Fachtagung 2007 - Landesverband donum vitae NRW

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Fachtagung 2007 - Landesverband donum vitae NRW
Landesverband
Frauen beraten/donum vitae NRW e.V.
Dokumentation zur Fachtagung 2007
„Sexualität zwischen Traum und Albtraum“
Fachtagung am 17.08.2007
des Landesverbandes Frauen beraten/donum vitae NRW e.V.
in der Abtei Königsmünster in Meschede
Ansprache im Wortgottesdienst zu Beginn der Fachtagung
Pater Marian Reke OSB
Inhalt:
Ansprache im
Wortgottesdienst
1
Pater M. Reke OSB
Begrüßung
2
I. Schürholz-Schmidt
„Jugendsexualität
im Wandel“
3
Prof. Dr. J. Pastötter
„Der ganz normale
Schulalltag!“
8
A. Barsch und
O. Schwenner
„Lust– oder Angstmacher am elektronischen Lagerfeuer“
R. Wanielik
11
Resolution
13
Landesverband
Frauen beraten/
donum vitae NRW e.V.
Markmannsgasse 7
50667 Köln
Tel. 0221—
0221—3976910
Fax: 0221—
0221—3976912
E-Maill: [email protected]
[email protected]
www.nrw.donumvitae.org
Es gibt in der Bibel Worte, die wie ein Brennpunkt wirken. Sie sammeln das Licht der Frohen Botschaft zu einem glühenden Kern.
Wenn wir hörend damit in Berührung kommen, spüren wir, dass uns das Herz brennt.
Zu diesen Worten zählt für mich auch die kurze Passage aus dem Römerbrief, die soeben
vorgelesen wurde, vor allem der Schluss: „Die
Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Also ist
die Liebe die Erfüllung des Gesetzes.“ Wenn ich
das höre oder lese, wird mir warm ums Herz.“
Wie oft aber weht uns in solchen Momenten
schon bald ein kalter Hauch an: die ernüchternde Einsicht, dass die Realität doch ganz
anders aussieht. Bei der alltäglichen Regelung des konfliktträchtigen Lebens scheinen
wir nämlich dem einfältigen Ja der Liebe eher
zu misstrauen und setzen dann zur Sicherheit
auf das vielfältige Nein des Gesetzes.
Dabei könnte alles so einfach sein. Wir
brauchten nur die Liebe zu leben, dann wäre
alles gut. Das vielfältige und oft verworren
scheinende Nein des Gesetzes: „Du sollst
nicht..., du sollst nicht..., du sollst nicht...“
sieht Paulus nämlich in dem einfältig klaren
Ja der Liebe aufgehoben, also zugleich überwunden und gewahrt.
Es ist aber anscheinend gar nicht so einfach,
einfach zu sein – einfach zu sein, das heißt
sich lieben zu lassen und zu lieben. Ein uralter
Zwiespalt, der schon die Stammeltern der
Menschheit zum Nein verführte, wie die Bibel
erzählt, reißt auch uns hin und her. Gewollt
und mehr noch ungewollt geraten wir immer
wieder aus der Ja-Spur der Liebe, an die wir
uns halten sollen.
Paulus hat es erfahren und erkannt: Was ich
tun will, nämlich das Gute, tue ich nicht; was
ich aber nicht will, das Böse, das tue ich. So
schreibt er fast verzweifelt im 7. Kapitel des
Römerbriefes. Genau dieser Zwiespalt des
Herzens ließ ihn als Pharisäer an das Gesetz
glauben, an das Nein gegen das Böse, an das
vergebliche Nein, wie er bitter erfahren musste, bis ihm die Einsicht widerfuhr, dass der
Kampf des Herzens längst entschieden, wenn
auch noch nicht zuende ist; bis es ihm wie ein
Licht aufging, dass das Böse allein durch das
Gute, das Nein allein durch das Ja überwunden wird.
Darum ging es im Damaskuserlebnis des Paulus. Wir aber, denen solche überwältigenden
Umkehrerlebnisse zumeist fehlen, wir können
es nach und nach lernen in der mühseligen
Schule des Vertrauens...
Christlicher Glaube ist ein Vertrauen, das sich
auf das verborgene ursprüngliche Gutsein der
Schöpfung bezieht, das aller Bosheit vorausgeht und sie übersteigt. Der Ursegen des göttlichen Ja steht vor der Ursünde des menschlichen Nein und umfängt sie – wie der barmherzige Vater den verlorenen Sohn in seine
Arme schließt. Vertrauen ist aber auch das
schlichte Tun dieser Wahrheit, und das führt
zum Licht, wie das Johannesevangelium verheißt. So könnte es heller werden – in den
Grauzonen des Lebens.
Gütig denken, gütig deuten – das wäre ein
erster Schritt auf dem Weg, die Wahrheit zu
tun, und durchaus keine wirklichkeitsfremde
Gesinnung. Gütig denken, gütig deuten ist
eine Angleichung an die Gesinnung Gottes,
der „in Christus Jesus gütig an uns handelte“,
wie es im Epheserbrief heißt.
Romano Guardini hat gesagt: „Wie oft wird
von der Liebe geredet! Sie fordert dazu heraus, denn sie ist groß und leuchtend. Man
sollte es aber seltener tun; es wäre besser für
sie - dafür öfter von dem sprechen, was unserer harten Zeit so sehr Not tut, nämlich von
der Güte.“
Ein gütiger Mensch ist einer, der es mit dem
Leben gut meint. Von Grund auf. Wo immer
ihm das Leben begegnet, ist seine erste Regung nicht die, dass er misstraut und kritisiert, sondern achtet, gelten lässt, zum Wachsen hilft. Wie sehr bedarf das Leben solcher
Gesinnung – vor allem dieses Menschenleben, das oft so verletzlich ist, so zart wie junges Grün im Frühling. Dass andererseits offensichtliche und heimliche Missstände, die
oft kräftig ins Kraut schießen, gesehen und
deutlich benannt werden müssen, steht außer
Frage und widerspricht der Güte nicht. Gerade
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Hinter dem Missstand die Not
erspüren
Im Scheitern kann
die bedingungslose
und vergebende
Liebe Gottes
spürbar werden.
Dokumentation Fachtagung 2007
in der Präventionsarbeit stoßen Sie, wie ich
höre, auf solche Missstande zuhauf. Dennoch
heißt ein gütiger Mensch sein vor allem: gütig
denken und deuten, also hinter dem Missstand die Not zu erspüren.
Vorhin habe ich einen Satz aus dem Epheserbrief erwähnt: „Dadurch, dass Gott in Christus
Jesus gütig an uns handelte, wollte er den
kommenden Zeiten den überfließenden
Reichtum seiner Gnade zeigen.“ Ganz im Sinn
dieser Aussage hat die orthodoxe Kirche, die
nicht gerade im Verdacht steht, liberalistisch
zu sein, das Prinzip der sogenannten oikonomia entwickelt. Darüber schrieb der katholische Pfarrer Stephan Hippler aus Kapstadt in
der vorletzten Ausgabe der Wochenzeitung „
Die Zeit“ einen bewegendenden Artikel im
Kontext von HIV und Aids, auf den ich mich im
folgenden beziehe.
Das Wort oikonomia kommt aus dem Griechischen und bedeutet Haushaltung, Vorsorge
und beschreibt die Verwirklichung des Mysteriums der göttlichen Liebe, die von Jesus
Christus verkündet und vorgelebt wurde und
in den Handlungen der Kirche fortwirken will.
Dieses Prinzip respektiert die geltenden Regeln der Kirche, aber unter außergewöhnlichen Umständen können sie ausgesetzt werden – nicht, um Präzedenzfälle zu schaffen,
sondern um der Menschen und ihrer Nöte
willen.
In der orthodoxen Kirche wird die oikonomia
zum Beispiel beim Scheitern einer Ehe angewandt: Der Bund fürs Leben ist prinzipiell unauflöslich, kann aber auch zerbrechen. In einer solchen Situation wird nach einer Zeit der
Buße, das bedeutet nach einer Zeit der oft
schmerzlichen Bewältigung und der erneuernden Trauerarbeit, eine weitere Ehe erlaubt. So
wird auch im Scheitern die bedingungslose
und vergebende Liebe Gottes spürbar. Was
aber Gott möglich macht, muss die Kirche in
ihrem Tun nachvollziehen – wenn sie vor den
Menschen das Zeugnis des liebenden Gottes
glaubhaft ablegen will.
Wie beim Schwangerschaftskonflikt geht es
auch bei HIV und Aids um Prävention und eine
ethisch verantwortete Praxis solidarischer Hilfe. Was Stephan Hippler im Blick auf sein unmittelbares Thema schreibt, lässt sich ebenso
auf Not und Segen Ihrer Arbeitsfelder bei
„donum vitae e.V.“ anwenden.
Hier ein Zitat:
„Das Zweite Vatikanische Konzil ruft uns
Christen auf, die Zeichen der Zeit zu erkennen, und HIV/Aids ist ein solches Zeichen. Die
einzige angemessene Antwort der Kirche wäre, die Pandemie nicht mit moralischen Argumenten zu bekämpfen, sondern die infizierten
Menschen mit Gottes bedingungsloser Liebe
zu umfangen, mit einer Liebe, die nicht nur
die Kranken umsorgt, sondern offen ist für
alle menschlichen Realitäten. Und die aufhört,
betroffene Menschen zu verurteilen. Die Theologen und Bischöfe sollten diesen Weg ehrlich
und ernsthaft diskutieren, und zwar schnell,
denn unsere Brüder und Schwestern sterben,
und wir laufen Gefahr, uns an ihnen zu versündigen. Es darf einfach nicht sein, dass die
Kirchendisziplin höher steht als das Recht auf
Leben!“
So wie die Güte eine Alltagsgestalt der Liebe
ist, kann man Achtsamkeit – das Stichwort
dieses Gottesdienstes – eine Alltagsgestalt
der oikonomia nennen.
Durch Achtsamkeit wächst die Achtung in der
Welt, also die Wertschätzung zwischen den
Menschen und die Wertschätzung der Dinge.
Die einfachste Weise, jemand oder etwas zu
achten, ist die achtsame Wahrnehmung dessen, was ist. „Es ist, was es ist, sagt die Liebe.“
Achtsamkeit hat noch einen weiteren herausfordernden und zugleich ermutigenden Aspekt. Im jüdischen Talmud ist er treffend formuliert – als Orientierungshilfe im oft verwirrenden Spiel des Lebens, an die wir uns selber halten, die wir aber auch anderen an die
Hand geben können.
„Achte auf deine Gedanken, denn sie werden
Worte.
Achte auf deine Worte, denn sie werden
Handlungen.
Achte auf deine Handlungen, denn sie werden
Gewohnheiten.
Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter.
Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein
Schicksal.“
Könnten diese fünf Sätze vielleicht so etwas
wie ein Basistext in der Präventionsarbeit
sein?
Pater Marian Reke OSB,
Abtei Königsmünster Meschede
Begrüßung
Ingrid SchürholzSchürholz-Schmidt
Sie bieten uns
Heimat in unserer
Kirche.
Guten Morgen, meine Damen und Herren. Im
Namen des Landesverbandes begrüße ich Sie
alle sehr herzlich.
Ich freue mich sehr, dass so viele Beraterinnen und Berater, Verwaltungskräfte, Vorstände und Freunde von DV unserer Einladung
gefolgt sind.
Besonders freue ich mich, dass wir auch in
diesem Jahr wieder hier in der Abtei Königs-
münster tagen dürfen. Wir bedanken uns bei
den Brüdern und Patres, insbesondere bei Abt
Dominikus und Prior Marian für die Gastfreundschaft und die liebevolle und großzügige
Versorgung. Sie bieten uns nicht nur heute
Heimat in unserer Kirche, sondern auch Sicherheit und Reflexion in allen menschlichen und
ethischen Fragen, die unsere Aufgaben betreffen. In diesem Sinne war auch die Andacht ein
sehr bewusster Einstieg in den heutigen Tag.
Dokumentation Fachtagung 2007
Die diesjährige Jahrestagung widmet sich
dem Thema Präventionsarbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, einem brisanten Thema, das unsere Gesellschaft und damit unsere Beratungs- und Sexualpräventionsarbeit zunehmend beeinflusst.
Im letzten Präventionsarbeitskreis unserer
Beraterinnen wurde deutlich, mit welchem
Konfliktpotential unsere Beraterinnen in der
Präventionsarbeit an Schulen und Jugendeinrichtungen konfrontiert werden. Auf dem
Schulhof werden nicht mehr Fußballbilder,
sondern Pornofilme getauscht. Wie tiefgreifend die Veränderungen der Lebenswelt unserer Jugend durch Handy und Internet sind,
kann noch niemand absehen. Auch ist die
zunehmende Gewaltbereitschaft im Zusammenhang mit Sexualität ein ernstzunehmendes gesamtgesellschaftliches Problem, das
unsere Positionierung nach innen und außen
einfordert.
Es sind dies Probleme, die uns in unserem
Engagement für donum vitae als Vorstände,
Berater/-innen, Verwaltungskräfte und Förderer betreffen, aber zugleich auch ganz persönlich als Eltern, Großeltern und Verwandte heranwachsender Kinder. Wir stehen in der Verantwortung, kompetente und situationsgerechte Angebote zu vermitteln, die unserem
christlichen Leitbild entsprechen.
Dieses Leitbild haben wir alle gemeinsam auf
der letzten Jahrestagung auf den Weg gebracht und ich freue mich, dass es heute im
Anschluss an die Fachtagung von der Mitgliederversammlung verabschiedet werden kann.
Ich bedanke mich an dieser Stelle noch einmal für die vielen konstruktiven Beiträge aus
den Ortsvereinen, die uns nach der letzt jährigen Tagung erreicht haben. Sie dokumentierten die intensive Auseinandersetzung und
hohe Identifikation mit dem Leitbildprozess.
Seite 3
Die Anregungen sind in die Endredakion
durch unseren Profilausschuss zusammen mit
dem Journalisten und Theologen J. Frank,
dem Referenten der letzten Jahrestagung,
eingeflossen. Herr Frank hat mich ausdrücklich gebeten, an dieser Stelle noch einmal
seinen hohen Respekt vor dieser unserer gesamt verbandlichen Leistung zum Ausdruck
zu bringen. Ein gutes, tragfähiges Leitbild ist
gelungen. Das verdient, meine ich, einen besonderen Beifall.
Damit wir auch zum heutigen herausfordernden Thema einen breiten und Leitbild gerechten Konsens finden können, haben wir herausragende Fachleute zu uns eingeladen. Ich
begrüße Herrn Professor Dr. Jakob Pastötter,
der aus der Sicht des erfahrenen Sexualwissenschaftlers zu uns sprechen wird. Schön
dass Sie den weiten Weg aus Bayern nicht
gescheut haben. Ich begrüße Herrn Reiner
Waniliek, der seine Erfahrungen als Sozialpädagoge und Ausbilder am Institut für Sozialpädagogik in Dortmund einbringen wird. Besonders freue ich mich auch mit Frau Anja
Bartsch, Präventionsmitarbeiterin bei donum
vitae in Köln und Herrn Oliver Schwenner,
Mitarbeiter der BZgA aber zugleich Präventionsmitarbeiter bei DV Köln, Fachleute aus
dem eigenen Verband begrüßen zu können.
Last but not least begrüße ich Herrn Weitz,
der diesen Tag moderieren wird. Er tut dies
als Mitglied und Sponsor von DV, aber vor
allem aus seiner großen Fachlichkeit als Leiter eines Kommunikationsinstituts. Lieber
Herr Weitz. Wir kennen und schätzen ihre Moderation von verschiedenen Bundesverbandstagungen und so übergebe ich Ihnen nun gerne das Wort.
Veränderung der
Lebenswelt der
Jugendlichen durch
Handy und Internet
Ein tragfähiges
Leitbild ist gelungen.
Ingrid Schürholz-Schmidt
-Vorsitzende-
Jugendsexualität im Wandel
Beobachtungen, Erklärungen, Lösungsansätze
Prof. Dr. Jakob Pastötter
Einleitung
„Jugendsexualität im Wandel“, das ist das
Thema meines Referats. Sie wissen, dass es
heute vor allem um einen Einfluss geht, der
erst seit sehr kurzer Zeit öffentliches bzw. vor
allem veröffentlichtes Interesse hervorgerufen
hat: den Einfluss von Pornographie.
Noch vor drei Jahren leugnete etwa die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung,
bzw. die drei (!) Mitarbeiter, die den Themenschwerpunkt Sexualität bearbeiten und leider
auch der bayerische Landesverband von Donum Vitae schlicht das Vorhandensein eines
Problems. Sie teilten die Auffassung des
selbsternannten Sexualrevolutionärs Günter
Amendt, dass Porno nur was für alte Männer
sei. Teenager tun so was nicht.
Dabei war es schon vor 30 Jahren so: Jugend-
liche klärten sich nicht mit der „Sex Front“
oder dem „Sex Buch“ von Herrn Amendt, sondern mit Pornofilmen auf – auch, weil die ohne Ideologie [pseudomarxisitsche Sexualheilslehren, die aus der Mottenkiste von Wilhelm
Reich und Herbert Marcuse] auskamen. Es ist
schon erstaunlich, was manche Erwachsene
glauben, dass es Jugendliche interessiert bzw.
interessieren muss, nur damit ihre eigene
Weltanschauung bestätigt wird.
Als 1975 das generelle Pornographieverbot
fiel und zeitgleich Betamax und VHS begannen, um die Kaufkraft der Konsumenten zu
konkurrieren, war es jedenfalls vorbei mit den
neugierigen Blicken in Wäschekataloge. Kein
hastiges Blättern nach „Stellen“ in der Bibliothek der Eltern – lesen Sie einmal wieder mit
roten Ohren Leviticus Kapitel 18 - und die
freudige Erregung über Spiegel und Stern mit
Zunehmende Gewalt im Zusammenhang mit Sexualität
Jugendliche
klären sich mit
Pornofilmen auf.
Seite 4
Der nahtlose Übergang vom Doktorspiel zum TeenagerKuschelsex ist aufgebrochen.
Gang bang und
Cum Shot sind die
coolen Schockerwörter von heute.
wissenschaftlicher
Einfluss von
Pornographie
Erwachsene
haben einfach
weggeschaut.
Dokumentation Fachtagung 2007
ihrem „einmal pro Woche muss mindestens
auch eine Nackte drinnen sein“-Konzept.
Weder Eltern noch Mediziner noch Sozialarbeiter nahmen diese Entwicklung zur Kenntnis, hielten und halten bis heute lieber am
Mythos vom nahtlosen Übergang vom Doktorspiel zum Teenager-Kuschelsex fest. Jugendsexualität schien sich für sie geglückt aus sich
selbst heraus zu entwickeln – Der Film, die „
Blaue Lagune“ sprach genau deshalb so viele
Erwachsene an. Und bestätigten uns das
nicht auch die (allerdings wenig repräsentativen) Umfragen unter Jugendlichen? Aber davon das Problem ist also nicht neu. Teenager
wussten sich schon immer zu helfen, wenn
pubertäre Wünsche vom Schweigen der Erwachsenen begleitet wurden. Aber zwei Dinge
haben sich verändert: zunächst das Schweigen. Das ist erst beim zweiten Hinhören wiederzuerkennen. Heute erscheint das Tabu
Sexualität nämlich nicht mehr als still und
verklemmt, heute wird geschwätzt. Ausgesagt
wird so wenig wie damals, aber die Quantität
hat exorbitante Ausmaße erreicht. Und die
Kinder und Jugendlichen reagieren darauf,
setzen mit ihrem neu erworbenen Porno- und
Rap-Wissen noch eins drauf: Gang Bang und
Cum Shot sind die coolen Schockerwörter von
heute.
Und die zweite Variable, die sich geändert hat:
Die technische Verfügbarkeit von Pornographie hat ein nie für möglich gehaltenes Ausmaß angenommen. War der Videorekorder
schon ein Quantensprung, sind wir heute aufgrund Internet und Handy rund um die Uhr
und an jedem möglichen Ort Pornographie
ausgesetzt. Und hier im Kloster darf man es ja
vielleicht sagen: Es hat schon etwas Apokalyptisches an sich.
Sehen wir uns zunächst die wirtschaftliche
Seite des Einflusses von Pornographie auf
den Wandel der Jugendsexualität an:
I. Beobachtungen:
1. Das Porno-Universum expandiert:
Statistiken 1-6
2. Stapelweise Jugendstudien zur Sexualität
und Aufklärungsbroschüren, trotzdem weiter
großes Rätselraten.
Die Jugendsexualität hat sich gewandelt. Hat
sie sich gewandelt? Diese Frage ließe sich
eigentlich nur beantworten, wenn es mindestens zwei vergleichbare Studien gäbe: Damals – heute. Aber die gibt es nicht. Vor dreißig Jahren war Pornographie schlicht noch
kein Thema. D.h., unter Jugendlichen war sie
sehr wohl ein Thema, aber die Erwachsenen
haben damals einfach weggeschaut.
Aber gibt es heute nicht Studien, die uns einen Einblick verschaffen, in das, was Jugendliche sehen und hören? Erst im letzten halben
Jahr sind doch gleich drei Studien veröffentlicht
worden:
- Generation P? - Et kvantitativt studie af
nordiske unges forhold til pornografi
Anette Dina Sørensen og Vigdis Saga Kjørholt
- Pornography and sex among adolescents in
Iceland, Guethbjörg Hildur Kolbeins
- Pornographie und neue Medien. Eine Studie
zum Umgang Jugendlicher mit sexuellen Inhalten im Internet, Christine Altstötter-Gleich
für Pro Familia Rheinland-Pfalz
Bevor sie sich jetzt ans Internet setzen, in der
Hoffnung, endlich Antwort auf ihre Fragen zu
erhalten, muss ich sie leider schon wieder
enttäuschen. Es handelt sich nicht um Studien, die etwas mit der Realität von Kindern
und Jugendlichen zu tun haben. Sie beziehen
sich auf Tausende ausgewertete Fragebögen
und behaupten „verlässliche Aussagen machen zu können“, kommen aber dann zu Ergebnissen, die so unterkomplex wie generalisierend sind. Im Fazit der Pro-Familia-Studie
steht, dass die Jugendlichen „doch recht auskunftsfreudig“ gewesen seien und „relativ
große Offenheit“ gezeigt hätten. Die Erkenntnisse sind vorsichtig und bescheiden formuliert: , „könnte es sein“, „möglicherweise“, „legt
die Vermutung nah“, „ist unter Umständen zu
erwarten“ – all dies schwächt den angeblich „
verlässlichen Einblick in den Umgang dieser
Gruppe mit der Thematik und dem Medium“ ab.
Tatsächlich werden die Defizite dieser Studien
auch von den Durchführenden ziemlich
deutlich ausgeprochen, allerdings etwas
verschämt in den letzten Sätzen:
“So bleibt zum Beispiel ungeklärt, welchen
Motiven Kinder und Jugendliche folgen, wenn
sie sexuelle Inhalte im Internet aufsuchen.
Von Interesse wären auch Aspekte wie zum
Beispiel die Frage, wie sich der Konsum sexueller Inhalte auf die Entwicklung der eigenen
Sexualität und den Umgang mit ihr auswirkt.
Fragen wie diese hätten den zeitlichen Rahmen der hier vorgestellten Untersuchung jedoch gesprengt und eine Erweiterung des Fragebogens hätte viele Kinder und Jugendliche
überfordert, was zu kaum mehr verlässlichen
Informationen geführt hätte.“
Um es anders zu formulieren: Quantitative
Studien erklären nicht, was Kinder und Jugendliche bewegt und wie sie selbst, die sich
in einem Veränderungsprozess befinden, auf
eine sich ständig verändernde Umwelt reagieren.
Und noch ein Wort zu den Umfragemethoden:
Jugendliche zu befragen, erfordert ein besonderes Maß an Sensibilität. Unabhängig vom
Thema steht jeder Forscher/in in der Pflicht,
über seine Rolle zu reflektieren, objektiv zu
sein, keinerlei Druck oder Einfluss auf die zu
Befragenden auszuüben. Leider sprechen die
genannten Studien aber ethische und moralische Aspekte überhaupt nicht an.
Ich sehe dagegen, dass wir ein Problem mit
Pornographie haben, weil ihre mediale Allzeitverfügbarkeit für alle und jeden und deshalb
auch für Kinder und Jugendliche auf ein soziales Experiment hinausläuft, dessen Ergebnisse jetzt schon prognostiziert werden können:
Die Simplifizierung der Verschränkung von
sozialer und sexueller Interaktion zu einer
Dokumentation Fachtagung 2007
reinen Kicksexualität, die mehr der Konsumierbarkeit eines Schokoriegels gleicht als
der Entdeckungsreise, die sie für uns Menschen sein könnte, stellt eine große Herausforderung dar.
Pornographie dreht das Verhältnis von Gelegenheit und Aktion um, die Gelegenheit zum
Sex ist immer günstig, gleichsam strukturell in
der Erzählung verankert. Es genügt, einfach
nichts dagegen zu haben. Dass das nichts mit
unserem Alltag zu tun hat, ist offensichtlich,
aber es hat noch nicht einmal etwas mit Sexualität zu tun, wie männliche MöchtegernPornodarsteller immer wieder aufs Neue erleben: Selbst wo es uneingeschränkte Wahlfreiheit gibt, verweigert sich dann eben die körperliche Ausführungskraft: Von hundert ohne
Frage hoch motivierten männlichen Bewerbern für pornographische Filme kann oft nicht
ein einziger vor laufender Kamera Performanz
bringen, wie eine US-Kollegin in ihrer Studie
schreibt.
Warum führt Pornographie in unserer Gesellschaft ein so, wie ich es nenne, „omnipräsentes Schattendasein“?
Seite 5
II. Erklärungen dazu:
1. Desolate Wissenschaftslandschaft
Wir haben gesehen, dass Pornographie einen
bemerkenswerten Zuwachs erfahren hat. Daher sollte man meinen, dass es eine Fülle von
wissenschaftlichen Untersuchungen gibt. Die
gibt es aber nicht. Sie gibt es nicht, weil es
keine Wissenschaft gibt, die sich damit auseinandersetzt. Oder wie man es von Kollegen
immer wieder hört: „Wer an der Uni etwas
werden will, der tut so etwas nicht.“ Alles was
es gibt, sind Einzelstudien von unterschiedlichen Fachdisziplinen. Weshalb haben wir in
Deutschland aber keine universitäre oder wenigstens institutionelle Sexualwissenschaft?
[Sexualwissenschaft wurde bereits vor der
Wende zum 20. Jahrhundert weltweit zuerst
in Deutschland als eigenständige Wissenschaftsdisziplin begründet: Namen wie Magnus Hirschfeld, Iwan Bloch, Albert Moll, Max
Marcuse und Helene Stöcker stehen für eine
Entwicklung, die zu den ersten Weltkongressen und der Gründung eines sexualwissenschaftlichen Institutes in Berlin bereits im Jahr
1919 geführt hatten. 1933 wurde diese Einrichtung jedoch geschlossen, die umfassende
Bibliothek zerstört, Wissenschaftler in die Emigration getrieben.
schung“ der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums HamburgEppendorf von Hans Bürger-Prinz neu institutionalisiert (seit 2002 „Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie“, weil
man sich von der sozialwissenschaftlichen
Forschung wieder trennte). 1973 erfolgte die
Gründung des „Instituts für Sexualwissenschaft“ des Klinikums der Johann Wolfgang
Goethe-Universität Frankfurt/M. Schwerpunkt
beider Einrichtungen war die medizinischpsychiatrisch orientierte Sexualpathologie. Die
Vergangenheitsform wurde gewählt, weil auch
Frankfurt seit letztem Jahr abgewickelt wurde.
An der Universität Koblenz-Landau gab es seit
den 80er Jahren eine sexualpädagogische
Forschungsstelle, die der empirischen Jugendforschung verpflichtet war, die allerdings mit
Emeritierung des Leiters Norbert Kluge 2002
wieder geschlossen wurde.
Die „Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung“ (BZgA) hat 1992 das Referat für Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung eingerichtet und gibt entsprechende
Expertisen an Wissenschaftler verwandter
Fachdisziplinen in Auftrag. Diese werden in
einer eigenen Schriftenreihe veröffentlicht, zu
der auch Aufklärungsbroschüren gehören.
Seit dem Wintersemester 2001/02 wird an
der Fachhochschule Merseburg ein in
Deutschland einmaliges viersemestriges Postgradualstudium zur Sexualpädagogik und Familienplanung angeboten. Aber auch findet
keine wissenschaftliche Forschung und Auseinandersetzung mit den sexualwissenschaftlichen Arbeiten im internationalen Rahmen
statt. An den Universitäten Berlin und Kiel gibt
es kleine Fachbereiche, die sich mit Fragestellungen aus sexualmedizinischer Perspektive
beschäftigen.
In der Konsequenz erreichen Sexualwissenschaft und Sexualpädagogik in Deutschland
nicht international etablierten, empirischanalytischen Standard. Dazu trägt bei, dass
auch sexualpädagogische Beratungseinrichtungen - wie „Pro Familia“ oder das 1988 gegründete „Institut für Sexualpädagogik“ (ISP)
in Dortmund - die internationale Fachliteratur
nur sporadisch zur Kenntnis nehmen. Aber
dazu kann der Herr Kollege Reiner Wanielik
vielleicht noch etwas mehr sagen.
Zu diesen universität-strukturellen Problemen
kommt noch ein normatives, wertbezogenes
Problem:
Im öffentlichen Bewusstsein gibt es Sexualwissenschaft daher erst seit der Veröffentlichung der sog. „Kinsey-Reports“ durch den
amerikanischen Biologen Alfred Kinsey in den
40er und 50er Jahren. Grundlage bildeten
Tiefeninterviews mit mehr als 10.000 amerikanischen Männern und Frauen, durch die die
Kenntnisse über das reale Sexualverhalten
des Menschen zum ersten Mal auf eine wissenschaftlich-empirische Basis gestellt werden konnten.
In Deutschland wurde die Disziplin dagegen
erst 1959 mit dem „Institut für Sexualfor-
2. Kindheit und Jugend interessiert nicht wirklich
Das ist meine Erfahrung als Erzieher von 11
bis 17-jährigen Gymnasiasten und Mitglied in
verschiedenen Vereinen. Kinder und Jugendliche scheinen in unserer Gesellschaft überspitzt formuliert: für Erwachsene ausschließlich zu interessieren, um sich in Ihnen zu reflektieren oder um mit Ihnen zu konkurrieren.
Selbst die erziehungswissenschaftliche Verhaltenforschung interessiert sich – wenn der
Kalauer erlaubt ist – nur außerordentlich ver-
Pornographie
erfährt einen
bemerkenswerten
Zuwachs.
Sexualwissenschaft
und Sexualpädagogik erreichen nicht
international etablierten Standard in
Deutschland.
Kindheit und Jugend
interessiert nicht
wirklich.
Seite 6
Der Erwachsene hat
die Verpflichtung,
Kindern und Jugendlichen das Irreale
und Problematische
zu erklären.
Dokumentation Fachtagung 2007
halten für alles, was nach der Kindergartenzeit passiert.
Ich will hier nur für diese Dinge sensibilisieren, denn hier scheint mir eine wichtige Voraussetzung für den Umgang mit Jugendlichen,
die Pornographie konsumieren, verborgen zu
liegen.
Zunächst aber zu den Argumenten, weshalb
es alles andere als gleichgültig ist, ob sich
Kinder und Jugendliche mit Pornographie konfrontiert sehen.
III. Lösungen:
1. Verantwortung akzeptieren, oder: ohne Interesse geht es nicht.
Slides
(1) Wie „wirkt“ Pornographie, aber: Es gilt im
Einzelnen festzustellen, „was“ Kinder und
Jugendliche „warum“ sehen.
Pornographie hat
mit Macht zu tun.
Über Menschenbild
und sexualitätsbezogene Wertvorstellungen von Mitbürgern aus anderen Kulturkreisen
informieren
(2) Auch Pornographie ist ein zu interpretierender Text, aber: der Erwachsene hat die
Verpflichtung, Kindern und Jugendlichen das
Irreale und Problematische zu erklären, anstatt sich darauf zurückzuziehen, wie wir es
immer wieder hören: „Das ist doch nur Sex,
das ist doch ganz natürlich.“
(3) Sexualität (im Porno) hat viel mit Macht zu
tun, und es hilft nichts, das vor Kindern und
Jugendlichen zu verschleiern.
(4) Pornographie negative Emotionen - auch
das muss in der Sexualaufklärung angesprochen werden.
(5) Pornographie zeigt Fetischsexualität, aber:
Das eigentlich spannende bei einer Beziehung ist die Beziehung. Der Sex ist – und das
ist Ihnen ohne Frage bewusst – eigentlich
sekundär.
Statistik 2
Gesamtumsatz von
Pornofilmen in
Milliarden US $
Quelle:
Adult Entertainment
Guide, 2006
Zum Vergleich:
In Deutschland
wurden 2003
mit Pornofilmen knapp
450 Millionen Euro
(615 Millionen $)
umgesetzt.
Quelle: GÜFA
2. Wissenschaft reflektiert Sexualität
Worin könnte nun der Lösungsbeitrag von
Wissenschaft und Praktikern liegen? Im einzelnen müssen wir:
1) eine Standortbestimmung heutiger Sexualität durch die Einordnung in ihre soziohistorische Entwicklung vornehmen;
2) neben biologischen Grundlagen die ethischen, psychologischen und soziologischen Grundlagen des menschlichen Sexualverhaltens vermitteln;
3) das bis heute fortwirkende Phänomen der
sog. Sexuellen Revolution untersuchen
und besonders ihre bald erfolgte Kommerzialisierung kritisch hinterfragen;
4) das von BZgA, der Industrie und auch Beratungsinstitutionen publizierte Aufklärungsmaterial einer kritischen Überprüfung unterziehen und in die weiterführende internationale sexualwissenschaftliche
Literatur einführen;
5) den kritischen Umgang mit den in den
Massenmedien vermittelten sexualitätsbezogenen Themen unterstützen und entsprechende Analysemethoden vorstellen;
6) sowie über Menschenbild und sexualitätsbezogene Wertvorstellungen von Mitbürgern
aus anderen Kulturkreisen informieren.
Sie sehen: Es gibt großen Handlungsbedarf.
Vielleicht erreichen wir aber mit der Diskussion
um Pornographie und des Wandel der Sexualität immerhin, dass beides ernst genommen
wird: Die Allgegenwart und Einflussnahme der
Medien generell kritischer zu hinterfragen – und
Kinder und Jugendliche in ihrem Anspruch
wahrzunehmen, dass ihnen von uns die Welt
erklärt wird, um sie für begreifbar zu machen.
Prof. Dr. Jakob Pastötter,
Sexualwissenschaftler
Gesamtumsatz in Milliarden $
Dokumentation Fachtagung 2007
Seite 7
Ausleihe nach Geschlecht
Women with
Womenless than
1%
Ausleihe von
Pornofilmen nach
Geschlecht (USA)
Men with Men
7%
Women Alone
2%
Women with Men
19%
Men Alone
71%
Primäre Sexuelle W irkungsweisen von Pornographie
1. Identifikation
Aktion ist eine W iederspiegelung der Sexualität des Konsum enten.
2. Phantasie Funktion
Erzeugt einen ”halluzinatorischen Effekt" oder ”akustischen W all”: Diese bewirken
Fiktion von Anwesenheit des Konsum enten in "phantasm atischer" Handlung.
3. Erregungsfunktion
Psychologische und neurologische Veränderungen finden statt.
Primäre sexuelle
Wirkungsweisen
von Pornographie
Sekundäre Sexuelle W irkungsweisen
1. Entlastungsfunktion
Durch das Betrachten erwünschter/unerwünschter Aktionen.
2. “Lernfunktion”
W ie machen “es” andere.
3. Unterhaltungsfunktion
Schaulust am Bizarren,
Hässlichen etc.
Akrobatischen,
Noch-nie-Gesehenem ,
Schönen,
Persönlichkeitsbezogene Faktoren
Persönlichkeitsbezogene Faktoren
Was führt beim einzelnen dazu, Pornographie zur sexuellen Stimulierung
zu konsumieren?
Weil sie so wirkt, wie sie wirkt: auf vielen verschiedenen Ebenenen
(siehe vorhergende Slide).
Als wichtige Voraussetzung: Eine Einübung in die audiovisuellen
Mechanismen von Pornographie (wie sie etwa durch Musikclips erfolgt)
muss vorhanden sein.
Der Wunsch muss bestehen, die Realität zugunsten einer Phantasiewelt hinter
sich zu lassen.
Aus der Perspektive des Pä
Pädagogen:
Die mangelnde Interpretationsfähigkeit bei gleichzeitiger
elementarer Stimulierung machen es Kindern und
Jugendlichen unmöglich, die Fiktionalität als solcheund
das dahinterstehende Wertesystem wahrzunehmen, zu
analysieren und einzuordnen.
Aus der Perspektive
der Pädagogen
Seite 8
Wertesysteme der
Pornogrphie
Dokumentation Fachtagung 2007
D as W ertesystem der P ornographie 1:
D a s is t d ie p h a n ta sie rte M a c h t d e r M ä n n e r:
M ä n n e r b e w irke n , d a ss F ra u e n vo r
G e fü g ig ke it u n d L u st stö h n e n .
D as W ertesy
stem dder
er P ornog
raph ie 2:
ertesystem
ornographie
D a s ist d ie p h a n ta sie rte M a ch t d e r F ra u e n :
M ä n n er un te rlie g en de r un w id e rsteh lich e n
A n zie hu n g sk ra ft d er F rau , o b s ie w o lle n
o de r nic ht.
Das Wertesystem der Pornographie 3:
Pornographie steckt voller negativer Emotionen:
Feindseligkeiten, Demütigungen, Rachegelüsten; sie
inszeniert Unterwerfung und Beherrschung sowie
Kampf um die Kontrolle.
Aber: Gegen wen sich die Gewalt auch richtet, sie wird immer
durch die Lust des Opfers geleugnet.
Das Wertesystem der Pornographie 4:
Enthumanisierende Reduktion: Körperöffnungen sind das
Substitut für Frauen, Penisse das Substitut für Männer.
Damit wird Sexualität zur reinen Fetischsexualität.
Denn: Der Wunsch von Jugendlichen, die gerade entdecken, wie
kompliziert die Welt und die zwischenmenschlichen Beziehungen
sind, ist: Sexualität “ganz einfach” haben zu können, ohne das
anstrengende Drumherum von Beziehung.
Dokumentation Fachtagung 2007
Seite 9
Der ganz normale Schulalltag!?
Anja Barsch und Oliver Schwenner
Einleitung zum Thema und Film (Anja Barsch)
Zu Beginn möchte ich Ihnen gerne meinen
Eindruck der Entwicklung in der sexualpädagogischen und präventiven Arbeit in Köln näher erläutern:
Wir arbeiten seit vielen Jahren mit allen Schulformen, von der Berufsschule, über Gymnasium und Realschule bis hin zu Gesamtschule,
Hauptschule und auch Förderschule. Unser
Schwerpunkt sind die Jahrgangsstufen 7 bis
9, und unsere Schüler / die Jugendlichen sind
zwischen 12 und 15/16 Jahren alt. Wir arbeiten sowohl gemischt- als auch getrenntgeschlechtlich, in der Regel im Rahmen eines
Projekttages; entweder in der Schule vor Ort
oder aber extern.
In Köln-Vingst z.B., einem Stadtteil mit schwacher sozialer Struktur und hohem (Ausländer-)
Anteil an Mitbürgern mit Migrationhintergrund, sind wir in enger Kooperation mit der
ortsansässigen Gemeinde und können dort
die Räumlichkeiten für die umliegenden Schulen nutzen. Dadurch können wir mit den Schülern in einem persönlicheren Rahmen, außerhalb des schulischen Umfeldes, in einer vertrauensvollen (und intimen) Atmosphäre arbeiten. Dies unterstützt den Bildungsprozess
für das notwendige Vertrauen und Empathie,
wodurch den Schülern der Einstieg in die sehr
persönliche Thematik „Liebe, Freundschaft
und Sexualität“ erleichtert wird/werden soll.
Unser Eindruck/unsere Erfahrung der letzten
Jahre ist, dass die Schüler zwar in der Schule
im Biologieunterricht über die Anatomie und
Physiologie (biologischen Abläufe) der
menschlichen Sexualität und Fruchtbarkeit,
sowie über Verhütung unterrichtet werden,
aber trotzdem die Wissenslücken und Unsicherheiten bei den Jugendlichen meistens
erschreckend groß sind. Die Schüler beziehen
das vermittelte Wissen nicht auf sich persönlich und ihren eigenen Körper. Für sie bleibt
es oft ein abstrakter Ablauf/Prozess an der
Schultafel, der allenfalls für den Bio-Test gelernt, aber danach genauso schnell wieder
vergessen wird. Zwar fühlen sich die meisten
Jugendlichen aufgeklärt (77% der Mädchen /
72% der Jungen, BzgA-Studie 2006), bei näherem Nachfragen zeigt sich aber die große
Unsicherheit und das „Halbwissen“, welches
unter Gleichaltrigen - in der Peergroup – oder
im Internet oder Jugendzeitschriften versucht
wird, zu kompensieren.
Jetzt kommt seit einigen Jahren eine (gleichzeitig) zunehmende emotionale Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft bei den Jugendlichen hinzu.
Möglicherweise fehlt den Jugendlichen, sowohl durch fehlende positive Vorbilder, als
auch auf Grund mangelnder Ansprache und
Begleitung im Elternhaus und näheren Umfeld, die Orientierung.
Sie haben enorme Schwierigkeiten in dieser
Umbruchphase, die die Pubertät für sie bedeutet, ihre Gefühle und Bedürfnisse zu benennen und zu reflektieren. Wir erleben zunehmend Konflikte und Gewalt in Form von
verbalen und körperlichen Übergriffen. Hinzu
kommt die immer größere Flut von Sexualität
jeglicher Form in Presse und Medien: Sei es in
der Werbung, in den Jugendzeitschriften oder
im Internet und auf Foto-Handys.
(Übersättigung durch sexualisierten Alltag!)
Die Grenzen verschwimmen und Scham und
Respekt treten zunehmend in den Hintergrund. Durch Pornos und Songtexte von populären Rappern, wie Sido und Bushido, wird ein
menschenverachtendes und frauenfeindliches Bild vermittelt, was das reale Leben und
Erleben von Liebe, Partnerschaft und einer
respektvollen und verantwortungsvollen Sexualität total verzerrt und ausblendet.
Um Ihnen einen kurzen Einblick in die Welt
der Jugendlichen, mit denen wir (in Köln) sexualpädagogisch arbeiten, geben zu können,
möchten wir Ihnen Ausschnitte aus einem
Film zeigen, der am 2. Mai 2007 um 22:00
Uhr im WDR bei Frau TV lief. Wir haben im
Vorfeld die Erlaubnis der Redaktion dieser
Sendung beim WDR eingeholt, um Ihnen im
Rahmen dieser Veranstaltung / Fachtagung
diesen Film zeigen zu dürfen. Wir laden Sie
nun ein, sich einzulassen auf eine brisante
Thematik, mit der wir in unserem Arbeitsalltag
zunehmend konfrontiert sind.
(Hinweis: Den Film bitte durchaus kritisch ansehen und die Färbung wahrnehmen und berücksichtigen)
Film
Auszug aus der Reportage „sexuelle Verrohung“ innerhalb der Sendung FrauTV, gesendet am 02. Mai 2007 im WDR (Video - Podcast unter: http://www.wdr.de/tv/frautv/
archiv2007/archiv2007.phtml)
Film +Jungenthematik (Oliver Schwenner)
Hintergrund zum Film: Der Film vermischt auf
unkritische Weise die Aspekte soziale Brennpunkte, Jugendclique, Mediennutzung, Sexualität, Pornografie, Gewalt, jugendliche Sexualstraftäter zu einer gefährlichen Gemengelage an deren Ende die Gleichung „Pornografie
= Sexualstraftäter“ herauskommt.
Sicherlich hat jeder der einzelnen Aspekte
seine Berechtigung auf einen kritischen Dialog. Dieser findet aber in der Reportage nicht
statt. Wir haben einen Auszug aus dem sozialen Brennpunkt gewählt, weil dieser u.a. die
Zielgruppe von Jugendlichen beschreibt und
ihren Sprach- und Verhaltenskodex wiedergibt, mit dem wir in der praktischen Arbeit
umgehen. Die gezeigte Handypornografie betrifft im Übrigen das gesamte Schulsystem
und ist kein Alleinstellungsmerkmal für soziale Brennpunkte.
Flut von Sexualität in
Presse und Medien
Scham und Respekt
treten in den Hintergrund.
Schüler beziehen das
vermittelte Wissen
nicht auf sich persönlich und ihren
eigenen Körper.
Zunehmende emotionale Verwahrlosung
Fehlende positive
Vorbilder und mangelnde Aussprache
aus dem Elternhaus
Handypornographie
betrifft das gesamte
Schulsystem und ist
kein Alleinstellungsmerkmal für soziale
Brennpunkte.
Seite 10
Dokumentation Fachtagung 2007
Was sehen wir in diesem Film?
Weibliches Geschlecht;
Degradierung zu
Lustobjekt
Jungengruppen übertrumpfen sich mit
„machohaftem“ Verhalten = gleich Macht
in der Gruppe.
Bei pornographischen
Handyfilmen kann der
Einzelne sich nur
schwer entziehen.
Gruppendruck und
Neugier
Starke Verunsicherung
Schwierigkeiten mit
der eigenen Körperwahrnehmung
Sexualpädagogische
Arbeit mit männlichen Mitarbeitern
ist äußerst sinnvoll.
Jedenfalls kein differenziertes Bild der Jungenrolle. Dargestellt wird eine Jungenclique
ohne Grenzen!? Mit mangelndem Schamgefühl, einer deutlichen Abwertung des weiblichen Geschlechts verbunden mit der Degradierung zum sexuellen Lustobjekt. Respektlosigkeit vor dem Menschen in seiner Gesamtheit ist sichtbar. Ein sich produzieren und
explorieren vor den anderen Cliquenmitgliedern.
Was zeigt die Praxisarbeit?
Viele Jungengruppen zeichnen sich dadurch
aus, dass sich ihre Mitglieder durch „
machohaftes“ Verhalten übertrumpfen wollen, was zu einer Potenzierung der Grundstimmung führen kann, nicht muss. Gerade
das Thema Sexualaufklärung, Liebe und Partnerschaft ist hierfür wie geschaffen, denn wer
hier „kompetent und potent“ erscheint, verfügt auch häufig über die größte Position/
Macht in der Gruppe. Sexualität und sexuelles Handeln suggeriert „Kompetenz“, um einen möglichen Vorsprung vor den Mädchen
zu sichern?! Sexuell übergriffiges Verhalten
wird als Macht und „Potenz“ interpretiert.
Sowohl die Jugendlichen im Film, wie auch in
der Praxis zeigen ein gegenseitiges verbales
und körperliches Anmachen, um dem Druck
standzuhalten und in der Gruppe das „
Gesicht zu wahren“. Hinzu kommt die psychische Komponente. Bei der Vorführung von
Handyfilmen mit gewalttätigem und/oder
pornografischem Material kann sich der Einzelne nur schwer entziehen. Ein Selbstschutz
funktioniert nicht. Tut er es doch sind Ausgrenzungen oder Diffamierungen aus der Clique, Klasse oder Gruppe in unterschiedlichster Form denkbar. Neben dem Gruppendruck
ist auch die Neugier ein wesentlicher Faktor
Auf der anderen Seite erleben wir stark verunsicherte Jugendliche, die große Schwierigkeiten mit ihrer eigenen Körperwahrnehmung, des Fühlen und Spürens haben und
mit dem Wort Sinnlichkeit nichts assoziieren
können. Es gibt kleine Aufwärmübungen, welche dies deutlich machen. Hier hat sich allerdings zu vergangenen Jahrzehnten nicht viel
geändert. Denn die Kontaktaufnahme zwischen Jungen funktioniert seit Generationen
über körperliches Gerangel und Geschubse,
weil dies so gelernt wurde.
Das besondere Merkmal sozialer Brennpunkte ist die Tatsache, dass diese Jugendlichen
mit ihren Erlebnissen, Erfahrungen und besonders ihren vielen Fragen stark in die Öffentlichkeit drängen. Sie suchen nach Antworten, nach Rückmeldungen auf vermeintliche
Provokationen, um sich zu reiben. Andere
Werte oder Positionen, die sie bislang nicht
erfahren haben und mit denen sie sich auseinandersetzen können.
Wo sind die Vorbilder, die Identifikationsfiguren oder die möglicherweise fehlende Vaterrolle?
Offensichtlich fehlt es einigen Jungen an der
Wahrnehmung eigener und fremder Grenzen.
Wenn ich keine Grenze gesetzt bekomme,
kann ich auch mein eigenes Verhalten nicht
als grenzüberschreitend wahrnehmen (auch
eine der zutreffenden Aussagen in der Reportage). Auf der anderen Seite kann auch die
ganz bewusste Grenzverletzung einen Aufforderungs-Charakter enthalten, wie ganz aktuell
der öffentliche Pornografiekonsum: „Ist das
die Sexualität, wie sie in eurer Erwachsenenwelt gelebt wird?“ „Muss ich das draufhaben?“
Wo die reale Vertrauensperson fehlt, welche
im Idealfall der Vater ausfüllt, treten im Jugendalter neue Idole/Projektionsflächen an
dessen Stelle. Inszeniert und gesteuert durch
die Medialisierung, idealtypisch und perfekt
modelliert, aber nicht real greifbar. Besitzen
Jugendliche eine Vertrauensperson, so ist
zumindest eine Auseinandersetzung über Einstellungen und Ansichten möglich. Das eigene
Werte- und Normsystem kann reifen, was für
eine gesunde und selbst bestimmte Sexualität sehr wichtig ist.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf
Untersuchungsergebnisse der aktuellen Studie zur Jugendsexualität 2006 der BZgA hinweisen. Lediglich ein Drittel (34 %) der Jungen
geben den Vater als Vertrauensperson für
sexuelle Fragen an, aber 42 % die Mutter.
Und in Abhängigkeit des Bildungshintergrundes der Mutter geben ebenfalls 1 Drittel der
Jungen an keine Vertrauensperson für sexuelle Fragen zu haben.
Berücksichtigt man, dass durch vorgelebtes
Verhalten im Elternhaus eine unbewusste
Prägung erfolgt und dass in der Mehrzahl
Frauen an der Sozialisation im Elternhaus und
Bildungssystem wirken, halte ich eine sexualpädagogische und präventive Arbeit für Jungen durch männliche Mitarbeiter für äußerst
sinnvoll.
Abschluss (Anja Barsch)
Durch Pornokonsum:
• Hemmschwelle bei Jugendlichen herabgesetzt
• Abnehmendes Schamgefühl (sich selbst
und anderen gegenüber!)
• Respektlosigkeit gegenüber dem Mitmenschen (in seiner Ganzheit)
• Frauen werden zum „Lustobjekt“ degradiert und darauf reduziert, dem Willen des
Mannes gefügig und hörig zu sein
Zum Film noch ergänzend von mir:
• Frauen kommen in dem Film kaum zu
Wort
• Aber: auch Mädchen „legen nach“, vor
allem an Haupt- und Förderschulen!
Dokumentation Fachtagung 2007
Unsere Verpflichtung und Verantwortung als
christlicher Anbieter ist es, die Jugendlichen
ganzheitlich in ihrer Entwicklung und
Entfaltung positiv zu fördern und zu
begleiten – als Vorbild und Ansprechpartner!
Seite 11
...und zwar „angst- und sanktionsfrei!! (siehe
internes Präventionskonzept !)
Anja Barsch, Oliver Schwenner,
PräventionsmitarbeiterIn OV Köln
Als christlicher
Anbieter haben wir
Vorbild und Asprechpartner zu sein!
...Unter Berücksichtigung aller vier Aspekte
der Sexualität
• Identitätsaspekt
• Beziehungsaspekt
• Lustaspekt
• Zeugungs- und Fortpflanzungsaspekt
(Fruchtbarkeitsaspekt)
Lust– oder Angstmacher am elektronischen Lagerfeuer?
Was treiben Jugendliche mit den Medien und die Medien mit den
Jugendlichen?
Reiner Wanielik
Mediennutzung Jugendlicher
Von den Jugendlichen in Deutschland zwischen 12 und 19 haben so gut wie alle, nämlich 96 Prozent, mindestens einen Computer
zu Hause. 85 Prozent haben Internet-Zugang,
ein Drittel surft vom eigenen Zimmer aus.
Das ergab eine Studie der Stuttgarter Landesanstalt für Kommunikation. Eine Untersuchung des Hamburger Instituts für Jugendforschung hat gezeigt, dass 71 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 24 Jahren den
Computer mehr als einmal pro Woche nutzen. Mehr als die Hälfte dieser InternetNutzer ist über 10 Stunden pro Woche online, ein Drittel mehr als 15 Stunden.
Der Stuttgarter Studie zufolge rangiert für
Mädchen die Bedeutung des Computers derzeit noch hinter Fernsehen, Radio und Büchern. Für Jungen ist er dagegen längst der
wichtigste Zeitvertreib. »Vor dem Computer
hat man nicht so ein schlechtes Gewissen
wie beim Fernsehen«, .»Am Computer hat
man immer das Gefühl, man macht was.
Manchmal ist es abends echt schwer, ihn
auszumachen.« So Originaltöne von Jungen
aus der Studie.
Und wenn sie denn lernen mit Hilfe des www
oder eine Recherche zum Thema 50 Jahre
Europa vornehmen, dann wäre es für viele
Erwachsene ja auch gut.
Aber weil es ein weltweites Netz ist, sind dort
viele interessante Dinge zu sehen und zu
hören, wenn ich denn auf die richtige URL
Adresse gehe. Erotik und Sex mit einem
Mausklick, z.B. durch www.kaktuz.com oder
anderen gerade unter Jungs gut bekannten
Adressen.
Erwachsene, die als Kinder und Jugendliche
Computer und Internet nicht kannten, haben
oft Mühe sich mit der im Internet abgebildeten Sexualität und der sexualisierten Kommunikation in Chaträumen anzufreunden.
Jugendliche gehen meist lockerer damit um.
Durch breitere Informationszugänge erhalten
sie einen größeren Wissenshorizont, der ihnen bei Entscheidungen über ihr Leben und
Lieben behilflich sein kann. Doch Wissen ist
nicht unbedingt das, was bei erotischer Kommunikation hilft. Das haben viele Erwachsene
bei ihren ersten erotischen Gehversuchen in
Partnerschaften vielleicht am eigenen Leibe
erfahren. Ich jedenfalls habe mich als 14 Jähriger aus allen vorhandenen Quellen versucht
kundig zu machen, um im unsicheren Terrain
der Sexualität und Erotik etwas Sicherheit zu
gewinnen. Mit zugegebenermaßen bescheidenem Erfolg bei der Umsetzung. Das war 1971
und das Informationsangebot war bescheiden
und lückenhaft.
Alexandra Klein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der pädagogischen Fakultät in
Bielefeld und Autorin verschiedener Publikationen zum Thema Internet und Sexualität. Sie
sieht im Internet folgende Bedeutung für Jugendliche:
«Die Hinwendung zu medialen Angeboten
kann als Tribut an die Defizite bei der Bearbeitung sexualitätsbezogener Themen interpretiert werden, da sie sich auf eine Art und Weise mit den Themen auseinander setzen, die
von Jugendlichen akzeptiert wird.“
Dank dieser Akzeptanz wird das Medium als
gute Informationsquelle betrachtet. Durch das
Aufwachsen mit dem Internet lernen die Jugendlichen darüber hinaus, zwischen Realem
und Fiktivem besser zu unterscheiden als Erwachsene, die in ihrer Jugend diese mehrdimensionalen Medien nicht kannten. Das Jugendalter ist eine Phase der Suche nach Identität und Persönlichkeitsentfaltung. In dieser
Phase des Übergangs vom Jugend- zum Erwachsenenalter hat das Internet für manche
Jugendliche offensichtlich eine wichtige Funktion bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben.
Wissen ist nicht
unbedingt das, was
bei erotischer Kommunikation hilft.
Die Hinwendung zu
medialen Angeboten
kann als Tribut an die
Defizite bei der Bearbeitung sexualitätsbezogener Themen
interpretiert werden.
Für manche hat das
Internet eine wichtige Funktion bei der
Bewältigung von Entwicklungsaufgaben.
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Neue Rollen werden
gefahrlos erprobt —
hilfreich für Persönlichkeitsentwicklung
Pädagogische Arbeit
zum Thema Pornographie ist also ein
wahrhaftiger Eiertanz, bei dem sich
PädagogInnen fachliche Unterstützung
holen sollten.
Begrenzte Kontrollmöglichkeiten
Sie müssen also
lernen, mit sexuellen
Inhalten in Medien
umzugehen
Eine aktive Auseinandersetzung mit diesen Normen, Werten
und Begriffen muss
von der Seite der Erwachsenen und der
Jugendlichen geleistet werden.
Die Erziehungshaltung
muss eine fragende
sein
Dokumentation Fachtagung 2007
Die differenzierten Kommunikationsmöglichkeiten des Internet, der Chats, und auch von
einigen Computerspielen, werden von Jugendlichen genutzt, um neue Rollen gefahrlos zu
erproben und bisher weniger bekannte Aspekte der eigenen Identität zu entdecken.
Dies geschieht nicht unbedingt bewusst, aber
trotzdem sind elektronische Medien und Plattformen für Jugendliche ein Hilfsmittel, dass
hilfreich für ihre Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung sein kann.
Die Studie „Pornographie und neue Medien“ (Pro Familia LV Rheinland-Pfalz, 2006),
erbrachte durch eine Befragung eine beeindruckende Menge an Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen mit sexuellen Inhalten
im Internet. Die Autoren konstatieren, „...dass
sexuelle und pornographische Inhalte im Internet in großem Umfang von Kindern und
Jugendlichen konsumiert werden. Sie treffen
auf diese Inhalte selten per Zufall sondern sie
suchen sie meist aktiv auf und nutzen dabei
neben Suchmaschinen vor allem Tipps aus
ihrem Freundeskreis. Das bedeutet, dass das
Wissen um diese Inhalte längst Bestandteil
der Erfahrung von Kindern und Jugendlichen
ist.“
Sexuelle Sozialisation
Die überwiegend positive Haltung von Jugendlichen den neuen Medien gegenüber setzt sie
in besonderem Maße den verschiedenen Einflüssen von sexualisierten Bildern, Chats und
Videos aus.
Eine differenzierte Wahrnehmung von Bildern,
die pornografischen, erotischen oder auch
künstlerischen Charakter haben, kann von
Jugendlichen kaum und von Kindern meist
gar nicht geleistet werden. Die Einschätzung
darüber, was was ist und wie das Gesehene,
Gelesene und Gehörte zu bewerten sei, ergibt
sich erst durch die sexuelle Sozialisation der
Jugendlichen. Sie müssen also lernen, mit
sexuellen Inhalten in Medien umzugehen. Sie
mit Verboten und Sanktionen davon abzuhalten, hieße Entwicklungsaufgaben nicht ernst
nehmen und sich im übrigen auch aus dem
Kontakt mit den Jugendlichen zu verabschieden.
Eine aktive Auseinandersetzung mit diesen
Normen, Werten und Begriffen muss von der
Seite der Erwachsenen und der Jugendlichen
geleistet werden.
Viele Jugendliche besitzen diese Fähigkeit
noch nicht ausreichend und benötigen Unterstützung. Die unterschiedlichen Sozialisationen sowie unterschiedliche kognitive Fähigkeiten führen bei Jugendlichen zu einem sehr
heterogenen Umgang mit Informationen über
Sexualität, wenn das Internet benutzt wird.
Ein Junge, der kaum deutsch spricht, wenig
Reflexionsmöglichkeiten über irritierende Medienerfahrungen hat und in dessen Elternhaus Sexualität eher tabuisiert ist, wird anders mit den Bildern umgehen als ein Mädchen, welches eine differenzierte Gesprächskultur in Familie und Freundeskreis kennt und
in dessen Elternhaus die Themen Erotik und
Sexualität nicht ausgegrenzt sind.
(Sexual-)Pädagogische Begleitung
Der aktiven Auseinandersetzung mit Jugendlichen mediale Inhalte steht leider oft eine gewisse Ahnungslosigkeit und Unkenntnis z.B.
pornografischer Medien auf Seiten von Erwachsenen und nicht selten bei Pädagoginnen entgegen. Mit dem Pauschalurteil frauenfeindlich oder gewaltverherrlichend wird eine
aktive Auseinandersetzung oft verhindert.
Rechtliche Regelungen stehen Bemühungen
von Erwachsenen das Thema mit Jugendlichen anzugehen ebenfalls im Weg. Schließlich macht sich strafbar, wer Jugendlichen
Zugang zu pornographischen Medien verschafft. Die absurde Situation entsteht, dass
die Zielgruppe von Präventionsarbeit, die Jugendlichen also, oft mehr von Inhalten, Strukturen und Vertriebswegen pornographischer
Medien weiß, als die um Diskurs bemühten
Erwachsenen. Pädagogische Arbeit zum Thema Pornographie ist also ein wahrhaftiger
Eiertanz, bei dem sich PädagogInnen fachliche Unterstützung holen sollten.
Begrenzte Kontrollmöglichkeiten begrenzen
auch die Möglichkeiten, Jugendlichen bestimmte Medieninhalte und Bewertungen vorzuschreiben. Die den Heranwachsenden zugestandene Selbständigkeit hat in den letzten
Jahrzehnten deutlich zugenommen. Diese
Veränderung wird - negativ ausgedrückt - auf
zunehmendes Desinteresse der Eltern an Erziehungsfragen oder - positiv verstanden - auf
eine verbreitete emanzipatorische Erziehungshaltung, deren Ziel die Selbstständigkeit der
Heranwachsenden ist, zurückgeführt. Unabhängig von konkurrierenden Erklärungsmodellen bekommt die Autonomie von Jugendlichen
speziell durch das Medium Internet eine neue
Dimension. Die Folge für die sexualpädagogische Begleitung von Jugendlichen ist, dass
die Erziehungshaltung eine fragende sein
muss. ‘Anfragen’ meint, die vorhandenen Medienkompetenzen und (sexuellen) Medienerfahrungen von Jugendlichen grundsätzlich
anzuerkennen und durch Nachfragen, die
Selbst-Bestimmung von Jugendlichen zu fördern. Wenn sich aus den Anfragen Diskussions- bzw. Informationsbedarf ergibt, kann
dieser fruchtbare pädagogische Moment für
eine vertiefende Bearbeitung des Themas
genutzt werden. Ansonsten bleibt den Jugendlichen das Signal der Erwachsenen: Ich interessiere mich für deine Erfahrungen und ich
bin ansprechbar, auch zum Thema Sexualität.
Fragen für eine medienpädagogische Arbeit
am Thema Pornographie könnten sein:
• Welche pornographischen Bilder bzw. Filme
hast du schon im Internet gefunden?
• Was sind deiner Meinung nach pornographische Bilder?
• Werden deiner Meinung nach Männer und
Frauen in pornographischen Medien unterschiedlich dargestellt?
Dokumentation Fachtagung 2007
• Wie bewertest du Darstellungen schwuler
und lesbischer Sexualität?
• Welches waren die 'heftigsten' sexuellen
Bilder, die du bisher im Internet gefunden
hast?
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• Was sollte gegen die Verbreitung von Pornographie im Internet deiner Meinung nach
getan werden?
Reiner Wanielik, Dipl. Sozialpädagoge, Autor
• Woran lässt sich feststellen, ob die Darstellerinnen und Darsteller sich freiwillig ablichten lassen?
• Wie schätzt du die Möglichkeiten ein, pornographische Bilder von Kindern, anderen
Gewaltdarstellungen oder Sexualität mit
Tieren im Internet zu finden?
Resolution
Pornographie und Gewalt in der Jugendsexualität
Positionierung des Landesverbandes Frauen beraten/donum vitae NRW e.V.
1. Wir, Frauen beraten/donum vitae NRW e.V. sehen es aufgrund unseres christlichen
Selbstverständnisses als Aufgabe an, das Thema Pornographie und Gewalt in der sexualpädagogischen Arbeit anzusprechen und uns einer ethischen Wertevermittlung zu stellen.
Ethische Wertevermittlung
2. Wir entwickeln dazu eine eigene Haltung, an der sich Kinder und Jugendliche im Sinne
von „wer bin ich und wo will ich hin“ orientieren können, hin zu einer eigenen sexuellen
Identität.
Wer bin ich, wo will
ich hin?
3. Ein Leitfaden mit eindeutigen Definitionen und Zielen ist die Grundlage unseres Handelns,
durch den das Präventionskonzept erweitert wird.
4. Um Kinder und Jugendliche erreichen zu können, müssen wir wissen, mit welchen Medien
sich junge Menschen beschäftigen und wovon sie sich angezogen fühlen. Es gilt einen
kritischen Umgang mit diesen Medien und eigene Deutungsmuster zu entwickeln.
Kritischer Umgang
mit den Medien
5. Zum wirksamen Umgang mit Pornographie und Gewalt gehört eine intensive Elternarbeit,
die Eltern ermutigt, sich diesem Thema zu öffnen und Handlungsmuster zu erlernen, die
über die konkreten Angebote an Eltern hinaus in einem Flyer mit typischen Fragen und
qualifizierten Antworten dargelegt sind.
Intensive Elternarbeit
6. In der sexualpädagogischen Arbeit sind männliche Mitarbeiter auch hinsichtlich dieser
Thematik wichtig. Entsprechende qualifizierte Fortbildungen sind für alle sexualpädagogischen MitarbeiterInnen unverzichtbar.
Fortbildungen