 Jahren aus sprachlich-kulturellen Minderheiten stammen oder mit 1 Menschen mit Migrationshintergrund in einem Haushalt leben. Was kann in diesem Zusammenhang eigentlich Integration bedeuten? Oder anders formuliert, muss sich unter diesen Bedingungen der Integrationsbegriff nicht neu definieren? Zum Zweiten, glaube ich, kommen wir auch um eine Beschäftigung mit uns selbst nicht herum: deswegen bezieht sich die zweite Vorbemerkung auf die Bilder, die die deutsche Soziale Arbeit, und dies nenne ich bewusst so, ge1 Schweitzer, H.; Zander, M.: Ist die soziale Arbeit mit ihrem »Deutsch« am Ende? In: Sozial extra. Opladen. Nr. 5/2002. S.6 88 Willy Eßmann Integration durch Partizipation genüber ihren Kunden, Zielgruppen, Klienten oder wie immer sie es bezeichnen wollen entwickelt hat, und umgekehrt die Bilder, die die Zielgruppen von der deutschen Sozialen Arbeit entwickelt haben. Vor dem Hintergrund ihrer beruflichen Erfahrungen in der Familienberatung karikierte Akgün 1998 die gegenseitigen Stereotypen von dem türkischen Vater und dem deutschen Sozialarbeiter: »Kennen sie den türkischen Vater? Nein? Jeder deutsche Sozialarbeiter und natürlich auch jede deutsche Sozialarbeiterin kennt den türkischen Vater. Er ist eine Mischung aus Rambo und Tarzan, spricht kein deutsch (ich Vater; Du Sozialarbeiter), weiß nicht, dass er in Deutschland lebt, wo er deutsche Gesetze respektieren muss; er ist gewalttätig, unzivilisiert und unberechenbar. Frauen respektiert er grundsätzlich nicht und droht allen mit dem Tod! Kennen sie den deutschen Sozialarbeiter, die deutsche Sozialarbeiterin? Nein? Jede türkische Familie kennt den deutschen Sozialarbeiter/in. Er bzw. sie ist der moderne Rattenfänger von Hameln, auf seiner Flöte spielt er süße Melodien der Freiheit, um so die türkischen Kinder von ihren Familien fortzulocken, um sie in dubiosen Heimen unterzubringen – wo sie dann zwangsgermanisiert – im Sumpf von Drogen, Al2 kohol und Prostitution verkommen.« Soweit Akgün. Eine permanente Auseinandersetzung mit den wechselseitig vorhandenen Stereotypen bleibt uns für eine erfolgreiche pädagogische Praxis nicht erspart. Kurze Entstehungsgeschichte In Folge vermehrt auftretender Jugendgruppengewalt in Berlin Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre wurde nach Wegen gesucht, diese Entwicklung aufzuhalten. Dabei sollte auch die Jugendarbeit eine entscheidende Rolle spielen. Der Jugendgruppengewaltbericht des Senates von Berlin, der Anfang 2 L. Akgün: Wo ist der Doktor? Zur Situation der Migranten aus psychologischer Sicht. In: Eine Geschichte der Einwanderung. Fremde Heimat aus der Türkei. Essen 1998. S. 250 89 Integration durch Partizipation Willy Eßmann der neunziger Jahre vorgelegt wurde, enthielt verschiedene Vorschläge der Intensivierung bzw. der Erweiterung von Jugendarbeit. Unter anderem wurde 1992 das Programm »Hinausreichende Jugendarbeit« ins Leben gerufen. Das Programm sollte flächendeckend für Berlin kleine Teams oder auch Einzelpersonen den kommunalen Jugendfreizeiteinrichtungen an die Seite stellen mit dem Auftrag, aus der Einrichtung heraus tätig zu werden. In damals noch 18 Stadtbezirken war ein überregionaler Träger zuständig. Bei all diesen Maßnahmen ging es damals allerdings nicht nur um Gewaltreduktion, sondern auch darum, die kommunale Jugendarbeit um neue Aspekte zu bereichern. Insbesondere sollten a) eine Öffnung der Jugendfreizeiteinrichtungen zum umliegenden Kiez erreicht werden, b) neue Zielgruppen für die Einrichtungen gewonnen und c) so genannte »schwierige Zielgruppen« in die Einrichtungen integriert werden. Nach den positiven Erfahrungen, die mit diesem Ansatz gemacht wurden, entwickelte sich das Programm in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre hin zu einem gemeinwesenorientierten Ansatz in der Jugendarbeit; die Entwicklung kann vielleicht am besten mit dem Schlagwort »vom Fall zum Feld« zusammengefasst werden. Konkret bedeutet dies, dass die Arbeit von OUTREACH sich immer mehr auf einen bestimmten Sozialraum festgelegt hat, das Projekt sich »sozialräumlich« an den Kiezen, Stadtteilen und Quartieren orientiert. Das hat zur Folge, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich bewusst nicht ausschließlich auf die kommunalen Jugendfreizeiteinrichtungen beschränken, sondern prinzipiell alle möglichen Ressourcen im Stadtteil mit in ihre Arbeit einbeziehen. Bei Bedarf werden eigene Stützpunkte im Stadtteil aufgebaut. Auf der Finanzierungsebene übernahmen viele Bezirke Verantwortung und entwickelten mit dem Träger und dem Senat von Berlin Co-Finanzierungsmodelle. Auch die Vertragsgestaltung veränderte sich: Leistungsverträge und Zielvereinbarungen sind jetzt die Stichworte. 90 Willy Eßmann Integration durch Partizipation Zielgruppen Das Programm »Mobile Jugendarbeit Berlin – OUTREACH« bietet in zur Zeit neun Berliner Bezirken bzw. in 15 Sozialräumen eine mobile und sozialräumlich orientierte Jugendarbeit an. Mobile Jugendarbeit meint dabei in erster Linie eine praktische Hinwendung zu den Jugendlichen an den Orten, wo sie sich tatsächlich aufhalten. Das sind Parks und Straßen, allgemein gesprochen, der öffentliche Raum. Sozialraumorientierung in der Jugendarbeit meint eine Konzentration auf den Nahbereich der Jugendlichen, auf deren Wohnbereich, die Nachbarschaft, den Kiez. In der Regel ist OUTREACH in Stadtteilen tätig, die als »Quartiere mit erhöhtem Entwicklungsbedarf« bezeichnet werden. Andere sprechen eher von »Problemkiezen« oder von »belasteten Wohngebieten«. In diesen Kiezen leben häufig Jugendliche, die von den herkömmlichen Institutionen der Jugendarbeit nicht oder nicht mehr erreicht werden. Die Schule ist dabei die einzige Ausnahme, wobei allerdings zu bedenken ist, dass viele Jugendliche dieser Zielgruppe die Schule bereits verlassen haben. Grundsätzlich arbeitet OUTREACH mit Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 21 Jahren zusammen. Ihre Schulkarrieren umfassen Sonderschul- oder den einfachen und erweiterten Hauptschulabschluss. Ein nicht geringer Teil der Jugendlichen verfügt aber über keinen Abschluss. Realschülerinnen und Realschüler sowie Gymnasiastinnen und Gymnasiasten gehören so gut wie nicht in die Zielgruppe. Die Jugendlichen haben, was den Westteil der Stadt betrifft, zu über achtzig Prozent einen Migrationshintergrund. Sie sind überwiegend türkischer/ kurdischer, arabischer, albanischer und (ex-)jugoslawischer Herkunft. Die Jugendlichen mit arabischem Hintergrund kommen meistens aus dem Libanon. Im Ostteil der Stadt sind es überwiegend deutsche Jugendliche mit der signifikanten Ausnahme von Aussiedlerjugendlichen (hauptsächlich aus Kasachstan und Usbekistan) in einigen Stadtbezirken. Entsprechend ihrer verschiedenen Herkunft ist der aufenthaltsrechtliche Status der Jugendlichen sehr unterschiedlich. Über die ökonomische Situation der Herkunftsfamilien der Jugendlichen lassen sich nur schwer generalisierbare Angaben machen. Innerhalb der letzten zehn Jahre lässt sich eine Tendenz der allgemeinen ökonomischen Ver91 Integration durch Partizipation Willy Eßmann schlechterung der Lebenssituation der Migrantinnen und Migranten ausmachen, von der auch die Jugendlichen (z.T. in verstärktem Maße) betroffen sind. Die Verzahnung von mobilen und stationären Ansätzen – Straßensozialarbeit und Aufbau von Jugend-Treffpunkten Ein erster Kontakt zu den Jugendlichen stellt sich meistens über die Straßensozialarbeit her. Im idealtypischen Verlauf einer solchen Kontaktaufnahme, die mit den Mitteln der Freizeitpädagogik vertieft und stabilisiert wird, gelingt es, das Vertrauen der Jugendlichen aufzubauen und näher an sie heranzukommen. Zumeist stellt sich schon zu diesem Zeitpunkt heraus, dass die Jugendlichen sich nicht nur auf der Straße aufhalten, weil hier vermeintlich weniger soziale Kontrolle herrscht. Oft sind die Gründe in den sehr beengten Wohnverhältnissen zu finden, oder in den Spannungen und Anforderungen innerhalb der Familien, die den Jugendlichen unerträglich scheinen. Dies gilt besonders auch für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Die Wohnverhältnisse, in denen viele Migrantinnen und Migranten in Berlin nach wie vor leben, müssen als katas-trophal bezeichnet werden. Ebenso trägt die Arbeitssituation – oder genauer – die Situation der Arbeitslosigkeit, in der sich viele Jugendliche befinden, ihren Teil dazu bei, dass »Freizeit« als etwas, das im Überfluss vorhanden zu sein scheint, empfunden wird. Insbesondere diejenigen Jugendlichen, die aus Migrantenfamilien kommen, sind vermehrt von Arbeitslosigkeit betroffen. In dieser Phase stellt sich oft schon heraus, dass viele Jugendliche aus den Bezügen, die normalerweise gesellschaftliche Integration gewährleisten, herausgefallen sind. Hier sind insbesondere Institutionen der beruflichen Integration aber auch die der sozialen Integration gemeint. Stattdessen gewinnt die Peer-group, die ja sowieso in dieser Phase der biographischen Entwicklung eine herausgehobene Rolle spielt, an zusätzlicher Bedeutung. Die sich bildenden Peer-groups sind dann auch oft der Kristallisationspunkt, von dem aus gewalttätige Handlungen begangen werden. Eines der zentralen Bedürfnisse dieser Jugendlichen ist es oftmals, einen Raum zu haben, wo sie sich ungestört ohne Erziehungspersonen treffen und kommunizieren können. Das bloße Zur-Verfügung-Stellen eines solchen Rau92 Willy Eßmann Integration durch Partizipation mes führt nach unseren Erkenntnissen allerdings schnell in eine Sackgasse. Die Jugendlichen sind meist nicht in der Lage, auftretende Konflikte gewaltfrei zu lösen, ebenso kommt es oft dazu, dass eine Gruppe aus dem Stadtteil sich den Raum exklusiv aneignet. Auch der Druck von externen Gruppierungen lässt derartige Projekte schnell scheitern. Als gangbarer Weg hat sich dagegen folgendes Vorgehen erwiesen, das so von OUTREACH praktiziert wird: Falls sich stabile Beziehungen zu den Jugendlichen aufbauen lassen und sie das Bedürfnis nach einer Treffpunktmöglichkeit äußern, unterstützen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sie darin, diesen Wunsch zu realisieren. Dabei kann das Engagement von der Mithilfe bei der Raumsuche bis zur Übernahme der Trägerschaft gehen. Die hier praktizierte Verzahnung von mobiler und stationärer Jugendarbeit überwindet dabei sowohl den reinen Streetwork-Ansatz als auch das nach wie vor vorherrschende Paradigma der Komm-Struktur. Nun bietet diese Verzahnung von mobiler und stationärer Arbeit allein sicherlich noch keine Gewähr für konfliktfreies und konstruktives Miteinander. Sie schafft jedoch die Möglichkeit, diejenigen Jugendlichen zu erreichen, die ihren Lebensmittelpunkt entweder im öffentlichen Raum haben oder – aus welchen Gründen auch immer – von anderen Einrichtungen der Jugendarbeit nicht berücksichtigt werden. Dabei eröffnen sich oft Chancen, mit diesen Jugendlichen Verhaltensweisen zu entwickeln, die ein dialogisches und gewaltfreies Miteinander zum Ziel haben. Ebenso bietet sich hier die Möglichkeit, partizipative Ansätze zu entwickeln – gerade mit Jugendlichen, die häufig wenig Erfahrungen mit Partizipation gemacht haben. Konkret versuchen wir, in Kombination mit aufsuchenden Ansätzen ein Konzept der Einrichtung von Räumen – etwa Jugendstadtteilläden – zu realisieren, in denen dann mögliche Verantwortungsübernahmen, das Aushandeln von Nutzungsbedingungen usw. praktiziert wird. Mittels Nutzungsverträgen können Jugendliche z.B. einen Raum für eine bestimmte Zeit kostenfrei nutzen. Doch bevor es zu einer solchen aktiven Partizipation der Jugendlichen kommt, bedarf es einer Begleitung über einen bestimmten Zeitraum. Nach unseren bisherigen Erfahrungen liegt dieser nicht unter eineinhalb Jahren. In dieser Zeit wird mit dem normalen sozialpädagogischen Handwerkszeug und den dazugehörigen Methoden (Einzelfallbegleitung, Gruppenarbeit, Projektarbeit usw.) mit den Jugendlichen gearbeitet. Entscheidend ist hierbei jedoch, dass 93 Integration durch Partizipation Willy Eßmann nicht einzelne Methoden herausgelöst und gegeneinander ausgespielt werden, sondern dass einem ganzheitlichen Methodenverständnis gefolgt wird. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Im Projekt OUTREACH sind zur Zeit knapp 45 Personen beschäftigt, die aus vielen verschiedenen kulturellen Lebenswelten und Ländern (Türkei, Kurdistan, Tunesien, Libanon, Jordanien, Palästina, Kasachstan, Persien, dem früheren Ost- und Westdeutschland) stammen. Sie arbeiten in unterschiedlich großen Teams zusammen (2-8 Personen). Die sehr verschiedenen kulturellen Hintergründe in der Zusammensetzung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden deshalb besondere Erwähnung, weil darin nach den Erfahrungen von OUTREACH ein Schlüssel, wenn nicht sogar der entscheidende Schüssel zur Erreichbarkeit von Jugendlichen mit Migrationshintergrund liegt. Bei allen abstrakten Überlegungen zur Partizipation geht es OUTREACH darum, Jugendliche, die in Quartieren mit besonderem Entwicklungsbedarf leben, überhaupt erst zu erreichen. Dazu reicht ein gutes Konzept allein nicht aus, sondern es bedarf der entsprechenden Menschen, die den Zugang zu den Jugendlichen herstellen können. Nach unserer Erfahrung sollten deshalb in den Teams Menschen mitarbeiten, die aus den Herkunftsländern der Jugendlichen stammen. Allerdings reicht oft selbst ein ähnlicher kultureller und sprachlicher Hintergrund in diesen Quartieren nicht aus, um Kontakt und Vertrauen zu den Jugendlichen aufzubauen. Bei OUTREACH arbeiten deshalb Kolleginnen und Kollegen, die selbst aus dem Kiez stammen und meist noch über einen engen Kontakt sowohl zu den Jugendlichen als auch zur eigenen ethnischen Community verfügen. Sie wirken als positive Rollenmodelle auf die Jugendlichen, die mit immer größer werdenden Ausgrenzungsrisiken behaftet sind. Man könnte diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter »para-professional-pathfinders« nennen. Sie können den Kontakt zu Jugendlichen schließen, die weder von deutschen Kolleginnen und Kollegen noch von Kolleginnen und Kollegen erreicht werden können, die zwar über einen Migrationshintergrund verfügen, doch anders als die Jugendlichen aus der Mittelklasse stammen. 94 Willy Eßmann Integration durch Partizipation Schlussfolgerungen 1) Erreichbarkeit Die Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind erreichbar, wenn man sie erreichen will. Jugendhilfe muss sich diesen Jugendlichen bewusst zuwenden, denn auch sie haben ein Recht auf Förderung ihrer Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (§ 1, KJHG). Bei der Arbeit mit den Jugendlichen bedarf es eines Konzeptes, das sowohl die Jugendlichen erreicht als auch Methoden und eine Praxis besitzt, die über das reine »Vollquatschen« hinaus einen praktischen Gebrauchswert für die Jugendlichen erkennen lässt. Die Verzahnung von mobiler und stationärer Arbeit und eine ganzheitliche Methodensicht hat sich in unserer Arbeit als ein solcher Ansatz erwiesen. Es werden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gebraucht, die nicht nur die Lebenslagen der Jugendlichen kennen, sondern auch ihre kulturellen Codes verstehen. 2) Es muss sichtbare, konkrete Ergebnisse geben Partizipation von Jugendlichen vollzieht sich nicht abstrakt, sondern konkret: Die konkrete Nutzung eines Raumes, das konkrete Aushandeln von Nutzungsbedingungen macht Partizipationsanstrengungen in den Augen vieler Jugendlicher überhaupt erst sinnvoll. Ein langwieriges Agieren, wie z.B. in Jugendparlamenten, ist für diese Jugendlichen – falls sie überhaupt zur Teilnahme an einem Jugendparlament zu motivieren sind – häufig nicht einsehbar und daher nutzlos. (3) Kooperation mit den ethnischen Communities Um Ressourcen zu erschließen, müssen in der Regel Kooperationen eingegangen werden. Neben der horizontalen und vertikalen Vernetzung mit den Akteuren im Stadtteil kommt es darauf an, mit den verschiedenen ethnischen Communities zu kooperieren. Ein wichtiger Schlüssel für den Erfolg bei Partizipationsprojekten mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist es, die Strukturen dieser Communities zu kennen und zu nutzen. 95 Integration durch Partizipation Willy Eßmann 4) (Sub-)kulturelle Ausdrucksformen Das Entstehen neuer (sub-)kultureller Ausdrucksformen etwa im Bereich der Musik, der Graffity-Kunst, des Breakens usw. schafft gemeinsame neue kulturelle Identitäten, in denen alte herkunft-kulturelle Orientierungen nicht mehr den zentralen Stellenwert besitzen. In diesem Prozess müssen sich alle bewegen. 5) Spannungen aushalten lernen Ecken und Kanten, Rückschläge usw. müssen in dem Prozess bewusst wahrgenommen und thematisiert werden. Aus Misserfolgen muss gelernt werden, oder, wie Beckett es formuliert: es kommt darauf an immer bessere Fehler zu machen. Willy Eßmann, Dipl.Päd., Projektleiter Outreach – Mobile Jugendarbeit Berlin, Lehrtätigkeit an der TU und der ASFH-Berlin 96 Kerstin Brockamp Kompetent für Courage! Kompetent für Courage! Anregungen für die Arbeit mit Jugendlichen zum Thema Rechtsextremismus Kerstin Brockamp »Kompetent für Courage« ist eine Arbeitshilfe für pädagogische Fachkräfte in 1 Schule und Jugendarbeit . Das Buch soll Praktikerinnen und Praktikern helfen, ohne langwierige Vorbereitung und aufwändige Recherchen Arbeitseinheiten und Projekte zum Thema »Rechtsextremismus/Gewalt/Rassismus« durchzuführen. Interessierte Pädagogen und Pädagoginnen können aus den Unterrichtsmaterialien, Anleitungen und Literaturhinweisen die für sie ge-eigneten Übungen auswählen und direkt umsetzen. Darüber hinaus informiert der Band über weiterführende Praxismaterialien (Filme etc.). Ein einführender Text gibt einen Überblick über die Entstehung von rechtsextremistischen Orientierungen. Die Broschüre enthält zudem Beispiele verbotener und nicht verbotener rechter Symbole, übersichtliche Informationen über die Skinheadkultur, Rechtsextremismus im Internet und die Bedeutung von rechter Musik. Ein Serviceteil enthält Kopiervorlagen von Rollenspielen und Übungen. Gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen können so Themen wie »Eigene Vorurteile« oder »Rassismus« reflektiert und bearbeitet werden. 1 Bezug: Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen, Leisewitzstr. 26, 30175 Hannover, Tel. 0511-85 87 88, [email protected] 97 Kompetent für Courage! Kerstin Brockamp Eine präventive Arbeit mit jungen Menschen stellt hohe Ansprüche an pädagogische Fachkräfte. Sie müssen sich auf eine Auseinandersetzung einlassen können, die gleichermaßen Akzeptanz (der Person des Jungen bzw. des Mädchens) als auch Konfrontation (ihrer Taten und rassistischen Einstellungen) beinhalten. Das bedeutet für die pädagogische Arbeit: Pädagogische Fachkräfte müssen ihre eigene Haltung gegenüber Gewalt/Rechtsextremismus/ Rassismus reflektieren und den Kindern und Jugendlichen eine Identifizierung mit gewaltfreien, couragierten und toleranten Orientierungen ermöglichen. Die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Meinungen und Einstellungen junger Menschen, eine Sensibilität für frühe Anzeichen von Rassismus und ein Vorleben gewaltfreier Selbstbehauptung können dazu beitragen, Empathiefähigkeit und Selbstbewusstsein von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Kritikfähigkeit und Empathie, Selbstbewusstsein und Zivilcourage bilden eine wirkungsvolle Basis gegen rechte Orientierungen und Einstellungen. Diese Fähigkeiten werden mit den Impulsen in dieser Broschüre gefördert und gefordert. Denn: Wer stolz auf sich selbst ist, muss niemand abwerten, um sich selbst aufzuwerten. Und wer sich in seine Mitmenschen einfühlen kann, wird diesen keinen körperlichen Schaden zufügen wollen. Wer sich schützend vor seinen bedrohten Nachbarn stellt, wird anderen deutlich machen, dass er Ausgrenzung und Verfolgung nicht toleriert. Wer sich mit eigenen Vorurteilen auseinander setzt, verhindert ihre Verfestigung. Vorurteile, abwertendes Verhalten und rechtsextremistische Taten begegnen uns fast täglich. Wir lesen von gewalttätigen Übergriffen auf Migranten oder hören Parolen wie »Ausländer raus« oder »Die nehmen uns die Arbeit weg«. Auch wenn bei weitem nicht nur Jugendliche im Kontext von Rechtsextremismus auffällig werden, so machen sie jedoch einen nicht unerheblichen Anteil unter der hiesigen Bevölkerung aus. Viele pädagogische Fachkräfte fragen sich, wo die Gründe dafür liegen, wenn junge Menschen mit rassistischen Parolen und Einstellungen und gewalttätigen Übergriffen auffallen. Einige zentrale Standpunkte und Erkenntnisse sollen an dieser Stelle vorgestellt werden: Entsteht eine rechtsextremistische Orientierung, wenn Kinder und Jugendliche sozial benachteiligt sind? Wenn sie beruflich, sozial oder moralisch entwurzelt sind? Wenn sie wenig gebildet sind und nur selten die Chance auf 98 Kerstin Brockamp Kompetent für Courage! qualifizierte und gut bezahlte Arbeit haben? Rechte Deutungsmuster versprechen in diesem Zusammenhang eine Aufwertung des eigenen Status bei gleichzeitiger Abwertung derjenigen, die als illegitime Konkurrenten um Arbeitsplätze, Sozialleistungen und andere knappe Güter dargestellt werden. Ob jemand gewalttätig oder abwertend ist, kann aber auch von ganz individuellen Persönlichkeitsressourcen abhängen: wie ich jemanden wahrnehme oder beurteile, hängt in erster Linie auch davon ab, wie ich mich selbst wahrnehme. Ist mein Selbstwertgefühl stabil und ausgeglichen, habe ich weniger Angst vor Fremden. Fremdenfeindlichkeit wird folglich auch als eine Konsequenz aus Angst vor Fremden angesehen. Aber auch ein Gefühl der eigenen Überlegenheit – also ein vielleicht übersteigertes oder sich selbst eingeredetes Selbstbewusstsein kann zur Ausübung rechtsextremer Gewalt führen. Bei Kindern und Jugendlichen darf auch der Einfluss Gleichaltriger nicht unterschätzt werden. Cliquen bieten ihren Mitgliedern Schutz und Orientierung und können unter bestimmten Umständen im Hinblick auf Gewalt eskalierend wirken. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, das gemeinsame Outfit und die Musik, Machtgefühle und Vorbilder haben eine große Bedeutung für Jugendliche, die auf der Suche nach dem »Kick« sind. Rechte Cliquen können das Bedürfnis stillen nach Geborgenheit und einem eindeutigem Weltbild, in dem Männer- und Frauenrollen klar definiert sind. Weitaus mehr junge Männer als Frauen sind an rechtsextremistischen Gewalttaten beteiligt. Das Leben von Jungen scheint noch immer geprägt von einem »Nicht weinen dürfen« und »Härte zeigen müssen«. Schon früh werden ihnen emotionale Nähe und jegliche Körperkontakte entzogen, Gefühle wie Ohnmacht, Hilflosigkeit oder Angst werden ignoriert, unterdrückt oder sogar bestraft. Dies kann zur Folge haben, dass Jungen oft nicht die Möglichkeiten haben, soziale bzw. emotionale Beziehungen einzugehen. Aus Mangel an Empathiefähigkeit und Kommunikationskompetenz können Gewalt und rechtsextremistische Parolen einziges Bewältigungsmuster jugendlichen Alltagshandelns werden. Hinzu kommen können noch typisch deutsche Tugenden, die bis heute noch als »normale« Gewalt angesehen werden und die ideale Anknüpfungspunkte für den Rechtsextremismus bieten. Leistungsdruck und Konkurrenzdenken, Pflichterfüllung und Gehorsam – diese Ellenbogenmentalität unserer Gesellschaft kann für beruflich noch nicht etablierte Jugendliche in rechten Gruppierungen ausgelebt werden. Zudem können Vor- 99 Kompetent für Courage! Kerstin Brockamp urteile, unreflektierte Äußerungen und Begriffe von Erwachsenen einen Nährboden für rechtsextremistische Einstellungen und Handlungen jugendlicher Täter bilden. Die Ursachendiskussion ist inzwischen komplex geworden und die Ansätze der Präventionsmöglichkeiten sind vielfältig – einige dieser zentralen Standpunkte und Erkenntnisse werden in der Arbeitshilfe im Überblick dargestellt und in Beziehung gesetzt zu praktischen Übungen für die Prävention in Schule und Jugendarbeit. So sollen z.B. Kinder und Jugendliche in die Lage versetzt werden, sich mit Fremdem und Widersprüchlichem konstruktiv auseinander zu setzen. Das hier vorgestellte Rollenspiel »Begrenzungen durch Vorurteile und Diskriminierungen« ermöglicht zusätzlich einen Perspektivenwechsel und den Aufbau von Empathie und Verständnis. Es kann mit Jugendlichen ab 16 Jahren im (außer)schulischen Bereich durchgeführt werden, wenn Einzelgespräche über individuelle Gefühle möglich sind. Rollenspiel zum Thema: Gewalt/ Rassismus erkennen 2 Begrenzungen durch Vorurteile und Diskriminierung TN-Zahl: 6 - 16 Alter: 16 Jahre Hilfsmittel: 1 »Rollenkärtchen« für jeden TN Raum: ab 30 qm freier Fläche. Besser großer offener Raum Zeitbedarf: 70 Minuten, davon 45 für die Auswertung Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer (TN) stellen sich in einer Linie an einer Schmalseite des Raumes auf. Jeder erhält ein vorbereitetes Kärtchen, auf dem eine Rolle notiert ist. Diese Rolle soll bis zur Auswertung der Übung geheim bleiben. Wenn alle TN sich innerlich auf ihre Rolle eingestellt haben (kurze 2 In: Kompetent für Courage! Bausteine zum Thema Rechtsextremismus und Gewalt, Hannover 2002, aus: Arbeitsgruppe SOS-Rassismus NRW (Hrsg.): Spiele, Impulse und Übungen zur Thematisierung von Gewalt und Rassismus in der Jugendarbeit, Schule und Bildungsarbeit, Schwerte 1996 100 Kerstin Brockamp Kompetent für Courage! Zeit zum Nachdenken) und in der Reihe stehen, kündigt der Trainer/die Trainerin an, dass er/sie eine ganze Reihe von Fragen vorlesen wird. Jeder TN möge sich überlegen, ob er in der eigenen Rolle die Frage mit »Ja« beantworten kann – dann geht er einen deutlichen Schritt vorwärts – oder ob er mit »Nein« antworten muss, dann bleibt er bei dieser Frage stehen. Nach der letzten Frage bleiben alle TN in ihrer Rolle und an ihrem Platz. Hier beginnt der erste Teil der Auswertung. Einer nach dem anderen werden die TN gebeten, ihre Rolle den anderen zu nennen und zu erklären, wie sie sich gefühlt haben, wie sie sich selbst empfunden haben und wie die Menschen vor und hinter ihnen. Welche Frage z.B. hat besondere Empfindungen ausgelöst? Danach sollte ein kurzes, schnelles Bewegungsspiel Gelegenheit geben, wieder aus den Rollen herauszufinden. Die Auswertung erfolgt im großen Kreis sitzend. Einige Leitfragen dazu: • Wie reagieren unterschiedliche Menschen in ähnlichen Situationen? • Welche Beschränkungen haben den TN die einzelnen Rollen durch die Definition von Ethnizität und sozialem Status auferlegt? • Was haben die TN über die Einschränkung der Möglichkeiten von einzelnen gesellschaftlichen Gruppen erfahren? • Weshalb nehmen wir solche Einschränkungen bei anderen Menschen häufig nicht wahr? Beispiele für mögliche Rollen: ein 18-jähriger marokkanischer Hilfsarbeiter, eine phillipinische Krankenschwester, ein 30-jähriger verheirateter deutscher Facharbeiter, ein 34-jähriger Kurde, ... Beispiele für mögliche Fragen: Kannst du Urlaub in deiner Heimat verbringen, 20 Jahre im Voraus planen, bei der nächsten Kommunalwahl wählen, dich nach Einbruch der Dunkelheit auf der Straße sicher fühlen ...? In Rollenspielen zum Thema »Alternativen« sollen die Kinder und Jugendlichen zudem die Möglichkeit erhalten, neue Gefühle, Sichtweisen sowie Handlungsalternativen zu erkennen und auszuprobieren. 101 Kompetent für Courage! Kerstin Brockamp Rollenspiel zum Thema: Alternativen 3 Gewaltfrei Handeln – Aktives Handeln TN-Zahl: ca. 10 Spieler, die anderen beobachten und berichten Alter: ab 12 Jahren Material: keines Zeit: 15 Minuten Spielszene: Eine kleine Gruppe von Passantinnen und Passanten geht in einer Fußgängerzone auf und ab. Sie tragen schwere Taschen, sitzen im Café, unterhalten sich, bummeln, lesen Zeitung, kaufen ein. Die Gruppe erlebt dann eine Szene, die sie (möglicherweise) zum Eingreifen motiviert. Die Szene ist zeitlich begrenzt und kann auch wiederholt werden. Im Spielverlauf wird versucht, ohne Gewalt den Konflikt zu lösen oder zu stoppen. Spielvorschläge: 1) Frau und Mann stürmen aus der Kneipe, der Mann macht die Frau an, beschimpft und bedrängt sie. 2) Ein Migrant verteilt Flugblätter. Ein oder eventuell zwei Passanten setzen sich mit ihm lautstark auseinander, entwenden ihm die Flugblätter, beschimpfen und bedrängen ihn. Auswertungsfragen: Wie habe ich mich erlebt, was habe ich empfunden? Wie bin ich mit der Situation umgegangen? Was hat mir Schwierigkeiten bereitet? 3 ebd. 102 Kerstin Brockamp Kompetent für Courage! »Kompetent für Courage« enthält neben diesen beiden Rollenspielen noch eine Vielzahl anderer Übungen, die neben den schon genannten Themenbereichen z.B. die eigene Wahrnehmung behandeln oder deutlich machen sollen, wo Verhaltensauffälligkeiten toleriert werden sollten und wo es nötig wird, mit Entschiedenheit Grenzen zu ziehen. Diese Übungen können – sowohl in Schule als auch Jugendhilfe mit verschiedenen Spielvorschlägen variiert – dabei helfen, Konflikte ohne Gewalt zu lösen oder zu stoppen. Kinder und Jugendliche lernen, auch in schwierigen Alltagssituationen Stellung zu beziehen und Partei für Schwächere zu ergreifen. Eigene Stärken und Fähigkeiten können erkannt und entwickelt werden und zu einem wachsenden Selbstbewusstsein führen, dass ein Abwerten anderer unnötig macht. Welche weiteren Möglichkeiten haben wir in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen? Wir müssen ihnen eine altersgerechte Auseinandersetzung mit rechtsextremistischen Inhalten bieten, die eine Sensibilisierung für menschenverachtende Haltungen und Ideologien der Ungleichheit fördert. Demokratische Werte und Normen sollten gemeinsam mit den Erwachsenen diskutiert und aufgebaut werden. Eine handlungsorientierte Arbeit wird zudem die Chance erhöhen, dass sich Kinder und Jugendliche aktiv an der Gestaltung von Demokratie beteiligen. Neue Möglichkeiten der Mitbestimmung sollten ihnen eröffnet werden. Wir müssen sie in ihren Haltungen gegen rechtsextremistische Orientierungen unterstützen und in ihrer Persönlichkeit stärken. Sie sollen sich mit ihren eigenen und fremden kulturellen Hintergründen auseinander setzen können und bessere Konfliktlösungen entwickeln. Prävention braucht Kontinuität und langfristige Perspektiven. Damit Präventionsmaßnahmen wirken können, müssen sie ein regelmäßiger Bestandteil der schulischen und außerschulischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sein. Dafür soll die Arbeitshilfe praktische Anregungen und Unterstützung bieten. Aber auch kurzfristige Aktivitäten sind nicht sinnlos – sie können z.B. öffentlichkeitswirksame Diskussionen anregen und Signale setzen, die auch anderen Menschen Mut machen, im Alltagsleben couragiert gegen rechtsextremistische Handlungen oder Äußerungen vorzugehen. Kerstin Brockamp, Dipl.-Pädagogin, Referentin bei der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen mit dem Arbeitsschwerpunkt Rechtsextremismus und Gewalt, Lehrbeauftragte der Universität Hannover, Anti-Gewalt-Trainerin 103 Herkunft Ankunft Zukunft Yvonne Fietz Herkunft Ankunft Zukunft Internet-Workshops mit Aussiedlerjugendlichen aus Russland und Kasachstan Yvonne Fietz Die Internet-Workshops mit den Aussiedlerjugendlichen aus Russland und Kasachstan fanden im Jahr 2000 im Rahmen der Kampagne »Alkohol. Irgendwann ist der Spaß vorbei!« statt, die im Auftrag des Hamburger Büros für Suchtprävention durchgeführt wurden. Die damalige Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales wollte mit dieser Kampagne die Lust am Leben ohne Rausch wecken. Nach dem Motto »Genuss statt Sucht« entwickelte die renommierte Hamburger Werbeagentur Springer & Jacobi eine Plakatserie, in der die kritische Grenze zwischen lustvollem Genuss in Maßen und der Überschreitung der Grenze thematisiert wird. In Verbindung mit dieser Plakatserie wurde vom Büro für Suchtprävention und dem Amt für Jugend (damals BSJB) ein Wettbewerb ausgeschrieben, bei dem Teilnehmerinnen und Teilnehmer ab 16 Jahren ihre eigene Story zum Alkohol texten konnten – auf Info-Cards oder direkt online im Internet. Insgesamt wurden 11 Workshops durchgeführt, wobei der Schwerpunkt bei dem Internet-Projekt »Herkunft Ankunft Zukunft« bei der Interkulturellen Bildung Hamburg (IBH) lag. Die restlichen fünf Workshops fanden in offenen Jugendbereichen freier Träger statt: Haus der Jugend Stintfang, MOTTE und TIMO-Club. 104 Yvonne Fietz Herkunft Ankunft Zukunft Ziel der Workshops bei der IBH war es, eine Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Umgang mit Alkohol in zwei Kulturen (Russland/Kasachstan und Deutschland) anzuregen. Als Mittel zur intensiveren Auseinandersetzung wurden Methoden des kreativen Schreibens eingesetzt (Warmschreiben, Clustering/wwww-Fragen, Schreiben im »geschützten Raum«). Die entstandenen Texte und Collagen arbeiteten die Jugendlichen in Webseiten ein, die später ins Internet gestellt wurden. Integration durch Bildung? Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Bildungseinrichtung IBH befanden sich in einem zwölfmonatigen Integrationssprachkurs, in dem ihnen »zusätzliche intensive sprachliche und ausbildungsspezifische Kenntnisse und Fertigkeiten« vermittelt werden. Betriebspraktika und PC-Schulungen, Fachunterricht in Mathematik, Bewerbungstraining, Unterstützung bei der Ausbildungsplatzsuche sowie sozialpädagogische Betreuung sind außerdem Bestandteile dieses Kurses. Finanziell gefördert wurden die Kurse vom Hamburger Landesamt für Aussiedler, Flüchtlinge und Lastenausgleich. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kurses sind zwischen 18 und 24 Jahren alt und sind alle zusammen mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen. D.h. niemand hat selbst allein für sich die Entscheidung für die Migration getroffen. Dementsprechend gab es einige Schülerinnen und Schüler, die gegen ihren Willen in Deutschland waren und nur darauf warteten, zurückgehen zu können. Ihr Haupt- oder Realschulabschluss wurde in Deutschland anerkannt, Hochschulreife, Studium oder Berufsausbildungen dagegen nicht. So hatten einige in Russland/Kasachstan bereits einen vielversprechenden beruflichen Einstieg (Abitur, abgeschlossene Lehre, begonnenes Studium) und wurden in Deutschland als ungelernt bzw. – aus sprachlichen Gründen – ungeeignet für die Ausübung ihrer bisherigen Berufspraxis (Sekretärin) eingestuft. Die Integrationssprachkurse sind konzeptionell sehr verschult, die Schülerinnen und Schüler haben wenig Möglichkeiten, eigene Interessen oder Vorstellungen einzubringen. Zudem scheinen die jungen Erwachsenen aus Russland/ Kasachstan in ihrer Jugendzeit eine Pädagogik kennen gelernt zu haben, die das selbstständige und kreative Denken nicht gefördert hat, sondern mit 105 Herkunft Ankunft Zukunft Yvonne Fietz klaren Vorgaben und Aufgabenstellungen gearbeitet hat. Das Lehrer-SchülerVerhältnis dürfte ausgeprägt hierarchisch gewesen sein. Der Lehrkörper der IBH hat sich dieser »Kultur« angepasst. Das Setting (geschützter Raum) und die Methoden des Kreativen Schreibens stellten anfangs eine Herausforderung für die meisten Schülerinnen und Schüler dar, weil ich aus der ihnen vertrauten, stark hierarchisierten LehrerRolle ausgestiegen bin und sie zum eigenständigen, kreativen Ausdruck aufgefordert habe. Streckenweise gestalteten sich die Workshops daher recht chaotisch, was ich jedoch hinnahm, um die besondere Qualität der Auseinandersetzung durch die Methoden des Kreativen Schreibens nicht zu verlieren. Parallel zu der inhaltlichen Ebene vermittelte ich Grundbegriffe der Internettechnologie (Netscape Navigator und Composer, digitale Bildfotografie und -bearbeitung, E-Mail, Interneteinführung: Surfen, Suchen, Downloads). Beim Einstieg in die Internettechnik habe ich ins Russische übersetzte Schlüsselbegriffe geliefert, um Sprachbarrieren abzubauen. Dennoch gestalteten sich die Lernprozesse in diesem Bereich extrem langsam, weil die wenigsten Schülerinnen und Schüler nennenswerte Erfahrungen mit Computern hatten. Wie auch im Bereich des Kreativen Schreibens bin ich schnell zu einer Strategie der kleinen und stark begleiteten Schritte gelangt: Arbeitsblätter mit ausführlichen Beschreibungen und Erklärungen. Interkulturelle Aspekte »Eine Taube, die im Pferdestall geboren wird, ist doch nicht gleich ein Pferd« »Ich kann doch nicht die eine Hälfte wegschmeißen« Um der Bedeutung des Migrationshintergrunds bei Jugendlichen für das Thema Prävention und Alkohol auf die Spur zu kommen, stellte ich die sechs Internet-Workshops unter das Motto »Herkunft Ankunft Zukunft«. An jeweils zwei Workshoptagen (9.45-15.00 Uhr) stand ein Thema im Vordergrund. Beim ersten Workshop beispielsweise stand die Frage nach der Herkunft, den eigenen Wurzeln im Mittelpunkt. Wo komme ich her? Zu was bin ich dort geworden? Welche Sehnsüchte bestimmten mein Leben? Was für eine Rolle spielte der Alkohol dort? 106 Yvonne Fietz Herkunft Ankunft Zukunft Im zweiten Block fokussierten wir die Ankunft und das Leben in Deutschland und im dritten die Zukunft. In jedem Themenblock habe ich versucht, mit dem Perspektivwechsel zu arbeiten: Zuerst war es der Blick von Russland/Kasachstan auf Deutschland, dann der Blick als jugendlicher Aussiedler auf Deutschland und Russland/ Kasachstan. Und was sind die Wünsche für die Zukunft? Die Thematisierung der Alltagsdroge Alkohol im Fokus der Interkulturalität entlang des Mottos »Herkunft Ankunft Zukunft« führte zu interessanten Ergebnissen. So klang in den Texten und Collagen, die sich auf den Umgang mit Alkohol in Russland bezogen (Herkunft), immer wieder die Gefahr an, wie schnell das Alkoholtrinken aus Wut, Angst oder Frustration zur Sucht führen kann. Dies ist sicher ein Hinweis auf die suchtpräventive Arbeit in Russland und Kasachstan, denn ein solches Bewusstsein habe ich bei deutschen Jugendlichen in keiner Weise so ausgeprägt erlebt. In Deutschland (Ankunft) wurden die negativen Anteile des Alkoholkonsums eher bei namenlosen Fremden (Bettler, Obdachlose etc.) wahrgenommen. Das engere Umfeld lieferte eher Stoff für Geschichten des maßvollen Genusses von Alkohol in der Familie oder unter Freunden. Eine Teilnehmerin schrieb: Ich trinke keinen Alkohol. Obwohl man in Deutschland sagt, dass man in Russland viel trinkt, trinken die Deutschen trotzdem nicht weniger als Russen – finde ich. Man kann es auch auf der Straße sehen, sogar wenn man bummelt. Es gibt auch viele Kneipen hier. Ausgehend von der Kampagne »Alkohol. Irgendwann ist der Spaß vorbei!« thematisierte ich immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln das Diesseits und Jenseits der kritischen Grenze. Was sind die besonderen Kennzeichen und Qualitäten des lustvollen Genusses, wann und wie gestaltet sich die Überschreitung der Grenze und was liegt hinter der Grenze? Es wirkt sich positiv auf das Selbstvertrauen aus, sich als aktiver und kompetenter Nutzer des Internets zu erleben, aber auch als jemand, der Kontakt zu seiner inneren Stimme erlangt hat. Internettechnologie und Kreatives Schreiben gehen dabei einen fruchtbaren Verbund ein. Frauen haben meist einen leichteren Zugang zum Schreiben und weil sie ihren Text mögen, möchten sie ihn auf ihren Webseiten auch schön präsentieren. Junge Männer halten vom 107 Herkunft Ankunft Zukunft Yvonne Fietz Schreiben nicht gerade viel, aber am Computer – bzw. mit Aussicht auf Weiterverwendung am Computer – überwinden sie ihre Hemmungen viel leichter. Webseite: www.suchthh.de/alkohol Literaturhinweis Gabi Dobusch: Geschlechtsspezifische Präventionsarbeit für MigrantInnen, In: Landeszentrale für Gesundheit in Bayern e.V. (2002): Sucht und Migration – Suchtprävention und -arbeit mit Menschen aus der GUS, München, (Dokumentation des Dritten Bayerischen Forums Suchtprävention der Landeszentrale für Gesundheit in Bayern e.V., Leitershofen bei Augsburg, 19.21. November 2001), S. 74 - 80. Yvonne Fietz, Literaturwissenschaftlerin M.A., Öffentlichkeits- und Medienreferentin des Landesverband Soziokultur Hamburg e.V. 108 Eva Hanel Gesucht – Gefunden Gesucht – Gefunden Medien für die praktische Arbeit Eva Hanel Medien sind eine gute Grundlage für die thematische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Vor allem audiovisuelle Medien eignen sich besonders gut, um einen Einstieg in ein Thema zu finden. Sie können vielfältig eingesetzt werden und Inhalte sehr gut veranschaulichen. Neben zahlreicher Literatur existieren interessante Filme, oftmals mit Begleitmaterialien, und interessante Internetportale, die sich sehr gut für die Arbeit zum Thema Integration eignen. 1. Filme »Zwischen Türkisch Mokka und Cola Light« Der Film von neun Minuten Länge ist von der Bundeszentrale für politische Bildung in Auftrag gegeben und im Jahr 2000 gedreht worden. Jugendliche ausländischer und deutscher Herkunft berichten über das Zusammenleben in Deutschland, über Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung, aber auch über Gemeinsamkeiten und Chancen, voneinander zu lernen. Die Jugendlichen engagieren sich in zwei interkulturellen Projekten, die sich für ein friedliches Miteinander von deutschen und ausländischen Jugendlichen einsetzen. Im Video wechseln sich Sequenzen aus der Projektarbeit mit Statements ab und es werden Ausschnitte aus dem Musical »Westend Opera« gezeigt, das »Integration« zum Thema hat. Begleitend zu dem Film hat die Bundeszentrale für politische Bildung Materialien zu den Stichworten »Integration«, »Jugend« und »Vorurteile« herausgegeben. Dort werden folgende 109 Gesucht - Gefunden Eva Hanel Themen didaktisch aufbereitet: Nationalitätenmerkmale, Herausforderung durch Integration, Identität und multikulturelle Gesellschaft. Der Film mit seinen begleitenden Materialien ist für Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren geeignet. www.bpb.de »Was heißt hier multikulti? United Culture« Auch dieser Film ist von der Bundeszentrale für politische Bildung in Auftrag gegeben worden. Das Medienpaket dokumentiert die Ergebnisse eines Jugend-Projektes, das 1994 im Münchener Stadtteil Haidhausen durchgeführt wurde. Im Rahmen eines breit gefächerten Aktionsprogramms begaben sich Jugendliche mit Fotoapparat, Tonband und Kamera auf die bewusste Suche nach Einflüssen fremder Kulturen in ihrem Stadtteil. Sie haben sich anhand des folgenden Fragenkatalogs dem Thema genähert: • Was ist typisch deutsch? • Was bedeutet fair? • Welche Nationalität haben ihre Freunde? • Was ist anders in Deutschland als in ihrer Heimat? • Was für Probleme haben Ausländer? • Was ist multikulturell? Ziel dieses modellhaften Projektes war es, deutlich zu machen, dass die deutsche Alltagskultur längst ein ganzes Spektrum multikultureller Bestandteile hat. Darüber hinaus sollte im Sinne eines interkulturellen Lernprozesses ermöglicht werden, sich dem Fremden anzunähern, ohne es sogleich zu beoder verurteilen. Das Medienpaket enthält: ein Radiomagazin, einen Film, die Broschüre »Fundstücke« mit Beispielen aus dem Projekt, sowie einen Projektbericht, der sich an Fachleute der Jugendarbeit und -bildung richtet. Der Projektbericht ist sehr ausführlich und kann gut als Anregung für eigene Projekte verwendet werden. Die Broschüre »Fundstücke« ist stadtteilbezogen. Nichtsdestotrotz lassen sich daraus gute Anregungen für die eigene praktische Arbeit entnehmen. Einziger Nachteil ist der oft erwähnte regionale Bezug, in diesem Fall Bayern als auch der zum Stadtteil Haidhausen, in dem das Projekt angesiedelt war. 110 Eva Hanel Gesucht – Gefunden Der Film mit seinen begleitenden Materialien ist für Kinder und Jugendliche ab 10 Jahren geeignet. www.bpb.de »Swetlana« Der Kinofilm »Swetlana« ist in Deutschland im Jahr 2001 gedreht worden. Das Institut für Kino- und Filmkultur in Köln hat dazu ein sehr gutes Filmheft herausgegeben, das Vorschläge für den didaktischen Einsatz im Unterricht macht. Dort werden die Themen Freundschaft und Liebe, die Geschichte der deutschen Einwanderer sowie die Situation der Spätaussiedler behandelt. »Swetlana« ist ein Film über das Erwachsenwerden, über die Suche nach Heimat, Freundschaft und Liebe. Gemeinsam mit ihrer Familie ist die 16jährige Swetlana von Kasachstan nach Duisburg gezogen. Die fremde Umgebung in Deutschland, die Ressentiments, die sie als Russlanddeutsche erfährt, verunsichern sie ebenso wie die Fremdheit, die sie sich selbst gegenüber fühlt. Sie ist kein Kind mehr, will sich abgrenzen von den Eltern und ihrem kulturellen Umfeld. Und weiß zunächst doch nicht genau, was sie will. Erst langsam gewinnt Swetlana Vertrauen zu sich selbst und ihren Gefühlen. Der Film »Swetlana« zeigt mehr als die Entwicklung der Protagonistin und wie es erlebt wird, als Migrantin in Deutschland zu leben, er zeigt auch, wie sich Menschen in fremden Ländern arrangieren, wie sie darum kämpfen einen neuen Weg zu finden oder auch scheitern. Der Film wird von der FSK ab 14 Jahren empfohlen. Das Institut für Kino- und Filmkultur veröffentlicht nicht nur Filmhefte zum Thema »Integration«, sondern hat noch viele andere Themen zur Auswahl. Passend dazu organisieren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Kinoveranstaltungen, in denen Kinder und Jugendliche die Möglichkeit bekommen neben dem ausgewählten Film, über das Gesehene zu diskutieren. Ein fachkundiger Referent begleitet die Veranstaltung, bespricht und analysiert die vorgestellten Filme mit den Kindern oder Jugendlichen und steht außerdem nach 1 jeder Vorstellung zu einem Gespräch für Schüler und Lehrer zur Verfügung. www.film-kultur.de 1 Institut für Kino- und Filmkultur, Mauritiussteinweg 86-88, 50676 Köln, [email protected] 111 Gesucht - Gefunden Eva Hanel 2. Internetseiten CrossXCulture CrossCulture ist ein Netzwerk für interkulturelle und europäisch orientierte Kinder- und Jugendmedienarbeit in Nordrhein-Westfalen. Es wurde auf Initiative des JFC Medienzentrum Köln und des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit Mitte 2000 ins Leben gerufen. Das Projekt ist angetreten, um erstens die außerschulische interkulturelle Jugendmedienarbeit stärker ins Blickfeld des pädagogischen und öffentlichen Interesses zu rücken und zweitens ein Netzwerk einschlägiger Aktivitäten in Nordrhein-Westfalen zu installieren. Dieses Netzwerk hat die Aufgaben, kommunikative Infrastrukturen zu schaffen, den Informationsfluss zu fördern, Qualifikation und Beratung anzubieten sowie langfristig Kontakte zu europäischen Partnern zu vermitteln und bei der Suche nach geeigneten Förderprogrammen bzw. Sponsoren zu helfen. Diese Ziele werden auf zwei Ebenen verfolgt: einer virtuellen Plattform im Internet und einer ›realen‹ Vernetzung. Im Internet kann man sich zum Thema »Integration« informieren, austauschen oder Einblicke in andere Projekte bekommen. In der entsprechenden Datenbank erhält man Informationen zu den Projekten, Beschreibungen und Adressen von Ansprechpartnern. In dieser Datenbank kann man sich inspirieren lassen, um selbst Projekte zum Thema »Integration« zu initiieren. Diese Internetseite ist ein gutes Beispiel, um interkulturelle, europäisch orientierte medienpädagogische Arbeit wahrzunehmen, und um die Diskursbereitschaft und den interkulturellen Dialog zu fördern. Die Internetseite »crossculture« spricht Jugendliche ab 12 Jahren inhaltlich und gestalterisch an. www.crossculture.de Gi’me 5 – Aktion für Freundschaft und Toleranz ARD, ZDF und der KI.KA haben gi’me 5 ins Leben gerufen, die Aktion für Freundschaft und Toleranz, denn Freundschaft kennt keine Grenzen. Diese Internetseiten eignen sich vor allem für etwas jüngere Kinder (ab 8 Jahren), die sich mit dem Thema beschäftigen wollen. Auf den Seiten können sich Kinder über das Projekt informieren und selbst ihre Projekte zum Thema »Integration« ins Netz stellen. Neben themenbezo- 112 Eva Hanel Gesucht – Gefunden genen Fernsehsendungen können sie im Lexikon entsprechende Begriffe nachschlagen und sich im Forum für Toleranz und Freundschaft austauschen. www.tivi.de/gime5/default.htm 3. Computerspiele Unsere Recherche im Herbst 2002 hat ergeben, dass es kaum Computerspiele zu dieser Thematik gibt. Das Thema »Integration« in Computerspielform umzusetzen ist zum einen sehr schwierig und wird zum anderen von den Kindern und Jugendlichen nicht nachgefragt. Das unterstreicht auch der Tatbestand, dass es kein einziges kommerzielles PC-Spiel zu diesem Thema gibt. Eine Ausnahme bildet das PC-Spiel »Dunkle Schatten«, das vom Innenministerium des Bundes und der Länder 1994 initiiert worden ist. Das Spiel ist Teil der Aufklärungskampagne der Bundesregierung gegen Rechtsextremismus. Hauptfigur des Spiels ist der 16-jährige Schüler Carsten Wegener, der sich mittlerweile in weiteren zwei Folgen gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus engagiert. www.bmi.de 4. Literatur Eine Literaturliste und eine Liste der Beratungsstellen zum Thema »Integration« sind bei der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen kostenlos erhältlich. Eva Hanel, Dipl.-Pädagogin mit den Arbeitsschwerpunkten Jugendmedien und Bildungsmittel, Medienerziehung im Elementarbereich, Koordinatorin des Modellprojektes »aktion familien online« in Niedersachsen 113 Vergessen Sie Integration! Peter Grünheid / Markus Kissling Vergessen Sie Integration! Peter Grünheid Markus Kissling Kein Witz: Wollen Sie Integration (lat.: integratio – (Wieder)-Herstellung eines Ganzen) erreichen, müssen Sie Integration vergessen. Integration ist kein Selbstzweck, kein Ziel. Integration geschieht nebenbei oder gar nicht. Integration kann nur Nebenprodukt sein. Nebenprodukt eines viel spannenderen Prozesses. Menschen wollen leben, sie wollen Arbeit, sie wollen sich amüsieren, sie wollen lieben. Wer steht schon auf und sagt: »Heute will ich mich aber integrieren!«? Wir sind alle Teil eines Ganzen und wir sind alle in Teilen integriert und in anderen nicht. »Integrationsarbeit« besteht also vor allem darin, Perspektiven zu verändern, d.h. Unterschiede wahrzunehmen und sie als Chance zu begreifen. Nicht Angst vor dem Fremden, sondern das Fremde als Bereicherung für das Eigene zu verstehen. Hört sich an nach Sozial-Romantik und »Multi-Kulti«, ist aber eher Physik. Wachstum, die Entstehung von etwas Neuem ist nur möglich durch Verbinden von Unterschiedlichem. Je mehr Unterschiede es gibt, desto mehr Möglichkeiten gibt es, Unterschiede sind die Voraussetzung für eine Regelung innerhalb des Systems. Zwischen dem Gleichen kann keine Vereinbarung getroffen werden, es ist ja schon eins. Das heißt, Integration vollzieht sich in einem ersten Schritt durch Trennung und nicht durch Gleichmachen. Um den Reichtum, der in der Unterschiedlichkeit besteht, erfahrbar zu machen, gibt es kaum ein besseres Trainingsgebiet als die Kunst. Kunst nicht 114 Peter Grünheid / Markus Kissling Vergessen Sie Integration! verstanden als Arbeit von Spezialisten an einem möglichst schönen und beeindruckenden Produkt für eine Elite, sondern als ein für jeden wenn auch unterschiedlich zugänglicher Prozess, dessen Anliegen es ist, Menschen nicht an der Kunst, sondern am Leben zu interessieren. Ganz im Sinne Beuys’: »Jeder Mensch ist ein Künstler«. – Jeder Mensch hat das Potenzial, selber zu schaffen, selber zu treiben und nicht nur getrieben zu werden. Wer selber treibt, selber schafft, stellt fest: Die wirklich spannenden Themen sind begrenzt. Die unterschiedlichen Perspektiven sind so zahlreich, wie es Menschen gibt. Diese Erfahrung lässt sich auf andere Gebiete übertragen. Mit diesem Ansatz betrieb SPACEWALK zweieinhalb Jahre (bis Ende 2002) das Stadtteilmanagement in Wolfsburg-Westhagen. SPACEWALK SPACEWALK ist ein international tätiges Netzwerk von Künstlern, Pädagogen und Wissenschaftlern aus verschiedensten Kulturkreisen. SPACEWALK entwirft seit 1993 Projekte im gesellschaftlichen Raum. SPACEWALK hat es sich zur Aufgabe gemacht, bei Menschen unterschiedlichster Herkunft kreative und kommunikative Potentiale zu entwickeln und zu fördern. Ziel ist es, die Menschen ihre Kreativität und Kommunikationsfähigkeit als Rüstzeug und Möglichkeit entdecken zu lassen, um sich selbst und ihr gesellschaftliches Umfeld zu verbessern und zu verändern. SPACEWALK arbeitet dabei mit Mitteln und Methoden aus Theater, Tanz, Musik, Video und bildender Kunst, begibt sich in soziale Spannungsfelder und an soziale Knoten- und Brennpunkte und arbeitet dort mit den Menschen vor Ort an der Förderung und Verbesserung von Kommunikation und Kreativität. SPACEWALK hat über die Jahre eine flexible Arbeitsmethode entwickelt und verfeinert, die es erlaubt, an verschiedensten sozialen Feldern anzuknüpfen und diese miteinander zu verbinden. SPACEWALK ist es mit seinen bisherigen Projekten gelungen, große Synergieeffekte herzustellen. Die Projekte hatten große Ausstrahlungskraft bis hinein in die internationale Politik. Für SPACEWALK ist jeder Denkvorgang – und daraus resultierend jede Handlung – ästhetisch. Das heißt, er beruht auf einer individuellen Wahrnehmung 115 Vergessen Sie Integration! Peter Grünheid / Markus Kissling (und nichts anderes bedeutet Ästhetik) von Welt. Sowohl in der Kunst als auch in den fortgeschrittenen Naturwissenschaften ist die Heterogenität und Vielfalt der Standpunkte und der Wahrnehmungen zur Arbeitsgrundlage geworden. Von dort her entwickelt sich modellhaft eine Denk- und Lebenshaltung, die einer sich diversifizierenden Gesellschaft angemessen und auf alle gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche anwendbar ist. Diese Haltung erlaubt, ein Netz zwischen den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft zu knüpfen. Wolfsburg-Westhagen Westhagen wurde Ende der sechziger Jahre nach dem städtebaulichen Leitbild »Urbanität durch Dichte« geplant und ursprünglich für 12.000 Bewohner erbaut. Heute leben 9.600 Menschen hier, in manchem zehnstöckigen Gebäude nur noch vier oder fünf Haushalte. 17 Prozent der Einwohner kommen aus 56 Nationen. Der geschätzte Bevölkerungsanteil von russlanddeutschen Spätaussiedlerinnen und -aussiedlern beträgt ca. 40 Prozent. Arbeitslosigkeit und der Anteil an Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern liegen deutlich über dem Durchschnitt der Gesamtstadt. Anonymität und Alkoholismus sind nur zwei Auswirkungen einer Ballung von Schwierigkeiten im Verlauf der letzten dreißig Jahre. Westhagen ist damit vergleichbar mit vielen Stadtteilen aus den siebziger Jahren, so genannten Trabantenstädten. Ganz gezielt an diese Stadtteile richtet sich das Bund-Länder-Programm »Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt«. Im Sinne des Förderprogramms »Soziale Stadt« kann eine nachhaltige Veränderung nur durch eine integrierte Vorgehensweise erfolgen, in der soziale, 116 Peter Grünheid / Markus Kissling Vergessen Sie Integration! wirtschaftliche und städtebauliche Maßnahmen miteinander verbunden werden. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Bürgerinnen und Bürger an diesem Prozess tatsächlich und nicht nur pro forma beteiligt werden. Somit ist der Aufbau eines funktionierenden Bürgernetzwerks die Basis des gesamten Prozesses. Seit dem Jahr 2000 ist Westhagen in das Förderprogramm »Soziale Stadt« aufgenommen. Das Netzwerk SPACEWALK betreibt seit 1. Mai 2000 das Stadtteilmanagement. Kern des Gesamtprojektes ist es, allen Beteiligten einen Weg ins Zentrum zu ermöglichen und so an dessen Gestaltung mitzuwirken. Dies geschieht auf der Basis eines integrierten Handlungskonzepts. Das Konzept: Wege ins Zentrum »Wege ins Zentrum – Das Westhagen-Projekt« ist die Konzeption, mit der sich SPACEWALK in Wolfsburg vorgestellt hat. Dabei ist der Begriff »Zentrum« ganz real und auch im übertragenen Sinne zu verstehen. Das Projekt zeichnet sich dadurch aus, dass es auf allen Ebenen Möglichkeiten zur Beteiligung anbietet: von niederschwelligen Angeboten vor Ort für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger bis hin zu hochprofilierten baulichen, wirtschaftlichen, sozialen und künstlerischen Einzelprojekten und Maßnahmen. Alle Einzelaktivitäten werden in das Gesamtprojekt eingebunden. Dadurch werden Prozesse von eigentlich längerer Dauer beschleunigt, vernetzt und verstärkt. Die Methode: ein gemeinsames kulturelles Projekt als Quelle und Motor Der besondere und in verschiedenen Zusammenhängen erfolgreich umgesetzte Arbeitsansatz von SPACEWALK besteht darin, die Vielzahl der Probleme nicht frontal anzugehen, sondern zusammen mit den Beteiligten ein gemeinsames Drittes – ein kulturelles Projekt – zu entwerfen. Auf dem Weg zu diesem selbstbestimmten Ziel werden soziale Umgangs- und Kommunikationsformen entwickelt, gefördert und eingeübt. Durch diese projektorientierte Form des Stadtteilmanagements ist die soziale Erneuerung von Westhagen gleichsam das Nebenprodukt eines lustvollen und spannenden Prozesses, an dem sich Jede und Jeder beteiligen kann. 117 Vergessen Sie Integration! Peter Grünheid / Markus Kissling Weihnachten in Westhagen Was ist Glück? Was hat Glück mit Sanierung zu tun? Was hat Glück mit Integration zu tun? Ein Stadtteil macht sich auf die Suche. Ein kalter und dunkler Winter – noch kälter und dunkler zwischen den Häuserschluchten der Hochhaussiedlung – doch da, mitten im »Herzen der Finsternis«: Lichtspiele über der Skyline von Wolfsburg-Westhagen. Die hohen und lang gezogenen Gebäudekomplexe, die Wahrzeichen von Westhagen, werden abends zur weithin sichtbaren Leinwand für ein einzigartiges Schauspiel: Eine Fülle von Bildern und Ideen erfüllt sie allabendlich mit immer neuen Farben und Formen. 118 Peter Grünheid / Markus Kissling Vergessen Sie Integration! Also einmal mehr eine Illumination und Stadtinszenierung? Ja auch, aber im Kern etwas ganz anderes. Diese Inszenierung ist nur der leuchtendste Teil eines viel umfassenderen Projekts. Diese Projektionen sind nicht etwa die Werke von Profis – nein, diese Vielzahl von Vorstellungen, Bildern und Texten stammt ausnahmslos von Bewohnerinnen und Bewohnern dieses Stadtteils. All diesen Bildern und Gedanken liegt eine Frage zugrunde: Was ist Glück für Sie? Die Antworten darauf entwerfen allabendlich eine weithin strahlende Einladung, den Stadtteil in neuem Licht zu sehen. »Ausgehen von dem, was da ist«, heißt ein Grundsatz von SPACEWALK »Zu groß, zu hoch, zu breit, zu klotzig, zu grau!«: die beiden von Weitem sichtbaren Wohnkomplexe, Wahrzeichen von Westhagen, vielen gelten sie als die Schandflecken, als das eigentliche Problem dieses Stadtteils. Dort scheinen sich die baulichen und sozialen Probleme zu bündeln. Die beiden massiven Häuserfronten sind gleichsam die Projektionsfläche für alle negativen Assoziationen und Vorurteile in und um Westhagen. Genau das macht sich das Projekt zunutze: Es nutzt diese Gebäude ganz real als Leinwand für die neuen, künstlerischen Projektionen der Bewohner des Stadtteils. »Weihnachten in Westhagen« benutzt, was da ist, Positives wie Negatives (die Vorstellungskraft von 10.000 Menschen aus verschiedenen Nationen auf der einen, Dunkelheit, Unübersichtlichkeit, Mangel an öffentlichem Leben auf der anderen Seite) und macht etwas Drittes daraus. Es wirft ein in jeder Hinsicht neues Licht auf die Situation. 119 Vergessen Sie Integration! Peter Grünheid / Markus Kissling Gemeinsames Ziel »Weihnachten in Westhagen« gibt dem Gesamtprozess eine Struktur, indem es ein gemeinsames räumliches Zentrum (Marktplatz) und zeitliches Ziel (Weihnachten) definiert. Übertragung auf die Gesamtsituation Das kulturelle Projekt »Weihnachten in Westhagen« enthält modellhaft und überschaubar die Kernkomponenten der acht Handlungsfelder des integrierten Handlungskonzepts von Gestaltung über Belebung des Zentrums, über die Integration der verschiedenen Einwohnergruppen und Gewerbeförderung bis hin zur Imagepflege und Öffentlichkeitsarbeit. Das gemeinsame kulturelle Projekt ist der Vermittler zwischen den acht Handlungsfeldern und den Akteuren im Stadtteil (Einwohner, Stadt, Gewerbe, Einrichtungen und Wohnbaugesellschaften). Mit »Weihnachten in Westhagen« wurde ein gemeinsamer neutraler Raum geschaffen, der jedem Akteur vom Asylbewerber bis zur Wohnbaugesellschaft die Möglichkeit gab, sich zu beteiligen, sich selbst auszudrücken und seine eigenen Vorstellungen und seine eigene Kompetenz und Fähigkeit einzubringen und darzustellen. Ablauf: Westhagen sucht das Glück Drei Monate lang gingen die Mitarbeiter von SPACEWALK als »Glücksforscher« von Tür zu Tür. Nach einem Zufallsprinzip wurden Straßennamen und Hauseingänge bestimmt, in denen die Bewohner befragt werden sollten. Und dann standen sie plötzlich vor der Tür und fragten: »Was ist Glück für Sie?« und »Чto eto СЧΑCTьE?«. Unterstützt durch Piktogramme und Fragebögen, gelang es ihnen auch mit Westhagenerinnen und Westhagenern ins Gespräch zu kommen, für die es in Deutsch nicht so einfach war. Das sollte es jedem ermöglichen an dem Projekt teilzunehmen. Und Westhagen suchte. »Die Glücksforscher sind da!«, hallte es durch die Treppenhäuser ... »Ja, was ist eigentlich Glück ...?«, »Ist Glück Zufriedenheit oder mehr?«... »Ohne Gesundheit ist alles nichts.« Aus ersten, schnellen Antworten entstanden oft lange Gespräche über das Wesen des Glücks – über 2000-mal innerhalb von drei Monaten. 120 Peter Grünheid / Markus Kissling Vergessen Sie Integration! Die Westhagener waren Glücksexperten und fotografierten ihre Bilder vom Glück mit dem Fotoapparat, den die Glücksforscher mitgebracht hatten. Mit ihren Bildern – insgesamt weit über 1.000 – brachten sie Westhagen zum leuchten. Sie wurden vom 1. bis zum 24. Dezember im Rahmen einer Lichtinstallation auf die Hochhäuser am Marktplatz von Westhagen projiziert. Es entstanden Themen- oder Gruppenabende, die z.B. von Schulklassen, Vereinen, religiösen Gemeinschaften oder einer Gruppe Spätaussiedler gestaltet wurden. Schulen hatten sich in Projekttagen mit dem Thema »Glück« beschäftigt, es gab einen Glückssong, der aus den Aussagen zum Glück komponiert worden war. Zu den Aktionen trafen sich in der Vorweihnachtszeit jeden Abend ein paar Dutzend bis einige Hundert Menschen auf dem Marktplatz. In einem Zirkuszelt feierten sie anschließend ihr ganz persönliches Weihnachtsfest. Insgesamt haben über 10.000 Menschen die Projektionen besucht. Die Atmosphären aus Licht, Bildern, Worten und Musik erfüllten für einen Monat lang das Zentrum von Westhagen und machten es zu einem hellen und warmen Ort, an dem sich jeder wiederfinden konnte. Alles schön und gut, es hat sich einiges verändert, aber was ist, wenn SPACEWALK mit seinen ungewöhnlichen Methoden, dem Licht und dem ganzen Zauber weg ist? Wie steht es dann um die Nachhaltigkeit des Ganzen? Es gibt überzeugende Anzeichen, dass die Westhagener ihre Sache selbst in die Hand nehmen. Einstehen und selbstbewusstes Kämpfen für den eigenen Stadtteil zeigen sich inzwischen in verschiedenen Zusammenhängen. Die wachsende Bereitschaft und Kompetenz mitzugestalten sind entscheidende Grundsteine für die Weiterentwicklung von Westhagen. Peter Grünheid, Soziologe, Geschäftsführer und Gründungsmitglied von SPACEWALK Markus Kissling, Schauspieler, Regisseur und Unternehmer, Gründungsmitglied von SPACEWALK 121