Gottesdienst in der Stiftskirche Stuttgart an Palmsonntag, 13. April

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Gottesdienst in der Stiftskirche Stuttgart an Palmsonntag, 13. April
Gottesdienst in der Stiftskirche Stuttgart
an Palmsonntag, 13. April 2014
Predigt über Matthäus 27,1-26 - „Barabbas“
von Prälat Ulrich Mack
Lesung des Predigttextes teilweise schon als Schriftlesung
Liebe Gemeinde,
wir folgen hier in der Stiftskirche in diesen Passionswochen der württb. Reihe der
Predigttexte – und die führt uns durch die Leidensgeschichte Jesu im
Matthäusevangelium.
Heute kommen wir zur zweiten Instanz im Prozess gegen Jesus.
Jesus wurde ja in zwei Instanzen verurteilt: in einer jüdischen und einer römischen.
Die erste war der Hohe Rat, hebräisch: Sanhedrin. Am Morgen des Karfreitag trat
dieses Gremium zusammen unter Vorsitz des Hohepriesters Kaiphas. Ergebnis: Jesus
muss sterben, unter anderem, weil er sich als Messias bezeichnete.
Nun stand aber das Land unter dem römischen Besatzungsrecht. Danach durften nur
die Römer die Todesstrafe aussprechen, vor allem dann, wenn der oberste römische
Befehlshaber Pontius Pilatus gerade in Jerusalem war. Dies war er tatsächlich, um
aufzupassen, dass am Passahfest kein Aufstand passiert. Sonst lebte er am Mittelmeer,
aber jetzt gerade war er in Jerusalem. Darum wird Jesus zur zweiten Instanz seiner
Verurteilung geführt: zum Prokurator („Statthalter“) Pontius Pilatus. Hören wir, was dort
geschieht:
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Am Morgen aber fassten alle Hohenpriester und die Ältesten des Volkes den Beschluss über
Jesus, ihn zu töten, 2 und sie banden ihn, führten ihn ab und überantworteten ihn dem Statthalter
Pilatus.
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Als Judas, der ihn verraten hatte, sah, dass er zum Tode verurteilt war, reute es ihn, und er
brachte die dreißig Silberlinge den Hohenpriestern und Ältesten zurück 4 und sprach: Ich habe
Unrecht getan, dass ich unschuldiges Blut verraten habe. Sie aber sprachen: Was geht uns das
an? Da sieh du zu! 5 Und er warf die Silberlinge in den Tempel, ging fort und erhängte sich.
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Aber die Hohenpriester nahmen die Silberlinge und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir sie
in den Gotteskasten legen; denn es ist Blutgeld. 7 Sie beschlossen aber, den Töpferacker davon zu
kaufen zum Begräbnis für Fremde. 8 Daher heißt dieser Acker Blutacker bis auf den heutigen
Tag. 9 Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da spricht: »Sie haben
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die dreißig Silberlinge genommen, den Preis für den Verkauften, der geschätzt wurde bei den
Israeliten, 10 und sie haben das Geld für den Töpferacker gegeben, wie mir der Herr befohlen hat«
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Jesus aber stand vor dem Statthalter; und der Statthalter fragte ihn und sprach: Bist du der
König der Juden? Jesus aber sprach: Du sagst es. 12 Und als er von den Hohenpriestern und
Ältesten verklagt wurde, antwortete er nichts. 13 Da sprach Pilatus zu ihm: Hörst du nicht, wie
hart sie dich verklagen? 14 Und er antwortete ihm nicht auf ein einziges Wort, sodass sich der
Statthalter sehr verwunderte.
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Zum Fest aber hatte der Statthalter die Gewohnheit, dem Volk einen Gefangenen loszugeben,
welchen sie wollten. 16 Sie hatten aber zu der Zeit einen berüchtigten Gefangenen, der hieß Jesus
Barabbas. 17 Und als sie versammelt waren, sprach Pilatus zu ihnen: Welchen wollt ihr? Wen soll
ich euch losgeben, Jesus Barabbas oder Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus? 18 Denn
er wusste, dass sie ihn aus Neid überantwortet hatten.
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Und als er auf dem Richterstuhl saß, schickte seine Frau zu ihm und ließ ihm sagen: Habe
du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; denn ich habe heute viel erlitten im Traum um
seinetwillen.
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Aber die Hohenpriester und Ältesten überredeten das Volk, dass sie um Barabbas bitten,
Jesus aber umbringen sollten. 21 Da fing der Statthalter an und sprach zu ihnen: Welchen wollt
ihr? Wen von den beiden soll ich euch losgeben? Sie sprachen: Barabbas! 22 Pilatus sprach zu
ihnen: Was soll ich denn machen mit Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus? Sie
sprachen alle: Lass ihn kreuzigen! 23 Er aber sagte: Was hat er denn Böses getan? Sie schrien aber
noch mehr: Lass ihn kreuzigen! 24 Als aber Pilatus sah, dass er nichts ausrichtete, sondern das
Getümmel immer größer wurde, nahm er Wasser und wusch sich die Hände vor dem Volk und
sprach: Ich bin unschuldig an seinem Blut; seht ihr zu! 25 Da antwortete das ganze Volk und
sprach: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!
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Da gab er ihnen Barabbas los, aber Jesus ließ er geißeln und überantwortete ihn, dass er
gekreuzigt werde.
Liebe Gemeinde,
was ist ein freier Mensch?
Diese Frage können wir in diesen Szenen entdecken – nicht in der Oberfläche des
Prozesses Jesu, aber in einer tieferen Schicht dessen, was sich da abspielt:
Was ist ein freier Mensch?
Wer ist denn hier frei?
Vielleicht wundert Sie die Frage. Sie ist ja – so gestellt – nicht alltäglich. Wer von uns
fühlt sich denn nicht frei? Wir leben, so sagen wir, in einem freien Land mit freier Presse
und freier Meinung, können frei hingehen, wohin wir wollen. Können frei glauben und
Gottesdienst feiern. Das ist wunderbar – und doch nur die eine Seite, die äußere
sozusagen.
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Die andere, die innere Freiheit, ist oft nicht so leicht zu haben. Davon können
Seelsorger erzählen oder psychologische Beraterinnen, wie viel Last auf einer Seele
liegen kann, wie viel Leid und Lebensbrüche und Zerbrüche, wie viel falsche
Bindungen. Gott hört, was wir ihm im Stillen Gebet bringen, auch vorhin. Und wie viel
Sorgen kommen da vor ihn, wie viele Bitten um Befreiung. „Erlösung“ sagten die Alten
dazu. Loslösung von dem, was uns gefangen nimmt: ungeklärte Vergangenheit,
verkrustete Beziehungen, Vorwürfe an sich selbst oder andere, Zweifel, Schuld.
Was ist ein freier Mensch?
Wer ist denn wie frei?
Fragen wir danach in diesem Kapitel des Matthäus, das vorletzte im Evangelium. Sehen
wir die Gestalten an, die uns dort begegnen:
Von Judas haben wir gehört. Er ist nicht frei, nein – ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Er
meinte, so frei zu sein, Jesus verraten zu können. Aber nun merkt er, dass er sich
verrannt hat. Die 30 Silberlinge machen nicht glücklich. Das machen sie bis heute nicht.
Sie machen nicht glücklich und auch nicht frei. Im Gegenteil: Geld kann einen ganz
schön gefangen nehmen.
Judas wirft seinen Verräterlohn in den Tempel und geht und erhängt sich, die Schlinge
des Stricks um den Hals, die Schlinge der Schuld um die Seele.
Nein, Judas ist nicht frei.
Und die, denen er seine Belohnung wieder zurückbringen will? Die Hohenpriester und
Ältesten, würdige Mitglieder des Hohen Rates und andere? Jetzt sehen wir sie vor
Pilatus stehen, hören sie rufen: Kreuzige ihn!
Und als Pilatus zurückfragt, was denn Jesus Böses getan habe, da, so berichtet das
Evangelium, da schrien sie noch mehr: Lass ihn kreuzigen. Ausdrücklich vermerkt
Matthäus dazu, wie die Leute durch die Hohenpriester und Ältesten aufgewiegelt
werden. Da wird Stimmung gemacht, und wo viele schreien und gegen jemand hetzen,
da entsteht ein Sog, der zieht andere mit – wir kennen das als Gefahr der Medien: wie
schnell sind Politiker abgestempelt oder auch Gruppen, in diesen Wochen zum Beispiel
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solche, die zum Bildungsplanentwurf der Landesregierung ihre Meinung sagen – wie
schnell werden da Urteile gefällt und Menschen in Schubkästen geschoben und dann
hier mitten in Stuttgart, wie in der Zeitung zu lesen war, bei einer Demonstration Bibeln
zerrissen als Zeichen der Verachtung.
Sind die Leute, die damals vor Pilatus Kreuzige rufen, frei?
Vielleicht haben Sie es schon erlebt, wie es ist, ungerecht behandelt und verurteilt zu
werden. Aber fragen wir auch andersrum: Wie oft sind wir selbst dabei, über andere
Menschen zu urteilen? Wie oft lassen wir uns mitziehen, lassen uns von Sympathien
und Antipathien leiten?
Judas – die Ältesten und Priester – und dann Pilatus. Der stolze Römer. Repräsentant
der Besatzungsmacht. Als energisch-brutal bekannt. Eigentlich ist er so stark – und ist
doch so schwach. So unsicher in diesem Prozess. Was soll ich denn machen? – fragt
er.
Eigentlich hätte er die Freiheit, gerecht zu urteilen und Jesus frei zu lassen. Aber Pilatus
ist gefangen in der Angst, die Lage könnte ihm entgleiten. Er ist gefangen in der Sorge,
seine Macht könnte gefährdet sein. Schließlich steckt in der Anklage eine politische
Brisanz. Die Leute vom Sanhedrin sagen, Jesus sei König der Juden. Das ist geschickt
gemacht: so übersetzen sie den Titel Messias ins Politische und binden damit den
Pilatus. Und der ist nun nicht mehr frei. Der zögert zunächst, Jesus zu verurteilen. Doch
dann stellt er sich selbst eine juristische Falle. Er folgt dem Brauch, anlässlich des
Passahfestes einen Verurteilten zu begnadigen. Er lässt den Barabbas vorführen. Der
war wegen Mordes schon verurteilt worden. Nun soll die Volksmenge zwischen
Barabbas und Jesus entscheiden.
Was geschieht da? Pilatus stellt damit Jesus, den noch nicht Verurteilten, auf eine Stufe
mit dem zum Tod verurteilten Barabbas – eigentlich ein Justizirrtum, und so kann
Pilatus am Ende nur noch dem Druck der Volksmenge folgen. Er verurteilt Jesus zum
Tod und meint, sich seine Hände in Unschuld waschen zu können. Aber frei macht ihn
das nicht. Das merkt er selber wohl auch.
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Wer ist ein freier Mensch?
Judas, die Leute vom Hohen Rat und Pilatus sind es nicht.
Sehen wir nun zu Barabbas.
Die Hintergründe kennen wir nicht genau. Vermutlich ist er der Volksmenge bekannt.
Bei einem Aufstand – vielleicht der Zeloten gegen die römische Besatzung hatte er
mitgemacht und jemanden ermordet. Römische Soldaten nahmen ihn fest. Sein
Todesurteil ist gefällt. Er wartet auf die Vollstreckung. Er, dieser „Jesus bar-abbas“,
„Jesus, Sohn des Vaters“. So kommt es zum Aufeinandertreffen der beiden: Auf der
einen Seite Jesus Barabbas, auf der anderen Jesus von Nazareth, der auch „Sohn des
Vaters“ genannt wird.
Stellen wir uns das in Gedanken einmal lebhaft vor, wie diese Minuten im Leben des
Barabbas abliefen: Da sitzt Barabbas in seinem Gefängnisloch – auf einmal kommen
Schritte näher, die Zellentür öffnet sich, Soldaten zerren den Gefangen raus, schieben
ihn ans Tageslicht. Barabbas ahnt seine letzte Stunde. Da hört er seinen Namen rufen.
Laut schreien. Barabbas. Er nimmt die aufgewühlte Volksmenge wahr. Und er sieht: Da
drüben liegen sie, die Balken für eine Kreuzigung. Die dicken Nägel dabei, die
schweren Hammer. Die Menge schreit wieder: Barabbas. Jetzt erkennt er den Römer in
der Mitte. Das ist der Prokurator Pilatus höchstpersönlich, durchfährt es ihn.
Und dann sieht er auch den auf der anderen Seite. Den, der da steht, gefesselte
Hände, Schwielen und Blut im Gesicht, Soldaten an seiner Seite.
Plötzlich geht alles schnell – die lauten Rufe voller Wut, das achselzuckende Fragen
des Römers, dann das rasche Urteil. Und da geschieht es: Soldaten lassen Barabbas
los. Sie lösen ihm die schneidenden Fesseln an den Händen. Sie nehmen ihm die
Fußketten ab. Barabbas beginnt langsam, seine Finger zu bewegen. Er reibt sich die
Hände, sieht sich um. Alles scheint so unwirklich – und ist doch wahr: Er geht Schritte.
Erste Schritte der Freiheit. Er beginnt zu laufen, kann springen, fängt an zu jubeln: Er ist
frei! Wirklich frei!
Eben noch das Urteil vor Augen, eben noch gefangen – und jetzt frei.
Vielleicht hat Barabbas einige Zeit gebraucht, um es zu begreifen, warum er frei wurde.
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Könnte er selbst erzählen, würde er vielleicht sagen: „Freigesprochen wurde ich ja
eigentlich gar nicht. Von meinem Mord war nicht mehr die Rede. Da wurde überhaupt
nicht mein Fall behandelt. Da wurde der Fall dieses anderen verhandelt. Und weil sein
Fall verhandelt wurde, war in einer seltsamen Verbindung auch meine Sache dran. Weil
er verurteilt wurde, kam ich frei. Weil er geschlagen wurde, ließ man mich laufen. Aber
ich war doch schuldig. Oder nicht? Oder nicht mehr?“
So könnte er erzählt haben, der Barabbas. Ein neues Leben bekam er in geschenkter
Freiheit. Und das, weil einer an seine Stelle trat. Weil Jesus – und nicht er - am Kreuz
gestorben ist.
Wir werden nicht wie Barabbas auf einmal alle Fesseln ablegen können. Wir werden
vermutlich nicht wie er in einem Moment Freiheit in dieser Dichte erfahren. Aber seine
Gestalt in der Passionsgeschichte lädt uns ein, uns auf seinen Weg zu machen. Jesus
immer wieder in Gedanken vor uns zu sehen, wie er das Kreuz trägt – gerade in diesen
Passionstagen - und dann zu wissen:
Du trägst auch mein Kreuz, Herr.
Du trägst auch meine Last.
Du weißt, was mich gefangen nimmt.
Du trägst es mit.
Und weil du es trägst, darum finde ich Freiheit in der Verbindung mit dir, im glaubenden
Vertrauen. Jesus sagte einmal von sich: Wenn euch nun der Sohn frei macht, dann seid
ihr wirklich frei.
Judas – die Ältesten und Hohenpriester – Pilatus –wichtige Gestalten der
Passionsgeschichte. Ich denke gern über den Barabbas nach – und möchte ihm
nachspüren, gerade in den kommenden Tagen: Weil Jesus starb, darum darf ich leben.
„In deinen Banden ist die Freiheit uns gegeben“.
Amen
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Jesus Christus, unser Herr und Heiland,
wir wollen dir danken für deine Liebe. Dein Erbarmen ist größer als wir uns vorstellen
können. Du öffnest uns den Weg zur Freiheit. Was uns schuldig spricht und belastest,
nimmst du auf dich. Darüber loben wir dich, Herr.
Nun steht dein Kreuz über allen Nöten dieser Welt. Das gibt uns das Vertrauen zu
bitten: für alle Menschen, die Leid tragen, für alle, die krank sind – körperlich oder
seelisch, für Hungernde und Sterbende, für die, welche fern sind von dir und für deine
Kinder auf der ganzen Welt. Du siehst, was uns in falscher Weise binden und unfrei
machen will. Lass die Frucht deines Leidens und Sterbens zu einer Kraft unseres
Lebens werden. Mach uns wo es geht bereit zur Versöhnung, zur Liebe, zum Frieden.
Du hast dein Leben dahingegeben in unsere Nacht; zieh die ganze Welt in das Licht
deines Tages.
Amen
Vater unser …
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