Kapitel 2 - Bertz + Fischer Verlag

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Kapitel 2 - Bertz + Fischer Verlag
Die Bali am K ai von San Pedro.
Von Los Angeles nach Mazatlán
und über den Äquator
Am 12. Mai 1929 legte die Bali, „deren Heck ein blutrotes Herz
zierte,“17 von San Pedro im Süden von Los Angeles ab – sieben
Mann Besatzung, David Flaherty mitgerechnet, an Bord und eine
Handbibliothek mit Südseeliteratur: Conrad (An Outcast of the
Islands, Typhoon), Stevenson (In the South Seas), Melville (Typee,
Omuu, Mardi), Pierre Loti (Rarahu – Idylle polynésienne), Frederick O’Brien (White Shadows of the South Seas), Hall und Nordhoff (Mutiny on the Bounty).
Salka Viertel erinnerte sich: „Als wir ihm am Hafen Lebewohl
sagten, schien uns das kleine Boot ziemlich überfrachtet. [...] Ich
überreichte ‚Murr‘ zum Abschied zwei Pfund Molossolkaviar, was
ihn fast zu Tränen rührte. Schließlich lichtete die Bali den Anker.
‚Murr‘ stand winkend an der Reling, bis er unserem Blick entschwand.“18
„Die Bali entsprach allen Anforderungen, die man an ein Expeditionsschiff stellen musste“, heißt es in Meine Fahrt zu den
Glücklichen Inseln (Meine Fahrt zu den Inseln der Glücklichen).19
„Für uns war sie keine Yacht, sondern ein Schiff – eben unser
Schiff.“
Die Ich-Erzählung20 beginnt:
17
Ich hatte die Besatzung angeheuert, das Schiff mit allen
nautischen Geräten versehen und Proviant auf viele Monate an Bord genommen. –
25
Ernst Hofmann, Aus Briefen F.W.
Murnaus – Der Mensch und der
Künstler. In 8-Uhr-Abendblatt,
27.8.1931.
18
Viertel 1979, S. 151.
19
Vgl. S. 12.
20
Vgl. S. 12 f.
Vermutlich am 16.5. setzte die Bali von San Diego, dem südlichsten Hafen Kaliforniens aus ihre Fahrt fort.
Die Bali lag startbereit im Hafen von San Diego und wartete auf das Hochgehen des an der kalifornischen Küste gewohnten Morgennebels. –
Gegen 11 Uhr brach die Sonne durch und zerstäubte
den Rest des Schleiers in erfrischendem Tau. – Ein wolkenloser Himmel in klarstem Blau leuchtete einladend zu uns
herüber und wir segelten los mit Südwestkurs durch die in
gleichmäßigem Rhythmus heranrauschenden Wellen. Bald
verschwand die Küste unseren Blicken. Der Horizont wurde frei und nach allen Seiten hin sahen wir uns umgeben
von dem endlosen Wasserspiegel des Stillen Ozeans. –
Eine Stunde später drehte der Wind auf leichten Nordost. Das reizte mich zum Aufziehen der Segel und wir
bekamen eine herrliche Fahrt. – Auch die nächsten Tage
blieb das gleiche günstige Segelwetter. Die Leute arbeiteten fein. Trotzdem sie mich nur noch mit „Capt’n“ anredeten, brauchte ich sie nicht zu kommandieren, jeder Wink
und jeder Blick wurde verstanden. Sie sangen ihre Seemannslieder und waren in prächtiger Stimmung. –
Bald sollte mir klar werden, welche Verantwortung ich
hatte: Charly, der Koch, der behauptet hatte, seit zwanzig
Jahren auf allen Meeren gefahren und „seefest“ zu sein, war
der erste, der krank wurde.
In dem Wir-Bericht ist der Koch
„ein kleiner Schwede namens
Ole“. In Murnaus Brief an Salka und Berthold Viertel21 heißt
er wieder anders ...
Murnau mit seiner siebenköpfigen
Besatzung, links der Steuermann,
rechts von ihm der Koch.
26
Brief an Salka und Berthold Viertel 21
Liebste Salke, liebster Berthold,
Eddie – wie geht es Eddie – das ist unsere erste Frage jeden
Morgen, seit wir unterwegs sind. Eddie ist der Koch, müsst
Ihr wissen – und gleich am ersten Tage war er unrettbar
seekrank. Er behauptete zwar, seit 20 Jahren zur See zu
fahren und Seekrankheit nicht zu kennen – aber leider war
das, als ich ihn engagierte, im sicheren, ruhigen Hafen von
San Pedro – nun sah das anders aus: bei der ersten vernünftigen Bewegung des Bugs, als ihm zum ersten Male der Boden [unterm Arsch]22 unvermutet und urplötzlich versank,
lag er auf der Nase und spie. Gab aber nichts dergleichen zu
– ließ Töpfe und Pfannen stehen, mit was immer er darin
angerührt hatte und ließ mich verständigen, dass er krank
sei, möglicherweise sogar gefährlich krank – und, ließ er
durchblicken, vielleicht müssten wir umkehren, um ihn in
einem Hospital einzuliefern. Bleich, mit glasigen Augen, lag
er in seiner Bunk, eine einzige Anklage gegen mich – warum
waren wir nicht in San Pedro geblieben, wo es sich doch so
gut kochen ließ. Als ich ihm zumutete, doch vielleicht seekrank zu sein, begann er zu weinen über so viel Unverständnis. Er hatte kein Fieber – ich gab ihm eine Abführpille, da
er unbedingt etwas einnehmen wollte, beruhigte ihn, dass
bei auftauchendem Fieber wir umkehren würden, und
überließ ihn seiner Bunk. Wirklich, es war etwas Seegang –
wir alle fühlten uns nicht gerade kannibalisch wohl – nun
mussten wir allein kochen und wie schwangere Frauen hatten wir alle Appetit auf etwas Ausgefallenes, aber leider
jeder auf etwas Anderes. Was wir dann aßen und wie die
Galley hinterher aussah – da konnte einem schon seekrank
werden. Aber Gott sei Dank, über Nacht wurde es ruhiger
– Eddie genas unter der befreienden Wirkung der Pille –
und am nächsten Morgen hatten wir ein herrliches Frühstück von nicht weniger als fünf Gängen. Aber leider noch
zweimal auf dieser ersten siebentägigen Fahrt nach Mazatlán erliegt Eddie dieser Krankheit – nun nicht mehr so mysteriös – alles bleibt stehen und liegen, wie es gerade ist –
bleich kriecht Eddie in seine Bunk – soll kochen, wer will –
er kommt nicht eher wieder zum Vorschein, als: die See
lächelt – wir nennen das nun „Cooksweather“.
Dies Cooksweather aber herrscht vor – schwer zu sagen,
was schöner ist: die Nächte oder die Tage, immer neu, im27
21
Vgl. S. 10. Dieser Text wird hier
dem Typoskript folgend wiedergegeben; lediglich Rechtschreibung und
Zeichensetzung sind korrigiert. Vom
Ullstein-Verlag beim Abdruck in Die
Dame vorgenommene Änderungen
sind in Fußnoten vermerkt.
22
Beim Abdruck in Die Dame gestrichen.
23
Hafenstadt und Seebad an der
mexikanischen Pazifikküste, Bundesstaat Sinaloa, das Handels- und
Industriezentrum West-Mexikos,
über 160.000 Einwohner (1976).
mer anders – und immer anders, als man es erwartet. Das
ist schön, dass es so ist, auch wo es zunächst enttäuscht,
weil es nicht erscheint, wie wir es erwarten, wie wir es lasen, wie wir es träumten. Immer ist mir das Sternbild: „das
Südliche Kreuz“ als das Symbol tropischer Üppigkeit, als
märchenhaft an Strahlenglanz und Größe erschienen, das
Wahrzeichen aller Südsee-, Abenteuer-, Entdecker- und
Seeräubergeschichten – Wahrzeichen aller Melvilles, Stevensons und Conrads. Auftauchen sollte es – wie ich mir
dachte – kurz vor dem Äquator, ein Zeichen, dass wir nun
wirklich angelangt waren, irgendwo fern von allem Gekannten. Da stellt Euch meinen wirklichen Schreck vor: Es ist
nachts – wir kreuzen den Golf von California, etwa achthundert Meilen südlich von Los Angeles – das Grammophon spielt an Deck: „Red lips, kiss my blues away!“ – da
sagt der Mann am Steuer: „Da geht das Südliche Kreuz
auf!“ Das kann nicht wahr sein, das darf nicht wahr sein –
aber er zeigt in den südlichen Horizont und beschreibt die
umliegenden Sternbilder, Bücher werden zum Beweis geholt und es muss doch wohl wahr sein: Während der Himmel wirklich blitzt in der Klarheit all unserer nördlichen
Sterne, ist verschwommen, kaum wahrnehmbar über dem
Horizont etwas, das vielleicht das Bild eines Kreuzes ergibt,
ein nebliges Etwas, stumpf, glanzlos, unromantisch. Ein körperhafter Schmerz für einen Augenblick – schmerzhaft wie
das Aufwachen aus einem zu schönen Traum. Nun, wo ich
dies schreibe und wir dem Kreuz um viele Hunderte von
Meilen näher sind, strahlt es schon, ist uns bereits ein Wahrzeichen! – denn immer geht unsere Fahrt darauf zu – bald,
wenn wir den Äquator hinter uns haben, wird es alle Bücher und Träume überglänzen – wir fahren ja Büchern und
Träumen nach.
Immer hatte ich mich gefreut, den ersten Kokoshain zu
sehen, so wie Frederick O’Brien ihn beschreibt, wie er, zart
wie ein Spitzenmuster, ein Korallenriff umsäumt und wie
manche dieser Riffe so grün sind von Kokospalmen, dass –
lange ehe man Riff oder Insel sehen kann – ein leuchtend
grüner Schein am Himmel zeigt, wo die Insel liegt. Und
dann eine Kokosnuss auszutrinken – gerade nachdem sie
vom Baum geworfen ist! Fahren wir am Sonntag morgen im
Hafen von Mazatlán23 ein, sagt neben mir plötzlich [David]
Flaherty: „Da sind ja Kokospalmen – das sieht genau aus
wie die Inseln in der Südsee!“ – Und wirklich, da sieht man
die mexikanische Stadt durch eine dünne Reihe hoher Pal28
men und kleine Inseln liegen davor und seitlich flache Sandstriche, dicht überstanden mit Kokoshainen – man sieht die
grünen, dicken Nussbüschel durchs Glas. Es ist unverkennbar Südseeszenerie, wie Vorbilder zu den alten Holzschnitten aus Cooks Reisebeschreibungen sieht es aus. Täuschung
– Enttäuschung – Parallele zum Kreuz des Südens! – Natürlich trinke ich dann auch eine frische Nuss, eben vom Baum
geworfen von einem Jungen von erschreckend dunkler Hautfarbe (wahrscheinlich viel dunkler, als sie in der Südsee je
sein werden). Der Junge paddelt mich in einem Einbaum –
wie sie die Küstenfischmexikaner selbst noch heute aus einem Baumstamm höhlen – zwischen den Inseln hindurch,
vorbei an Fischersiedlungen. Hütten, alle nur aus Palmblättern und Rohr (so nah an den Staaten wirkt das unecht, als
wäre es für eine Ausstellung aufgebaut) – überall sieht man
Aasgeier, herrlich anzusehende Vögel, zu Hunderten sind
sie um ein totes Pferd versammelt, das am Strande liegt. So
nah an den Staaten, sagt man sich, wie ist es denkbar – wie
ist es denkbar – scheint es doch mindestens zweihundert
Jahre entfernt. Es ist heiß, wie wir einlaufen in Mazatlán,
heiß bereits am frühen Morgen – es ist Sonntag.
Ein verhältnismäßig großer Dampfer wird vor uns hereingelotst und ankert – ein Dampfer in „distress“, wie man
uns später sagt – das Heizwasser ist ihm ausgelaufen – die
Tanks leckten, wie er plötzlich auf hoher See feststellen
musste – knapp erreicht er den Hafen. Später treffen wir
den Kapitän – ein Däne – ein
Abenteurer – war in der Fremdenlegion – während des Krieges im Flying Corps Lafayette (ein Freiwilligenkorps),
nun durch Protektion Kapitän, klagt über Mannschaft,
bei der anscheinend unbeliebt. Wir treffen ihn im Hotel, wo er sich einen antrinkt,
noch immer sehr erregt über
die kaum überstandene Gefahr – schon dreiviertel überzeugt, dass er seine Stellung
verlieren wird, denn einer
wird herausgeschmissen, das
ist sicher, er oder der Chiefengineer. [Er hat einen hüb29
24
Beim Abdruck in der Dame gestrichen.
25
Schwedischer Autor, eigentlich
Martin Gunnar Serner. Seinen
Roman Die Finanzen des Großherzogs (Storhertigens finanser) hatte
Murnau 1923 verfilmt.
26
In der Dame „nationalen“.
schen jungen Burschen bei sich, einen von der Mannschaft,
der ihn anscheinend völlig beherrscht.]24 –
Kaum haben wir unsere gelbe Flagge gehisst, da kommt
auch der Doktor schon längsseits und ihm folgt eine andere
Launch, vollgepropft, schon klettern sie an Bord in Scharen: Zoll- und Hafen- und Einwanderungsbehörden, Gestalten wie aus Operetten oder lustigen karikierten Reisebeschreibungen (Frank Heller25 ), übertrieben dunkle Gesichter, übertrieben schlechte Zähne alle und alle unter
mittelgroß. Sie reden viel untereinander, sie machen mir
tapsige Verbeugungen, viel Händeschütteln und Lachen:
Ich bin das erste deutsche Schiff nach langer, langer Zeit.
Die Stadt heißt mich willkommen – sagen sie.
Wir fahren dann durch die Stadt in zweirädrigen, zweisitzigen Kutschen; es ist mordsheiß und kein Mensch auf
der Straße. Wir müssen den deutschen, französischen und
amerikanischen Konsul besuchen, das ist interessant: der
Amerikaner ein wirklicher Gentleman, überaus zuvorkommend, ohne sich etwas zu vergeben, hilfsbereit und nett,
der Deutsche kommt zu uns ins Hotel – aus Versehen, nicht
etwa aus Zuvorkommenheit, er sagt das selbst, denn er
glaubt, er hat sich etwas vergeben, man hat ihm unsere Botschaft missverständlich ausgerichtet. Er ist groß, etwa 45
Jahre, ein rundes, blassgrünes Gesicht und trägt ein Monokel. Dieses aber auch nicht immer – wie ich später feststelle – er trägt es mehr aus Vorsicht, er hat erwartet, einen
schwer deutschnationalen26 Besuch in mir zu bekommen,
das Monokel ist das Wahrzeichen, die ungeschriebene, aber
nicht weniger wirksame Empfehlung. Als er merkt, dass ich
seinen Erwartungen nicht entspreche, bereut er, das Glas
verschwindet wie beiläufig, er spricht von der Lage seines
Geschäftes, er hat ein großes Haus in Hamburg, groß vor
allem vor dem Krieg – nun ist es sehr herunter, aber immer
noch eines der größten in Mexiko, mit riesigen Plantagen
überall, einige so entfernt, dass er sie selbst noch gar nicht
gesehen hat. Ja, sein Vater hat das alles gegründet, auch eine
große Niederlassung in Deutsch-Ostafrika. Nein, er war
Kaufmann nur aus Zwang, er wollte Diplomat werden, Husarenregiment gedient, aber der Krieg – die Revolution – ja,
und noch eine solche Revolution wie die letzte hier in Mexiko und das Haus macht besser zu – ein anderes deutsches
Haus ist gerade pleite, gerade jetzt, ein Bremer Haus, das
älteste am Platze, unverschuldet, die Revolution, aber es
schadet ihnen allen, sie alle verlieren viel Geld dabei. Und
30
je früher er dies Land verlassen kann, umso glücklicher wird
er sein. Und damit geht er, erwartet mich am nächsten Tag
zum Lunch. Der französische Konsul aber ist nicht auffindbar, auch am nächsten Tag nicht – am vierten endlich kriege
ich ihn zu Gesicht und finde ihn dann sehr nett, ein richtiger Franzose, ich habe Lunch mit ihm auf dem Boot, er
redet nur über Film und Hollywood. Ihr Kaviar27, der zum
erstenmal hier in Erscheinung tritt, herrlich eisgekühlt,
macht großen Eindruck – übrigens auch bei der amerikanischen Frau des deutschen Konsuls, als sie bei mir lunchten, sie geriet völlig aus dem Häuschen. Nach diesem ungeahnten Erfolge wird der Kaviar nur noch an Konsule verabreicht werden.
[Was ist es nur, warum sind mir Deutsche im Ausland
unangenehm, immer scheint es, als schickten wir eine Auslese von Scheußlingen heraus, nie aber einen wirklich netten, einfachen, geraden Menschen. Hier in Mazatlán ist eine
große deutsche Kolonie, zwei deutsche Clubs – überall hört
und sieht man sie. Sie sind entweder aus Hamburg oder
Bremen oder aus Sachsen, ihre überlaut geführte Unterhaltung lässt keinen Zweifel aufkommen. Männlein wie Weiblein sehen aus wie aus dem Simplicissimus geschnitten oder
aus einem Stroheimfilm herausspaziert. Alles was man sich
einredete, dass es das nun nicht mehr gebe Gott sei Dank –
hier ist alles noch oder wieder da, herrlich erhalten. Dabei
sind sie – auch der einfachste – von einem Dünkel und einer Selbstüberhebung, dass es nicht zum Sagen ist: mit welcher Verachtung sie von dem Lande sprechen, das sie doch
ernährt, manche sogar reich macht – wie sie über die anderen Kolonien: englische, amerikanische, französische, reden, ich glaube, man muss schon ein Deutscher sein, um
das zu können, um so borniert kritiklos von seiner eigenen
Gottauserwähltheit überzeugt zu sein.]28
Das sind nun über zwei Wochen, dass ich hieran nicht
geschrieben habe – zwei Wochen Fahrt in ungemütlichem
Wetter, stürmisch toll bewegt manchmal, mit einer Woche
fast ununterbrochenen Regens, Regen, wie wir ihn uns
kaum vorstellen – es ist wie ein See, der über einen ausgegossen wird, wie eingepackt in Wasser sind wir in unserem
Boot, manchmal in sausendster Fahrt – manchmal völlig bekalmt – aber wie auch immer, es ist großartig und immer
neu. Wir kriegen nicht viel Schlaf in diesen Tagen, auch
nicht viel Pflege, und man sieht das: grau sind unsere Gesichter und vollbärtig, tiefumschattet die Augen – die Haut
31
27
In der Dame „Unser Kaviar“ (vgl.
S. 25).
28
In der Dame gestrichen.
Kathedrale an der Plaza Prinzipal
der Altstadt von Mazatlán, erbaut
1875-1890. Foto Murnau.
unserer Hände ist weiß und weich zerfaltet wie die alter
Waschfrauen und unsere Füße vom endlosen Stehen in Regen und Seewasser scheinen grünlich weiß und gehören
schon in die Klasse der Wasserleichen. Ganz kurz vor dem
Äquator, plötzlich über Nacht ist alles verändert: Wir sind
im Südost-Passat – keine Wolke mehr am Himmel (nur ein
zarter Kranz leichtester weißester Tupfen umrahmt ringsherum den Horizont), leichte Wellenhügel und hinab bläst
uns der Wind über den Äquator, gleich schön sind die Tage
– schöner, am schönsten die Nächte – Sonnenuntergänge in
so zarten, pastellhaften Farben, dass man glücklich lacht
über solche Traumerfüllung, wie eine riesige Muschel
schließt uns der Himmel ein, schimmernd in allen Farben
des Perlmutt ... immer nach Süden geht unser Kurs – immer höher am Nachthimmel steigt das Südliche Kreuz.
Nun sind wir nur noch zweihundert Meilen entfernt von
den Marquesas – von Nuku Hiva – unserem ersten Ziel –
morgen sollen wir da sein, wenn der Wind anhält, werden
wir morgen früh Land sehen, Land nach über drei Wochen
nur Wasser, es wird seltsam sein; in der ganzen Zeit haben
wir keinen Menschen, kein Schiff gesehen, in der ersten
Nacht nach Mazatlán passierten wir kurz hintereinander
drei große Passagierdampfer, alle hellsterleuchtet – und von
da ab nichts mehr ... denn dies ist eine Route, die nicht oder
nur äußerst selten befahren wird: auf Tausenden von Meilen haben wir den Ozean für uns allein.
Aber ehe wir ankommen, muss ich diesen Brief beenden, sonst wird es nie geschehen, das weiß ich, und da sind
noch eine Menge Dinge aus Mazatlán[, die ich schreiben
will, die ich Ihnen sagen will und auch mir selbst, denn –
herrlich, eine Kopie dieses Briefes erspart mir ein Tagebuch.
32
Hören Sie, Salka, ich weiß nicht, ob Sie abergläubisch sind,
aber ich werde etwas nachdenklich, wenn das Folgende passiert: Mazatlán hat etwa drei kleine Kinos, selten sitzt jemand darin, Kinos sind unpopulär bei der Masse und nicht
gesellschaftsfähig bei den Wohlhabenden, armselig sind sie
und vorsintflutlich]29 . Wir bummeln abends durch die
Stadt, es ist schon spät, kaum ein Mensch auf der Straße,
nur im Café de Paris ist noch Betrieb, eine Jazzband spielt,
ein paar kleine Huren30 stehen in der Tür, sie lachen, sie
sind jung, amüsant [und unbegreiflich billig – ein Kino, ein
paar Häuser entfernt, hat noch Licht, ein, zwei billige TomMix-Plakate, eine Vorankündigung eines Dolores-Del-RioFilms, wir gehen hinein, man will doch gesehen haben, wie
spanisch-mexikanisches Temperament auf amerikanisch
Wildwest reagiert. Es endet gerade eine Foxwochenschau;
Schneeaufnahmen aus Alaska, ein Hundeschlittenrennen –
eine ganz leise Sehnsucht nach Sonnenschein in Schneekühle wird in mir wach, es war wirklich sehr heiß gewesen
am Tage – aber schon ist das Newsreel zu Ende, ein paar
Leute gehen hinaus – etwa fünfzehn sind mit uns noch im
Theater, ein neuer Film beginnt – ein Ufa-Film – es kommt
der Titel: Schwester Felicitas oder Beatrix oder so etwas,
Regie: F.W. Murnau. – Ich kann es nicht glauben, aber schon
vorbei – der Film läuft. Um Gotteswillen, was kann das
sein? – nichts ist es – ein Schmarren, mir unbekannte
Schauspieler in einer unbekannten Geschichte, ein Verkaufstrick wahrscheinlich der Ufa, zu dumm. Aber ist das
Zusammentreffen nicht seltsam, in dem Theater laufen Filme nur einen Tag, an diesem einen Tag gehen wir zufällig für
einen Augenblick hinein, und kaum darin, erscheint mein
Name auf der Leinwand, ich weiß nicht, ob Sie sich das
Geisterhafte, Gruselhafte meines Erschreckens vorstellen
können]31 .
Wir gehen dann noch ins Café de Paris, wir sind nun die
einzigen Gäste – es wird sehr lustig – und dann, mitten in
der Nacht baden wir, nackt, schwimmen vom Schiff aus,
und wie wir hineinspringen ins Wasser, spritzt weißes Licht
hoch, Funken übersprühen das Deck, Meerleuchten ist und
leuchtender, als ich es je gesehen habe, selbst in Kalifornien. Wie wir schwimmen, ist das Wasser um unsere Körper
wie leuchtende Schleier; als magisch strahlende Varietéserpentintänzer geistern wir in dem sonst schwarzen Wasser. Aber wie wir uns dann abtrocknen an Deck und hinübersehen nach der Stadt, da wird wirklich ein Märchen
33
29
In der Dame gestrichen.
In der Dame „Mädel“.
31
In der Dame gestrichen.
30
aus Tausendundeiner Nacht lebendig, denn da fahren heran
in ihren kleinen Kanus die Fischer von Mazatlán; nackt stehen sie im Bug, rot überschienen von einer Fackel, die die
Fische an die Oberfläche bringen soll, und wie sie mit ihren
Netzen ins Wasser tauchen, wird das Meerleuchten wach
und flüssiges sternenhaft funkelndes Silber heben sie in den
Netzen ins Boot. Lautlos schöpfen sie, aber mit schnellen
kurzen überraschenden Bewegungen, lautlos gleiten sie heran, zehn Boote etwa, und wie sie nahe an uns vorüberziehen, ist es fast wie ein Tanz im Rhythmus der gleichen Hantierungen und wie im Tanz hebt der nackte Mann im Bug
einen Palmenblattfächer vors Gesicht, immer im Wechsel
mit dem Heber des Netzes, damit das Licht der Fackel ihn
nicht blende, wenn er ausspäht nach dem Fisch. Am nächsten Tag haben wir von diesem Fisch zum Lunch, er hat die
Größe eines kleinen Herings, hat einen lang auslaufenden
scharfen Unterkiefer wie ein kleiner Schwertfisch etwa und
schmeckt gebraten so großartig wie es sich für einen 1001Nacht-Fisch gehört.
Wie aus einer Stevenson- oder Conrad-Geschichte genommen, humpelt unser Kapitän noch immer auf seinen
Krücken über das Deck, mit großem Geschick balancierend
und sich haltend, auch wenn das Boot schwer rollt. Eine
Kneipe hat er hier im Hafen entdeckt gleich am Landungssteg und immer neue Gründe findet er, um an Land gehen
zu können, ungeahnte Quantitäten von Bier kann er in ganz
kurzer Zeit verschwinden machen, kommt dann mit treuem, unschuldigem Hundeblick zurück an Bord, nur um auf
eine neue Möglichkeit zu sinnen, wieder schnell an Land
und in die Kneipe zu kommen.
Kaum in Mazatlán angekommen, fangen unsere Maschinentroubles an, die Cummingsdiesel, die sich auf der siebentätigen Fahrt ganz brav gehalten hat – nur dass sie in den
letzten 24 Stunden über den Golf von Kalifornien den
Stern scheußlich verrauchte –, wird auseinandergenommen, weil ein Zylinder versagt, der kleine Licht- und Eismaschinengenerator aber gibt völlig auf, nachdem er etwas
Seewasser geschluckt hat, trotzdem alle Teile nach eingehendster Inspektion sich in Ordnung zu befinden scheinen,
hat er keine Kompression – und wir haben kein Licht und
kein Eis –, ohne ihn aber können wir auch die Dieselmaschine nicht starten, denn er lädt die Dieselstartbatterien
und diese Batterien sind leider so leer, dass sie keine Kompression in der Diesel mehr zustandebringen. Wir sind lahm34
gelegt, Sachverständige aus der Stadt versagen auch, es
bleibt nichts anderes übrig, als eine neue Lichtmaschine zu
kaufen. Das geschehen, zeigt sich auch am alten Generator
schon der Fehler: eine Kleinigkeit, ein Kurzschluss in einer
Drahtspule. Wir haben jetzt also zwei Generatoren.
Während wir mit all diesen Troubles mehrere Tage im
Hafen verliegen, tritt etwas ein, das beinahe der Reise ein
schnelles Ende gesetzt hätte. Eines Morgens, während der
Kapitän zum Biertrinken an Land ist, während die Mannschaft schläft, bricht unter einem plötzlich einfallenden
Windstoß die Ankerkette, bricht aber fast lautlos und ohne
sehr merkbaren Stoß oder Ruck, anscheinend an einer
schlecht geschweißten Stelle. Ich bin in meiner Kabine unter Deck, ich fühle wohl eine etwas heftige Bewegung des
Bootes, höre vielleicht auch die Kette gegen die Bordwand
schlagen, messe dem aber keine Bedeutung bei, hunderterlei Geräusche sind immer um das Boot, besonders in der
starken Dünung, die dieser Hafen auch bei ruhigem Wetter
hat. Zufällig komme ich an Deck und gerade recht, um zu
sehen, wie der Bowsprit meiner Bali mit Haaresbreite vorbeigleitet an dem Schornstein einer kleinen Pinasse – für
einen Moment bin ich starr, was ist passiert? Das Boot ist
schon so weit in den Hafen hineingetrieben, dass es jeden
Moment auf Grund laufen muss, wenn es nicht vorher gegen ein anderes Boot anrennt. Wir scheinen hilflos dem ausgeliefert, denn die Maschine kann nicht starten, weil noch
defekt, zum Segelsetzen ist keine Zeit, das Ruder gehorcht
nicht. Ich rufe die Mannschaft – ich rufe nach dem Landungssteg zu – möglich, dass man uns hört und unsere verzweifelte Lage erkennt und eine Hafenpinasse schickt, um
uns zurückzuschleppen. Aber all das muss in Minuten, besser Sekunden geschehen oder unser Boot ist verloren – Gott
sei Dank, der Wind hat nachgelassen, aber immer noch treiben wir, mit Mühe halten die beiden Matrosen das Boot
einem anderen Schoner aus dem Weg – es ist ein allgemeines Geschrei im Hafen – anscheinend hat man am Landungssteg begriffen, hat aber selbst Schwierigkeiten mit
dem Starten der Pinasse – wir halten uns für ein paar Sekunden mit dem Bootshaken an einem anderen Boot fest,
an dem wir vorbeigetrieben sind, aber der Wind setzt wieder ein, wir können nicht halten, wir treiben – wir scheinen
verloren – da kommt die Pinasse und Taue sind bereit und
werden geworfen und – verfehlt und es wird geschrien und
geschimpft in allen Sprachen und nun fängt man das Tau
35
und man schleppt – Gott sei Dank –, aber die Pinasse
scheint zu schwach für Boot und Wind, nein, nun schafft
sie es, langsam, ganz langsam bewegt sich die Bali vorwärts
– und eine zweite Pinasse kommt zu Hilfe und unter freudigem Rufen und Geschrei und Gelächter gleitet sie zurück zu ihrer Ankerstelle. Dann erscheint auch der Kapitän, in einem Ruderboot, schon von weitem seine Krücken
schwingend und Befehle schreiend – aber er hat verspielt
für eine Weile, aus ist es nun mit Besuchen
an Land, das Bier wartet vergebens, melancholisch sitzt er an Deck und hat plötzlich
wieder Schmerzen in seinem gebrochenen
Bein.
Murr
Die Fahrt zu den glücklichen Inseln, der Wir-Bericht, erwähnt den Kinobesuch in Mazatlàn ebenfalls, ihm zufolge hieß der Film Schwester Angelika. Er berichtet auch von den Kneipenbesuchen des Steuermanns und dass er an Land war,
als der Anker sich löste.
Am 23. Mai schrieb Murnau seiner Mutter
aus Mazatlán eine Ansichtskarte: „Erste Station
in den Tropen. Trank heute meine erste Cocosnuss! Nachts scheint schon am Horizont das ‚Südliche Kreuz‘ auf. Morgen geht’s mehrere Wochen
weiter südlich ...“ Überlieferten Rechnungen zufolge blieb Murnau aber bis zum 30.5. in Mazatlán.
Die Ich-Erzählung setzt wieder ein, wo der
Brief an die Viertels aufhört.
Murnau am Steuer der Bali.
Nun ging die Fahrt Tage und Tage, – Wochen und Wochen –
über den Äquator – auf die Inselgruppe der Marquesas zu.
Der Größe des pazifischen Meeres – und unserer eigenen Bedeutungslosigkeit waren wir uns nicht bewusst ...
Wir fühlten uns so sicher, als ob wir Passiere auf der Mauretania wären ...
Der Steuermann, der die sieben Meere durchfahren hatte, sorgte mit seinen Erlebnisse für ständige Unterhaltung.
Er konnte stundenlang erzählen – und begann jeden Satz
mit den Worten: „Ja – ich kann euch sagen.“
36