Behindert – was tun?

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Behindert – was tun?
Behindert
– was tun?
Der Ratgeber für Rechtsfragen
Behindert – was tun?
Inhaltsverzeichnis
Berufliche Ausbildung
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Erstmalige berufliche Ausbildung
Berufliche Weiterbildung
Umschulung 6
14
18
Finanzierung der Pflege durch die Krankenversicherung, Unfallversicherung oder Invalidenversicherung Hilflosenentschädigung bei Volljährigen
Hilflosenentschädigung und Intensivpflegezuschlag bei Minderjährigen
Assistenzbeitrag
Anstellung von Assistentinnen und Assistenten
Vergütung von Kosten der Pflege, Betreuung und Hilfe
durch die Ergänzungsleistungen
28
36
46
54
64
Assistenz
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72
Erwachsenenschutz
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Vorsorgeauftrag und Patientenverfügung
Urteilsfähigkeit und Handlungsfähigkeit
Beistandschaft
Fürsorgerische Unterbringung
80
88
92
98
104
110
116
122
128
132
140
150
160
Steuern
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Besteuerung von Renten, Taggeldern und Kapitalabfindungen
Abzug von krankheits- und behinderungsbedingten Kosten Wehrpflichtersatz
Arbeit
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Leistungen der IV bei der Arbeitsuche
Anstellung
Hilfsmittel und Assistenz am Arbeitsplatz
Arbeitsunfähigkeit während eines Arbeitsverhältnisses
Beendigung des Arbeitsverhältnisses Vorzeitige Pensionierung
Behindert – was tun?
Ansprüche bei Erwerbsausfall
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•
Krankenversicherungstaggeld
Unfallversicherungstaggeld IV-Taggeld
Arbeitslosenversicherungstaggeld
166
180
188
194
206
218
230
236
248
260
264
270
Renten und Ergänzungsleistungen
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Invalidität: Begriff und Bemessung Invalidenrenten der IV
Invalidenrenten der Unfallversicherung
Invalidenrenten der beruflichen Vorsorge
Ergänzungsleistungen
Wohnen
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Wohnungsmiete
Hilfsmittel und bauliche Anpassungen im Wohnbereich
Wohnen im Heim
Behindertengleichstellung
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Ziel des Behindertengleichstellungsrechts
Öffentlicher Verkehr Gebäude und Anlagen
Dienstleistungen
Grundschule Aus- und Weiterbildung
Arbeitsverhältnisse 278
282
288
294
300
306
312
316
326
Weitere Rechtsfragen
•
•
Patientenrecht
Datenschutz 3
4
Berufliche
Ausbildung
• Erstmalige berufliche
Ausbildung
• Weiterbildung
• Umschulung
Berufliche Ausbildung
Erstmalige berufliche Ausbildung
Erstmalige berufliche Ausbildungen durchlaufen heutzutage die meisten jungen Leute nach
Abschluss der Schule. Und diese Ausbildungen sind oft auch mit Kosten verbunden. Behinderte
Menschen sollen in dieser Hinsicht weder privilegiert noch benachteiligt werden. Das bedeutet,
dass sie (resp. ihre Eltern) für die üblichen Kosten selber aufkommen müssen. Entstehen ihnen
jedoch als Folge der Behinderung Mehrkosten und erleiden sie behinderungsbedingt während
der erstmaligen beruflichen Ausbildung einen Erwerbsausfall, so übernimmt die IV diese Mehrkosten und gewährt zusätzlich ein Taggeld.
In diesem Kapitel werden die Voraussetzungen für die Kostenübernahme im Einzelnen erläutert
und die Leistungen der IV dargestellt.
»
Unter welchen Voraussetzungen übernimmt die IV die Kosten einer erstmaligen beruflichen Ausbildung?
»
Abgrenzung zur Schule
»
Berufsberatung als erster Schritt
»
Welche Ausbildungen fallen in Betracht und wie lange können diese dauern?
»
Welche Kosten deckt die IV während der erstmaligen beruflichen Ausbildung?
»
Wann gewährt die IV während der erstmaligen beruflichen Ausbildung ein Taggeld?
»
Abgrenzung zur Umschulung
»
Rechtliche Grundlagen
Unter welchen Voraussetzungen übernimmt die IV die Kosten einer erstmaligen beruflichen Ausbildung?
Damit die IV die behinderungsbedingten Mehrkosten einer erstmaligen beruflichen Ausbildung
übernehmen kann, müssen grundsätzlich 3 Voraussetzungen erfüllt sein:
• Es muss eine „Invalidität“ vorliegen, d.h. eine gesundheitliche Beeinträchtigung, welche die
betroffene Person in ihren Ausbildungsmöglichkeiten einschränkt und deshalb erhebliche
invaliditätsbedingte Mehrkosten verursacht.
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Berufliche Ausbildung
• Die behinderte Person muss in der Lage sein, eine Ausbildung mit Erfolg abzuschliessen.
Die gewählte Ausbildung muss ihren Fähigkeiten angepasst sein.
• Die Ausbildung muss zu einer wirtschaftlich ausreichend verwertbaren Arbeitsleistung führen. Dies ist praxisgemäss der Fall, wenn die behinderte Person nach Ausbildungsabschluss
einen Leistungslohn von mindestens Fr. 2.55 pro Stunde erwarten kann.
Eine „Invalidität“ wird bezüglich der erstmaligen beruflichen Ausbildung bejaht, wenn eine Person aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, den für das jeweilige Berufsziel üblichen Ausbildungsweg (z.B. eine Berufslehre) zu beschreiten, sondern auf spezielle angepasste
Ausbildungsangebote angewiesen ist.
»» Beispiel: Die 18-jährige Frau S hat eine Kleinklasse besucht. Wegen kognitiver Beeinträchtigungen und einer erheblichen Lernbehinderung ist sie nicht in der Lage, eine
Berufslehre zu absolvieren. Eine Abklärung ergibt aber, dass sie in der Lage sein müsste,
eine Ausbildung im Bereich der Hauswirtschaft in einer geschützten Eingliederungsstätte
zu absolvieren und danach eine entsprechende Erwerbstätigkeit auszuüben. Die IV wird
deshalb die Mehrkosten dieser Ausbildung übernehmen.
Eine „Invalidität“ liegt auch dann vor, wenn eine Person wohl eine übliche Ausbildung (z.B. ein
Studium) absolvieren kann, ihr dabei aber in verschiedener Hinsicht Mehrkosten (Kosten für
den Transport zur Ausbildungsstätte, Mehrkosten für angepasste Hilfsmittel usw.) entstehen.
Abgrenzung zur Schule
Die IV kann die Mehrkosten einer erstmaligen beruflichen Ausbildung erst übernehmen,
wenn die obligatorische Schule abgeschlossen und eine Berufswahl getroffen worden ist.
Zwischenjahre, die der Förderung der Berufswahlreife, der Berufsfindung, dem Ausfüllen von
schulischen Lücken, der persönlichen Reifung und der Förderung des Arbeitsverhaltens dienen,
gehören noch nicht zur erstmaligen beruflichen Ausbildung. Ist hingegen die Berufswahl entschieden und sind gezielte vorbereitende Massnahmen im Hinblick auf das erfolgreiche Erreichen des Berufsziels nötig, so gehören diese zur erstmaligen beruflichen Ausbildung.
»» Beispiel: Herr B besucht nach Absolvierung der obligatorischen Schule ein 10. Schuljahr,
während dem gewisse schulische Lücken gefüllt und die Berufswahl unterstützt werden soll.
Dieses 10. Schuljahr gehört noch nicht zur erstmaligen beruflichen Ausbildung, weshalb
die IV die allfälligen Mehrkosten nicht übernehmen kann. Es ist Sache der Kantone festzulegen, wie weit diese Angebote finanziert werden.
Nach Beendigung des 10. Schuljahres hat sich Herr B für eine kaufmännische Ausbildung
entschieden. Bevor er diese in Angriff nimmt, muss er seine Sprachkenntnisse noch gezielt
verbessern und besucht deshalb einen entsprechenden Kurs. Hier handelt es sich nun um
eine gezielte vorbereitende Massnahme, welche von der IV finanziert werden kann.
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Berufliche Ausbildung
Im Sinne einer Ausnahme gilt der Besuch eines Gymnasiums (oder einer anderen Maturitätsschule) nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit bereits als erstmalige berufliche Ausbildung, obschon die meisten Gymnasiasten die konkrete Berufswahl noch nicht getroffen haben.
Es wird davon ausgegangen, dass es sich beim Besuch eines Gymnasiums um eine gezielte
Vorbereitung auf ein Studium handelt.
Berufsberatung als erster Schritt
Wer von der IV eine finanzielle Unterstützung für die erstmalige berufliche Ausbildung wünscht,
sollte sich frühzeitig für berufliche Massnahmen anmelden. Nach erfolgter Anmeldung werden
die Berufsfachleute der IV-Stellen als erstes im Sinne einer Berufsberatung Gespräche führen,
die Berufswünsche und Neigungen ermitteln und die Eignung für die angestrebten Ausbildungen abklären. Diese Abklärungen können z.B. im Rahmen von Schnupperlehren oder von
Abklärungen in spezialisierten Eingliederungsstätten erfolgen. Letztere werden in der Regel auf
maximal 3 Monate befristet.
Bei Schnupperlehren übernimmt die IV nur die invaliditätsbedingten Kosten von Transporten.
Bei Abklärungen in spezialisierten Eingliederungsstätten kommt sie ebenfalls für die invaliditätsbedingten Transportkosten auf, zusätzlich aber auch für die Kosten der Verpflegung und
Unterkunft sowie einer allfälligen zusätzlichen Betreuung.
Es empfiehlt sich immer eine enge und konstruktive Zusammenarbeit mit den Berufsberatern
der IV. Erfahrungsgemäss übernimmt die IV nur dann die Mehrkosten einer erstmaligen beruflichen Ausbildung, wenn die Ausbildung von den Berufsfachleuten der IV mit einem Antrag
unterstützt wird.
Welche Ausbildungen fallen in Betracht und wie lange können diese
dauern?
Als erstmalige berufliche Ausbildung gilt im Grunde jede gezielte und planmässige Förderung
beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten, welche eine Person befähigt, eine berufliche Tätigkeit
auszuüben. Darunter fallen:
• der Besuch einer Maturitäts-, Fach oder Hochschule
• die Absolvierung einer anerkannten Berufslehre, der Erwerb eines Berufsattests oder die
Absolvierung einer Anlehre nach kantonalem Recht
• die Vorbereitung auf eine Hilfsarbeit oder auf eine Tätigkeit in einer geschützten Werkstätte
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Berufliche Ausbildung
Es gilt zwar das allgemeine Prinzip, dass zwischen der Ausbildungsdauer und dem wirtschaftlichen Erfolg der Massnahme, d.h. den zu erwartenden Erwerbsmöglichkeiten, ein vernünftiges
Verhältnis bestehen muss. Grundsätzlich schliesst dies aber eine lange Ausbildungsdauer keineswegs aus, wie sie z.B. zur Erlangung eines Hochschulabschlusses erforderlich ist. Benötigt eine Person behinderungsbedingt zur Erfassung und Verarbeitung des Ausbildungsstoffes mehr Zeit als eine nichtbehinderte Person, so kann auch eine längere als die übliche
Ausbildungsdauer beansprucht werden.
Bei mehrstufigen Ausbildungen empfiehlt es sich, wenn immer möglich bereits zu Beginn der
beruflichen Ausbildung das höherrangige Ausbildungsziel (z.B. Fachhochschuldiplom) festzulegen. Sonst kann es geschehen, dass die IV-Stelle nach erfolgreichem Bestehen der ersten Ausbildungsstufe (z.B. Berufslehre) die erstmalige berufliche Ausbildung als abgeschlossen erklärt.
Restriktiver ist die Praxis der IV in den letzten Jahren bezüglich der IV-Anlehren und praktischen INSOS-Ausbildungen in Eingliederungsstätten geworden. Diese werden jeweils nur noch
für ein Jahr zugesprochen. Ein zweites Ausbildungsjahr wird nur dann übernommen, wenn zu
erwarten ist, dass nach Abschluss der Ausbildung gute Aussichten für eine Erwerbstätigkeit im
ersten Arbeitsmarkt bestehen.
»» Beispiel: Herr W hat nach dem Besuch einer Sonderschule eine praktische Ausbildung im
Bereich der Gärtnerei einer geschützten Eingliederungsstätte aufgenommen. Die IV-Stelle
hat in einem ersten Schritt die Übernahme der Mehrkosten für das erste Ausbildungsjahr
verfügt.
Am Ende des ersten Ausbildungsjahres wird das berufliche Potential von Herrn W abgeklärt. Die Ausbildungsstätte ist der Auffassung, dass Herr W nach einer 2-jährigen Ausbildung gute Chancen auf eine Tätigkeit im ersten Arbeitsmarkt hat, wenn auch zu einem
der Leistung angepassten reduzierten Lohn. Die Berufsfachfrau der IV-Stelle stützt diese
Einschätzung, worauf die IV auch für das zweite Ausbildungsjahr Kostengutsprache erteilt.
Welche Kosten deckt die IV während der erstmaligen beruflichen
Ausbildung?
Die IV übernimmt die behinderungsbedingten Mehrkosten der Ausbildung. Diese werden im
Rahmen einer Vergleichsrechnung ermittelt: Es wird einerseits abgeklärt, welche Kosten einer
nicht behinderten Person während der gesamten Ausbildung entstehen würden; andererseits
werden die Kosten ermittelt, welche bei der behinderten Person bis zum Erreichen ihres Ausbildungszieles anfallen. Mehrkosten, welche dadurch entstehen, dass eine Person ohne zwingenden Grund eine teurere als die übliche Ausbildung wählt, werden dabei nicht berücksichtigt.
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Berufliche Ausbildung
»» Beispiel: Frau M ist stark sehbehindert. Sie möchte eine kaufmännische Ausbildung
absolvieren, und zwar an einer Handelsschule. Sie wünscht, dass die IV nicht nur die Kosten
für behinderungsbedingte Hilfsmittel und Dienstleistungen Dritter übernimmt, sondern
auch die Schulkosten finanziert. Die IV wird dies nur tun, wenn aufgrund der gesamten
Umstände erwiesen ist, dass der Besuch einer Handelsschule behinderungsbedingt notwendig ist und die Ausbildung nicht im Rahmen einer Berufslehre erfolgen kann.
Die IV übernimmt die Mehrkosten nur, wenn diese erheblich sind: Das ist der Fall, wenn sie
den Betrag von 400 Franken pro Jahr erreichen.
Folgende behinderungsbedingte Mehrkosten werden von der IV finanziert:
• Ausbildungskosten (Schulgelder, Gebühren, Kursgelder, Kosten für Lehrmittel)
• Nötige Hilfsmittel sowie Kosten für Dienstleistungen Dritter (wie Vorlesehilfen bei Blinden und Gebärdensprachdolmetscher bei Gehörlosen)
• Transportkosten (wenn die Benützung des öffentlichen Verkehrs nicht möglich ist: Taxikosten oder Kosten für die Benützung privater Fahrzeuge)
• Kosten für auswärtige Unterkunft und Verpflegung: Die Kosten für eine auswärtige Unterbringung werden nur übernommen, wenn diese behinderungsbedingt notwendig ist oder
eine unerlässliche Bedingung für eine erfolgreiche Ausbildung darstellt, oder wenn eine
Rückkehr zum Wohnort nicht möglich oder zumutbar ist.
Wann gewährt die IV während der erstmaligen beruflichen Ausbildung
ein Taggeld?
Während der erstmaligen beruflichen Ausbildung besteht Anspruch auf ein sog. „kleines Taggeld“, jedoch nur, wenn eine Person während dieser Ausbildung behinderungsbedingt eine
Erwerbseinbusse erleidet.
»» Beispiel: Frau S absolviert eine praktische Ausbildung in einer geschützten Eingliederungsstätte. Es ist davon auszugehen, dass sie ohne Behinderung eine gewöhnliche Berufslehre absolviert und dabei einen Lehrlingslohn bezogen hätte. Damit erleidet sie behinderungsbedingt während ihrer Ausbildung einen Erwerbsausfall und hat Anspruch auf ein
Taggeld.
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Berufliche Ausbildung
»» Beispiel: Herr F besucht das Gymnasium. Die IV übernimmt verschiedene invaliditätsbedingte Mehrkosten. Da Herr F auch ohne Behinderung während der Gymnasialzeit über
kein regelmässiges Erwerbseinkommen verfügen würde, erleidet er keine behinderungsbedingte Erwerbseinbusse. Er hat keinen Anspruch auf ein Taggeld.
Auch wenn Herr F später studiert, wird er kein Taggeld beanspruchen können, es sei denn
er könne glaubhaft machen, dass er das Studium als Werkstudent absolviert hätte und
dies nun wegen seiner Behinderung nicht kann. Verzögert sich die Ausbildung als Folge
der behinderungsbedingten Beeinträchtigungen und würde Herr F in der Zwischenzeit im
Erwerbsleben stehen, so hat er ab diesem Zeitpunkt jedenfalls Anspruch auf ein Taggeld.
»» Beispiel: Frau A konnte lange Zeit wegen erheblicher psychischer Störungen weder eine
Ausbildung absolvieren noch einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Nun hat sich ihr Gesundheitszustand im Alter von 26 Jahren stabilisiert und sie beginnt mit Verspätung ihre erstmalige berufliche Ausbildung. Da Frau A ohne Behinderung bereits im Erwerbsleben stehen
würde, erleidet sie eine behinderungsbedingte Erwerbseinbusse. Sie hat somit Anspruch auf
ein Taggeld.
Das „kleine Taggeld“ beträgt Fr. 34.60 pro Tag. Hat eine Person das 20. Altersjahr vollendet
und würde sie ohne ihre Behinderung bereits im Erwerbsleben stehen, so erhöht sich das „kleine Taggeld“ auf Fr. 103.80 pro Tag. Zu dieser Grundentschädigung kommt noch ein Kindergeld von täglich 7 Franken pro Kind hinzu.
Das Taggeld wird gekürzt, wenn die IV während der Ausbildung für Unterkunft und Verpflegung aufkommt, und zwar um 20% (jedoch höchstens 20 Franken pro Tag). Bei Personen mit
Unterhaltspflichten für Kinder wird das Taggeld um 10% (jedoch höchstens 10 Franken pro
Tag) gekürzt. Gekürzt wird es auch, wenn die behinderte Person während der Ausbildung einen
Ausbildungslohn erzielt, und zwar um die Höhe dieses Ausbildungslohnes.
Abgrenzung zur Umschulung
Es kommt vor, dass eine Person eine Ausbildung aufnimmt, diese dann aber aus gesundheitlichen Gründen abbrechen muss. Wird dann eine neue Ausbildung aufgenommen, so
betrachtet die IV diese ebenfalls als „erstmalige berufliche Ausbildung“ und übernimmt die
weiter vorne beschriebenen Leistungen. Von dieser Regel wird nur dann abgewichen, wenn die
behinderte Person während der abgebrochenen Ausbildung bereits ein monatliches Einkommen von mindestens 3'114 Franken erzielt hat. Dann betrachtet die IV die neue Ausbildung als
„Umschulung“.
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Berufliche Ausbildung
»» Beispiel: Herr G ist während seines Medizinstudiums an Schizophrenie erkrankt und
musste seine Ausbildung nach 3 Jahren abbrechen. Er meldet sich ein Jahr später bei der
IV für berufliche Massnahmen an. Nach erfolgter Berufsberatung stellt sich heraus, dass
eine Wiederaufnahme eines Studiums nicht mehr in Frage kommt. Es wird eine Lehre in der
Reisebranche angepeilt.
Die neue Ausbildung wird von der IV-Stelle als erstmalige berufliche Ausbildung betrachtet,
denn Herr G hat in seinem Studium zuvor noch keinen Lohn von mindestens 3'114 Franken
monatlich erzielt. Herr G wird ab dem Zeitpunkt, in dem er sein Medizinstudium beendet
hätte, eine „kleines Taggeld“ erhalten.
Wie verhält es sich, wenn eine Person nach Abschluss der Schule ohne berufliche Ausbildung
eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hat, diese Erwerbstätigkeit nun aber aus gesundheitlichen
Gründen aufgeben muss? Auch in solchen Fällen kann unter Umständen mit einer Ausbildung
die Erwerbsfähigkeit wieder wesentlich verbessert werden. Gelangt die IV zu diesem Schluss,
wird sie die Ausbildung als „Umschulung“ finanzieren, denn die betroffene Person ist zuvor
bereits erwerbstätig gewesen.
Anders verhält es sich nur dann, wenn eine Person bei Schulabschluss bereits gesundheitlich
beeinträchtigt gewesen ist und in der Folge zwar eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hat,
diese sich jedoch zum vornherein als ungeeignet und auf die Dauer als unzumutbar erweist.
Wird in einem solchen Fall nachträglich zur Verbesserung der Erwerbsfähigkeit eine der Behinderung angepasste Ausbildung in Angriff genommen, wird diese von der IV als „erstmalige
berufliche Ausbildung“ betrachtet.
»» Beispiel: Herr C leidet an erheblichen rheumatischen Beschwerden. Nach Schulabschluss
beginnt er zu jobben und arbeitet z.T. auf dem Bau, z.T. in Reparaturwerkstätten. Die Arbeitsverhältnisse dauern jeweils nicht sehr lange, da Herr C aus gesundheitlichen Gründen
den Anforderungen nicht gewachsen ist. Die Ärzte raten dringend zur Aufnahme einer der
Behinderung angepassten Tätigkeit ohne Belastungen des Bewegungsapparates.
Herr C meldet sich schliesslich nach 2 Jahren bei der IV für berufliche Massnahmen an.
Obschon Herr C bereits während 2 Jahren erwerbstätig gewesen ist, wird die IV eine Ausbildung nicht als „Umschulung“, sondern als „erstmalige berufliche Ausbildung“ unterstützen.
12
Berufliche Ausbildung
Rechtliche Grundlagen
• Anspruch auf Übernahme der invaliditätsbedingte Mehrkosten einer erstmaligen berufliche
Ausbildung: Art. 16 Abs. 1 IVG
• In Betracht fallende erstmalige berufliche Ausbildungen: Art. 5 Abs. 1 IVV
• Vorbereitung auf eine Tätigkeit in einer geschützten Werkstätte: Art. 16 Abs. 2 Buchst. a IVG
• Neuausbildung nach aufgenommener Erwerbstätigkeit: Art. 16 Abs. 2 Buchst. b IVG
• Wesentlichkeit von invaliditätsbedingten Mehrkosten: Art. 5 Abs. 2 IVV
• Ermittlung der anrechenbaren invaliditätsbedingten Mehrkosten: Art. 5 Abs. 3-6 IVV
• Taggeld während der erstmaligen beruflichen Ausbildung: Art. 23 Abs. 1, 2 und 2bis, Art
23bis, Art. 24 und 24bis IVG, Art. 22 IVV
• Verwaltungsweisungen zur erstmaligen beruflichen Ausbildung: Kreisschreiben über die
Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art (KSBE), Ziffern 3001-3051
• Verwaltungsweisungen zum Taggeld: Kreisschreiben über die Taggelder der Invalidenversicherung (KSTI)
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Berufliche Ausbildung
Berufliche Weiterbildung
Heute ist es üblich, dass sich Menschen im Laufe ihrer Berufskarriere weiterbilden oder eine
neue Ausbildung absolvieren. Behinderte Menschen sollen bei solchen Weiterbildungen weder
privilegiert noch benachteiligt werden. Das bedeutet, dass sie für die üblichen Ausbildungskosten gleich wie andere Menschen selber aufkommen müssen. Entstehen ihnen jedoch als Folge
der Behinderung Mehrkosten, so übernimmt die IV diese Mehrkosten. Im Gegensatz zur erstmaligen beruflichen Ausbildung und zu einer behinderungsbedingt notwendigen Umschulung
leistet die IV bei der beruflichen Weiterbildung allerdings keine Taggelder.
In diesem Kapitel werden die Voraussetzungen für die Kostenübernahme im Einzelnen erläutert
und die Leistungen der IV dargestellt.
»
Unter welchen Voraussetzungen übernimmt die IV die Kosten
einer beruflichen Weiterbildung?
»
Abgrenzung zur erstmaligen beruflichen Ausbildung und zur Umschulung
»
Welche Weiterbildungen fallen in Betracht?
»
Welche Leistungen übernimmt die IV während einer beruflichen Weiterbildung?
»
Rechtliche Grundlagen
Unter welchen Voraussetzungen übernimmt die IV die Kosten
einer beruflichen Weiterbildung?
Die IV übernimmt die invaliditätsbedingten Mehrkosten einer beruflichen Weiterbildung, wenn
• die Weiterbildung geeignet ist, d.h. wenn sie den Neigungen und Fähigkeiten der behinderten Person entspricht
• die Weiterbildung angemessen ist, d.h. wenn die Kosten in einem vernünftigen Verhältnis
zum Nutzen stehen
• mit der Weiterbildung die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erhalten oder verbessert werden
kann: Die berufliche Weiterbildung soll zur Erhaltung oder Verbesserung der Erwerbsfähigkeit beitragen, sie muss aber nicht invaliditätsbedingt notwendig sein.
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Berufliche Ausbildung
»» Beispiel: Frau K ist gehörlos. Sie hat eine Ausbildung als Hochbauzeichnerin absolviert
und nun schon einige Jahre auf ihrem Beruf gearbeitet. Nun will sie sich im CAD-Zeichnen
weiterbilden und entsprechende Kurse besuchen. Mit dieser Weiterbildung will Frau K fachlich à jour bleiben und ihre Vermittlungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt erhalten.
Obschon die Weiterbildung nicht behinderungsbedingt notwendig geworden ist, übernimmt
die IV die behinderungsbedingten Mehrkosten, die während der Weiterbildungskurse anfallen (z.B. Dolmetscherdienste).
Abgrenzung zur erstmaligen beruflichen Ausbildung und
zur Umschulung
Die Abgrenzung zwischen erstmaliger beruflicher Ausbildung und beruflicher Weiterbildung ist nicht immer ganz einfach zu ziehen, besonders bei Berufen, welche eine mehrstufige
Ausbildung erfordern. Die IV-Stellen gehen in der Regel davon aus, dass die erstmalige berufliche Ausbildung abgeschlossen ist, wenn eine Person einen üblichen Berufsabschluss (z.B.
Fähigkeitsausweis nach absolvierter Lehre) erworben hat, und dass alle späteren zusätzlichen
Ausbildungen dann als Weiterbildungen zu qualifizieren sind. Dies ist insofern von Bedeutung,
als die IV während der erstmaligen beruflichen Ausbildung unter gewissen Voraussetzungen
ein Taggeld entrichtet, nicht aber während einer beruflichen Weiterbildung. Wer von Beginn
weg ein Ausbildungsziel anstrebt, welches eine zweistufige Ausbildung voraussetzt, tut deshalb gut daran, dies klar zu kommunizieren: Dann wird die gesamte Ausbildung als erstmalige
berufliche Ausbildung finanziert werden müssen.
»» Beispiel: Herr C ist seit einem Unfall in der Jugend körperlich behindert. Er strebt eine
Berufstätigkeit als Elektroingenieur an. Er will als erstes eine Berufslehre absolvieren, dann
die Berufsmaturität erwerben und schliesslich an einer Fachhochschule studieren.
Es ist Herrn C zu empfehlen, sein Berufsziel von Anfang an mit dem Berufsberater der IV
festzulegen, damit der ganze Ausbildungsweg als erstmalige berufliche Ausbildung eingestuft wird. Dies hat den Vorteil, dass Herr C unter Umständen Anspruch auf ein Taggeld
hat, so z.B. wenn sich seine Ausbildung behinderungsbedingt verzögert und er dadurch im
Vergleich zu nicht behinderten Personen einen Erwerbsausfall erleidet.
Auch die Abgrenzung zwischen beruflicher Weiterbildung und Umschulung ist nicht immer
einfach zu ziehen. Sie ist aber von grosser Bedeutung, weil bei einer Umschulung sämtliche
Ausbildungskosten von der IV übernommen werden und praktisch immer ein Taggeld zur Auszahlung gelangt, während bei einer beruflichen Weiterbildung nur die behinderungsbedingten
Mehrkosten finanziert werden und grundsätzlich kein Taggeld entrichtet wird. Grundsätzlich
gilt eine Ausbildung dann als Umschulung, wenn sie invaliditätsbedingt notwendig geworden
ist und dazu dient, die Erwerbsfähigkeit wesentlich zu verbessern (zu den Voraussetzungen im
Einzelnen vgl. die Ausführungen im Kapitel „Umschulung“). Ist die neue Ausbildung nicht behinderungsbedingt notwendig, dann gilt sie als berufliche Weiterbildung.
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Berufliche Ausbildung
»» Beispiel: Frau A hat früher eine kaufmännische Ausbildung absolviert und als Sekretärin
gearbeitet. Infolge einer degenerativen Sehbehinderung ist Frau A praktisch erblindet und
kann auf ihrem bisherigen Beruf nur noch eine 50%-Leistung erbringen. Frau A möchte nun
eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin absolvieren, dies in der Meinung, dass sie auf diesem
Beruf durch ihre Behinderung weniger stark eingeschränkt ist und ein höheres Erwerbseinkommen erzielen kann.
Die IV-Stelle muss diese Ausbildung als Umschulung und nicht als Weiterbildung finanzieren, sofern Frau A den Anforderungen gewachsen ist und mit einer wesentlichen Verbesserung der Erwerbsfähigkeit gerechnet werden kann; denn es besteht hier durchaus eine
„invaliditätsbedingte Notwendigkeit“ der Neuausbildung. Frau A erhält deshalb sämtliche
Ausbildungskosten vergütet und nicht nur die behinderungsbedingten Mehrkosten. Zudem
hat sie Anspruch auf ein Taggeld während der Ausbildung.
Welche Weiterbildungen fallen in Betracht?
Es fallen sämtliche Weiterbildungen in Betracht, welche geeignet sind, die Erwerbsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt zu erhalten oder zu verbessern. Denkbar sind sowohl Weiterbildungen im bisherigen Berufsfeld wie auch Ausbildungen in einem gänzlich neuen Berufsfeld.
»» Beispiel: Der gehörlose Herr S hat bisher während längerer Zeit als Sanitärinstallateur
gearbeitet. Nun will er sich beruflich verändern und vermehrt in der Administration, Planung und Arbeitsvorbereitung tätig sein. Er möchte deshalb eine Ausbildung zum Arbeitsvorbereiter absolvieren.
Weil diese berufliche Weiterbildung zu einer Verbesserung der Erwerbsmöglichkeiten auf
dem ersten Arbeitsmarkt führt, übernimmt die IV sämtliche behinderungsbedingte Mehrkosten (z.B. nötige Dolmetscherdienste) während der Ausbildung.
Das Gesetz schliesst die Übernahme der behinderungsbedingten Mehrkosten durch die IV einzig bezüglich der Ausbildungsangebote von subventionierten Behindertenorganisationen aus.
Das BSV könnte allerdings in begründeten Fällen ausnahmsweise auch solche Ausbildungsangebote auf Gesuch hin zulassen.
Welche Leistungen übernimmt die IV während einer beruflichen
Weiterbildung?
Die IV übernimmt die behinderungsbedingten Mehrkosten der Ausbildung. Diese werden im
Rahmen einer Vergleichsrechnung ermittelt: Es wird einerseits abgeklärt, welche Kosten einer
nicht behinderten Person während der Ausbildung entstehen würden; andererseits werden die
Kosten ermittelt, welche bei der behinderten Person bis zum Erreichen ihres Ausbildungszieles
anfallen.
16
Berufliche Ausbildung
Mehrkosten, welche dadurch entstehen, dass eine Person ohne zwingenden Grund eine teurere
als die übliche Ausbildung wählt, werden dabei nicht berücksichtigt.
Die IV übernimmt die Mehrkosten nur, wenn diese erheblich sind: Das ist der Fall, wenn sie
den Betrag von 400 Franken pro Jahr erreichen.
Folgende behinderungsbedingte Mehrkosten werden von der IV finanziert:
• Ausbildungskosten (Kosten für speziell angepasste Lehrmittel)
• Nötige Hilfsmittel sowie Kosten für Dienstleistungen Dritter (wie Vorlesehilfen bei Blinden und Gebärdensprachdolmetscher bei Gehörlosen)
• Transportkosten (wenn die Benützung des öffentlichen Verkehrs nicht möglich ist: Taxikosten oder Kosten für die Benützung privater Fahrzeuge)
• Kosten für auswärtige Unterkunft und Verpflegung: Die Kosten für eine auswärtige Unterbringung werden nur übernommen, wenn diese behinderungsbedingt notwendig ist oder
eine unerlässliche Bedingung für eine erfolgreiche Ausbildung darstellt, oder wenn eine
Rückkehr zum Wohnort nicht möglich oder zumutbar ist.
Anders als bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung leistet die IV bei einer Weiterbildung
aber kein Taggeld; und dies selbst dann nicht, wenn eine behinderte Person für die Weiterbildung mehr Zeit benötigt und dadurch nicht in der Lage ist, neben der Weiterbildung noch
einem Erwerb nachzugehen. In Einzelfällen kann diese Versicherungslücke bedauerlicherweise
dazu führen, dass eine betroffene Person auf die gewünschte Weiterbildung verzichten muss.
Rechtliche Grundlagen
• Anspruch auf Übernahme der behinderungsbedingte Mehrkosten einer beruflichen Weiterbildung: Art. 16 Abs. 2 Buchst. c IVG
• Keine invaliditätsbedingte Notwendigkeit der Weiterbildung: Art. 8 Abs. 2bis IVV
• Anrechenbare behinderungsbedingte Mehrkosten: Art. 5bis IVV
• Verwaltungsweisungen zur Weiterbildung: Kreisschreiben über die Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art (KSBE), Ziffern 3017-3019, 3027-3030
17
Berufliche Ausbildung
Umschulung
Ist die Ausübung der bisherigen beruflichen Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht
mehr oder nur noch in beschränktem Rahmen möglich, können aber die Erwerbsmöglichkeiten
mit einer anderen, besser angepassten Tätigkeit verbessert werden, muss eine Umschulung
geprüft werden.
Die IV ist (neben der Militärversicherung) die einzige Versicherung, welche die Kosten einer
Umschulung übernehmen kann. In diesem Kapitel werden die Voraussetzungen für eine solche
Kostenübernahme im Einzelnen erläutert und die Leistungen der IV während einer Umschulung
dargestellt.
»
Unter welchen Voraussetzungen übernimmt die IV eine Umschulung?
»
Wann gilt eine Umschulung als invaliditätsbedingt notwendig?
»
Verbesserung der Erwerbsfähigkeit als Ziel
»
Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit
»
Abgrenzung zur erstmaligen beruflichen Ausbildung
»
Welche Umschulungsmassnahmen kommen in Betracht?
»
Welche Leistungen erbringt die IV während einer Umschulung?
»
Wie weiter nach Abschluss einer Umschulung?
»
Rechtliche Grundlagen
Unter welchen Voraussetzungen übernimmt die IV eine Umschulung?
Umschulungen sind oft teuer. Sie werden deshalb von der IV nur unter einschränkenden Bedingungen finanziert. Damit die IV eine Umschulung übernimmt, müssen grundsätzlich 3 Voraussetzungen gegeben sein:
Die Umschulung muss invaliditätsbedingt notwendig sein.
Die Umschulung muss geeignet sein, die Erwerbsfähigkeit längerfristig wesentlich zu verbessern.
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Berufliche Ausbildung
Die Umschulung muss unter den gegebenen Umständen als verhältnismässig erscheinen. Sie
soll nicht dazu führen, dass die behinderte Person am Ende der Umschulung bessere Verdienstmöglichkeiten als ohne Invalidität erhält.
Wann gilt eine Umschulung als invaliditätsbedingt notwendig?
Die Tatsache, dass eine behinderte Person den bisherigen Beruf nicht mehr oder nur noch beschränkt ausüben kann, löst noch nicht automatisch einen Anspruch auf eine Umschulung aus.
Geprüft wird immer, ob nicht ein Ausweichen auf eine andere Erwerbstätigkeit infrage kommt.
Praxisgemäss muss dabei die behinderte Person sogar einen gewissen Einkommensverlust in
Kauf nehmen. Beträgt dieser jedoch rund 20% oder mehr, so gilt er als unzumutbar.
Eine Umschulung bedingt somit nach konstanter Rechtsprechung einen Invaliditätsgrad von
mindestens 20%. Ermittelt wird dieser durch einen Vergleich des Einkommens, welche die
behinderte Person ohne gesundheitliche Beeinträchtigung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erzielt hätte (hypothetisches Einkommen ohne Invalidität) mit dem Einkommen, welches sie
auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt (ohne Umschulung) zumutbarer weise noch zu erzielen
vermag (zumutbares Invalideneinkommen).
»» Beispiel: Herr T ist Zimmermann und hat 20 Jahre auf seinem Beruf als Vorarbeiter
gearbeitet und zuletzt einen Lohn von monatlich 6'800 Franken erzielt. Wegen erheblichen
Rückenbeschwerden muss er seine Tätigkeit aufgeben. Er wünscht eine Umschulung zum
technischen Kaufmann.
Die IV übernimmt diese Umschulung. Sie geht davon aus, dass Herr T in einer angepassten
leichten Tätigkeit als Hilfsarbeiter unter Berücksichtigung seiner Leistungseinschränkungen
maximal noch einen Verdienst von 4'500 Franken erzielen könnte. Es liegt somit ein Invaliditätsgrad von 33% vor, welcher zu einer Umschulung berechtigt.
»» Beispiel: Frau F hat 10 Jahre als Coiffeuse gearbeitet und zuletzt einen Lohn von 3'400
Franken monatlich erzielt. Wegen Arthrosen im Bereich der Schultern kann sie ihren Beruf
nicht mehr ausüben und wünscht deshalb die Umschulung auf eine kaufmännische Tätigkeit.
Die IV verweigert in diesem Fall die Übernahme einer Umschulung. Sie macht geltend, dass
Frau F zwar nicht mehr als Coiffeuse arbeiten könne, aber in einer angepassten Tätigkeit,
bei welcher mit den Armen nicht in erhöhter Position gearbeitet werden müsse, auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt als Hilfsarbeiterin weiterhin ein Einkommen in der Höhe des bisherigen Einkommens erzielen könne. Eine Umschulung sei deshalb nicht invaliditätsbedingt
notwendig. Das Beispiel zeigt, dass Personen (vor allem Frauen), die bisher in BilliglohnBerufen gearbeitet haben, oft die Umschulung verweigert wird.
19
Berufliche Ausbildung
»» Beispiel: Der 25-jährige Herr K kann seinen Beruf als Sanitätsinstallateur behinderungsbedingt nicht mehr ausüben. Sein Arbeitgeber wäre allerdings bereit, ihn im Magazin weiter zu beschäftigen, wobei er statt 4'500 noch 3'800 Franken Lohn bezahlen würde. Herr K
wünscht jedoch lieber die Umschulung auf eine neue Tätigkeit.
Obschon die behinderungsbedingte Erwerbseinbusse in diesem Fall bei 16% und somit
unter 20% liegt, hat Herr K Anspruch auf Umschulung auf einen Beruf, bei welchem er
gleichwertige Erwerbsmöglichkeiten wie bisher erhält. Denn bei jüngeren Versicherten, die
über eine abgeschlossene berufliche Ausbildung verfügen, werden die realen lohnmässigen
Aufstiegsmöglichkeiten mitberücksichtigt. Es kann davon ausgegangen werden, dass Herr
K sein Einkommen als Berufsmann im Lauf der Jahre deutlich gesteigert hätte, während
ihm dies als Hilfsarbeiter wesentlich schwerer fallen würde.
Anspruch auf eine Umschulung besteht nicht erst, wenn eine Invalidität von mindestens 20%
bereits entstanden ist, sondern auch dann, wenn sie zu entstehen droht. Die Prognose einer
drohenden Invalidität muss ärztlich mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit festgehalten worden sein.
Verbesserung der Erwerbsfähigkeit als Ziel
Eine behinderte Person hat nur dann Anspruch auf eine Umschulung, wenn diese geeignet
ist, ihre Erwerbsfähigkeit erheblich zu verbessern. Droht eine weitere Verschlechterung der
Erwerbsfähigkeit, so kann eine Umschulung auch die Erhaltung der bisherigen Erwerbsfähigkeit
zum Ziel haben.
Ob mit einer Umschulung die Erwerbsfähigkeit verbessert oder erhalten werden kann, beurteilt
die IV aufgrund der medizinischen Berichte und der Stellungnahme ihrer Berufsfachleute. Es
empfiehlt sich deshalb eine enge und konstruktive Zusammenarbeit mit den Berufsberatern der
IV. Erfahrungsgemäss übernimmt die IV nur dann eine Umschulung, wenn das Vorhaben von
den Berufsfachleuten der IV unterstützt wird.
»» Beispiel: Frau S hat als Pflegefachfrau gearbeitet. Wegen erheblicher psychischer
Störungen musste sie ihre bisherige Tätigkeit aufgeben. Nachdem sich ihr Gesundheitszustand wieder etwas stabilisiert hat, wünscht Frau S eine Umschulung zur CraniosacralTherapeutin.
Die Berufsberaterin der IV gelangt zum Schluss, dass Frau S auch in der gewünschten
neuen Tätigkeit nur mit einem beschränkten Pensum wird arbeiten können und dass die Erwerbsfähigkeit durch die Umschulung nicht in erheblichem Mass verbessert werden kann,
zumal der Aufbau einer selbständigen Erwerbstätigkeit eine gewisse persönliche Stabilität
voraussetzt. Die IV lehnt gestützt auf diese Einschätzung die Übernahme der Umschulungskosten ab.
20
Berufliche Ausbildung
Die Erwerbsfähigkeit muss mit einer Umschulung für eine längere Dauer verbessert werden
können. Bei einer schlechten Prognose über den Verlauf einer Krankheit wird die IV keine mehrjährigen Umschulungen übernehmen, sondern allenfalls eine kürzere Umschulung z.B. von
einem Jahr. Steht eine Person kurz vor dem AHV-Alter, so wird ebenfalls berücksichtigt, ob in
diesem Alter noch realistische Chancen bestehen, auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Stelle in
der neue erlernten Tätigkeit zu finden.
Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit
Eine Umschulung wird von der IV nur bezahlt, wenn sie unter Würdigung der gesamten Umstände als verhältnismässig erscheint: Die (oft hohen) Kosten müssen in einem vernünftigen
Verhältnis zum erwarteten Eingliederungserfolg stehen. Bei jüngeren Personen, die noch eine
längere Erwerbskarriere vor sich haben, darf eine mehrjährige Ausbildung auf einen neuen Beruf durchaus als verhältnismässig betrachtet werden. Ab 55 Jahren erfüllen demgegenüber solche Ausbildungen das Kriterium der Verhältnismässigkeit kaum je, weshalb kürzere Umschulungen im Vordergrund stehen, welche an den bisherigen beruflichen Fertigkeiten anknüpfen.
Aus der Sicht der IV soll eine Umschulung der behinderten Person möglichst zu gleichwertigen, aber nicht zu höheren Verdienstmöglichkeiten verhelfen, als sie ohne ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen hätte. In der Regel wird deshalb eine Umschulung nur im Hinblick
auf einen gleichwertigen Berufsabschluss gewährt. Nur in Ausnahmefällen kann auch eine
Umschulung auf einen höheren Berufsabschluss übernommen werden, nämlich dann, wenn nur
mit einem solchen höheren Berufsabschluss gleichwertige Verdienstmöglichkeiten bestehen.
Entschliesst sich eine behinderte Person, eine mehrjährige Umschulung mit hohen Kosten zu
absolvieren, obschon die IV eine weniger kostspielige kürzere Umschulung unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit als genügend betrachtet, so gilt der Grundsatz der Austauschbefugnis: Die IV-Stelle kann in solchen Fällen nicht jegliche Kostenübernahme verweigern,
sondern sie muss an die gewählte Ausbildung einen Kostenbeitrag in der Höhe der Kosten der
von ihr als genügend betrachteten Umschulung leisten.
»» Beispiel: Frau H hat bisher während vielen Jahren als Pflegerin in einer Spitex-Organisation gearbeitet. Sie kann diese Tätigkeit wegen Rückenbeschwerden nicht mehr ausüben.
Die IV ist bereit, ihr eine 1-jährige Umschulung zu ermöglichen, damit sie Aufgaben im
Administrativbereich einer Spitex-Organisation übernehmen kann. Frau H entschliesst sich
aber, eine Umschulung zur Psychotherapeutin zu absolvieren.
Die IV gewährt ihr an diese Umschulung, die sie zwar als Erfolg versprechend, aber nicht
als verhältnismässig betrachtet, einen Kostenbeitrag in der Höhe der Kosten (Ausbildungskosten, Taggeld), welche der IV im Rahmen der vorgeschlagenen 1-jährigen Umschulung
entstanden wären.
21
Berufliche Ausbildung
Frau H versucht die ungedeckten Mehrkosten einerseits aus ihrem Vermögen, andererseits
mit Gesuchen um finanzielle Unterstützung an Organisationen und Stiftungen zu decken.
Abgrenzung zur erstmaligen beruflichen Ausbildung
Eine Umschulung wird von der IV nur finanziert, wenn eine Person bereits erwerbstätig gewesen ist (und dies nicht nur im Sinne vorübergehender Jobs) und nun diese Erwerbstätigkeit aus
gesundheitlichen Gründen aufgeben muss. Ist eine Person hingegen bereits vor Beginn ihrer Erwerbskarriere gesundheitlich beeinträchtigt und benötigt deswegen während ihrer Ausbildung
Unterstützung, so finanziert die IV die entsprechenden Kosten unter dem Titel einer „erstmaligen beruflichen Ausbildung“.
Die Unterscheidung ist wichtig, weil die IV bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung nur die
invaliditätsbedingten Mehrkosten der Ausbildung finanziert und nur ein vergleichsweise bescheidenes Taggeld während der Ausbildung bezahlt. Im Falle einer Umschulung kommt die IV
jedoch für die gesamten Ausbildungskosten auf und bezahlt in aller Regel ein höheres Taggeld.
Schwierig ist die Abgrenzung häufig dann, wenn eine erstmalige berufliche Ausbildung aus
gesundheitlichen Gründen abgebrochen werden muss. In diesem Fall gilt eine Neuausbildung
dann als „Umschulung“, wenn die behinderte Person während der abgebrochenen Ausbildung
bereits ein monatliches Einkommen von mindestens 3'114 Franken erzielt hat.
Welche Umschulungsmassnahmen kommen in Betracht?
Je nach Alter, Art der Behinderung und persönlichen Fähigkeiten kommen unterschiedliche
Massnahmen infrage:
In erster Linie ist vor allem bei jüngeren Versicherten eine vollwertige Berufslehre oder zumindest eine Anlehre oder Attestausbildung nach Berufsbildungsgesetz anzustreben.
Infrage kommt aber auch der Besuch einer Mittel-, Fach- oder Hochschule, sofern dieser als
verhältnismässig angesehen werden kann.
Ist eine eigentliche berufliche Ausbildung nicht zweckmässig, so kann auch der Besuch von Berufs- und Fachkursen als Umschulung von der IV übernommen werden, eventuell verbunden
mit einer Einarbeitung an einem neuen Arbeitsplatz.
22
Berufliche Ausbildung
Ebenfalls als Umschulung können Vorbereitungsmassnahmen im Rahmen eines eigentlichen
Eingliederungsplans finanziert werden, wie z.B. notwendige Sprachkurse oder ein gezieltes
Arbeitstraining.
»» Beispiel: Frau B ist im Alter von 40 Jahren erblindet. Sie will eine kaufmännische Ausbildung absolvieren. Bevor sie eine solche beginnen kann, muss sie während eines halben
Jahres im Rahmen einer Rehabilitation den Umgang mit blindentechnischen Hilfsmitteln an
einer spezialisierten Ausbildungsstätte erlernen. Diese vorbereitende Massnahme wird von
der IV im Rahmen der Umschulung finanziert.
Die notwendige Wiedereinschulung in den bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich kann
schliesslich ebenfalls als Umschulung übernommen werden.
Welche Leistungen erbringt die IV während einer Umschulung?
Kommt die IV für eine Umschulung auf, so übernimmt sie einerseits sämtliche Kosten, die im
Rahmen der Umschulung anfallen, und entrichtet andererseits ein Taggeld zur Deckung des
Erwerbsausfalls.
Als Umschulungskosten finanziert werden:
• Schul-, Lehr- und Ausbildungsgelder, Seminar-, Praktikums- und Prüfungsgebühren
• Kosten für notwendige Lehrmittel und behinderungsbedingte Hilfsmittel
• Dienstleistungen Dritter im Zusammenhang mit der Ausbildung: Gebärdensprachdolmetscher bei Gehörlosen, Vorlesehilfen bei Blinden
• Transportkosten zum Ausbildungsort: Kosten der öffentlichen Transportmittel oder, falls
deren Benützung nicht möglich oder zumutbar ist, die Kosten von privaten Transportmitteln oder Taxis.
• Kosten für auswärtige Unterkunft und Verpflegung: Die Kosten für eine auswärtige
Unterbringung werden allerdings nur übernommen, wenn diese behinderungsbedingt
notwendig ist oder eine unerlässliche Bedingung für eine erfolgreiche Ausbildung darstellt,
oder wenn die Rückkehr zum Wohnort nicht möglich oder nicht zumutbar ist.
Während der Umschulung wird ein Taggeld bezahlt: Dieses beträgt 80% des letzten Einkommens, welches vor der Umschulung ohne die gesundheitliche Einschränkung erzielt worden ist,
jedoch maximal 277 Franken pro Tag (oder 8'310 Franken pro Monat). Zu dieser Grundentschädigung kommt noch ein Kindergeld von täglich 7 Franken (monatlich 210 Franken) pro Kind
hinzu.
23
Berufliche Ausbildung
Das Taggeld wird gekürzt, wenn die IV während der Ausbildung für Unterkunft und Verpflegung aufkommt, und zwar um 20% (jedoch höchstens 20 Franken pro Tag). Bei Personen mit
Unterhaltspflichten für Kinder wird das Taggeld um 10% (jedoch höchstens 10 Franken pro
Tag) gekürzt. Gekürzt wird es auch, wenn die behinderte Person während der Ausbildung einen
Ausbildungslohn erzielt: In diesem Fall dürfen Ausbildungslohn und Taggeld zusammen nicht
höher sein als das letzte Einkommen, welches vor der Umschulung erzielt worden ist.
Wie weiter nach Abschluss einer Umschulung?
Ist eine Umschulung mit Erfolg absolviert worden, so prüft die IV, ob die behinderte Person
nun in der Lage ist, dank der Umschulung ein rentenausschliessendes Einkommen zu erzielen.
Bejaht sie dies, so wird sie dies mit einem entsprechenden Schreiben mitteilen. Wer mit dieser
Einschätzung nicht einverstanden ist, kann verlangen, dass der Rentenanspruch geprüft und
eine Verfügung erlassen wird.
Ist eine Person in der Lage, ein rentenausschliessendes Einkommen zu erzielen, bedeutet dies
noch nicht, dass sie ohne weiteres eine entsprechende Stelle findet: Hier kann von der IV auch
Hilfe bei der Arbeitsuche verlangt werden („Arbeitsvermittlung“). Die IV gewährt allerdings
während der Dauer der Arbeitsuche kein Taggeld. Ein solches kann aber von der Arbeitslosenversicherung beansprucht werden.
»» Beispiel: Herr T ist von der IV während eines Jahres zum technischen Kaufmann umgeschult worden. Er hat die Ausbildung mit Erfolg abgeschlossen worden, findet aber nicht
sofort eine Stelle. Das Taggeld der IV wird mit dem letzten Ausbildungstag eingestellt. Herr
T sollte sich nun unbedingt an die Arbeitslosenversicherung zwecks Bezugs von Taggeldern
wenden. Damit er keine Leistungskürzungen riskiert, sollte er sich kurz vor Ausbildungsabschluss bei der Arbeitslosenversicherung anmelden und wenn möglich mit der Stellensuche
bereits vor Ausbildungsende beginnen.
Wenn die Umschulung zwar zu einer Verbesserung der Erwerbsmöglichkeiten auf dem ersten
Arbeitsmarkt geführt hat, aber immer noch beträchtliche Leistungseinschränkungen verbleiben,
muss die IV prüfen, wie hoch der verbleibende Invaliditätsgrad ist. Liegt er immer noch über
40%, so muss die IV-Stelle eine Rente gewähren. Auch in diesem Fall gilt: Solange das Rentenprüfungsverfahren andauert, ist die Anmeldung bei der Arbeitslosenversicherung wichtig,
zumindest solange eine Teilarbeitsfähigkeit (und damit eine Vermittlungsfähigkeit) besteht.
Nicht immer werden Umschulungen erfolgreich abgeschlossen. Abbrüche sind relativ häufig,
sei es, weil das Ausbildungspotential falsch eingeschätzt worden ist oder weil sich der Gesundheitszustand während der Ausbildung weiter verschlechtert hat. In diesen Fällen muss die IV
immer prüfen, ob eventuell mit einer anderen (eventuell weniger anspruchsvollen) Ausbildung
das Eingliederungsziel besser erreicht werden kann. Eine ähnliche Prüfung muss im Übrigen
auch dann erfolgen, wenn zwar eine Umschulung mit Erfolg abgeschlossen worden ist, der neu
erlernte Beruf jedoch längerfristig kein angemessenes Erwerbseinkommen verschafft.
24
Berufliche Ausbildung
Wenn anzunehmen ist, dass mit zusätzlichen Umschulungsmassnahmen die Erwerbsmöglichkeiten verbessert werden können, können weitere Umschulungen beansprucht werden.
Rechtliche Grundlagen
• Anspruch auf Umschulung: Art. 17 IVG, Art. 6 Abs. 1 IVV
• Abgrenzung zur erstmaligen beruflichen Ausbildung: Art. 6 Abs. 2 IVV
• Leistungen der IV bei Umschulung: Art. 6 Abs. 3 und 4, Art. 90 Abs. 4 IVV
• Taggeld während der Umschulung: Art. 23, 23bis, 24 und 24bis IVG, Art. 21-21octies IVV
• Verwaltungsweisungen zur Umschulung: Kreisschreiben über die Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art (KSBE), Ziffern 4001-4039
• Verwaltungsweisungen zum Taggeld: Kreisschreiben über die Taggelder der Invalidenversicherung (KSTI)
25
26
ASSISTENZ
• Finanzierung der Pflege durch
die Krankenversicherung,
Unfallversicherung oder
Invalidenversicherung
• Möglichkeit 2: Finanzierung der
Pflege durch die Krankenversicherung, Unfallversicherung
oder Invalidenversicherung
• Hilflosenentschädigung
bei Volljährigen
• Hilflosenentschädigung
und Intensivpflegezuschlag
bei Minderjährigen
• Assistenzbeitrag
• Anstellung von Assistentinnen
und Assistenten
• Vergütung von Kosten der
Pflege, Betreuung und Hilfe
durch die Ergänzungsleistungen
Assistenz
Die Finanzierung der Pflege durch die
Krankenversicherung, Unfallversicherung
und Invalidenversicherung
Wird die Pflege auf ärztliche Anordnung von einem anerkannten „Leistungserbringer“ (wie z.B.
von einer Spitex-Organisation) erbracht, so haben die Krankenkassen einen durch Gesetz und
Verordnung festgelegten Beitrag an die Kosten zu leisten. In diesem Kapitel wird beschrieben,
welche Pflegeleistungen auf diesem Weg finanziert werden können, von welchen Leistungserbringern diese Pflege durchgeführt werden muss und wie hoch die Beiträge im Einzelnen sind.
Keine oder höchstens eine ergänzende Leistungspflicht trifft die Krankenkassen in zwei Fällen:
Einerseits wenn die Pflege als Folge eines Unfalls nötig wird und die betreffende Person im
Zeitpunkt des Unfalls aufgrund des Unfallversicherungsgesetzes versichert gewesen ist; andererseits wenn die Pflege infolge eines von der IV anerkannten Geburtsgebrechens nötig wird. In
diesen Fällen müssen die Unfallversicherung resp. die IV für die Pflegekosten unter bestimmten
Bedingungen aufkommen: Auch diese werden in diesem Kapitel näher umschrieben.
28
»
Zur Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
»
An welche Pflegeleistungen zahlen die Krankenkassen einen Beitrag?
»
Welches sind die anerkannten Leistungserbringer?
»
Wie hoch sind die Beiträge der Krankenversicherung und wer bezahlt die restlichen
Kosten?
»
Können die Krankenkassen die Leistungen kürzen?
»
Sonderfall Akut- und Übergangspflege
»
Wann kommt die Unfallversicherung für die Pflegekosten auf und welches sind ihre
Leistungen?
»
Wann kommt die IV für die Pflegekosten auf und welches sind ihre Leistungen?
»
Rechtliche Grundlagen
Assistenz
Zur Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
Alle Personen mit Wohnsitz in der Schweiz müssen sich seit 1996 nach dem Krankenversicherungsgesetz (KVG) obligatorisch gegen die Folgen einer Krankheit versichern. Diese obligatorische Versicherung kennt keine Vorbehalte: Ab dem Zeitpunkt des Beitritts zu einer Krankenkasse besteht eine volle Versicherungsdeckung auch für gesundheitliche Beeinträchtigungen, die
vor dem Beitritt entstanden sind.
Die obligatorische Krankenpflegeversicherung kommt nicht nur für die Kosten der medizinischen Behandlung auf, sie leistet auch Beiträge an die Pflege, welche als Folge einer gesundheitlichen Beeinträchtigung benötigt wird. Diese Beiträge an die Pflege sind allerdings an
verschiedene Bedingungen geknüpft:
• Die Pflege muss auf ärztliche Anordnung erfolgen
• Sie muss von gesetzlich anerkannten Leistungserbringern durchgeführt werden
• Es muss sich um pflegerische Massnahmen im engeren Sinn handeln (Behandlungspflege,
Grundpflege)
Zusätzlich zur obligatorischen Krankenpflegeversicherung können freiwillige Zusatzversicherungen abgeschlossen werden, welche (je nach Versicherungsbedingungen) ebenfalls unterschiedlich hohe Beiträge an die Pflegekosten vorsehen. Diese Beiträge sind allerdings oft
zeitlich beschränkt. Es kommt hinzu, dass die Krankenkassen und Versicherungsgesellschaften
nicht verpflichtet sind, solche Zusatzversicherungen abzuschliessen. Sie können den Abschluss
verweigern oder Vorbehalte vorsehen, wenn im Zeitpunkt des gewünschten Versicherungsabschlusses bereits erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen bestehen.
An welche Pflegeleistungen zahlen die Krankenkassen einen Beitrag?
Die Krankenkassen haben an folgende Massnahmen einen Beitrag zu entrichten:
• Massnahmen der Abklärung und Beratung
• Massnahmen der Untersuchung und Behandlung (sog. „Behandlungspflege“)
• Massnahmen der Grundpflege
Unter die „Massnahmen der Abklärung“ fallen die Abklärung des Pflegebedarfs und des
Umfelds der Patienten sowie die gemeinsame Planung der notwendigen Massnahmen. Zu
den „Massnahmen der Beratung“ gehört die Beratung der Patienten sowie der an der Pflege
beteiligten Laien (Familienangehörige, Bekannte), insbesondere im Umgang mit Krankheitssymptomen, bei der Einnahme von Medikamenten oder beim Gebrauch medizinischer Geräte (z.B.
Inhalationsgeräte).
29
Assistenz
Unter die Behandlungspflege fallen medizinische Massnahmen wie z.B. die Messung von Puls,
Blutdruck und Temperatur, die einfache Bestimmung des Zuckers in Blut und Urin, die atemtherapeutischen Massnahmen (wie Sauerstoff-Verabreichung, Inhalation, Absaugen), das Einführen
von Sonden und Kathetern, die Verabreichung von Medikamenten oder das Spülen, Reinigen
und Versorgen von Wunden (z.B. Dekubitus-Pflege) oder von Körperhöhlen (z.B. Stoma- oder
Tracheostomiepflege). Auch die Unterstützung von psychisch kranken Menschen in Krisensituationen, insbesondere zur Vermeidung von Selbst- oder Fremdgefährdung, bildet Teil der
Behandlungspflege.
Zur allgemeinen Grundpflege gehört das Einbinden von Beinen und Anlegen von Kompressionsstrümpfen, das Betten und Lagern, die Durchführung von Bewegungsübungen und
die Dekubitusprophylaxe, die Hilfe bei der Mund- und Körperpflege, die Hilfe beim An- und
Auskleiden sowie die Hilfe beim Essen. Zur psychiatrischen Grundpflege gehört die Überwachung und Unterstützung von psychisch kranken Personen bei der Alltagsbewältigung (z.B.
Erarbeitung und Einübung einer angepassten Tagesstruktur oder zielgerichtetes Training zur
Förderung sozialer Kontakte).
Die in Art. 7 Abs. 2 KLV aufgezählten Pflegeleistungen sind abschliessend, die Krankenkassen
dürfen aus der Grundversicherung nur Beiträge an die explizit aufgeführten Pflegemassnahmen
leisten. Nicht zu den Pflichtleistungen der Krankenkassen gehört somit die allgemeine Begleitung, Beaufsichtigung und Betreuung von gesundheitlich beeinträchtigten Menschen sowie die
Hilfe im Haushalt!
Welches sind die anerkannten Leistungserbringer?
Die Krankenkassen müssen nur Beiträge an Pflegeleistungen entrichten, die von den durch
Gesetz und Verordnung anerkannten Leistungserbringern erbracht werden. Im ambulanten
Bereich sind dies in erster Linie die vom Kanton zugelassenen Spitex-Organisationen. Es spielt
dabei keine Rolle, ob es sich um gemeinnützige und subventionierte oder um private Organisationen handelt. Anerkannt werden sie, wenn sie über genügend qualifiziertes Personal und die
nötigen technischen Einrichtungen verfügen und regelmässig an Massnahmen zur Qualitätssicherung teilnehmen.
Ebenfalls als Leistungserbringer anerkannt werden können Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner, die über ein entsprechendes Diplom verfügen und bereits eine mindestens 2-jährige
praktische pflegerische Tätigkeit in einem Spital oder einer Spitex-Organisation nachweisen
können.
30
Assistenz
»» Beispiel: Herr T wird daheim von seiner 30-jährigen Tochter gepflegt. Diese hat zwar
gewisse Kurse besucht, verfügt aber nicht über ein Diplom als Pflegefachfrau. Da es sich
um Massnahmen der Grundpflege handelt und die Tochter ihre Aufgabe fachlich bestens
wahrnehmen kann, würde sie sich ihre Arbeit gerne von der Krankenversicherung ihres
Vaters vergüten lassen.
Weil die Tochter nicht als Leistungserbringerin im Sinne des Krankenversicherungsgesetzes gilt, ist eine direkte Entschädigung ausgeschlossen. Nur wenn eine Spitex-Organisation
bereit wäre, die Tochter von Herrn T anzustellen, wäre eine Finanzierung über die Krankenversicherung möglich. Einzelne Spitex-Organisationen sind zu einem solchen Deal bereit,
verlangen dann aber eine Teilnahme an Weiterbildungen und Qualitätssicherungsmassnahmen.
Im stationären Bereich gelten die Pflegeheime als anerkannte Leistungserbringer, sofern sie
auf der kantonalen Pflegeheim-Liste stehen.
Wie hoch sind die Beiträge der Krankenversicherung und wer zahlt die
restlichen Kosten?
Die Krankenkassen haben einen Beitrag an die Kosten der Pflege zu entrichten, der ca. 60%
der Kosten deckt. Dieser Beitrag ist vom Bundesrat festgelegt worden und beträgt bei der ambulanten Pflege durch Spitex-Organisationen und Pflegefachpersonen
• Fr. 79.80 pro Stunde für die Abklärung und Beratung
• Fr. 65.40 pro Stunde für die Behandlungspflege
• Fr. 54.60 pro Stunde für die Grundpflege
Bei der Pflege im Pflegeheim beträgt der Beitrag der Krankenkassen 9 Franken pro 20 Minuten.
Der maximale tägliche Beitrag von 108 Franken muss im Falle einer Pflege von 220 Minuten
und mehr bezahlt werden.
Die Versicherten müssen die Franchise und den Selbstbehalt von 10 % der Kosten (bis maximal 700 Franken im Jahr) übernehmen. Darüber hinaus haben Sie, je nachdem in welchem Kanton sie wohnen, einen zusätzlichen Beitrag an die Pflegekosten zu bezahlen. Dieser Beitrag
beträgt bei ambulanter Pflege maximal Fr. 15.60 pro Tag, bei der Pflege im Heim maximal Fr.
21.60 pro Tag. Viele Kantone verlangen allerdings im Fall der ambulanten Pflege einen geringeren Beitrag (z.B. maximal 8 Franken pro Tag) oder verzichten gar auf eine Kostenbeteiligung
der Versicherten.
Jene Kosten, die nicht durch die Beiträge der Krankenkassen und der Versicherten gedeckt sind,
müssen von den Kantonen und Gemeinden übernommen werden. Sie werden in der Regel im
Rahmen von Leistungsverträgen festgelegt.
31
Assistenz
Können die Krankenkassen ihre Leistungen kürzen?
Auch die Pflege untersteht dem in der Krankenversicherung geltenden Grundsatz, dass die Leistungen „wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich“ erbracht werden müssen. Die Krankenkassen müssen deshalb nur Beiträge an die Pflege bezahlen, soweit diese wirklich notwendig ist.
Im ambulanten Bereich sind es in der Regel die Spitex-Organisationen, welche den Bedarf im
Einzelnen ermitteln, im Heim wird der Pflegebedarf von der Pflegeleitung festgelegt. Gestützt
auf die Einschätzung der Pflegefachleute ordnet der Arzt dann die erforderlichen Leistungen
an. Die Krankenkassen können ihrerseits stichprobenartig die Bedarfabklärung überprüfen
lassen, wofür ein spezielles Kontroll- und Schlichtungsverfahren besteht. Wird im ambulanten
Bereich ein Pflegebedarf von mehr als 60 Stunden pro Quartal ermittelt, so sind Überprüfungen
üblich. Kommt eine Krankenkasse zum Ergebnis, dass die Pflege wirksamer erbracht werden
kann und der zeitliche Bedarf geringer ist, so kann sie ihre Leistungen beschränken. In der Praxis geschieht dies glücklicherweise äusserst selten.
Werden ambulante Pflegeleistungen in hohem Ausmass benötigt, so kann eine Krankenkasse
unter gewissen Umständen zum Schluss kommen, dass diese Pflege – verglichen mit der Pflege
in einem Heim – nicht wirtschaftlich ist. Sie kann dann ihre Beiträge auf die Höhe der Beiträge,
die sie bei Aufenthalt der Person im Pflegeheim zahlen müsste, kürzen. Das Bundesgericht hat
allerdings präzisiert, dass eine solche Kürzung nur zulässig ist, wenn die Pflege im Heim gleich
„zweckmässig“ wie die ambulante Pflege ist und wenn die Beiträge der Krankenkasse bei ambulanter Pflege in einem krassen Missverhältnis zu den Beiträgen bei Pflege im Pflegeheim stehen.
»» Beispiel: Frau T leidet an Lähmungen und Atembeschwerden und benötigt intensive
Behandlungs- und Grundpflege. Die Spitex-Organisation besorgt einen Teil der Pflege im
Rahmen von täglich 2,5 Stunden. Die Krankenkasse muss daran Beiträge in der Höhe von
rund 140 Franken pro Tag entrichten. Sie wirft deshalb die Frage auf, ob die Pflege in einem Heim nicht wirtschaftlicher wäre.
Auch wenn die Krankenkasse im Heim höchstens Beiträge von 108 Franken am Tag leisten
müsste, liegt in diesem Fall noch kein „krasses Missverhältnis“ der Kosten vor. Eine Kürzung
wegen fehlender Wirtschaftlichkeit ist deshalb nicht zulässig.
Schliesslich können die Krankenkassen ihre Leistungen an die ambulante Pflege dann kürzen,
wenn eine Person zusätzlich eine Hilflosenentschädigung bezieht und dadurch eine sogenannte
Überentschädigung resultiert. Weil die Hilflosenentschädigung jedoch nicht nur der Deckung
der Grundpflege dient, sondern z.B. auch der Hilfe bei der Fortbewegung und der Pflege gesellschaftlicher Kontakte, darf nur ein Teil der Hilflosenentschädigung bei der Berechnung einer
allfälligen Überentschädigung angerechnet werden.
32
Assistenz
»» Beispiel: Frau T (vgl. oben) bezieht eine Hilflosenentschädigung für schwere Hilflosigkeit
von monatlich 1'856 Franken. Diese dient einerseits der Finanzierung der Hilfe bei der Fortbewegung und der Pflege gesellschaftlicher Kontakte, weshalb höchstens 1'200 Franken
für die Berechnung der Überentschädigung herangezogen werden dürfen. Da Frau T die
Hilflosenentschädigung zudem benutzt, um private Pflegekräfte anzustellen (Kosten von
monatlich 1'000 bis 1'300 Franken) besteht in diesem Fall keine Überentschädigung.
Sonderfall Akut- und Übergangspflege
Eine Sonderregelung gilt für die Akut- und Übergangspflege, welche im Anschluss an einen Spitalaufenthalt benötigt wird. Diese (meist besonders intensive) Pflege muss während längstens
14 Tagen nach Austritt aus dem Spital von der Krankenkasse und dem Kanton zu den gleichen
Anteilen wie der Spitalaufenthalt vergütet werden (Krankenkasse 45%, Wohnkanton 55%). Die
versicherte Person kann höchstens im Rahmen der Franchise und der allgemeinen 10%-Selbstbeteiligung belastet werden. Damit die Sonderregelung zur Anwendung gelangt, muss die
Akut- und Übergangspflege bereits von den Ärzten des Spitals angeordnet worden sein. Wann kommt die Unfallversicherung für die Pflegekosten auf und
welches sind ihre Leistungen?
Der Unfallversicherer hat die Kosten der Pflege zu übernehmen
• wenn die Pflege wegen der Folgen eines Unfalls nötig geworden ist
• und die verunfallte Person im Zeitpunkt des Unfalls als Arbeitnehmer/in UVG-versichert
gewesen ist
Sind diese Voraussetzungen erfüllt, leistet der Unfallversicherer unter denselben Bedingungen
Beiträge an die Pflegekosten wie die Krankenkasse. Auch in der Unfallversicherung werden Beiträge in der Regel nur ausbezahlt, wenn die ambulante Pflege durch anerkannte Spitex-Organisationen und Pflegefachpersonen durchgeführt wird. Ausnahmsweise können die Unfallversicherer allerdings auch Beiträge an eine Pflege durch nicht zugelassene Personen leisten, dies
z.B. wenn dadurch ein Spitalaufenthalt verkürzt werden kann.
Die Unfallversicherung muss für die Kosten der Behandlung und Pflege nur solange aufkommen, als von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung eine namhafte Besserung des Gesundheitszustands erwartet werden darf. Ist dieser Zeitpunkt erreicht und verbleiben erhebliche
gesundheitliche Beeinträchtigungen, muss der Unfallversicherer entscheiden, ob Anspruch
auf eine Invalidenrente, eine Hilflosenentschädigung und/oder eine Integritätsentschädigung
besteht.
33
Assistenz
Nach der Festsetzung der Invalidenrente wird nur noch die Behandlungspflege (und nicht
mehr die Grundpflege) vergütet, und dies auch nur, wenn
• diese zur Erhaltung der verbleibenden Erwerbsfähigkeit dauernd benötigt wird
• oder die versicherte Person erwerbsunfähig ist und der Gesundheitszustand durch die Pflege vor wesentlicher Beeinträchtigung bewahrt werden kann.
Die Grundpflege muss in diesen Fällen also vom Unfallversicherer nicht mehr übernommen
werden. Reicht die Hilflosenentschädigung zu deren Finanzierung nicht aus, so kann sich die
versicherte Person an die Krankenkasse wenden und diese um subsidiäre Vergütung der
Grundpflege bitten, soweit diese von einer anerkannten Spitex-Organisation oder Pflegefachperson erbracht wird.
Wann kommt die IV für die Pflegekosten auf und welches sind ihre
Leistungen?
Werden Pflegeleistungen wegen eines von der IV anerkannten Geburtsgebrechens benötigt,
so muss die IV für die Pflege durch anerkannte Spitex-Organisationen oder Pflegefachpersonen
aufkommen. Das Bundesgericht hat allerdings entschieden, dass die IV nur für Massnahmen
der Abklärung und Beratung sowie für die Behandlungspflege aufzukommen hat; selbst
bei der Behandlungspflege müsse die IV nur jene Leistungen vergüten, welche den Beizug von
medizinisch ausgebildetem Personal erfordern und nicht von den Eltern und anderen Bezugspersonen nach erfolgter Instruktion übernommen werden können. In einem Rundschreiben hat
das BSV festgelegt, wie viel Pflege maximal für die einzelnen Massnahmen pro Zeiteinheit (Tag,
Woche, Monat) übernommen werden kann.
»» Beispiel: Das Kind O leidet seit der Geburt an einer schweren Hautkrankheit (Epidermolysis bullosa) und benötigt täglich intensive Pflege. Die Hautpflege wird nach Absprache mit
dem Arzt einmal pro Tag von der Spitex-Organisation während rund 1,5 Stunden übernommen. Im Übrigen kommt die Mutter für die Pflege auf.
In diesem Fall werden die Leistungen der Spitex-Organisation von der IV vergütet, weil es
sich um eine komplexe Behandlungspflege handelt, die nach Ansicht aller Beteiligten nicht
vollumfänglich der Mutter des Kindes übertragen werden kann.
Für die von Spitex-Organisationen (Kinderspitex) übernommene Grundpflege hat die IV demgegenüber nicht aufzukommen. Diese muss wenn möglich über die Hilflosenentschädigung und
den Intensivpflegezuschlag finanziert werden. Reichen diese Pauschalbeiträge nicht aus, können sich die Eltern an die Krankenkasse wenden und diese bitten, Beiträge an die Grundpflege
zu übernehmen. Denn die Krankenversicherung ist nach Ansicht des Bundesgerichts in diesen
Fällen subsidiär leistungspflichtig.
34
Assistenz
»» Beispiel: Die Mutter von O (vgl. oben) ist mit der Pflege ihres Kindes überfordert. Zu
ihrer Entlastung übernimmt die Kinderspitex an einigen Tagen pro Woche die Grundpflege.
Diese Kosten können nun der Krankenkasse des Kindes zur Vergütung eingereicht werden.
Die Krankenkasse kann die Leistungen allerdings kürzen, wenn sie der Auffassung ist, es
liege zusammen mit der Hilflosenentschädigung und dem Intensivpflegezuschlag eine Überentschädigung vor.
Rechtliche Grundlagen
• Finanzierung der Pflege durch die Krankenversicherung: Art. 25a KVG
• Aufzählung der durch die Krankenversicherung zu übernehmenden Pflegeleistungen: Art. 7
Abs. 2 KLV
• Anerkannte Leistungserbringer in der Krankenversicherung (ambulante Pflege): Art. 49 und
51 KVV
• Höhe der Pflegebeiträge der Krankenversicherer: Art. 7a KLV
• Kostenbeteiligung der Versicherten in der Krankenversicherung: Art. 25a Abs. 5 KVG
• Kürzung der Leistungen: Art. 32 KVG, Art. 122 KVV, Art. 8a KLV
• Finanzierung der Übergangspflege: Art. 25a Abs. 2 KVG, Art. 7b KLV
• Pflegeleistungen der Unfallversicherung: Art. 10 und 21 UVG, Art. 18 UVV
• Pflegeleistungen der Invalidenversicherung: Art. 14 Abs. 1 und 3 IVG
• Verwaltungsweisungen zur Übernahme von Kinderspitex-Leistungen durch die IV: IV-Rundschreiben Nr. 308
35
Assistenz
Hilflosenentschädigung bei Volljährigen
Wer wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung bei den alltäglichen Lebensverrichtungen
dauernd auf die Hilfe Dritter oder auf persönliche Überwachung oder lebenspraktische Begleitung angewiesen ist, hat unter gewissen Bedingungen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung.
Die Hilflosenentschädigung wird als Monatspauschale ausgerichtet, und zwar unabhängig
davon, wer die nötige Hilfe, Begleitung und Überwachung geleistet hat. Die Betroffenen haben
also die freie Wahl, wie sie ihre Hilfe organisieren wollen. Massgebend ist einzig der objektive
Bedarf an Dritthilfe. Die Hilflosenentschädigung wird auch dann ausgerichtet, wenn den betroffenen Personen gar keine Kosten durch die Beanspruchung von Drittpersonen entstanden sind.
Sie dient also auch zur Abgeltung des Mehraufwands von Familienangehörigen.
In diesem Kapitel werden die Voraussetzungen für den Bezug einer Hilflosenentschädigung bei
Volljährigen erläutert und die Leistungen der IV, der Unfallversicherung und der AHV im Einzelnen beschrieben.
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Anspruch nur bei Wohnsitz und Aufenthalt in der Schweiz
»
Die 3 Hilflosigkeitsgrade
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Welches sind die allgemeinen Lebensverrichtungen und wann wird ein regelmässiger Hilfebedarf angenommen?
»
Wann wird eine dauernde Überwachungsbedürftigkeit angenommen?
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Wann besteht ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung?
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Spezialfälle einer Hilflosigkeit
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Die Höhe der Hilflosenentschädigung
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Wann entsteht der Anspruch und wann erfolgt eine Anpassung?
»
Aufenthalt in einem Spital, einer Eingliederungsinstitution oder einem Heim
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Abgrenzung zur Unfallversicherung
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Der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der AHV
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Rechtliche Grundlagen
Assistenz
Anspruch nur bei Wohnsitz und Aufenthalt in der Schweiz
Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung besteht immer nur, solange eine Person Wohnsitz
und gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz hat. Die Hilflosenentschädigung wird somit in keinem Fall exportiert. Der gewöhnliche Aufenthalt in der Schweiz gilt bei Auslandaufenthalten bis
zu 3 Monaten pro Jahr nicht als unterbrochen.
Keine Rolle spielt bei Schweizer Staatsangehörigen, ob die Hilflosigkeit in einem Zeitpunkt
entstanden ist, als sie hier in der Schweiz Wohnsitz hatten oder nicht. Auch bei EU- und
EFTA-Staatsangehörigen, die dem Personenfreizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und
der EU unterstehen, spielt dies keine Rolle. Und schliesslich sehen die meisten Sozialversicherungsabkommen, welche die Schweiz mit einzelnen Staaten geschlossen hat, den Gleichbehandlungsgrundsatz für die Angehörigen des betreffenden Staates mit den Schweizer Bürgern
und Bürgerinnen vor.
Anders verhält es sich demgegenüber bei Angehörigen von Nichtvertragsstaaten: Sie erhalten nur dann eine Hilflosenentschädigung, wenn sie bei Eintritt der Hilflosigkeit (d.h. im Zeitpunkt, in dem alle Voraussetzungen zum Bezug einer Hilflosenentschädigung objektiv erfüllt
gewesen sind) bereits während eines Jahres AHV/IV-Beiträge bezahlt oder sich 10 Jahre in der
Schweiz aufgehalten haben.
»» Beispiel: Der serbische Staatsangehörige J ist seit Geburt schwer behindert. Er ist im
Alter von 15 Jahren zu seinem Vater in die Schweiz nachgereist und lebt seither hier. Er hat
aufgrund des massgebenden Sozialversicherungsabkommens Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung, sobald er in der Schweiz Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt begründet
hat. Es spielt keine Rolle, dass die Hilflosigkeit bereits früher eingetreten ist.
Wäre J ein russischer Staatsangehöriger, so würde er die Versicherungsklausel nicht
erfüllen und könnte deshalb keine Hilflosenentschädigung beanspruchen; denn zwischen
der Schweiz und Russland ist bis heute kein Sozialversicherungsabkommen geschlossen
worden.
Die drei Hilflosigkeitsgrade
In der IV werden drei Hilflosigkeitsgrade unterschieden:
Die Hilflosigkeit gilt als schwer, wenn eine Person in allen von der Praxis anerkannten 6 alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist und überdies der dauernden Pflege oder der persönlichen Überwachung bedarf.
37
Assistenz
Die Hilflosigkeit gilt als mittelschwer, wenn eine Person trotz Abgabe von Hilfsmitteln
• in mindestens 4 alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig auf die Hilfe Dritter angewiesen ist; oder
• in mindestens 2 alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig auf Dritthilfe angewiesen ist
und überdies einer dauernden persönlichen Überwachung bedarf; oder
• in mindestens 2 alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig auf Dritthilfe angewiesen ist
und überdies dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen ist.
Die Hilflosigkeit gilt als leicht, wenn eine Person trotz Abgabe von Hilfsmitteln
• in mindestens 2 alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig auf Dritthilfe angewiesen ist;
oder
• einer dauernden persönlichen Überwachung bedarf; oder
• dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen ist; oder
• eine durch das Gebrechen bedingte besonders aufwändige Pflege benötigt; oder
• wegen einer schweren Sinnesschädigung oder eines schweren körperlichen Gebrechens
nur dank regelmässiger und erheblicher Dienstleistungen Dritter gesellschaftliche Kontakte
pflegen kann.
Die Ermittlung der Hilflosigkeit wird durch die IV-eigenen Abklärungsdienste vorgenommen, üblicherweise im Rahmen eines Hausbesuchs. Es ist für die Betroffenen wichtig, sich auf
dieses Gespräch gut vorzubereiten und alle Beeinträchtigungen mitzuteilen, ohne die Situation
zu beschönigen.
Welches sind die allgemeinen Lebensverrichtungen und wann wird ein
regelmässiger Hilfsbedarf angenommen?
Die Praxis hat 6 alltägliche Lebensverrichtungen als massgebend definiert:
• Aufstehen, Absitzen, Abliegen
• Ankleiden, Auskleiden
• Essen (Nahrung zerkleinern, Nahrung zum Mund führen, Nahrung ans Bett bringen)
• Körperpflege (Waschen, Kämmen, Rasieren, Baden/Duschen)
• Verrichten der Notdurft (Ordnen der Kleider, Körperreinigung, unübliche Art der Verrichtung der Notdurft)
• Fortbewegung (in der Wohnung, im Freien), Pflege gesellschaftlicher Kontakte
Die Dritthilfe muss regelmässig (d.h. im Prinzip täglich) benötigt werden. Sie muss zudem
erheblich sein, was der Fall ist, wenn eine Person mindestens eine Teilfunktion der Lebensverrichtung (z.B. „Waschen“ bei der Verrichtung „Körperpflege“) nicht mehr, nur mit unzumutbarem Aufwand oder nur auf unübliche Art und Weise ausüben kann.
38
Assistenz
»» Beispiel: Frau T benötigt für das Anziehen jeweils rund 30 Minuten, weil sie hierfür
Hilfsmittel in Anspruch nehmen und immer wieder Pausen einlegen muss. Wenn ihr der
Ehemann hilft, geht das Ganze wesentlich schneller.
Trotz des zeitlichen Mehrbedarfs beim „Anziehen“ gilt Frau T nach geltender Praxis in
dieser Lebensverrichtung nicht als hilfsbedürftig. Der zeitliche Mehraufwand wird in einem
solchen Fall noch als zumutbar betrachtet.
Eine Hilfsbedürftigkeit ist nicht nur dann gegeben, wenn eine Person direkte Hilfe benötigt,
sondern auch dann, wenn indirekte Hilfe benötigt wird: Dies ist vor allem bei geistig und
psychisch behinderten Menschen der Fall, wenn sie bei der Ausführung einer Verrichtung
überwacht oder wenn sie zum Handeln angeleitet werden müssen. Bei körperlich behinderten
Menschen kann eine Überwachung z.B. im Falle einer Erstickungsgefahr beim Essen nötig sein.
»» Beispiel: Herr A kann sich zwar funktionell anziehen, waschen und auf der Toilette reinigen. Wenn ihn seine Familienangehörigen dabei aber nicht beaufsichtigen und anleiten,
zieht er die Kleider oft verkehrt an und vergisst sich zu waschen und zu reinigen. T ist
deshalb in diesen 3 Lebensverrichtungen auf regelmässige Dritthilfe angewiesen.
Wann wird eine dauernde Überwachungsbedürftigkeit angenommen?
Eine dauernde persönliche Überwachungsbedürftigkeit liegt vor, wenn eine Person wegen ihrer
gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht allein gelassen werden kann, weil sie sonst sich selber
oder andere gefährden würde. Dies kann z.B. bei einer geistigen Behinderung oder einer autistischen Erkrankung der Fall sein, aber auch im Falle einer Epilepsie. Die Überwachung durch
Drittpersonen muss eine gewisse Intensität aufweisen, d.h. diese müssen (mit kleinen Unterbrüchen) ständig anwesend sein.
Wann besteht ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung?
Ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung wird angenommen, wenn eine Person als Folge ihrer
gesundheitlichen Beeinträchtigung
• ohne Begleitung einer Drittperson (z.B. in Form von Hilfe bei der Tagesstrukturierung,
Unterstützung bei der Bewältigung von Alltagssituationen, Anleitung zur Erledigung des
Haushaltes) nicht selbständig wohnen kann; oder
• für Verrichtungen und Kontakte ausserhalb der Wohnung (Einkaufen, Freizeitaktivitäten,
Arztbesuche usw.) auf Begleitung einer Drittperson angewiesen ist; oder
• ohne Unterstützung durch Drittpersonen ernsthaft gefährdet ist, sich dauernd von der Umwelt zu isolieren.
39
Assistenz
Der Bedarf an lebenspraktischer Begleitung muss eine gewisse Intensität aufweisen, damit er
den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung begründen kann. Dies ist der Fall, wenn die
Hilfe von Drittpersonen durchschnittlich während mindestens 2 Stunden pro Woche benötigt
wird. Angerechnet wird die Hilfe in Form von Anleitung, unterstützenden Gesprächen und
Kontrollen (indirekte Dritthilfe). Führt diese indirekte Hilfe wegen der Schwere der Behinderung
nicht zum Ergebnis, so wird auch die direkte Hilfe (z.B. bei der Erledigung des Haushaltes)
berücksichtigt.
»» Beispiel: Herr F ist geistig behindert, lebt aber in einer eigenen Wohnung. Das ist nur
möglich, weil er regelmässig von Dienstleistungen des begleiteten Wohnens profitieren
kann und seine Mutter zudem wöchentlich vorbeischaut und ihn bei der Erledigung des
Haushaltes anleitet und unterstützt. Die Hilfe von Drittpersonen wird unterschiedlich intensiv benötigt, beläuft sich im Durchschnitt jedoch auf mehr als 2 Stunden pro Woche. Herrn
F steht damit eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit leichten Grades zu.
Der Bedarf an lebenspraktischer Begleitung wird nur bei volljährigen Personen, die ausserhalb
eines Heims leben, angerechnet. In der Regel handelt es sich dabei um Menschen mit einer
geistigen oder psychischen Behinderung. Bei Menschen mit ausschliesslich psychischer Beeinträchtigung erfolgt eine Anrechnung zudem nur, wenn sie mindestens eine Viertelsrente der
IV beziehen.
Spezialfälle einer Hilflosigkeit
Eine Hilflosenentschädigung leichten Grades wird auch gewährt, wenn eine Person eine besonders aufwändige Pflege benötigt. Das ist dann der Fall, wenn die Pflege einen grossen täglichen Zeitbedarf (2 Stunden und mehr) erfordert oder wenn sie in qualitativer Hinsicht besonders anspruchsvoll ist. Dies wird z.B. im Falle einer Heimdialyse bejaht.
Eine Hilflosenentschädigung leichten Grades wird auch gewährt, wenn eine Person trotz Abgabe von Hilfsmitteln wegen einer schweren Sinnesschädigung oder einer schweren körperlichen Behinderung nur dank regelmässiger und erheblicher Dienstleistungen von Dritten
gesellschaftliche Kontakte pflegen kann. Ein Bedarf an regelmässigen und erheblichen
Dienstleistungen Dritter für die Pflege gesellschaftlicher Kontakte wird praxisgemäss bejaht bei
• Körperbehinderten, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind (z.B. bei kompletter Paraplegie)
• Blinden und hochgradig Sehbehinderten mit einem korrigierten Fernvisus von beidseitig
weniger als 0,2 oder einer erheblichen beidseitigen Gesichtsfeldeinschränkung
Gehörlose Menschen sind nach geltender Praxis in aller Regel nicht auf regelmässige Dritthilfe
bei der Pflege gesellschaftlicher Kontakte angewiesen. Kommt zur Gehörlosigkeit jedoch noch
eine Blindheit oder hochgradige Sehbehinderung hinzu, so gelten die Betroffenen als im schweren Grade hilflos.
40
Assistenz
Die Höhe der Hilflosenentschädigung
Die Hilflosenentschädigung wird als Monatspauschale ausgerichtet. Sie beträgt
• Fr. 1'856.- bei schwerer Hilflosigkeit
• Fr. 1'160.- bei mittelschwerer Hilflosigkeit
• Fr. 464.- bei leichter Hilflosigkeit
Wann entsteht der Anspruch und wann erfolgt eine Anpassung?
Es gelten im Wesentlichen dieselben Regeln wie bei der Entstehung des Rentenanspruchs: Der
Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung entsteht, nachdem die Voraussetzungen (Hilfebedarf
bei mindestens zwei Lebensverrichtungen, Überwachungsbedürftigkeit, usw.) während eines
Jahres (Wartezeit) ohne wesentlichen Unterbruch erfüllt gewesen sind und die Hilflosigkeit
weiterhin andauert.
Ist eine Anmeldung zu spät erfolgt, so kann die Hilflosenentschädigung während maximal 12
Monaten vor der Anmeldung rückwirkend gewährt werden.
»» Beispiel: Herr M meldet sich am 1. März 2012 für eine Hilflosenentschädigung an. Bei
der Abklärung stellt sich heraus, dass ein behinderungsbedingter Hilfsbedarf beim Anziehen und bei der Körperpflege bereits seit April 2009 besteht und der Anspruch somit im
April 2010 entstanden wäre.
Wegen der verspäteten Anmeldung kann die Hilflosenentschädigung erst ab März 2011 gewährt werden. Nur wenn nachgewiesen werden kann, dass die IV-Stelle aufgrund früherer
Akten von selber hätte feststellen müssen, dass die Voraussetzungen für eine Hilflosenentschädigung erfüllt sein könnten, kann die Entschädigung rückwirkend ab April 2010
verlangt werden.
Bei einer Erhöhung der Hilflosigkeit wird die Änderung berücksichtigt, sobald sie ohne
wesentlichen Unterbruch drei Monate gedauert hat. Die Erhöhung der Hilflosenentschädigung
erfolgt jedoch frühestens
• ab Einreichung des Gesuchs, sofern die versicherte Person die Revision verlangt hat
• ab dem für die Revision vorgesehenen Datum, wenn die Erhöhung im Rahmen einer Revision (amtliche Überprüfung des Anspruchs) erfolgt ist
Bei einer Verminderung der Hilflosigkeit wird die Änderung berücksichtigt, sobald sie ohne
wesentlichen Unterbruch drei Monate gedauert hat. Die Hilflosenentschädigung wird jedoch
frühestens auf den ersten Tag des zweiten der Verfügung folgenden Monats herabgesetzt oder
aufgehoben. Eine rückwirkende Aufhebung oder Herabsetzung ist nur dann möglich, wenn der
versicherten Person eine Verletzung der Meldepflicht nachgewiesen werden kann.
41
Assistenz
Aufenthalt in einem Spital, einer Eingliederungsinstitution oder einem
Heim
Muss eine Person für längere Zeit zwecks Behandlung in ein Spital eintreten und kommen die
Sozialversicherungen überwiegend für die Kosten des Spitalaufenthalts auf, so entfällt der Anspruch auf die Hilflosenentschädigung für jeden vollen Kalendermonat, während dem sich die
Person im Spital aufhält.
»» Beispiel: Frau D bezieht eine Hilflosenentschädigung mittleren Grades. Sie muss vom 18.
Juni bis zum 4. August in eine psychiatrische Klinik eintreten. Die Krankenkasse kommt für
diesen Aufenthalt vorwiegend auf.
Frau D wird für den Monat Juli keine Hilflosenentschädigung erhalten. Ist die Entschädigung bereits ausbezahlt worden, so wird die IV sie wieder zurückfordern.
Wer sich während mindestens 24 Tagen im Monat im Zusammenhang mit einer von der IV
finanzierten Eingliederungsmassnahme in einer Institution aufhält, hat für den betreffenden
Monat keinen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung.
»» Beispiel: Herr T ist in leichtem Grad hilflos. Er absolviert eine erstmalige berufliche
Eingliederung in einer Eingliederungsstätte. Die IV kommt für die Kosten der auswärtigen
Verpflegung und Unterkunft an den Schultagen, nicht aber während der Wochenenden und
den Ferien auf.
Es wird nun für jeden Monat geprüft, ob die IV für mindestens 24 Übernachtungen aufkommt. Ist dies der Fall, so entfällt der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung im betreffenden Monat. Ist dies nicht der Fall, so wird die Hilflosenentschädigung ausbezahlt.
Heimbewohner und Heimbewohnerinnen erhalten zwar ebenfalls eine Hilflosenentschädigung von der IV, jedoch seit dem 1.1.2012 nur zu einem stark reduzierten Ansatz (1/4 der
üblichen Entschädigung). Sie beträgt monatlich
• Fr. 464.- bei schwerer Hilflosigkeit
• Fr. 290.- bei mittelschwerer Hilflosigkeit
• Fr. 116.- bei leichter Hilflosigkeit
Als Heim gilt jede kollektive Wohnform, die der Betreuung und Pflege dient. Auch Wohngemeinschaften gelten als „Heim“, wenn sie unter Verantwortung eines Trägers mit einer Leitung und
angestelltem Personal geführt werden.
42
Assistenz
Abgrenzung zur Unfallversicherung
Keine Hilflosenentschädigung der IV, sondern allein eine solche der Unfallversicherung erhält,
• wer als Folge eines Unfalls auf regelmässige Dritthilfe bei den alltäglichen Lebensverrichtungen oder auf dauernde Überwachung angewiesen ist, und
• im Zeitpunkt des Unfalls bei der obligatorischen Unfallversicherung (UVG-Versicherung)
versichert gewesen ist.
Das ist selbst dann der Fall, wenn die Hilflosigkeit nur teilweise Folge eines Unfalls ist. In diesem Fall vergütet die IV der Unfallversicherung jenen Betrag, den sie als Hilflosenentschädigung
entrichtet hätte, wenn die betreffende Person nicht verunfallt wäre.
Für die Bemessung der Hilflosigkeit gelten im Wesentlichen dieselben Bestimmungen wie in
der Invalidenversicherung. Es gibt allerdings eine wichtige Ausnahme: der Bedarf an lebenspraktischer Begleitung begründet in der Unfallversicherung anders als in der IV keinen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung.
Die Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung ist etwas höher als jene der IV. Sie beträgt
monatlich
• Fr. 690.- bei leichter Hilflosigkeit
• Fr. 1'381.- bei mittelschwerer Hilflosigkeit
• Fr. 2'071.- bei schwerer Hilflosigkeit
Anders als in der IV sind in der Unfallversicherung folgende Punkte geregelt:
• Der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung entsteht erst, wenn von der weiteren
medizinischen Behandlung keine wesentliche Verbesserung des Gesundheitszustands der
verunfallten Person mehr erwartet werden kann.
• Die Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung wird auch dann im vollen Betrag ausbezahlt, wenn eine Person im Heim lebt. • Die Hilflosenentschädigung wird auch dann weiter entrichtet, wenn die verunfallte Person
ihren Wohnsitz ins Ausland verlegt.
• Ist der Unfall im Zusammenhang mit einem strafrechtlichen Vergehen (z.B. Fahren in angetrunkenem Zustand) verursacht worden, so kann die Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung gekürzt werden.
• Die Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung wird bei Erreichen des AHV-Alters weiter im bisherigen Umfang ausgerichtet.
43
Assistenz
Der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der AHV
Wer die Voraussetzungen zum Bezug einer Hilflosenentschädigung erst nach Erreichen des
Rentenalters (Männer: 65 Jahre; Frauen 64: Jahre) erfüllt, erhält eine Hilflosenentschädigung
nach den Bestimmungen des AHV-Gesetzes. Dasselbe gilt, wenn eine Person die AHV-Rente vorzeitig bezieht und erst danach alle Voraussetzungen zum Bezug einer Hilflosenentschädigung
(inkl. Ablauf der 1-jährigen Wartezeit) erfüllt.
Die Hilflosigkeit wird im AHV-Alter gleich wie im IV-Alter bemessen, mit einer Ausnahme: Der
Bedarf an lebenspraktischer Begleitung wird bei AHV-Rentnern und AHV-Rentnerinnen nicht
berücksichtigt.
Die AHV kennt einen einheitlichen Ansatz der Hilflosenentschädigung. Es spielt somit keine
Rolle, ob eine Person in der eigenen Wohnung oder in einem Heim lebt. Die monatliche Hilflosenentschädigung beträgt in der AHV
• Fr. 928.- bei schwerer Hilflosigkeit
• Fr. 580.- bei mittelschwerer Hilflosigkeit
• Fr. 232.- bei leichter Hilflosigkeit
Bei leichter Hilflosigkeit wird allerdings in der AHV eine Entschädigung nur gewährt, wenn eine
Person nicht in einem Heim lebt.
Wer bei Erreichen des AHV-Rentenalters (oder im Zeitpunkt eines allfälligen vorzeitigen Bezugs
einer Altersrente) bereits eine Hilflosenentschädigung der IV bezieht, profitiert von der Besitzstandsgarantie: Die Hilflosenentschädigung wird mindestens in der bisherigen Höhe weitergewährt, und zwar solange sich der Grad der Hilflosigkeit und der Aufenthaltsort (Heim / zu
Hause) nicht ändert.
»» Beispiel: Herr S hat bisher von der IV eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit leichten Grades im Betrag von Fr. 464.- erhalten, weil er dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen ist. Nun wird er 65-jährig.
Herr S erhält nun von der AHV weiterhin eine Hilflosenentschädigung in derselben Höhe,
und dies obschon der Bedarf an lebenspraktischer Begleitung in der AHV an sich nicht berücksichtigt wird. Herr S profitiert aber von der Besitzstandsgarantie.
»» Beispiel: Frau H hat bisher eine Hilflosenentschädigung der IV für mittelschwere Hilflosigkeit im Betrag von monatlich Fr. 1'160.- bezogen. Bei Erreichen des 64. Altersjahres
erhält sie von der AHV weiterhin eine Entschädigung in derselben Höhe (Besitzstandsgarantie). 2 Jahre später verschlechtert sich der Gesundheitszustand von Frau H und sie wird in
schwerem Grade hilflos.
Da die Erhöhung der Hilflosigkeit nach Erreichen des Rentenalters eingetreten ist, richtet
sich der Anspruch im Grunde nach dem AHV-Gesetz (Hilflosenentschädigung von Fr. 928.bei schwerer Hilflosigkeit). Wegen der Besitzstandsgarantie erhält Frau H jedoch weiterhin
die bisherige Entschädigung von Fr. 1'160.-.
44
Assistenz
»» Beispiel: Frau N lebt seit vielen Jahren im Heim. Sie bezieht von der IV eine Hilflosenentschädigung für schwere Hilflosigkeit von Fr. 464.-. Nun wird sie 64-jährig. Frau N erhält
jetzt neu eine Hilflosenentschädigung der AHV. Diese ist bei Heimbewohnerinnen höher als
in der IV und beträgt Fr. 928.-.
Rechtliche Grundlagen
• Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung: Art. 42 IVG
• Bemessung des Hilflosigkeitsgrades: Art. 37 IVV
• Höhe der Hilflosenentschädigung: Art. 42ter IVG
• Entstehung des Anspruchs: Art. 42 Abs. 4 IVG; Art. 35 IVV
• Änderung des Hilflosigkeitsgrades: Art. 35 Abs. 2, 87-88bis IVV
• Bedarf an lebenspraktischer Begleitung: Art. 42 Abs. 3 IVG, Art. 38 IVV
• Aufenthalt in einem Spital: Art. 67 Abs. 2 ATSG;
• Aufenthalt in einer Institution zur Durchführung von Eingliederungsmassnahmen: Art. 42
Abs. 5 IVG; Art. 35bis Abs. 1,3 und 4 IVV
• Aufenthalt in einem Heim: Art. 42ter Abs. 2 IVG
• Unfallbedingte Hilflosigkeit: Art. 26, 27 UVG; Art. 66 Abs. 3 ATSG; Art. 37, 38 UVV; Art.
39bis IVV
• Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung im AHV-Alter: Art. 43bis AHVG; Art. 66bis AHVV
• Verwaltungsweisungen zur Hilflosenentschädigung: Kreisschreiben über Invalidität und
Hilflosigkeit (KSIH), Ziffern 8001-8147
45
Assistenz
Hilflosenentschädigung und Intensivpflegezuschlag
bei Minderjährigen
Kinder und Jugendliche, die wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung bei den alltäglichen
Lebensverrichtungen dauernd auf die Hilfe Dritter oder auf persönliche Überwachung angewiesen sind, haben unter gewissen Bedingungen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der IV.
Die Hilflosenentschädigung wird als Tagespauschale ausgerichtet, unabhängig davon, ob den
betroffenen Familien durch die Beanspruchung von Drittpersonen Kosten entstanden sind oder
nicht. Sie dient also auch als Abgeltung des eigenen Mehraufwands und ermöglicht damit den
Eltern, ihre Erwerbstätigkeit zugunsten der Betreuung ihrer behinderten Kinder zu reduzieren.
Mit der Hilflosenentschädigung und dem Intensivpflegezuschlag soll unter anderem ein finanzieller Anreiz geschaffen werden, behinderte Kinder daheim zu betreuen und nicht in einem
Heim betreuen zu lassen.
In diesem Kapitel werden die Voraussetzungen für den Bezug einer Hilflosenentschädigung und
eines Intensivpflegezuschlags erläutert und die Leistungen der IV im Einzelnen beschrieben.
46
»
Anspruch nur bei Wohnsitz und Aufenthalt in der Schweiz
»
Die 3 Hilflosigkeitsgrade
»
Welches sind die allgemeinen Lebensverrichtungen und wann wird ein regelmässiger
Hilfebedarf angenommen?
»
Wann wird eine dauernde Überwachungsbedürftigkeit angenommen?
»
Spezialfälle einer Hilflosigkeit
»
Die Höhe der Hilflosenentschädigung
»
Wann entsteht der Anspruch und wann erfolgt eine Anpassung?
»
Der Intensivpflegezuschlag
»
Kein Anspruch für Heimbewohner
»
Rechtliche Grundlagen
Assistenz
Anspruch nur bei Wohnsitz und Aufenthalt in der Schweiz
Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung besteht immer nur, solange eine Person Wohnsitz
und gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz hat. Die Hilflosenentschädigung wird somit in keinem Fall exportiert. Der gewöhnliche Aufenthalt in der Schweiz gilt bei Auslandaufenthalten bis
zu 3 Monaten pro Jahr nicht als unterbrochen.
Im Sinne einer Ausnahme von diesem allgemeinen Grundsatz erhalten Minderjährige mit
Schweizer Bürgerrecht eine Hilflosenentschädigung auch dann, wenn sie zwar keinen Wohnsitz in der Schweiz haben, sich jedoch hier gewöhnlich aufhalten.
Keine Rolle spielt bei Minderjährigen mit Schweizer Bürgerrecht, ob die Hilflosigkeit in einem
Zeitpunkt entstanden ist, als sie hier in der Schweiz Wohnsitz hatten oder nicht. Auch bei
den Kindern von EU- und EFTA-Staatsangehörigen, die dem Personenfreizügigkeitsabkommen
zwischen der Schweiz und der EU unterstehen, spielt dies keine Rolle. Und schliesslich sehen
die meisten Sozialversicherungsabkommen, welche die Schweiz mit einzelnen Staaten geschlossen hat, den Gleichbehandlungsgrundsatz für die Angehörigen des betreffenden Staates
mit den Schweizer Bürgern und Bürgerinnen vor.
Anders verhält es sich demgegenüber bei Angehörigen von Nichtvertragsstaaten: Deren Kinder erhalten nur dann eine Hilflosenentschädigung, wenn
• sie sich bei Eintritt der Hilflosigkeit (Zeitpunkt, in dem alle Voraussetzungen zum Bezug einer Hilflosenentschädigung objektiv erfüllt sind) 10 Jahre in der Schweiz aufgehalten haben;
oder
• sie Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen der Schweizerischen Invalidenversicherung
haben.
»» Beispiel: Der serbische Knabe J ist seit Geburt schwer behindert. Er ist im Alter von 6
Jahren zu seinem Vater in die Schweiz nachgereist und lebt seither hier. Er hat aufgrund
des massgebenden Sozialversicherungsabkommens Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung, sobald er in der Schweiz Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt hat. Es spielt keine
Rolle, dass die Hilflosigkeit bereits früher eingetreten ist.
Wäre der Knabe J das Kind eines russischen Staatsangehörigen, so würde er die Versicherungsklausel nicht erfüllen und könnte deshalb keine Hilflosenentschädigung beanspruchen; denn zwischen der Schweiz und Russland ist bis heute kein Sozialversicherungsabkommen geschlossen worden.
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Assistenz
Die drei Hilflosigkeitsgrade
In der IV werden drei Hilflosigkeitsgrade unterschieden:
Die Hilflosigkeit gilt als schwer, wenn eine Person in allen von der Praxis anerkannten 6 alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist und überdies der dauernden Pflege oder der persönlichen Überwachung bedarf.
Die Hilflosigkeit gilt als mittelschwer, wenn eine Person trotz Abgabe von Hilfsmitteln
• in mindestens 4 alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig auf die Hilfe Dritter angewiesen ist, oder
• in mindestens 2 alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig auf Dritthilfe angewiesen ist
und überdies einer dauernden persönlichen Überwachung bedarf.
Die Hilflosigkeit gilt als leicht, wenn eine Person trotz Abgabe von Hilfsmitteln
• in mindestens 2 alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig auf Dritthilfe angewiesen ist,
oder
• einer dauernden persönlichen Überwachung bedarf, oder
• eine durch das Gebrechen bedingte besonders aufwändige Pflege benötigt, oder
• wegen einer schweren Sinnesschädigung oder eines schweren körperlichen Gebrechens
nur dank regelmässiger und erheblicher Dienstleistungen Dritter gesellschaftliche Kontakte
pflegen kann.
Welches sind die allgemeinen Lebensverrichtungen und wann wird ein
regelmässiger Hilfsbedarf angenommen?
Die Praxis hat 6 alltägliche Lebensverrichtungen als massgebend definiert:
• Aufstehen, Absitzen, Abliegen
• Ankleiden, Auskleiden
• Essen (Nahrung zerkleinern, Nahrung zum Mund führen, Nahrung ans Bett bringen)
• Körperpflege (Waschen, Kämmen, Rasieren, Baden/Duschen)
• Verrichten der Notdurft (Ordnen der Kleider, Körperreinigung, unübliche Art der Verrichtung der Notdurft)
• Fortbewegung (in der Wohnung, im Freien), Pflege gesellschaftlicher Kontakte
Die Dritthilfe muss regelmässig (d.h. im Prinzip täglich) benötigt werden. Sie muss zudem
erheblich sein, was der Fall ist, wenn ein Kind oder ein/e Jugendliche/r mindestens eine Teilfunktion der Lebensverrichtung (z.B. „Waschen“ bei der Verrichtung „Körperpflege“) nicht mehr,
nur mit unzumutbarem Aufwand oder nur auf unübliche Art und Weise ausüben kann.
48
Assistenz
Eine Hilfsbedürftigkeit ist nicht nur dann gegeben, wenn ein Kind oder ein/e Jugendliche/r
direkte Hilfe benötigt, sondern auch dann, wenn indirekte Hilfe benötigt wird: Dies ist vor allem bei geistig und psychisch behinderten Kindern der Fall, wenn sie bei der Ausführung einer
Verrichtung überwacht oder wenn sie zum Handeln angeleitet werden müssen. Bei körperlich
behinderten Kindern kann eine Überwachung z.B. im Falle einer Erstickungsgefahr beim Essen
nötig sein.
»» Beispiel: Der 9-jährige Knabe A kann sich zwar funktionell anziehen, waschen und auf
der Toilette reinigen. Wenn ihn die Eltern dabei aber nicht beaufsichtigen und anleiten,
zieht er die Kleider verkehrt an und vergisst sich zu waschen und zu reinigen. T ist deshalb
in diesen 3 Lebensverrichtungen auf regelmässige Dritthilfe angewiesen.
Bei jüngeren Kindern wird eine Hilfsbedürftigkeit zudem nur berücksichtigt, wenn behinderungsbedingt ein erheblicher Mehrbedarf an Hilfeleistung im Vergleich zu einem nicht behinderten Kind gleichen Alters besteht.
»» Beispiel: 2-jährige Kinder sind auch ohne Behinderung in der Regel noch nicht in der
Lage, selbständig zu essen, weshalb die nötige Dritthilfe beim Essen in diesem Alter üblicherweise noch nicht angerechnet wird. Beim schwerst behinderten Mädchen L verhält es
sich aber anders: Da sie mit der Sonde ernährt werden muss, liegt ein erheblicher Mehrbedarf an Dritthilfe vor, der angerechnet werden muss.
Wann wird eine dauernde Überwachungsbedürftigkeit angenommen?
Eine dauernde persönliche Überwachungsbedürftigkeit liegt vor, wenn eine minderjährige Person wegen ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht allein gelassen werden kann, weil sie
sonst sich selber oder andere gefährden würde. Dies kann z.B. bei einer geistigen Behinderung
oder einer autistischen Erkrankung der Fall sein, aber auch im Falle einer Epilepsie. Die Überwachung durch Drittpersonen muss eine gewisse Intensität aufweisen, d.h. diese müssen (mit
kleinen Unterbrüchen) ständig anwesend sein.
Berücksichtigt wird diese Überwachungsbedürftigkeit bei Kleinkindern allerdings nur soweit, als
sie gegenüber einem nicht behinderten Kind gleichen Alters erheblich intensiver ist. Vor dem
6. Altersjahr wird eine behinderungsbedingte Überwachungsbedürftigkeit deshalb in der Regel
verneint. Ausnahmen können bei erethischen und autistischen Kindern sowie bei Kindern mit
häufigen Epilepsieanfällen bestehen.
49
Assistenz
Spezialfälle einer Hilflosigkeit
Eine Hilflosenentschädigung leichten Grades wird auch gewährt, wenn eine minderjährige Person eine besonders aufwändige Pflege benötigt. Das ist dann der Fall, wenn die Pflege einen
grossen Zeitbedarf (2 Stunden und mehr) erfordert oder wenn sie in qualitativer Hinsicht besonders anspruchsvoll ist. Diese Voraussetzungen gelten z.B. bei Kindern, die an Mukoviszidose
(zystische Fibrose) leiden, bis zum 15. Lebensjahr als erfüllt; ebenso bei Kindern, die sich einer
Heimdialyse unterziehen müssen.
Eine Hilflosenentschädigung leichten Grades wird auch gewährt, wenn eine Person trotz Abgabe von Hilfsmitteln wegen einer schweren Sinnesschädigung oder einer schweren körperlichen Behinderung nur dank regelmässiger und erheblicher Dienstleistungen von Dritten
gesellschaftliche Kontakte pflegen kann. Ein Bedarf an regelmässigen und erheblichen
Dienstleistungen Dritter für die Pflege gesellschaftlicher Kontakte ist in der Regel gegeben bei
• Körperbehinderten, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind (z.B. bei kompletter Paraplegie)
• Blinden und hochgradig Sehbehinderten mit einem korrigierten Fernvisus von beidseitig
weniger als 0,2 oder einer erheblichen beidseitigen Gesichtsfeldeinschränkung
• schwer hörgeschädigten Kindern, solange sie auf intensive pädagogisch-therapeutische
Massnahmen zur Förderung der Kommunikationsfähigkeit angewiesen sind.
Die Höhe der Hilflosenentschädigung
Die Hilflosenentschädigung wird als Tagesansatz ausgerichtet. Sie beträgt
• Fr. 61.80 pro Tag bei schwerer Hilflosigkeit
• Fr. 38.60 pro Tag bei mittelschwerer Hilflosigkeit
• Fr. 15.40 pro Tag bei leichter Hilflosigkeit
Wer eine Hilflosenentschädigung beansprucht, muss jeweils alle 3 Monate ein Formular ausfüllen. Auf diesem muss aufgeführt werden, an welchen Tagen die betreffende Person daheim
gewohnt hat und welche Tage sie in einem Spital oder Heim verbracht hat. Die Auszahlung wird
nach Eingang dieses Formulars ausgelöst.
Wann entsteht der Anspruch und wann erfolgt eine Anpassung?
Es gelten im Wesentlichen dieselben Regeln wie bei der Entstehung des Rentenanspruchs: Der
Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung entsteht, nachdem die Voraussetzungen (Hilfebedarf
bei mindestens zwei Lebensverrichtungen, Überwachungsbedürftigkeit, usw.) während eines
Jahres (Wartezeit) ohne wesentlichen Unterbruch erfüllt gewesen sind und die Hilflosigkeit
weiterhin andauert.
50
Assistenz
Im ersten Lebensjahr entsteht der Anspruch jedoch im Sinn einer Ausnahme sofort, wenn die
Hilflosigkeit das erforderliche Ausmass erreicht hat (keine Wartezeit). Es genügt, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit die Hilflosigkeit mehr als 12 Monate dauern wird.
Ist eine Anmeldung zu spät erfolgt, so kann die Hilflosenentschädigung während maximal 12
Monaten ab Anmeldung rückwirkend gewährt werden.
»» Beispiel: Die Eltern des Knaben T melden ihren Sohn am 1. März 2012 für eine Hilflosenentschädigung an. Bei der Abklärung stellt sich heraus, dass ein behinderungsbedingter
Hilfsbedarf beim Anziehen und bei der Körperpflege bereits seit April 2009 besteht und der
Anspruch somit im April 2010 entstanden wäre.
Wegen der verspäteten Anmeldung kann die Hilflosenentschädigung erst ab März 2011 gewährt werden. Nur wenn nachgewiesen werden kann, dass die IV-Stelle aufgrund früherer
Akten von selber hätte feststellen müssen, dass die Voraussetzungen für eine Hilflosenentschädigung erfüllt sein könnten, kann die Entschädigung rückwirkend ab April 2010
verlangt werden.
Bei einer Erhöhung der Hilflosigkeit wird die Änderung berücksichtigt, sobald sie ohne
wesentlichen Unterbruch drei Monate gedauert hat. Die Erhöhung der Hilflosenentschädigung
erfolgt jedoch frühestens
• ab Einreichung des Gesuchs, sofern die versicherte Person die Revision verlangt hat
• ab dem für die Revision vorgesehenen Datum, wenn die Erhöhung im Rahmen einer Revision (amtliche Überprüfung des Anspruchs) erfolgt ist
Bei einer Verminderung der Hilflosigkeit wird die Änderung berücksichtigt, sobald sie ohne
wesentlichen Unterbruch drei Monate gedauert hat. Die Hilflosenentschädigung wird jedoch
frühestens auf den ersten Tag des zweiten der Verfügung folgenden Monats herabgesetzt oder
aufgehoben. Eine rückwirkende Aufhebung oder Herabsetzung ist nur dann möglich, wenn den
Eltern eine Verletzung der Meldepflicht nachgewiesen werden kann.
Der Intensivpflegezuschlag
Bei Minderjährigen, die eine besonders intensive Betreuung benötigen, gewährt die IV zusätzlich zur Hilflosenentschädigung einen Intensivpflegezuschlag. Eine intensive Betreuung liegt
vor, wenn täglich eine behinderungsbedingte Betreuung von durchschnittlich mindestens 4
Stunden benötigt wird.
Anrechenbar ist in diesem Zusammenhang der Mehrbedarf an Behandlungs- und Grundpflege
im Vergleich zu nicht behinderten Kindern gleichen Alters. Unter die Behandlungspflege fallen
z.B. physiotherapeutische Übungen, pflegerische Massnahmen bei Störungen der Blasen- oder
Darmentleerung oder Massnahmen zur Atemtherapie.
51
Assistenz
Als Grundpflege wird die Hilfe beim Aufstehen, Absitzen oder Abliegen, beim Anziehen und
Ausziehen, bei der Körperpflege, beim Toilettengang sowie beim Essen berücksichtigt. Auch
der Aufwand bei der Begleitung zu Arzt- und Therapiebesuchen wird angerechnet.
Nicht angerechnet wird der Zeitaufwand für ärztlich verordnete medizinische Behandlungen,
welche durch medizinisches Hilfspersonal vorgenommen werden, sowie für pädagogisch-therapeutische Massnahmen.
Muss eine minderjährige Person infolge ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung zusätzlich dauernd überwacht werden, wird diese Überwachungsbedürftigkeit als Betreuung von
2 Stunden angerechnet. Eine besonders intensive behinderungsbedingte Überwachung
(überdurchschnittlich hohe Aufmerksamkeit und ständige Interventionsbereitschaft) wird als
Betreuung von 4 Stunden angerechnet.
»» Beispiel: Die 10-jährige S leidet an einer schweren autistischen Störung. Diese zeigt sich
unter anderem im Umgang mit Gegenständen (Ausleeren von Behältern, Herumwerfen von
Gegenständen). Sie kann auch keine Gefahren erkennen und reagiert nicht auf verbale Aufforderungen. Es besteht eine erhebliche Selbst- und Fremdverletzungsgefahr. Die Betreuungsperson muss deshalb dauernd mit erhöhter Aufmerksamkeit in unmittelbarer Nähe
des Kindes bleiben und bereit sein, zu intervenieren.
Ein derart intensiver Überwachungsbedarf wird als Betreuung von 4 Stunden gewichtet und
zur Betreuung bei der Grundpflege hinzugezählt.
Wie hoch der Betreuungsaufwand im Einzelfall ist, ermittelt eine Abklärungsperson im Rahmen
eines Besuchs bei der betroffenen Familie. Wichtig ist, dass bei diesen Abklärungsgesprächen
der Aufwand realistisch dargestellt und nicht etwa aus Stolz über erreichte Fortschritte untertrieben wird.
Der Intensivpflegezuschlag wird ebenfalls in Form einer Pauschale gewährt, und zwar unabhängig davon, ob den Eltern effektiv Betreuungskosten entstanden sind. Er beträgt
• Fr. 15.40 pro Tag bei einer anrechenbaren Betreuung von mindestens 4 Stunden täglich
• Fr. 30.90 pro Tag bei einer anrechenbaren Betreuung von mindestens 6 Stunden täglich
• Fr. 46.40 pro Tag bei einer anrechenbaren Betreuung von mindestens 8 Stunden pro Tag
Kein Anspruch für Heimbewohner
Kinder und Jugendliche erhalten nur an jenen Tagen eine Hilflosenentschädigung und einen Intensivpflegezuschlag, an denen sie daheim wohnen. Kein Anspruch besteht demgegenüber für
jene Tage, die in einem Heim oder einem Spital verbracht werden. Massgebend ist, ob jeweils
auch die Nacht in der Institution verbracht wird. Wer nur tagsüber in einer Institution verbringt,
dem wird der Anspruch nicht gekürzt.
52
Assistenz
Als Heimaufenthalt gilt nicht nur der Aufenthalt in einem Sonderschulheim, sondern auch jener
in einem Ferien- oder Entlastungsheim. Der Aufenthalt in einer Pflegefamilie wird hingegen
nicht als Heimaufenthalt behandelt.
Der Tag, an dem eine Person in eine Heilanstalt oder ein Heim eintritt (z.B. nach einem Wochenende zu Hause), wird als Aufenthaltstag in einer Heilanstalt resp. einem Heim behandelt.
Der Tag, an dem eine Person aus einer Heilanstalt oder einem Heim austritt (z.B. um das
Wochenende daheim zu verbringen), wird demgegenüber nicht als Aufenthaltstag in einer Heilanstalt resp. einem Heim behandelt.
»» Beispiel: Das schwer behinderte Kind M lebt in einem Sonderschulheim. Am Freitagabend kehrt es jeweils zu seinen Eltern zurück, am Sonntagabend geht es wieder ins Heim.
Das Kind M wird jeweils für den Freitag und Samstag eine Hilflosenentschädigung (und
eventuell einen Intensivpflegezuschlag) erhalten.
Rechtliche Grundlagen
• Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung: Art. 42 Abs. 1und 2, Art. 42bis IVG
• Bemessung des Hilflosigkeitsgrades: Art. 37 IVV
• Höhe der Hilflosenentschädigung: Art. 42ter Abs. 1 und 3 IVG
• Entstehung des Anspruchs: Art. 42 Abs. 4, Art. 42bis Abs. 3 IVG; Art. 35 IVV
• Änderung des Hilflosigkeitsgrades: Art. 35 Abs. 2, 87-88bis IVV
• Intensivpflegezuschlag: Art. 42ter Abs. 3 IVG; Art. 39 IVV
• Aufenthalt in einem Spital oder Heim: Art. 42bis Abs. 4 IVG; Art. 35bis Abs. 2-4 IVV
• Verwaltungsweisungen zur Hilflosenentschädigung und zum Intensivpflegezuschlag: Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit (KSIH), Ziffern 8001-8147
53
Assistenz
Assistenzbeitrag
Der Assistenzbeitrag ist als neue Leistung im Rahmen der IVG-Revision 6a auf den 1.1.2012
eingeführt worden. Zuvor war eine ähnliche Leistung als „Assistenzbudget“ in einem Pilotprojekt während einigen Jahren getestet worden. Ziel des Assistenzbeitrags ist es, Menschen mit
erheblichem Assistenzbedarf ein möglichst selbstbestimmtes Leben ausserhalb von Heimstrukturen zu ermöglichen.
Der Assistenzbeitrag ist eng an das Arbeitgebermodell geknüpft: Mit dem Assistenzbeitrag
können nur Assistenzleistungen finanziert werden, welche von Personen erbracht werden, die
von der behinderten Person (oder ihrer gesetzlichen Vertretung) im Rahmen eines Arbeitsvertrags angestellt worden sind; und diese angestellten Assistenzpersonen dürfen weder mit der
behinderten Person verheiratet sein oder mit ihr in eingetragener Partnerschaft leben, noch
mit ihr eine faktische Lebensgemeinschaft (Konkubinat) führen, noch in gerader Linie mit ihr
verwandt sein. Es muss sich also um „aussenstehende“ Drittpersonen handeln.
Das Arbeitgebermodell verlangt von den Versicherten ein relativ hohes Mass an Organisationsfähigkeit und an rechtlich-sozialen Kompetenzen, wie sie ein Arbeitgeber haben muss. Es
eignet sich deshalb nicht für alle Menschen in gleichem Masse. Für jene, die davon Gebrauch
machen können, stellt die neue Leistung jedoch einen wesentlichen Fortschritt dar.
In diesem Kapitel werden die persönlichen Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug eines
Assistenzbeitrags, die Bemessung des Assistenzbeitrags sowie verschiedene Fragen im Zusammenhang mit der praktischen Abwicklung des Modells erläutert.
54
»
Wer kann einen Assistenzbeitrag beanspruchen?
»
Sonderregeln für Minderjährige
»
Vorgehen bei der Anmeldung
»
Wie wird der Assistenzbedarf ermittelt?
»
Die anrechenbaren monatlichen Höchstansätze
»
Anrechnung von Leistungen der IV und der Krankenversicherung
»
Wie wird der Assistenzbeitrag berechnet?
»
Wie erfolgt die Vergütung des Assistenzbeitrags?
»
Beratung und Unterstützung
»
Rechtliche Grundlagen
Assistenz
Wer kann einen Assistenzbeitrag beanspruchen?
Einen Assistenzbeitrag können nur Personen beanspruchen, die zu Hause leben. Dies entspricht dem zentralen Ziel dieser Leistung, welche eine selbstbestimmte und eigenverantwortliche Lebensführung ermöglichen soll. Es spielt dabei keine Rolle, ob jemand alleine wohnt
oder die Wohnung mit anderen Personen (Familienangehörigen, WG-Partnern) teilt. Sobald eine
Wohngemeinschaft jedoch von einer Trägerschaft mit angestelltem Personal geführt wird, gilt
sie als „Heim“ mit der Folge, dass die Bewohner keinen Assistenzbeitrag beanspruchen können.
Einen Assistenzbeitrag kann zudem nur beanspruchen, wer eine Hilflosenentschädigung der
IV bezieht. Bezüger und Bezügerinnen einer Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung
oder der Militärversicherung haben keinen Anspruch auf einen Assistenzbeitrag der IV. Dasselbe gilt auch für Bezüger und Bezügerinnen einer Hilflosenentschädigung der AHV, allerdings
mit einer Ausnahme: Haben sie schon vor Erreichen des AHV-Alters (oder eines allfälligen
Vorbezugs der AHV-Rente) einen Assistenzbeitrag der IV erhalten, so erhalten sie ihn auch nach
Erreichen des AHV-Alters. Sie profitieren von der sogenannten Besitzstandsgarantie.
»» Beispiel: Frau W bezieht eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit mittleren Grades
und seit anfangs 2012 einen Assistenzbeitrag. Sie kann Assistenzleistungen im Umfang von
monatlich 60 Stunden der IV in Rechnung stellen.
Im Dezember 2012 wird Frau W 64-jährig und erhält nun eine Hilflosenentschädigung der
AHV. Sie kann dank der Besitzstandsgarantie weiter einen Assistenzbeitrag für monatlich
maximal 60 Stunden bei der AHV in Rechnung stellen. Sollte der Assistenzbedarf jedoch
wegen einer Verschlechterung des Gesundheitszustands wachsen, so bleibt der Anspruch
auf 60 Stunden beschränkt.
Für volljährige Menschen mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit gelten zusätzliche Anspruchsvoraussetzungen. Sie haben nur Recht auf einen Assistenzbeitrag, wenn sie
• entweder einen eigenen Haushalt führen, d.h. nicht mehr bei den Eltern oder dem gesetzlichen Vertreter wohnen
• oder eine Berufsausbildung auf dem regulären Arbeitsmarkt oder eine Ausbildung auf der
Sekundarschulstufe II oder der Tertiärstufe absolvieren
• oder während mindestens 10 Stunden pro Woche eine Erwerbstätigkeit auf dem regulären
Arbeitsmarkt ausüben
Eingeschränkte Handlungsfähigkeit wird in der Regel dann angenommen, wenn eine volljährige
Person unter Vormundschaft, Beistandschaft oder elterlicher Sorge steht.
»» Beispiel: Herr K ist leicht geistig behindert, lebt bei seinen Eltern und arbeitet in einer
geschützten Werkstätte. Er bezieht eine halbe IV-Rente und eine Hilflosenentschädigung
für leichte Hilflosigkeit. Vormundschaftliche Massnahmen sind keine verfügt worden. Weil
Herr K weder unter Vormundschaft noch unter Beistandschaft steht, gilt er im Prinzip als
handlungsfähig.
55
Assistenz
Die IV-Stelle kann aber, wenn sie Zweifel an der Handlungsfähigkeit hat, mit der Vormundschaftsbehörde Kontakt aufnehmen und eine entsprechende Abklärung veranlassen. Je
nach Ergebnis dieser Abklärung wird sie den Anspruch auf einen Assistenzbeitrag bejahen
oder verneinen.
Sonderregeln für Minderjährige
Der Bundesrat wollte ursprünglich aus Kostengründen die Minderjährigen vom Anspruch auf
einen Assistenzbeitrag ausschliessen. Das Parlament war anderer Meinung und hat den Minderjährigen, die zu Hause leben und eine Hilflosenentschädigung der IV beziehen, einen Anspruch
unter eingeschränkten Bedingungen gewährt.
Minderjährige haben Anspruch auf einen Assistenzbeitrag, falls sie regelmässig die obligatorische Schule in einer Regelklasse (an mindestens 3 Tagen pro Woche) besuchen, eine Berufsausbildung auf dem regulären Arbeitsmarkt oder eine andere Ausbildung auf Sekundarschulstufe II absolvieren oder bereits einer Erwerbstätigkeit auf dem regulären Arbeitsmarkt
während mindestens 10 Stunden pro Woche nachgehen.
Anspruch auf einen Assistenzbeitrag haben zudem schwer behinderte Kinder, die nicht nur
eine Hilflosenentschädigung, sondern auch einen Intensivpflegezuschlag bei einem behinderungsbedingten Betreuungsbedarf von täglich mindestens 6 Stunden beziehen. Dieser
Anspruch bleibt bei Erreichen der Volljährigkeit trotz Wegfalls des Intensivpflegezuschlags
erhalten.
Vorgehen bei der Anmeldung
Wer von der IV einen Assistenzbeitrag beansprucht, muss sich für diese Leistung mit einem
speziellen Formular anmelden. Dieses Formular kann auf der Website der IV-Stellen heruntergeladen oder telefonisch angefordert werden. Die IV-Stellen klären den Anspruch nur ab,
wenn eine solche spezifische Anmeldung eintrifft. Es erfolgt demgegenüber keine automatische
Prüfung der Leistungsvoraussetzungen von Amtes wegen, wenn sich eine Person „nur“ für eine
Hilflosenentschädigung anmeldet.
Ein Assistenzbeitrag kann nie rückwirkend zugesprochen werden, sondern immer erst ab Anmeldung. Es ist deshalb wichtig, dass diese früh genug eingereicht wird. Falls eine Person während der Abklärungszeit zum Ergebnis gelangt, dass sie auf einen Assistenzbeitrag verzichten
will, kann sie die Anmeldung jederzeit wieder zurückziehen.
56
Assistenz
Nach Eingang einer Anmeldung prüft die IV-Stelle, ob die persönlichen Voraussetzungen für
einen Assistenzbeitrag (Hilflosenentschädigung, Leben zu Hause, besondere Voraussetzungen bei eingeschränkt handlungsfähigen und minderjährigen Personen) erfüllt sind. Bejaht sie
dies, so schickt sie der versicherten Person ein Formular, auf dem diese ihren Assistenzbedarf
im Sinne einer Selbstdeklaration aufführen kann. Danach findet ein Abklärungsgespräch
in den Wohnräumlichkeiten der versicherten Person statt, welches von einer Mitarbeiterin des
IV-eigenen Abklärungsdienstes durchgeführt wird. Es lohnt sich, sowohl für das Ausfüllen der
Selbstdeklaration wie auch im Hinblick auf das Abklärungsgespräch gut vorbereitet zu sein: Der
Assistenzbedarf muss möglichst umfassend für alle Lebensbereiche deklariert werden.
Heimbewohner und Heimbewohnerinnen, die gerne aus dem Heim austreten würden,
können in der Regel einen entsprechenden Entscheid erst fassen, wenn sie wissen, welche
finanziellen Mittel ihnen für die Finanzierung der nötigen Assistenz ausserhalb des Heims zur
Verfügung stehen. Für sie gilt deshalb ein spezielles Verfahren: Melden sie sich für einen Assistenzbeitrag an, erhalten sie zwar eine negative Verfügung, weil sie noch nicht „zu Hause“ leben.
Gleichzeitig wird ihnen aber schon mitgeteilt, wie viele Assistenzstunden anerkannt würden
und wie hoch der Assistenzbeitrag wäre. Sobald sie dann melden, dass sie aus dem Heim ausgetreten sind, erhalten sie eine entsprechende positive Verfügung.
Wie wird der Assistenzbedarf ermittelt?
Damit der Assistenzbeitrag festgelegt werden kann, muss als erstes in jedem Einzelfall der
zeitliche Bedarf an regelmässigen Hilfeleistungen ermittelt werden. Die IV-Stellen tun dies mit
einem speziell dafür entwickelten komplexen Abklärungsbogen. Erfasst werden sowohl der
Bedarf an direkter Dritthilfe als auch der Bedarf an indirekter Dritthilfe (Anleitung, Kontrolle,
aktive Überwachung).
Berücksichtigt wird die nötige Hilfe
• bei den alltäglichen Lebensverrichtungen (Ankleiden, Auskleiden; Aufstehen, Absitzen,
Abliegen; Essen; Körperpflege; Verrichten der Notdurft)
• bei der Haushaltführung (Planung und Organisation; Einkauf; Zubereitung der Nahrung;
Wohnungspflege; Wäsche und Kleiderpflege)
• bei der Freizeitgestaltung und der gesellschaftlichen Teilhabe
• bei der Erziehung und Kinderbetreuung
• bei der Ausübung einer gemeinnützigen oder ehrenamtlichen (d.h. unbezahlten) Tätigkeit
• bei der beruflichen Aus- und Weiterbildung, die im Zusammenhang mit dem aktuellen
oder einem künftigen Beruf oder einer gemeinnützigen Tätigkeit steht
• sowie bei der Ausübung einer Erwerbstätigkeit auf dem regulären Arbeitsmarkt.
57
Assistenz
Ebenfalls berücksichtigt wird der regelmässige Überwachungsbedarf während des Tages,
sofern dieser auch schon im Zusammenhang mit der Abklärung der Hilflosenentschädigung anerkannt worden ist. Allerdings werden nur „aktive“ Überwachungszeiten (Nachsehen, Beruhigen
und Intervenieren) angerechnet, nicht aber die blossen Präsenzzeiten. Ein Hilfebedarf im Rahmen des Nachtdienstes wird nur berücksichtigt, wenn ein ärztliches Zeugnis die Notwendigkeit (z.B. Umlagern von gelähmten Personen oder Beruhigen bei Menschen mit Angstattacken)
bestätigt.
Die anrechenbaren monatlichen Höchstansätze
Ist der effektive Hilfebedarf im konkreten Einzelfall ermittelt worden, bedeutet dies noch nicht
automatisch, dass er in voller Höhe angerechnet wird; denn der Bundesrat hat in seiner Verordnung monatliche Stunden-Höchstansätze für einzelne Gruppen von Hilfeleistungen festgelegt.
Für die Hilfeleistungen in den Grundbereichen „alltägliche Lebensverrichtungen“, „Haushaltführung“ und „Freizeitgestaltung“ ist einerseits entscheidend, in welchem Grad eine
Person von der IV als hilflos anerkannt worden ist, und andererseits, in wie vielen alltäglichen
Lebensverrichtungen sie auf Dritthilfe angewiesen ist. Für jede dieser alltäglichen Lebensverrichtungen werden anerkannt
• bei leichter Hilflosigkeit maximal 20 Stunden monatlich
• bei mittelschwerer Hilflosigkeit maximal 30 Stunden monatlich
• bei schwerer Hilflosigkeit maximal 40 Stunden monatlich
»» Beispiel: Herr T bezieht eine Hilflosenentschädigung mittleren Grades, weil er in insgesamt 4 alltäglichen Lebensverrichtungen (Anziehen, Körperpflege, Essen, Fortbewegung)
auf regelmässige Dritthilfe angewiesen ist. Bei ihm können für die Hilfe bei den alltäglichen Lebensverrichtungen, bei der Haushaltführung und der Freizeitgestaltung monatlich
höchstens 120 Stunden (4 x 30 Stunden) angerechnet werden. Ist der effektive Bedarf an
Assistenz höher eingeschätzt worden, so muss er auf die Zahl von 120 Stunden gekürzt
werden. Das sind aber immerhin noch 4 Stunden pro Tag.
Für einige Sonderfälle einer Hilflosenentschädigung gelten besondere Regeln:
• Bei blinden und hochgradig sehschwachen Personen, die eine Hilflosenentschädigung leichten Grades beziehen, weil sie nur dank regelmässiger Dienstleistungen Dritter gesellschaftliche Kontakte pflegen können, sind monatlich maximal 60 Stunden Assistenz anrechenbar.
• Bei gehörlosen Menschen, die zugleich blind oder hochgradig sehschwach sind und deshalb
eine Hilflosenentschädigung schweren Grades beziehen, sind monatlich maximal 240 Stunden Assistenz anrechenbar.
58
Assistenz
• Bei Menschen, die eine Hilflosigkeit leichten Grades beziehen, weil sie dauernd überwacht
werden müssen oder einer besonders aufwändigen Pflege bedürfen oder wegen eines körperlichen Gebrechens für die Pflege gesellschaftlicher Kontakte auf regelmässige Dritthilfe
angewiesen sind oder weil sie dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen sind,
können maximal 40 Stunden Assistenz pro Monat angerechnet werden.
»» Beispiel: Frau W leidet an einer psychischen Krankheit und ist dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen. Sie bezieht deshalb eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit leichten Grades. Meldet sich Frau W für einen Assistenzbeitrag an, so können ihr für
die Bereiche der alltäglichen Lebensverrichtungen, der Haushaltführung und der Freizeitgestaltung maximal 40 Stunden Assistenz pro Monat angerechnet werden.
Für die benötigte Hilfe in den Bereichen „Kinderbetreuung“, „gemeinnützige oder ehrenamtliche Tätigkeit“, „berufliche Aus- und Weiterbildung“ und „Ausübung einer Erwerbstätigkeit“ können zusammen monatlich höchstens 60 Stunden Assistenz angerechnet werden.
Dieser Maximalansatz gelangt aber nur zur Anwendung, wenn eine Person zu 100% in diesen
Bereichen tätig ist. Bei teilweiser Betätigung wird er entsprechend gekürzt.
»» Beispiel: Frau W geht einer 50%-Erwerbstätigkeit nach. In ihrem Fall können im Bereich
„Ausübung einer Erwerbstätigkeit“ zusätzlich maximal 30 Stunden Assistenz angerechnet
werden.
Schliesslich sind bei Menschen, die während des Tages dauernd überwacht werden müssen,
zusätzlich maximal 120 Stunden Assistenz anrechenbar.
Alle zuvor aufgeführten Höchstansätze werden schliesslich gekürzt, wenn sich eine Person
teilweise in einer Institution (Heim, Werkstätte, Beschäftigungsstätte, Eingliederungsstätte,
Tagesklinik, Sonderschule) aufhält, und zwar um 10% für jede Nacht und für jeden Tag pro
Woche, die in einer Institution verbracht werden. Diese überproportionale Kürzung soll offenbar einen negativen Anreiz für die Beanspruchung von institutionellen Angeboten schaffen.
»» Beispiel: Weil Herr T an 5 Tagen pro Woche in einer geschützten Werkstätte arbeitet,
wird der bei ihm massgebende Höchstbetrag an monatlich anrechenbarer Assistenz von
120 Stunden auf 60 Stunden gekürzt.
Anrechnung von Leistungen der IV und der Krankenversicherung
Ist der anrechenbare Assistenzbedarf einmal ermittelt, wird von der IV-Stelle als nächstes
geprüft, wie weit dieser Assistenzbedarf nicht bereits durch andere Leistungen der IV und der
Krankenversicherung gedeckt ist. Der Assistenzbeitrag ist eine subsidiäre Leistung, d.h. er
kommt nur für die nicht bereits anderweitig gedeckten Kosten auf.
59
Assistenz
Berücksichtigt wird dabei als erstes die Hilflosenentschädigung sowie ein allfälliger Intensivpflegezuschlag der IV. Ausgehend von der Höhe des stündlichen Ansatzes des Assistenzbeitrags (Fr. 32.50) wird angenommen, dass im Falle einer Hilflosenentschädigung für schwere
Hilflosigkeit bereits 57 Stunden Assistenz gedeckt sind, im Falle einer Hilflosenentschädigung
für mittelschwere Hilflosigkeit 35 Stunden und im Falle einer Hilflosenentschädigung für leichte
Hilflosigkeit 14 Stunden.
Weiter wird der Betrag berücksichtigt, den die IV einer erwerbstätigen Person unter dem Titel
„Dienstleistungen Dritter an Stelle eines Hilfsmittels“ vergütet, z.B. im Zusammenhang mit
der Überwindung des Arbeitsweges.
Angerechnet wird schliesslich auch die Grundpflege, welche regelmässig von einer Spitex-Organisation oder einer anerkannten Pflegefachperson erbracht und von der Krankenversicherung
übernommen wird. Diese ist im Voraus zu deklarieren. Unregelmässige Spitex-Einsätze z.B. bei
akuten Erkrankungen werden demgegenüber nicht in Abzug gebracht.
»» Beispiel: Bei Frau B ist ein Assistenzbedarf von 98 Stunden in den Grundbereichen (alltägliche Lebensverrichtungen, Haushaltführung, Freizeitgestaltung) sowie von 24 Stunden
bei der Ausübung ihrer Erwerbstätigkeit ermittelt worden, insgesamt somit von 122 Stunden pro Monat. Frau B bezieht eine Hilflosenentschädigung für mittelschwere Hilflosigkeit.
Die IV vergütet ihr zudem für Dienstleistungen Dritter an Stelle eines Hilfsmittels monatlich
12 Stunden. Schliesslich werden durchschnittlich 24 Stunden Grundpflege von der Spitex zu
Lasten der Krankenversicherung erbracht.
Der massgebende (ungedeckte) Assistenzbedarf von Frau B, für den sie monatlich Rechnung stellen kann, beträgt 51 Stunden (122 Stunden abzüglich 35 + 12 + 24 Stunden).
Wie wird der Assistenzbeitrag berechnet?
Der Assistenzbeitrag wird unabhängig davon entrichtet, welche Löhne tatsächlich bezahlt werden. Er beträgt pauschal Fr. 32.50 pro anrechenbare Stunde. Der Betrag setzt sich aus einem
Grundansatz von Fr. 30.- pro Stunde und einer Ferienentschädigung für die Assistenten von Fr.
2.50 zusammen. Da mit dem Ansatz von Fr. 30.- auch noch die Sozialleistungen des Arbeitgebers finanziert werden müssen, können mit dem Assistenzbeitrag Stundenlöhne bis ca. Fr. 27.gedeckt werden.
Nur wenn im Zusammenhang mit gemeinnützigen und beruflichen Tätigkeiten sowie der
Ausbildung besondere Qualifikationen seitens der Assistenten und Assistentinnen erforderlich
sind, kann ausnahmsweise ein höherer Ansatz von Fr. 48.75 pro Stunde (inkl. Ferienentschädigung) vergütet werden.
60
Assistenz
Für die Vergütung des Nachtdienstes wird von den IV-Stellen schliesslich eine Pauschalentschädigung festgelegt, welche von der Intensität der erforderlichen Interventionen abhängig ist.
Sie beträgt (inkl. Ferienentschädigung) maximal Fr. 86.70 pro Nacht.
Der monatliche und der jährliche Anspruch auf den Assistenzbeitrag werden von den IVStellen im Rahmen einer Verfügung festgehalten. Der jährliche Assistenzbeitrag entspricht in
der Regel dem Zwölffachen des monatlichen Assistenzbeitrags. Wenn jemand allerdings mit
einer volljährigen Person zusammenwohnt, mit der er verheiratet ist oder in eingetragener
Lebensgemeinschaft lebt, mit der er eine faktische Lebensgemeinschaft führt oder in gerader Linie verwandt ist, dann entspricht der jährliche Assistenzbeitrag nur dem Elffachen des
monatlichen Assistenzbeitrags. Begründet wird dies damit, dass es den nahen Angehörigen
zuzumuten ist, gewisse Hilfeleistungen ohne Vergütung durch die Sozialversicherungen zu
übernehmen.
Wie erfolgt die Vergütung des Assistenzbeitrags?
Der Assistenzbeitrag wird nicht automatisch ausbezahlt. Die versicherte Person muss vielmehr
monatlich mit einem Formular Rechnung stellen und dabei die bezogene Assistenz nachweisen.
Es kann dabei immer nur die Assistenz in Rechnung gestellt werden, die von Personen geleistet
worden ist,
• die im Rahmen eines Arbeitsvertrags angestellt worden sind; und
• die weder mit der versicherten Person verheiratet sind, mit ihr in eingetragener Partnerschaft leben oder eine faktische Lebensgemeinschaft führen, noch in gerader Linie mit
ihr verwandt sind.
»» Beispiel: Im Falle von Frau S hat die IV-Stelle einen monatlichen Assistenzbedarf von 80
Stunden resp. (nach Anrechnung der Hilflosenentschädigung) von 45 Stunden ermittelt. Im
Monat Februar hat Frau S jedoch ihre Assistentin nur während 35 Stunden angestellt, die
restliche Assistenz ist von ihrer Mutter übernommen worden.
Frau S wird der IV-Stelle nur 35 Stunden zu Fr. 32.50 in Rechnung stellen können. Ihre Mutter wird sie mit der Hilflosenentschädigung bezahlen müssen.
Es gibt gewisse Situationen, in denen nicht nur für die tatsächlich erbrachten Assistenzleistungen Rechnung gestellt werden kann, sondern auch für Leistungen aufgrund arbeitsvertraglicher Lohnfortzahlungspflichten. Dies ist der Fall, wenn z.B. eine Assistenzperson erkrankt
oder verunfallt ist: Solange ihr ein Lohn aufgrund des OR weiter entrichtet werden muss, kann
dieser der IV ebenfalls in Rechnung gestellt werden, allerdings während längstens 3 Monaten.
Allfällige Versicherungsleistungen (z.B. Kranken- oder Unfalltaggeld) müssen abgezogen werden.
61
Assistenz
Umgekehrt kann eine Lohnfortzahlungspflicht z.B. auch dann entstehen, wenn die behinderte
Person selber kurzfristig für einige Wochen in ein Spital eintreten muss. Auch in diesem Fall
kann der aufgrund des Arbeitsvertrags weiter geschuldete Lohn trotz Fehlens einer entsprechenden Leistung (für maximal 3 Monate) der IV in Rechnung gestellt werden. In einzelnen Monaten darf der in Rechnung gestellte Betrag den von der IV in der Verfügung
festgelegten Assistenzbeitrag um maximal 50% überschreiten. Dies muss dann aber in anderen Monaten kompensiert werden; denn der von der IV festgelegte jährliche Assistenzbeitrag
kann insgesamt nicht überschritten werden.
»» Beispiel: Die IV hat im Fall von Frau D einen monatlichen Assistenzbeitrag von
Fr. 3'250.- (100 Stunden zu Fr. 32.50) festgelegt. Frau D hat im Monat Juli nun aber mehr
Assistenz (130 Stunden) beansprucht, weil sie viel unterwegs gewesen ist. Die IV wird die
in Rechnung gestellten 130 Stunden (Fr. 4'225.-) vergüten. Frau D wird allerdings dafür im
Verlauf des restlichen Jahres 30 Stunden weniger in Rechnung stellen können.
Bei Personen, die eine Hilflosenentschädigung für leichte Hilflosigkeit beziehen, kann der von
der IV-Stelle festgelegte monatliche Assistenzbeitrag während einer ärztlich attestierten Akutphase während höchstens 3 aufeinander folgenden Monaten sogar um mehr als 50% überschritten werden. Dauert die gesundheitliche Verschlechterung länger als 3 Monate, so sollte
sofort mit einem Revisionsgesuch eine Erhöhung des Assistenzbeitrags beantragt werden.
Beratung und Unterstützung
Die gesetzliche Regelung des Assistenzbeitrags ist komplex und erfordert viel Knowhow. Es
kommt hinzu, dass auch die Arbeitgeberrolle Kenntnisse und Fähigkeiten voraussetzt, über
die lange nicht alle Betroffenen von Beginn weg verfügen. Aus diesem Grund hat der Bundesrat in seiner Verordnung vorgesehen, dass die IV in den ersten 18 Monaten ab Gewährung des
Assistenzbeitrags bei Bedarf eine nötige Beratung und Unterstützung finanzieren kann, z.B. im
Zusammenhang mit
• der Schulung und Beratung im Hinblick auf die Arbeitgeberrolle
• der Unterstützung bei der Suche nach Assistenzpersonen
• der Abrechnung für die IV-Stelle
• der Information über allfällige weitere Sozialversicherungsleistungen und deren Koordination mit dem Assistenzbeitrag
Hält die IV-Stelle einen Beratungsbedarf für gegeben, so erlässt sie eine entsprechende Kostengutsprache. Es können maximal Fr. 1'500.- zugesprochen werden. Pro Stunde können maximal
Fr. 75.- in Rechnung gestellt werden.
62
Assistenz
Die versicherte Person kann wählen, wen sie mit der Beratung und Unterstützung beauftragen
will. Es können dies Einzelpersonen (z.B. Treuhänder) sein, aber auch Organisationen wie Pro
Infirmis.
Rechtliche Grundlagen
• Anspruch auf einen Assistenzbeitrag: Art. 42quater IVG, Art. 39a und 39b IVV
• Beginn und Ende des Anspruchs: Art. 42septies IVG
• Ermittlung des anrechenbaren Assistenzbedarfs: Art. 42sexies IVG, Art. 39c und 39e IVV
• Höhe und Berechnung des Assistenzbeitrags: Art. 39f und 39g IVV
• Rechnungstellung und Vergütung: Art. 42quiquies IVG, Art. 39h und 39i IVV
• Beratungs- und Unterstützungsleistungen: Art. 39j IVV
• Besitzstand bei Erreichen des AHV-Alters: Art. 43ter AHVG
• Verwaltungsweisungen zum Assistenzbeitrag: Kreisschreiben über den Assistenzbeitrag
63
Assistenz
Die Anstellung von Assistentinnen und Assistenten
Behinderte Menschen empfinden die Abhängigkeit von Spitexorganisationen oder von der Familie oft als beengend. Sie möchten, wie andere Menschen auch, ein selbstbestimmtes Leben führen, auch wenn sie bei vielen Situationen des täglichen Lebens auf die Unterstützung anderer
Menschen angewiesen sind. Sie möchten selber bestimmen können, wer diese Unterstützung
wann, wo, wie und wie lange leistet. Möglich wird dies, wenn sie als Arbeitgeber oder Arbeitgeberinnen ihre Assistentinnen oder Assistenten selbst anstellen.
Wer sich für ein solches Modell entscheidet, wird aber bald einmal feststellen müssen, dass mit
der Stellung als Arbeitgeber und Arbeitgeberin nicht nur Freiheiten, sondern auch eine Reihe
von persönlichen und rechtlichen Verpflichtungen verbunden sind.
Dieses Kapitel weist – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – auf einige wichtige Punkte hin, die
bei der arbeitsvertraglichen Anstellung von Assistentinnen und Assistenten aus rechtlicher
Sicht beachtet werden müssen.
»
Der Abschluss eines Arbeitsvertrags
»
Was ist bei der Anstellung ausländischer Arbeitskräfte zu beachten?
»
Arbeitszeit, Freizeit und Ferien
»
Die Regelung des Lohns
»
Welche Sozialversicherungen müssen obligatorisch abgeschlossen werden?
»
Welche freiwilligen Versicherungsabschlüsse machen Sinn?
»
Wie wird ein Arbeitsverhältnis wieder aufgelöst?
»
Beratungsmöglichkeiten, Vorlagen
»
Rechtliche Grundlagen
Der Abschluss eines Arbeitvertrags
Arbeitsverträge sind auch rechtsgültig, wenn sie mündlich abgeschlossen werden. Dingend zu
empfehlen ist aber ein schriftlicher Vertrag, der die Rechte und Pflichten festlegt. Einerseits
dient dies der Klarheit und hilft Auseinandersetzungen zu vermeiden.
64
Assistenz
Andererseits wird ein solcher schriftlicher Vertrag vorausgesetzt, damit ein Assistenzbeitrag
von der IV beansprucht werden kann. Und schliesslich ist zu beachten, dass viele Kantone
sogenannte „Normalarbeitsverträge“ erlassen haben, welche bei Fehlen einer schriftlichen Vereinbarung automatisch zur Anwendung gelangen. Wer dies vermeiden will, tut gut daran, die
wesentlichen Punkte des Arbeitsverhältnisses in einem schriftlichen Vertrag selber zu regeln.
Es gibt verschiedene Muster für die Formulierung eines Arbeitsvertrags. Empfehlenswert ist der
vom BSV ausgearbeitete Musterarbeitsvertrag, der bei der zuständigen IV-Stelle erhältlich ist.
Folgende Punkte sollten im Arbeitvertrag geregelt werden:
• Personalien der Vertragsparteien
• Möglichst genaue Umschreibung der Aufgaben, welche von den Assistentinnen und Assistenten erfüllt werden müssen (Assistenzbereiche)
• Beginn des Arbeitsverhältnisses; Dauer der Probezeit, falls diese länger als einen Monat
dauern soll
• Dauer des Arbeitsverhältnisses (falls es sich um einen befristeten Vertrag handelt) resp.
Kündigungsfristen (bei unbefristeten Verträgen)
• Arbeitspensum und Arbeitszeiten: Sind diese unregelmässig, so ist unter Umständen ein
Mindestpensum und ein maximales Pensum festzulegen.
• Lohn (Stundenlohn oder Monatslohn) inkl. Ferienzuschlag und allfälliger 13. Monatslohn
• Lohnfortzahlungsdauer bei Krankheit, Unfall und Mutterschaft. Hinweis auf den Abschluss
einer allfälligen Krankentaggeldversicherung
Was ist bei der Anstellung ausländischer Arbeitskräfte zu beachten?
Personen aus den EU- und EFTA-Staaten können heute ohne grössere Schwierigkeiten angestellt werden. Das Arbeitsverhältnis muss zwar der zuständigen Gemeindebehörde gemeldet
werden, die Arbeitsbewilligung wird aber ohne weiteres erteilt. Für Personen aus den neuen
EU-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn usw.) besteht aber zurzeit eine Abweichung
von der Regel: Für Angehörige dieser Staaten hat ein Bundesratsbeschlusses die Arbeitsbewilligungen kontingentiert. Eine solche zu erhalten, dürfte nicht einfach sein.
Für Personen aus anderen Staaten ist eine Arbeitsbewilligung in jedem Fall erforderlich.
Sie wird nur in Ausnahmefällen zu erhalten sein. Das Gesuch sollte mit den ganz besonderen persönlichen Verhältnissen der behinderten Person begründet werden. Die ausländische
Arbeitskraft sollte das Gesuch ebenfalls unterschreiben und damit bekräftigen, dass sie das
Arbeitsverhältnis ausdrücklich wünscht. Auch für Flüchtlinge, Asylsuchende und vorläufig Aufgenommene können Arbeitsbewilligungen beantragt werden.
Den ausländischen Arbeitskräften, die über keine C-Bewilligung verfügen (und die auch nicht
mit einem Ehegatten zusammenleben, der über eine C-Bewilligung oder das Schweizer Bürgerrecht verfügt), werden die Steuern direkt vom Lohn abgezogen. Man spricht in diesem Zusammenhang von „Quellensteuern“.
65
Assistenz
Wer solche Arbeitskräfte anstellt, muss sie bei der Gemeinde des Wohnortes anmelden. Anhand
einer Tabelle, welche die Gemeinde zur Verfügung stellt, kann die Höhe der Steuern berechnet
werden. Bruttolohn und Steuern der ausländischen Arbeitskräfte müssen vierteljährlich mit
einem Formular der Gemeinde gemeldet werden, welche dann dem Arbeitgeber für die Steuern
Rechnung stellt.
Wer den administrativen Aufwand zur Erhebung der Quellensteuern scheut, kann auch das vereinfachte Abrechnungsverfahren wählen, welches von den Ausgleichskassen angeboten wird.
Weitere Informationen hierzu liefern auf Wunsch die Ausgleichskassen. Arbeitszeit, Freizeit und Ferien
Das Arbeitspensum und die Arbeitszeiten können im Arbeitsvertrag genau festgelegt werden.
Aus Sicht der auf Assistenz angewiesenen Personen ist allerdings häufig eine flexible Regelung vorzuziehen, da sich auch der Bedarf häufig ändert. Denkbar ist auch, ein Mindestpensum
und ein Höchstpensum festzulegen und die konkreten Arbeitszeiten innerhalb dieser Grenzen
jeweils situationsbezogen zu vereinbaren.
Die zwingenden gesetzlichen Regelungen müssen in jedem Fall eingehalten werden. Pro
Woche muss die Assistenzperson mindestens einen ganzen Tag frei erhalten. Pro Jahr hat sie
zudem mindestens 4 Wochen (bis zum 20. Altersjahr 5 Wochen) Ferien zugute, wobei zwei
Wochen zusammenhängen müssen. Dauert das Arbeitsverhältnis weniger als ein Jahr, reduziert
sich der Ferienanspruch anteilsmässig. Schliesslich muss der Assistenzperson für die Erledigung wichtiger persönlicher und familiärer Angelegenheiten (wie Heirat, Geburt, Todesfall) die
nötige Freizeit gewährt werden. Der Umfang des Anspruchs richtet sich nach dem Ortsgebrauch und kann beim zuständigen Arbeitsgericht in Erfahrung gebracht werden.
Die Regelung des Lohns
Der Lohn kann entweder als Stundenlohn oder als Monatslohn geleistet werden. Eine Regelung
im Stundenlohn ist zu empfehlen, wenn die monatliche Arbeitsstundenzahl variiert. Überzählige Stunden müssen dann nicht als Überzeit abgerechnet werden. Bei einer Anstellung im
Stundenlohn muss die Ferienentschädigung im Lohn inbegriffen und im Arbeitsvertrag separat
ausgewiesen werden. Sie beträgt bei 4 Wochen Ferien 8,33%, bei 5 Wochen Ferien 10,42% des
Lohnes.
Wird der Lohn als Monatslohn vereinbart, so erhalten die Assistentinnen und Assistenten den
vollen Lohn auch während den Ferien ausbezahlt. Allfällige Überstunden sind wenn möglich in
den folgenden Monaten zu kompensieren.
66
Assistenz
Ist dies nicht möglich, so müssen sie zusätzlich zum Monatslohn entschädigt werden. Ein 13.
Monatslohn muss nur bezahlt werden, wenn er im Arbeitsvertrag ausdrücklich zugesichert
wird.
Die Höhe des Lohnes muss unter den Parteien ausgehandelt werden. Wer die benötigte Assistenz über den Assistenzbeitrag der IV finanzieren will, muss sich bewusst sein, dass die IV pro
Assistenzstunde Fr. 32.50 bezahlt. In diesem Betrag sind der Ferienlohn und die Leistungen
des Arbeitgebers an die Sozialversicherungen inbegriffen, was einen Bruttolohn von rund 27
Franken pro Stunde erlaubt.
Oft wird auch eine Assistenz während der Nacht beansprucht. Für diesen Nachtdienst werden
in der Regel Pauschalentschädigungen vereinbart. Wichtig ist es, dies schriftlich zu tun und
genau zu definieren, von wann bis wann ein solcher Nachtdienst dauert und ab wann wieder
gewöhnliche Stundenansätze zum Tragen kommen.
Ebenfalls im Arbeitsvertrag geregelt werden sollte, ob sich eine Assistenzperson, die während
der Arbeit eine Mahlzeit bezieht, diese als Naturallohn anrechnen lassen und einen entsprechenden Abzug beim ausbezahlten Lohn in Kauf nehmen muss. Fehlt eine Vereinbarung, ist davon auszugehen, dass der Arbeitgeber die Mahlzeit übernimmt. Spesen (Fahrspesen, Eintritte),
die während der Arbeitszeit anfallen, müssen ebenfalls vom Arbeitgeber übernommen werden.
Für den Weg zur Arbeit müssen selbstverständlich die Assistenzpersonen selber aufkommen.
Erkrankt oder verunfallt eine Assistenzperson und ist sie deswegen arbeitsunfähig, so muss
der Lohn für eine beschränkte Zeit weiter ausbezahlt werden, es sei denn, es bestehe eine
Versicherung, welche mindestens 80% des Lohnes abdeckt (vgl. hierzu weiter unten). Die
Dauer der gesetzlichen Lohnfortzahlungspflicht beträgt nach Ablauf der Probezeit im ersten
Dienstjahr 3 Wochen. Wie lange sie ab dem 2. Dienstjahr besteht, haben die Arbeitsgerichte in
verschiedenen Skalen festgelegt. Diese Skalen gelten als Minimum, es kann im Arbeitsvertrag
auch eine längere Frist vereinbart werden.
Schwangere Arbeitnehmerinnen müssen nur arbeiten, wenn sie wollen. Sie dürfen jederzeit
nach entsprechender Mitteilung von der Arbeit fernbleiben. Ein Lohn für die nicht geleistete
Arbeitszeit ist aber nur zu zahlen, wenn eine Arbeitsunfähigkeit mit ärztlichem Zeugnis ausgewiesen ist. Nach der Geburt eines Kindes darf die Mutter während 8 Wochen nicht arbeiten.
Die meisten Mütter beanspruchen aber mindestens einen 14-wöchigen Mutterschaftsurlaub,
während dem von der Mutterschaftsversicherung eine Entschädigung von 80% des Lohnes entrichtet wird.
Am Ende des Jahres hat jeder Arbeitgeber für seine Angestellten einen Lohnausweis auszustellen, auf welchem auch sämtliche Abzüge vom Lohn aufzuführen sind.
67
Assistenz
Welche Sozialversicherungen müssen obligatorisch abgeschlossen
werden?
Wer Assistenzpersonen anstellt, muss als Arbeitgeber obligatorisch eine Reihe von Versicherungen abschliessen und Beiträge bezahlen. Dies betrifft folgende Versicherungen:
• AHV, IV, EO und Arbeitslosenversicherung
• Familienzulagen
• Unfallversicherung
• Berufliche Vorsorge (obligatorisch nur bei jährlichen Löhnen von mindestens 20’880 Franken)
Die Beiträge für die AHV, IV, EO und die Arbeitslosenversicherung betragen insgesamt
12,5% des Lohnes. Die Hälfte dieser Beiträge (6,25%) muss vom Arbeitnehmer getragen werden
und ist diesem vom Lohn abzuziehen. Abgerechnet werden die Beiträge über die AHV-Ausgleichskasse. Wer Assistenzpersonen anstellt, muss sich deshalb als erstes bei der AHV-Ausgleichskasse als Arbeitgeber oder Arbeitgeberin anmelden. Dann müssen alle Assistenten und
Assistentinnen unter Angabe der Versichertennummern sowie des voraussichtlichen Lohnes der
Ausgleichskasse gemeldet werden. Die AHV-Ausgleichskasse stellt vierteljährlich eine provisorische Rechnung und am Ende des Jahres eine Schlussabrechnung aus.
Die Beiträge für die Familienzulagen sind von Kanton zu Kanton unterschiedlich hoch. Sie
liegen in der Regel zwischen 1,5% und 3% des Lohnes. Sie müssen praktisch in allen Kantonen
vom Arbeitgeber allein getragen werden. Die Abrechnung erfolgt meist ebenfalls über die AHVAusgleichskassen. Wer Assistenten und Assistentinnen anstellt, die Anspruch auf Familiezulagen (Kinderzulagen, Ausbildungszulagen) haben, muss diese mit einem Antragsformular
geltend machen. Die Familienzulagen sind den angestellten Assistenten und Assistentinnen zusammen mit dem Lohn auszuzahlen. Sie werden von der Ausgleichskasse am Ende des Jahres
gutgeschrieben bzw. mit den ausstehenden Beiträgen verrechnet.
Jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin muss aufgrund des Unfallversicherungsgesetzes
(UVG) gegen Berufsunfälle und – falls das wöchentliche Arbeitspensum 8 Stunden erreicht –
auch gegen Nichtberufsunfälle versichert werden. Die Prämien für die Unfallversicherung sind
je nach Versicherer unterschiedlich hoch und liegen im Durchschnitt bei 2-3% des Lohnes. Die
Beiträge für die Berufsunfallversicherung müssen vom Arbeitgeber getragen werden, jene für
die Nichtberufsunfallversicherung können den Arbeitnehmern vom Lohn abgezogen werden.
Die Unfallversicherung muss bei einer privaten Unfallversicherungsgesellschaft abgeschlossen
werden. Bei Versicherungsbeginn und jeweils Ende des Jahres müssen die ausbezahlten Löhne
der Versicherung gemeldet werden, welche dann die Prämien für das Folgejahr zum Voraus
festlegt und die Schlussabrechnung für das vergangene Jahr erstellt. Kommt es während der
Anstellungsdauer zu einem Unfall, so muss dieser unverzüglich der Versicherungsgesellschaft
mit entsprechendem Formular gemeldet werden.
68
Assistenz
Wer eine Assistenzperson anstellt, mit welcher ein jährlicher Lohn von mindestens 20'880 Franken (resp. ein monatlicher Lohn von mindestens 1'740 Franken) vereinbart worden ist, muss
diese zusätzlich aufgrund des Bundesgesetzes über die berufliche Vorsorge (BVG) versichern.
Keine Versicherungspflicht besteht allerdings bei befristeten Arbeitsverhältnissen bis zu 3
Monaten. Jüngere Angestellte unter 25 Jahren müssen nur gegen die Risiken Tod und Invalidität
versichert werden. Die Versicherung erfolgt durch Anschluss an eine Sammel- oder Gemeinschaftseinrichtung, bei der dann alle versicherten Personen anzumelden (und bei Beendigung
des Arbeitsverhältnisses wieder abzumelden) sind. Die Beiträge sind je nach Alter der angestellten Person unterschiedlich hoch. Sie können der angestellten Person zur Hälfte vom Lohn
abgezogen werden.
Besondere Regeln gelten, wenn Assistentinnen und Assistenten angestellt werden, die bereits
das reguläre AHV-Alter erreicht haben: Für diese müssen Beiträge an die AHV, die IV und die
EO nur noch entrichtet werden, wenn sie einen Verdienst von monatlich über 1'400 Franken
erzielen. An die Arbeitslosenversicherung müssen gar keine Beiträge geleistet werden und auch
für die berufliche Vorsorge besteht keine Versicherungspflicht mehr. Welche freiwilligen Versicherungsabschlüsse machen Sinn?
Freiwillig ist in der Schweiz der Abschluss einer Krankentaggeldversicherung. Ein solcher
Abschluss bietet den Arbeitnehmern bei längerer Arbeitsunfähigkeit den besseren Schutz als
der gesetzliche Anspruch auf Lohnfortzahlung, dauert doch die Leistungspflicht in der Regel
bis zu 720 Tage. Für die behinderte Person als Arbeitgeberin kann der Abschluss einer solchen
Versicherung aber nicht nur aus sozialen Motiven gerechtfertigt sein, er bietet auch den Vorteil,
dass besonders bei langjährigen Assistenten und Assistentinnen die Belastung einer mehrmonatigen Lohnfortzahlungspflicht entfällt. Der Abschluss einer Krankentaggeldversicherung ist
deshalb immer dann zu empfehlen, wenn jemand die Dienste einer Person für längere Zeit beansprucht und das Arbeitspensum erheblich ist. Bei sehr kleinen Arbeitspensen lohnt sich der
administrative Aufwand hingegen kaum.
Üblich ist die Versicherung eines Krankentaggeldes von 80% des Lohnes für maximal 720 Tage.
Krankentaggeldversicherungen sind nicht billig. Es lohnt sich deshalb verschiedene Offerten
einzuholen und die Prämien zu vergleichen. Sinnvoll ist die Vereinbarung eines aufgeschobenen Taggeldes: Wird eine solche Variante gewählt, so zahlt die Versicherung ein Taggeld erst
ab einer Arbeitsunfähigkeit von beispielsweise 30 oder 60 Tagen. Die Prämien einer solchen
Versicherung sind erheblich günstiger. Bis zum Beginn der Versicherungsleistungen muss dann
allerdings der Lohn weiter bezahlt werden.
Die Prämien können der angestellten Assistenzperson zu 50% belastet werden. Dies muss im
Arbeitsvertrag geregelt werden. Bei Versicherungsbeginn und Ende Jahr müssen die ausbezahlten Löhne dem Versicherer gemeldet werden. Gestützt darauf legt dieser die Vorauszahlungen
fest und erstellt die Schlussabrechnungen.
69
Assistenz
Wie wird ein Arbeitsverhältnis wieder aufgelöst?
Ein auf unbestimmte Zeit abgeschlossener Arbeitsvertrag kann jederzeit im gegenseitigen Einvernehmen aufgelöst werden. Ist eine Einigung nicht möglich, so kann er von beiden Parteien
gekündigt werden. Sind die Kündigungsfristen nicht im Arbeitsvertrag festgelegt, gelten die
gesetzlichen Kündigungsfristen:
• 7 Tage während der Probezeit
• 1 Monat im 1. Dienstjahr
• 2 Monate im 2.-9. Dienstjahr
• 3 Monate ab dem 10. Dienstjahr
Gekündigt werden darf (ausser während der Probezeit) immer nur auf Ende eines Monats. Die
Kündigung sollte wenn immer möglich schriftlich erfolgen und mit eingeschriebenem Brief so
verschickt werden, dass sie vor Monatsende bei der Gegenpartei eingetroffen ist. Wer eine Kündigung erhält, kann eine schriftliche Begründung verlangen.
Während gewisser Sperrfristen darf ein Arbeitsverhältnis nach Ablauf der Probezeit nicht
gekündigt werden. Dies ist einerseits während einer Schwangerschaft und in den ersten 16
Wochen nach der Geburt der Fall; andererseits aber auch während einer ganzen oder teilweisen
Arbeitsunfähigkeit als Folge von Krankheit und Unfall, und zwar im 1. Dienstjahr während 30
Tagen, im 2. bis 5. Dienstjahr während 90 Tagen und ab dem 6. Dienstjahr während 180 Tagen
seit Beginn der Arbeitsunfähigkeit. Eine in dieser Zeit erfolgte Kündigung ist ungültig. Ist die
Kündigung vorher ausgesprochen worden und die Kündigungsfrist noch nicht abgelaufen, so
verlängert sich diese um die Dauer der Sperrfrist.
»» Beispiel: Herr T wohnt in Basel. Er ist mit seiner Assistentin, die er seit über einem Jahr
beschäftigt, nicht mehr zufrieden, weshalb er ihr mit Schreiben vom 13. Mai das Arbeitsverhältnis per Ende Juli kündigt. Kurz nach Erhalt der Kündigung lässt die Assistentin
ausrichten, sie sei wegen Krankheit arbeitsunfähig geworden. Sie legt ein entsprechendes
Arztzeugnis vor. Diese Arbeitsunfähigkeit dauert in der Folge an.
Da die Kündigung im zweiten Dienstjahr erfolgt ist, verlängert sich die Kündigungsfrist um
3 Monate bis Ende Oktober. Obschon das Arbeitsverhältnis erst dann endet, muss Herr T
jedoch (gemäss Basler Skala) den Lohn während der Dauer der Arbeitsunfähigkeit maximal
2 Monate lang weiter zahlen.
Eine einseitige fristlose Auflösung des Arbeitsvertrags ist nur möglich, wenn die Fortsetzung
des Arbeitsverhältnisses einer Partei nicht mehr zugemutet werden kann. Die gesetzlichen Bedingungen hierfür sind streng. Es wird ausser bei schweren Verfehlungen immer eine vorgängige Ermahnung vorausgesetzt. Wer mit einer fristlosen Kündigung nicht einverstanden ist, hat
sofort dagegen Einspruch zu erheben. Erweist sich die fristlose Auflösung des Arbeitsvertrags
als ungerechtfertigt, kann Schadenersatz beansprucht werden.
70
Assistenz
Beratungsmöglichkeiten, Vorlagen
Im Zusammenhang mit der Anstellung von Assistentinnen und Assistenten können sich verschiedenste komplexe Fragen stellen. Wer noch nicht über eine gewisse Routine verfügt, wird
sich häufig überfordert fühlen. Es ist deshalb sinnvoll, sich im Rahmen einer persönlichen
Beratung zu informieren und bei der Formulierung der Arbeitsverträge, dem Abschluss von Versicherungsverträgen und der Abrechnung mit den Versicherungen und Behörden Unterstützung
zu beanspruchen. Die Beratungsstellen von Pro Infirmis bieten diese Hilfe an. Sie können
darüber hinaus auch aufzeigen, wie die Kosten der Assistenz finanziert werden können.
Wer auf eine persönliche Beratung verzichten will, findet im Internet Musterarbeitsverträge,
Musterbriefe und Formulare. Diese können auf der Website von Pro Infirmis herunter geladen
werden.
Rechtliche Grundlagen
• Anwendbarkeit von Normalarbeitsverträgen: Art. 359-360 OR
• Notwendigkeit einer Arbeitsbewilligung: Art. 11 AuG
• Erhebung von Quellensteuern: Art. 83 DBG
• Anspruch auf Freizeit und Ferien: Art. 329-329d OR
• Lohnfortzahlungspflicht bei Arbeitsunfähigkeit: Art. 324-324b OR
• Kündigung von unbefristeten Arbeitsverhältnissen: Art. 335-335c OR
• Kündigungssperrfristen: Art. 336c OR
• AHV-Beitragspflicht des Arbeitgebers: Art. 12 ff AHVG, Art. 34 ff AHVV
• Beitragspflicht Familienzulagen: Art. 11-12 FamZG
• Abschluss Unfallversicherung: Art. 59 Abs. 2, Art. 91-93 UVG
• Anschluss Berufliche Vorsorge: Art. 2 und 11 BVG; Art. 7,9 und 10 BVV2
71
Assistenz
Vergütung von Kosten der Pflege, Betreuung und Hilfe
zu Hause durch die Ergänzungsleistungen
Ergänzungsleistungen sollen Menschen finanziell zu unterstützen, die wegen Lücken im übrigen Versicherungssystem ihre existentiellen Bedürfnisse nicht decken können. Diese (subsidiäre) Auffangfunktion gelangt auch im Bereich der Finanzierung von behinderungsbedingter
Assistenz zur Anwendung: Dort wo z.B. der neu eingeführte Assistenzbeitrag nicht weiterhilft
(Betreuung durch Familienmitglieder), kann unter Umständen eine Finanzierung über die Ergänzungsleistungen sichergestellt werden.
Ergänzungsleistungen stehen allerdings nicht allen Menschen zu: Keinen Anspruch haben Minderjährige. Auch wenn das Einkommen zu hoch ist oder beträchtliches Vermögen geerbt worden ist, fallen Ergänzungsleistungen als Zusatzhilfe ausser Betracht. In diesem Kapitel zeigen
wir auf, welche Leistungen der Pflege, Betreuung und Hilfe zu Hause unter welchen Voraussetzungen von den Ergänzungsleistungen finanziert werden können.
»
Wer hat Anspruch auf Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten durch die EL?
»
Vergütung nur für Kosten, die anderweitig nicht gedeckt sind
»
Maximale jährliche Vergütung
»
Welche Kosten müssen von den EL vergütet werden?
»
Kantonale Regelungen: Einige Hinweise
»
Von der Geltendmachung bis zur Auszahlung
»
Rechtliche Grundlagen
Wer hat Anspruch auf Vergütung von Krankheits- und
Behinderungskosten durch die EL?
Alle Personen, die eine jährliche Ergänzungsleistung beziehen, können die anfallenden ungedeckten Krankheits- und Behinderungskosten zur Vergütung einreichen.
72
Assistenz
Wer zwar die allgemeinen Voraussetzungen für den Bezug einer Ergänzungsleistung (Bezug einer Rente, einer Hilflosenentschädigung oder eines Taggeldes während mindestens 6 Monaten;
Wohnsitz in der Schweiz; Mindestaufenthalt von 10 Jahren bei gewissen Staatsangehörigen) erfüllt, jedoch wegen eines Einnahmenüberschusses (anrechenbare Einnahmen sind höher als anrechenbare Ausgaben) keine jährliche Ergänzungsleistung bezieht, dem werden die Krankheitsund Behinderungskosten nur soweit vergütet, als sie den Einnahmenüberschuss übersteigen.
»» Beispiel: Frau S hat sich vor einem Jahr zum Bezug von Ergänzungsleistungen angemeldet. Die EL-Berechnung hat bei ihr anrechenbare Einnahmen von 37'000 Franken und
anrechenbare Ausgaben von 35'000 Franken (und damit einen Einnahmenüberschuss von
2'000 Franken) ergeben. Das Gesuch um eine jährliche Ergänzungsleistung ist deshalb
abgewiesen worden.
Frau S musste sich nun einer zahnärztlichen Behandlung unterziehen, welche 3'500 Franken gekostet hat. Sie kann nun diese Rechnung einreichen. Die zuständige Ausgleichskasse
wird den Einnahmenüberschuss abziehen und 1'500 Franken vergüten.
Vergütung nur für Kosten, die anderweitig nicht gedeckt sind
Die Ergänzungsleistungen vergüten nur Krankheits- und Behinderungskosten, soweit diese
nicht von einer anderen Versicherung (Krankenversicherung, Unfallversicherung, IV) übernommen werden müssen. Deshalb müssen die Rechnungen von Spitex-Organisationen und anerkannten Pflegefachpersonen immer zuerst an die Krankenversicherung (resp. bei unfallbedingter Pflege an die Unfallversicherung und bei Geburtsgebrechen an die IV) eingereicht werden.
Erst wenn deren Abrechnung vorliegt, kann für den ungedeckten Restbetrag eine Vergütung
von den EL verlangt werden.
Ob eine Hilflosenentschädigung bei zu Hause wohnenden Personen angerechnet oder ausser
Acht gelassen wird, ist in den Kantonen unterschiedlich geregelt. Einige Kantone rechnen die
Hilflosenentschädigung an, andere verzichten darauf. Wenn eine Person allerdings im Zusammenhang mit hohen Kosten von Pflege und Betreuung eine Kostenvergütung von mehr als
25'000 Franken pro Jahr beansprucht, dann muss die Hilflosenentschädigung in jedem Fall
angerechnet werden, d.h. es werden nur die Kosten vergütet, die nicht bereits über die Hilflosenentschädigung gedeckt sind.
»» Beispiel: Herr B bezieht eine Hilflosenentschädigung für mittelschwere Hilflosigkeit von
jährlich Fr. 13'920.-. Er reicht für das vergangene Jahr Pflege- und Betreuungskosten von
insgesamt Fr. 36'000.- zur Vergütung ein. Herr B wohnt in einem Kanton, in dem die Hilflosenentschädigung nur angerechnet wird, wenn eine Person eine Vergütung von mehr als
Fr. 25'000.- beansprucht.
Die kantonale EL-Stelle wird Herrn B in diesem Fall nur Fr. 25'000.- vergüten; denn für
eine höhere Vergütung müsste die Hilflosenentschädigung angerechnet werden, was einen
geringeren Betrag ergeben würde.
73
Assistenz
Maximale jährliche Vergütung
Es gelten überall in der Schweiz dieselben Ansätze. Pro Jahr können höchstens die folgenden
Beträge für Krankheits- und Behinderungskosten vergütet werden:
• 25'000 Franken für Alleinstehende, verwitwete Personen sowie Ehegatten von in Heimen
oder Spitälern lebenden Personen
• 50'000 Franken für Ehepaare
• 10'000 Franken für Vollwaisen
• 6'000 Franken für in Heimen und Spitälern lebende Personen
Diese Vergütungsgrenzen erhöhen sich bei Personen, die eine Hilflosenentschädigung der IV
und der Unfallversicherung für mittlere und schwere Hilflosigkeit beziehen; und zwar dann,
wenn die Kosten der Pflege und Betreuung, die durch die Hilflosenentschädigung nicht
gedeckt sind, den Betrag von 25'000 Franken im Jahr überschreiten. Es gelten dann folgende
maximale jährliche Vergütungsbeträge:
•
•
•
•
•
•
•
90'000 Franken für Alleinstehende mit einer schweren Hilflosigkeit
60'000 Franken für Alleinstehende mit einer mittelschweren Hilflosigkeit
115'000 Franken bei einem Ehepaar, wenn ein Ehegatte in schwerem Grad hilflos ist
180'000 Franken bei einem Ehepaar, wenn beide Ehegatten in schwerem Grad hilflos sind
85'000 Franken bei einem Ehepaar, wenn ein Ehegatte in mittlerem Grad hilflos ist
120'000 Franken bei einem Ehepaar, wenn beide Ehegatten in mittlerem Grad hilflos sind
150'000 Franken, wenn ein Ehegatte in schwerem, der andere in mittlerem Grad hilflos ist.
Diese erhöhten Ansätze gelten auch für Personen, die eine Hilflosenentschädigung der AHV
beziehen, falls sie zuvor eine solche der IV bezogen haben.
Welche Kosten müssen von den EL vergütet werden?
Grundsätzlich ist es Sache der Kantone zu bestimmen, welche „Krankheits- und Behinderungskosten“ unter welchen Bedingungen von den Ergänzungsleistungen vergütet werden müssen.
Die Kantone verfügen diesbezüglich über einen grossen Gestaltungsspielraum. Um einen
gewissen gesamtschweizerischen Minimalstandard sicherzustellen hat der Bundesgesetzgeber
aber immerhin festgelegt, welche Kategorien von Krankheits- und Behinderungskosten von
den Kantonen im Rahmen der Ergänzungsleistungen zu vergüten sind.
74
Assistenz
Es sind dies die Kosten für
• die zahnärztliche Behandlung
• die Hilfe, Pflege und Betreuung zu Hause
• die Hilfe, Pflege und Betreuung in Tagesstrukturen
• ärztlich angeordnete Bade- und Erholungskuren
• eine medizinisch notwendige Diät
• die Transporte zur nächstgelegenen Behandlungsstelle
• gewisse Hilfsmittel, und
• die Kostenbeteiligung (Franchise, Selbstbehalt von 10%) in der Krankenversicherung
Kantonale Regelungen: Einige Hinweise
Es ist im Rahmen dieses Textes nicht möglich, die Regelungen in den 26 Kantonen der Schweiz
darzustellen. Wer mehr darüber erfahren möchte, kommt nicht darum herum, die entsprechenden kantonalen Verordnungen zu lesen. Die kantonalen Stellen von Pro Infirmis können
ebenfalls weiter helfen.
Was die Kosten der Pflege, Betreuung und Hilfe zu Hause betrifft, so gibt es immerhin in vielen Kantonen ähnliche Regelungen, auf die an dieser Stelle hingewiesen werden kann:
In den meisten Kantonen werden die von Spitex-Organisationen in Rechnung gestellten Kosten vergütet, soweit sie nicht von der Krankenversicherung übernommen werden müssen. Das
betrifft in erster Linie die Kosten für die Hilfe im Haushalt. Werden Haushalthilfen im Rahmen
eines Arbeitsvertrags privat angestellt, so vergüten viele Kantone diese Kosten bis zu einer gewissen Grenze (z.B. 4'800 Franken pro Jahr), in der Regel aber nur, wenn die Haushalthilfe nicht
im gleichen Haushalt lebt.
Wird die Pflege und Betreuung einer gesundheitlich beeinträchtigten Person von Familienangehörigen erbracht, so sehen die meisten Kantone die Möglichkeit einer Vergütung der Arbeit
vor, wenn diese Familienangehörigen nicht (wie z.B. Ehegatten) in die EL-Berechnung eingeschlossen sind und wenn sie darlegen können, dass sie wegen der Pflege und Betreuung einen
Erwerbsausfall erleiden.
»» Beispiel: Herr T ist 28-jährig und lebt bei seinen Eltern. Er bezieht eine Hilflosenentschädigung für schwere Hilflosigkeit und ist auf intensive Assistenz angewiesen. Diese wird
zum grössten Teil von seiner Mutter rund um die Uhr erbracht. Diese konnte ihre frühere
Erwerbstätigkeit im Gesundheitswesen deswegen nie mehr wieder aufnehmen.
Weil die Mutter als Folge der Pflege, Betreuung und Hilfe einen Erwerbsausfall erleidet, hat
Herr T in den meisten Kantonen Anspruch auf Vergütung der Entschädigung, die er seiner
Mutter für ihre Arbeit bezahlt, und zwar maximal bis zur Höhe des glaubhaft gemachten
Erwerbsausfalls.
75
Assistenz
Etwas zurückhaltend sind viele Kantone bezüglich der Übernahme der Kosten für arbeitsvertraglich angestellte Pflegekräfte. Meistens erlauben sie eine solche Vergütung nur in Fällen,
in denen eine Person mindestens in mittlerem Grad hilflos ist. Zudem werden die Kosten vielfach nur dann übernommen, wenn der Hilfsbedarf derart intensiv ist, dass er nicht von SpitexOrganisationen abgedeckt werden kann. Unterschiedlich sind die von den Kantonen gestellten
fachlichen Anforderungen an solche Pflegepersonen und das Verfahren zur Überprüfung des
Pflegebedarfs.
Von der Geltendmachung bis zur Auszahlung
Krankheits- und Behinderungskosten müssen innert 15 Monaten seit der Rechnungstellung
bei der EL-Stelle zur Vergütung eingereicht werden. Muss noch eine Abrechnung der Krankenkasse abgewartet werden, so beginnt die 15-monatige Frist mit dem Erhalt der Abrechnung
zu laufen. Es können allerdings immer nur Kosten vergütet werden, die in einem Zeitabschnitt
entstanden sind, während dem die allgemeinen Voraussetzungen zum Bezug von Ergänzungsleistungen (Bezug einer Rente, Hilflosenentschädigung oder eines Taggeldes der IV, Wohnsitz
in der Schweiz) erfüllt gewesen sind.
Wird die Anmeldung für eine jährliche EL innert 6 Monaten seit der Verfügung über eine AHVoder IV-Rente eingereicht und wird die jährliche EL in der Folge rückwirkend zugesprochen, so
beginnt die 15-monatige Frist zur Geltendmachung von Krankheits- und Behinderungskosten
erst mit dem Datum der EL-Verfügung zu laufen.
»» Beispiel: Frau S hat mit Verfügung vom Oktober 2011 rückwirkend ab Mai 2010 eine Invalidenrente zugesprochen erhalten. Sie reicht im Januar 2012, also innert 6 Monaten nach
der IV-Verfügung, eine Anmeldung zum Bezug von Ergänzungsleistungen ein. Diese werden
ihr mit Verfügung vom Mai 2012 rückwirkend ab Mai 2010 zugesprochen.
Frau S hat nun bis August 2013 (15 Monate seit Mai 2012) Zeit, um die Krankheits- und Behinderungskosten, die seit Mai 2010 angefallen sind, einzureichen. Die Zahnarztrechnung
vom April 2010 wird die EL jedoch nicht mehr vergüten.
Die Vergütung der Krankheits- und Behinderungskosten wird in der Regel der behinderten
Person direkt ausgezahlt. Die Kantone können aber vorsehen, dass in Rechnung gestellte Kosten, welche noch nicht bezahlt sind, direkt dem Rechnungssteller oder der Rechnungsstellerin
vergütet werden.
76
Assistenz
Rechtliche Grundlagen
• Zum Anspruch auf Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten: Art. 14 Abs. 6 ELG
• Maximale jährliche Vergütung: Art. 14 Abs. 3, 4 und 5 ELG, Art. 19b ELV
• Frist für die Geltendmachung von Krankheits- und Behinderungskosten: Art. 15 ELG
• Aufzählung der Kosten, die vergütet werden können: Art. 14 Abs. 1 ELG
• Verwaltungsweisungen zu den Ergänzungsleistungen: Wegleitung über die Ergänzungsleistungen (WEL)
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78
Erwachsen­
enschutz
• Vorsorgeauftrag und
Patientenverfügung
• Urteilsfähigkeit und
Handlungsfähigkeit
• Beistandschaft
• Fürsorgerische Unterbringung
Erwachsenenschutz
Vorsorgeauftrag und Patientenverfügung
Mit dem neuen Erwachsenenschutzrecht, welches ab 2013 gültig ist, spielt das Selbstbestimmungsprinzip eine wichtigere Rolle als früher: So darf eine Person zum Beispiel im Hinblick auf
eine mögliche künftige Urteilsunfähigkeit selber zum Voraus festzulegen, wer in diesem Fall
die eigenen Interessen wahrnehmen soll und wie dies zu geschehen hat. Diese Vorsorge kann
durch Errichtung eines umfassenden Vorsorgeauftrags geschehen oder durch Errichtung einer
Patientenverfügung.
Dieses Kapitel umschreibt, wann ein Vorsorgeauftrag oder eine Patientenverfügung sinnvoll
sind, welche Ziele damit erreicht werden können, wie ein Vorsorgeauftrag und eine Patientenverfügung erstellt werden und welche Rolle dabei der Erwachsenenschutzbehörde zukommt.
Es beschreibt aber auch die Folgen für den Fall, dass eine Person urteilsunfähig wird und dass
weder ein Vorsorgeauftrag noch eine Patientenverfügung errichtet worden sind.
»
Was ist ein Vorsorgeauftrag?
»
Wie wird ein Vorsorgeauftrag errichtet?
»
Rolle der Erwachsenenschutzbehörde bei Vorliegen eines Vorsorgeauftrags
»
Ist ein Vorsorgeauftrag auch bei Verheirateten sinnvoll?
»
Was ist eine Patientenverfügung?
»
Wie wird eine Patientenverfügung errichtet?
»
Wie verbindlich ist eine Patientenverfügung?
»
Wer vertritt eine urteilsunfähige Person beim Entscheid über medizinische
Behandlungen?
»
Rechtliche Grundlagen
Was ist ein Vorsorgeauftrag?
Mit einem Vorsorgeauftrag kann jeder urteilsfähige und volljährige Mensch eine Person seines
Vertrauens beauftragen, für ihn zu handeln, sobald er selber urteils- und damit handlungsunfähig geworden ist. Beauftragt werden kann sowohl eine natürliche Person als auch eine juristische Person wie z.B. eine Bank oder eine Institution.
80
Erwachsenenschutz
Es kann auch eine Ersatzperson bezeichnet werden für den Fall, dass die beauftragte Person
den Auftrag nicht annimmt oder ihn kündigt.
Der Auftrag kann umfassend sein und die persönliche Sorge, die Vermögenssorge und die
Vertretung im rechtlichen Verkehr beinhalten. Er kann aber auch auf bestimmte Bereiche und
Geschäfte beschränkt werden. Mit dem Auftrag können konkrete Handlungsanweisungen darüber verknüpft werden, wie die beauftragte Person ihr Amt auszuüben hat.
»» Beispiel: Herr T leidet an einer fortschreitenden Krankheit, welche ihn auch geistig und
psychisch mehr und mehr beeinträchtigt. Weil er damit rechnen muss, dass er in nächster
Zeit nicht mehr in der Lage sein wird, seine Angelegenheiten selber wahrzunehmen, errichtet er einen Vorsorgeauftrag und beauftragt seinen Bruder, ihn in allen Angelegenheiten
zu vertreten, sobald er selber urteilsunfähig geworden ist. Bevor er diesen Vorsorgeauftrag
errichtet, bespricht er die Sache mit seinem Bruder und versichert sich, dass dieser auch
bereit ist, den Auftrag anzunehmen. In Anbetracht des bestehenden Vertrauensverhältnisses verzichtet er auf die Formulierung von Anweisungen.
Der Vorsorgeauftrag entfaltet seine Wirkung erst, wenn eine Urteilsunfähigkeit von einer gewissen Dauer eingetreten ist, welche eine Vertretung der urteilsunfähigen Person nötig macht.
Erlangt diese ihre Urteilsfähigkeit wieder zurück, so erlischt der Vorsorgeauftrag automatisch,
kann aber bei einer späteren erneuten Urteilsunfähigkeit wieder aufleben.
Hat die beauftragte Person den Vorsorgeauftrag einmal angenommen, so kann sie ihn nur mit
einer 2-monatigen Frist und durch schriftliche Mitteilung an die Erwachsenenschutzbehörde
wieder kündigen, wobei diese Kündigung auch ohne Begründung erfolgen kann. Eine fristlose
Kündigung ist hingegen nur aus triftigen Gründen möglich.
Wie wird ein Vorsorgeauftrag errichtet?
Die Formvoraussetzungen sind streng: Der Vorsorgeauftrag muss von Anfang bis zum Ende eigenhändig niedergeschrieben, datiert und unterzeichnet werden, ansonsten ist er nicht gültig.
Alternativ kommt die öffentliche Beurkundung z.B. bei einem Notar in Frage. Das Verfahren für
eine öffentliche Beurkundung ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich geregelt.
Wer einen Vorsorgeauftrag errichtet hat, kann diese Tatsache sowie den Hinterlegungsort beim
Zivilstandsamt registrieren lassen. Diese Registrierung ist in jedem Fall zu empfehlen. Sinnvoll
ist es auch, der beauftragten Person eine Kopie zu geben.
Der Vorsorgeauftrag kann jederzeit widerrufen werden, solange eine Person noch urteilsfähig
ist. Dieser Widerruf kann entweder eigenhändig erfolgen oder durch öffentliche Beurkundung
oder durch Vernichtung der Urkunde.
81
Erwachsenenschutz
Die Rolle der Erwachsenenschutzbehörde bei Vorliegen eines
Vorsorgeauftrags
Erfährt die Erwachsenenschutzbehörde, dass jemand urteilsunfähig geworden ist, muss sie als
erstes abklären, ob ein Vorsorgeauftrag vorliegt oder nicht. Sie hat dann zu prüfen, ob dieser
Vorsorgeauftrag gültig errichtet worden ist, ob wirklich eine Urteilsunfähigkeit von einer gewissen Dauer eingetreten ist, ob die beauftragte Person geeignet erscheint, ihre Aufgabe zu erfüllen, und ob sie auch bereit ist, den Auftrag anzunehmen. Kommt sie zum Schluss, dass diese
Voraussetzungen alle erfüllt sind, händigt die Behörde der beauftragten Person eine Urkunde
aus, damit sie sich gegenüber Dritten ausweisen kann. Zudem klärt sie die beauftragte Person
über die mit dem Auftrag verbundenen Pflichten und Rechte auf. Sie kann auch eine angemessene Entschädigung festlegen, wenn eine solche im Hinblick auf den Umfang der Aufgaben als
gerechtfertigt erscheint.
»» Beispiel: Der Bruder von Herrn T kommt zum Schluss, dass Herr T wegen zunehmender
Verwirrung seine Angelegenheiten nicht mehr besorgen kann. Er meldet dies der Erwachsenenschutzbehörde und weist auf den bestehenden Vorsorgeauftrag hin. Die Erwachsenenschutzbehörde prüft die Voraussetzungen und händigt dem Bruder eine Urkunde aus.
Das erlaubt dem Bruder unter anderem, sich gegenüber den Banken als Vertreter von T
auszuweisen und Rechnungen zu begleichen. Auf eine Entschädigung für seine Aufgaben
verzichtet der Bruder.
Gelangt die Erwachsenenschutzbehörde zum Ergebnis, dass die Interessen der urteilsunfähig gewordenen Person gefährdet oder nicht mehr gewahrt sind, trifft sie die erforderlichen
Massnahmen (z.B. Errichtung einer Beistandschaft). Das kann der Fall sein, wenn der Vorsorgeauftrag nicht angenommen oder gekündigt worden ist, wenn die beauftragte Person mit ihrer
Aufgabe überfordert ist oder wenn Interessenskonflikte entstehen.
Ist ein Vorsorgeauftrag auch bei Verheirateten sinnvoll?
Bei verheirateten Personen und solchen, die in eingetragener Partnerschaft leben, ist die Errichtung eines Vorsorgeauftrags nicht unbedingt erforderlich; denn in diesen Fällen besteht ein gesetzliches Vertretungsrecht: Wenn einer der Eheleute oder Partner urteilsunfähig wird, so kann
der andere ihn vertreten. Dieses Vertretungsrecht besteht allerdings nur, wenn die Beziehung
tatsächlich gelebt wird, d.h. wenn das Paar einen gemeinsamen Haushalt führt oder wenn (im
Falle eines Heimaufenthalts) der Partner bzw. die Partnerin der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leistet.
Das gesetzliche Vertretungsrecht umfasst diejenigen Rechtshandlungen, die zur Deckung des
Unterhaltsbedarfs üblicherweise nötig sind, sowie jene, welche die ordentliche Verwaltung des
Einkommens und des Vermögens betreffen.
82
Erwachsenenschutz
Das Recht, die Post zu öffnen, besteht, soweit dies für die vorzunehmenden Handlungen erforderlich ist. Sind über die ordentliche Verwaltung des Einkommens und Vermögens hinausgehende Handlungen notwendig, muss die Zustimmung der Vormundschaftsbehörde eingeholt
werden.
»» Beispiel: Frau W erleidet unerwartet einen schweren Hirnschlag. Sie ist gelähmt und
kann sich nicht mehr sprachlich ausdrücken. Sie ist nicht mehr urteilsfähig und lebt in
einem Pflegeheim. Ihr Ehemann, Herr W, besucht sie regelmässig und kümmert sich weiter
um alle administrativen Belange. Hierzu ist Herr W von Gesetzes wegen ermächtigt. Will
Herr W allerdings das gemeinsame Einfamilienhaus verkaufen, weil er in eine kleinere Wohnung ziehen will, benötigt er hierfür die Zustimmung der Erwachsenenschutzbehörde.
Verlangen Dritte einen Nachweis betreffend das Vertretungsrecht, muss die Erwachsenenschutzbehörde auf Anfrage hin eine entsprechende Urkunde erstellen. Dabei kann die Behörde
prüfen, ob die gesetzliche Vertretungsmacht ausreicht oder ob weitere Massnahmen zum
Schutz der urteilsunfähig gewordenen Person nötig sind. Sie kann bei Bedarf das Vertretungsrecht auch ganz oder teilweise entziehen und eine Beistandschaft anordnen. Das wird allerdings nur selten geschehen, so etwa, wenn ein Interessenskonflikt besteht.
Was ist eine Patientenverfügung?
Mit einer Patientenverfügung kann eine Person im Hinblick auf den Fall einer künftigen Urteilsunfähigkeit festlegen, welchen medizinischen Behandlungen sie in einer bestimmten Situation
zustimmt oder eben nicht zustimmt. Sie kann aber auch in einer Patientenverfügung festlegen,
dass eine bestimmte Person ihres Vertrauens im Fall ihrer Urteilunfähigkeit mit den behandelnden Ärzten die möglichen medizinischen Massnahmen bespricht und dann in ihrem Namen
entscheidet. Dieser Person gegenüber können auch Weisungen erteilt und Wünsche formuliert werden. Für den Fall, dass diese Person den Auftrag nicht annimmt oder kündigt, was in
jedem Fall ohne Frist zulässig ist, kann auch eine Ersatzperson bezeichnet werden. So oder so
empfiehlt es sich immer, bereits vor Errichtung einer Patientenverfügung zu klären, ob eine
Vertrauensperson bereit ist, einen solchen Auftrag anzunehmen und zu erfüllen.
»» Beispiel: Frau S leidet an einer schweren fortschreitenden Erkrankung. Sie wünscht,
dass bei einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustands auf lebensverlängernde Massnahmen verzichtet wird und dass sie nur noch Schmerzmittel erhält. Für den Fall,
dass sie selber urteilsunfähig werden sollte, legt sie diesen Wunsch in einer Patientenverfügung fest. Gleichzeitig bestimmt sie, dass die Ärzte die zu treffenden Entscheide mit
ihrer besten Freundin G absprechen sollen. Sie hat dies mit ihrer Freundin vor Errichtung
der Patientenverfügung so abgesprochen. Diese und ihr Hausarzt erhalten eine Kopie der
Patientenverfügung.
83
Erwachsenenschutz
Wie wird eine Patientenverfügung errichtet?
Für die Errichtung einer Patientenverfügung wird Urteilsfähigkeit, nicht aber Handlungsfähigkeit
vorausgesetzt. Das bedeutet, dass auch Personen eine Patientenverfügung errichten können,
die unter umfassender Beistandschaft stehen, sofern sie eben urteilsfähig sind. Die Patientenverfügung ist schriftlich zu errichten, zu datieren und zu unterzeichnen. Sie muss aber – anders
als etwa der Vorsorgeauftrag – nicht von A bis Z eigenhändig geschrieben werden. Sie kann,
solange eine Person urteilsfähig ist, auch jederzeit unter denselben Formvorschriften widerrufen werden.
Im Internet können verschiedene Formulare für Patientenverfügungen mit begleitenden Anmerkungen herunter geladen werden. Bekannt sind z.B. jene des Verbands der Schweizer Ärzte
(FMH), der Stiftung Ethik Dialog, der Caritas und des SRK (Schweizerisches Rotes Kreuz).
Eine Patientenverfügung kann ihre Wirkung nur entfalten, wenn sie dem medizinischen Personal im massgebenden Zeitpunkt bekannt ist. Es ist deshalb sinnvoll, dem Hausarzt und allfälligen Vertrauenspersonen eine Kopie zuzustellen. Im Gesetz wird auch noch auf die Möglichkeit
hingewiesen, das Vorliegens einer Patientenverfügung und deren Hinterlegungsort auf der
Krankenversicherungs-Karte eintragen zu lassen.
Wie verbindlich ist eine Patientenverfügung?
Ärzte und Ärztinnen müssen immer dann, wenn eine Person urteilsunfähig geworden ist und
ein Entscheid über medizinische Massnahmen getroffen werden muss, als erstes abzuklären,
ob eine Patientenverfügung vorliegt. Dies ist am ehesten mit Hilfe der Versichertenkarte möglich. Von dieser Abklärung darf nur in dringenden Notfällen abgesehen werden, in denen sofort
gehandelt werden muss.
Liegt eine Patientenverfügung vor, müssen Arzt oder Ärztin grundsätzlich dem darin geäusserten Willen entsprechen. Von diesem darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, wenn ernsthafte und begründete Zweifel bestehen, dass die Patientenverfügung auf freiem Willen beruht
oder noch dem mutmasslichen Willen des Patienten oder der Patientin entspricht. In diesem
Fall müssen der Arzt oder die Ärztin im Patientendossier festhalten, weshalb der Patientenverfügung nicht entsprochen worden ist. Je aktueller eine Patientenverfügung ist, umso weniger
wird daran gezweifelt werden können, dass sie noch dem mutmasslichen Willen des Patienten
entspricht. Es kann deshalb empfohlen werden, die Patientenverfügung von Zeit zu Zeit zu
erneuern.
Der Erwachsenenschutzbehörde kommt im Zusammenhang mit Patientenverfügungen keine
wesentliche Rolle zu: Sie schreitet einerseits nur auf schriftlichen Antrag einer dem Patienten
oder der Patientin nahe stehenden Person ein, und andererseits nur, wenn sie feststellt,
84
Erwachsenenschutz
dass einer Patientenverfügung nicht entsprochen wird, dass die Interessen der urteilsunfähigen
Person nicht mehr gewahrt sind oder eine Patientenverfügung nicht auf freiem Willen beruht:
In diesen Fällen kann sie Massnahmen zur Sicherstellung der Interessen der urteilsunfähigen
Person ergreifen.
Wer vertritt eine urteilsunfähige Person beim Entscheid über
medizinische Behandlungen?
Medizinische Behandlungen können im Prinzip immer nur mit der Zustimmung der Patienten
vorgenommen werden. Eine Zustimmung setzt aber voraus, dass eine Person in der Lage ist
zu beurteilen, ob sie die Folgen einer bestimmten Behandlung oder eines bestimmten Eingriffs
wünscht und die Risiken in Kauf nehmen will. Die Zustimmung setzt somit Urteilsfähigkeit voraus. Wer entscheidet nun aber, wenn eine Person nicht urteilsfähig ist?
Liegt eine Patientenverfügung oder ein Vorsorgeauftrag vor, muss der Arzt die aus seiner
Sicht nötigen Behandlungen mit jenen Personen besprechen, welche in der Patientenverfügung
oder im Vorsorgeauftrag als Vertreter bezeichnet sind. Er darf, ausser in dringenden Notfällen,
nur mit Zustimmung dieser Vertreter Massnahmen ergreifen. Fehlen in einer Patientenverfügung Weisungen, so muss die vertretungsberechtigte Person die Interessen der urteilsunfähigen Person nach deren mutmasslichen Willen wahren. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe.
Sie ist einfacher zu lösen, wenn vor Beginn der Urteilsunfähigkeit entsprechende Gespräche
geführt worden sind.
Auch wenn weder eine Patientenverfügung noch ein Vorsorgeauftrag besteht, darf der Arzt
(ausser in dringenden Notfällen) nicht einfach frei über die vorzunehmenden medizinischen
Massnahmen entscheiden, sondern muss bei allen erheblichen Eingriffen die Zustimmung der
vertretungsberechtigten Person einholen. Als vertretungsberechtigt bezeichnet das Gesetz der
Reihe nach folgende Personen:
• den Beistand oder die Beiständin, wenn diesen ein Vertretungsrecht bezüglich medizinischer Massnahmen zukommt
• den Ehegatten oder den eingetragenen Partner resp. die eingetragene Partnerin, sofern diese einen gemeinsamen Haushalt führen oder regelmässig und persönlich Beistand leisten
• diejenige Person, die mit der urteilsunfähigen Person einen gemeinsamen Haushalt führt
(Wohnpartner, Wohnpartnerin) und ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet
• die Nachkommen, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten
• die Eltern, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten
• die Geschwister, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand
leisten
85
Erwachsenenschutz
»» Beispiel: Der 36-jährige Herr G ist geistig behindert und lebt bei seinen Eltern, die sich
persönlich um ihn kümmern. Eine Beistandschaft ist nicht errichtet worden und es liegt
auch keine Patientenverfügung vor. Der Gesundheitszustand von Herrn G hat sich wegen
verschiedener kardiologischer Probleme massiv verschlechtert. Nun muss entschieden werden, ob weitere risikoreiche Operationen durchgeführt werden sollen.
Die Ärztin gelangt zum Schluss, dass Herr G selber nicht urteilsfähig ist. In diesem Fall
übernehmen die Eltern von Herrn G die Funktion des Vertreters. Sie müssen ihre Zustimmung zu den von den Ärzten vorgeschlagenen Eingriffen erteilen, wobei sie diesen Entscheid nach dem mutmasslichen Willen und den Interessen ihres Sohnes zu treffen haben.
Sie müssen ihren Sohn, soweit dies möglich ist, in die Entscheidungsfindung einbeziehen.
Sind mehrere Personen (z.B. drei Töchter) vertretungsberechtigt, darf der Arzt davon ausgehen,
dass jede im Einverständnis mit der anderen handelt. Er muss also, wenn eine der Töchter ihre
Zustimmung zu einer Operation gegeben hat, nicht bei den anderen ebenfalls eine Zustimmung einholen.
Fühlt sich ein gesetzlicher Vertreter überfordert oder bestehen unter mehreren gleichrangigen
Vertretern unterschiedliche Auffassungen über die richtige medizinische Behandlung, so kann
die Erwachsenenschutzbehörde ersucht werden, einen Beistand oder eine Beiständin einzusetzen.
Muss in dringenden Fällen rasch gehandelt werden und kann aus zeitlichen Gründen die
Zustimmung der gesetzlichen Vertreter nicht eingeholt werden, dürfen die Ärzte den Entscheid
selber treffen. Sie haben dabei den mutmasslichen Willen und die Interessen der urteilsunfähigen Person zu berücksichtigen
Rechtliche Grundlagen
• Inhalt des Vorsorgeauftrags: Art. 360 ZGB
• Errichtung und Widerruf des Vorsorgeauftrags: Art. 361, 362 ZGB
• Rolle der Erwachsenenschutzbehörde beim Vorsorgeauftrag: Art. 362, 368 ZGB
• Erfüllung des Vorsorgeauftrags: Art. 365, 366 ZGB
• Vertretung durch den Ehegatten: Art. 374, 376 ZGB
• Inhalt der Patientenverfügung: Art. 370 ZGB
• Errichtung und Widerruf der Patientenverfügung: Art. 371 ZGB
86
Erwachsenenschutz
• Verbindlichkeit der Patientenverfügung: Art. 372, 373 ZGB
• Vertretung urteilsunfähiger Personen bei medizinischen Behandlungen: Art. 377, 378 und
379 ZGB
87
Erwachsenenschutz
Urteilsfähigkeit und Handlungsfähigkeit
Das Erwachsenenschutzrecht soll Menschen schützen, die wegen einer geistigen Behinderung,
einer psychischen Störung oder einem anderen Schwächezustand nicht in der Lage sind, ihre
Rechte und Pflichten genügend wahrzunehmen. Bevor die Massnahmen der Selbstvorsorge und
die behördlichen Massnahmen im Einzelnen vorgestellt werden, ist es nötig, kurz die Begriffe
der Urteilsfähigkeit (bzw. Urteilsunfähigkeit) und der Handlungsfähigkeit (bzw. Handlungsunfähigkeit) zu erläutern und darzulegen, welches die Folgen fehlender Urteils- und Handlungsfähigkeit sind.
»
Handlungsfähigkeit und Urteilsfähigkeit
»
Welche Rechte können urteilsfähige, aber handlungsunfähige Personen wahrnehmen?
»
Höchstpersönliche Rechte
»
Rechtliche Grundlagen
Handlungsfähigkeit und Urteilsfähigkeit
Die Handlungsfähigkeit ist definiert als Fähigkeit, durch eigene Handlungen Rechte und Pflichten zu begründen. Als handlungsfähig gilt im schweizerischen Rechtssystem jede Person, die
einerseits volljährig (d.h. 18-jährig) ist und andererseits urteilsfähig ist. Umgekehrt gilt als
handlungsunfähig jede Person, die entweder minderjährig ist oder unter umfassender Beistandschaft steht oder die urteilsunfähig ist.
Der Urteilsfähigkeit kommt somit eine entscheidende Rolle bei der Frage zu, ob eine Person
durch eigene Handlungen Rechte und Pflichten begründen kann: Als urteilsfähig gilt jemand,
der in einer konkreten Lebenssituation „vernunftgemäss“ handeln kann, also die Tragweite
des eigenen Handelns begreift und fähig ist, sich entsprechend dieser Einsicht zu verhalten.
Fehlt es an dieser Urteilsfähigkeit, können in der Regel keine rechtlichen Wirkungen erzeugt
werden. Ein abgeschlossenes Geschäft bleibt unwirksam und muss gegebenenfalls rückgängig
gemacht werden.
Kein Mensch ist grundsätzlich ein Leben lang urteils- und damit handlungsunfähig. Einzig bei
schwerstbehinderten Personen oder bei demenzkranken Menschen im Alter kann die Urteilsfähigkeit generell verneint werden. Ansonsten beurteilt sich das Vorliegen einer Urteilsfähigkeit
immer im Hinblick auf jedes einzelne Geschäft. Es kann also durchaus sein, dass eine Person
im Hinblick auf gewisse Handlungen urteilsfähig ist, im Hinblick auf andere aber urteilsunfähig.
88
Erwachsenenschutz
»» Beispiel: Der 30-jährige Herr P ist trotz einer erheblichen Lernbehinderung durchaus in
der Lage, die täglichen Lebensmitteleinkäufe zu tätigen. Er ist bezüglich dieser Handlungen
als urteilsfähig zu betrachten. Die Aufnahme eines Bankkredits dürfte jedoch seine kognitiven Fähigkeiten überschreiten, weshalb ein solches Geschäft nur mit Zustimmung eines
gesetzlichen Vertreters gültig abgeschlossen werden könnte.
Welche Rechte können urteilsfähige, aber handlungsunfähige Personen
wahrnehmen?
Ist eine Person in einer konkreten Situation urteilsfähig, aber dennoch nicht handlungsfähig,
weil sie entweder noch minderjährig ist oder weil sie unter umfassende Beistandschaft gestellt
wurde, so kann eine solche Person im Regelfall nur mit Zustimmung des gesetzlichen Vertre­
ters Verpflichtungen eingehen oder Rechte aufgeben. Von diesem Grundsatz gibt es allerdings
drei Ausnahmen:
• Es können auch ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters Vorteile erlangt werden, die
unentgeltlich sind (z.B. Schenkungen oder Vermächtnisse).
• Es können auch ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters geringfügige Angelegenheiten des täglichen Lebens besorgt werden (z.B. Lebensmitteleinkäufe).
• Verschiedene höchstpersönliche Rechte können auch ohne Zustimmung des gesetzlichen
Vertreters wahrgenommen werden (vgl. weiter unten).
In allen anderen Fällen bedarf es der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters: Diese kann,
soweit keine anderen gesetzlichen Bestimmungen bestehen, ausdrücklich oder stillschweigend
im Voraus erteilt werden. Das Geschäft kann aber auch nachträglich vom gesetzlichen Vertreter
genehmigt werden. Wird die Genehmigung verweigert, kann jede Partei die bereits erbrachten
Leistungen soweit wie möglich zurückfordern. Die handlungsunfähige Person haftet jedoch nur
insoweit, als die Leistung in ihrem Nutzen verwendet worden ist oder als sie zur Zeit der Rückforderung noch bereichert ist.
»» Beispiel: Die geistig behinderte Frau A ist an Tieren interessiert. Sie hat bei einem
Versandhaus ein Tierlexikon im Wert von 1›550 Franken bestellt. Nachdem der gesetzliche
Vertreter davon erfährt, verweigert er in Anbetracht der bescheidenen finanziellen Verhältnisse von Frau A seine Zustimmung zum Geschäft. Der bereits gelieferte erste Band muss
zurückgesandt, eine allfällige Anzahlung zurückerstattet werden.
89
Erwachsenenschutz
Höchstpersönliche Rechte
Höchstpersönliche Rechte sind solche, die „einer Person um ihrer Persönlichkeit willen zustehen“. Diese Rechte können auch von handlungsunfähigen Personen (Minderjährigen, unter
umfassender Beistandschaft stehenden Personen) wahrgenommen werden, falls sie urteilsfä­
hig sind.
Unter diese höchstpersönlichen Rechte fallen z.B.
• das Recht, über die religiöse Zugehörigkeit nach Erreichen des 16. Altersjahrs zu entscheiden
• das Recht, medizinischen Behandlungen zuzustimmen
• das Recht zur Eheschliessung und zur Einreichung einer Ehescheidungsklage
• das Recht, ein Testament zu errichten oder dieses zu widerrufen oder einen Erbvertrag
abzuschliessen.
• Das Recht, ein Kind zu anerkennen
Der gesetzliche Vertreter ist bei solchen Geschäften nicht berechtigt, in Vertretung einer urteilsfähigen Person zu handeln. Allerdings sieht das Gesetz bei einzelnen höchstpersönlichen
Rechten vor, dass der gesetzliche Vertreter (Eltern, Beistand) seine Zustimmung erteilen muss.
Dies ist z.B. bei der Eheschliessung, der Anerkennung eines Kindes oder beim Abschluss eines
Erbvertrags der Fall.
Ist eine Person urteilsunfähig, wird zwischen absolut höchstpersönlichen Rechten und relativ
höchstpersönlichen Rechten unterschieden: Bei absolut höchstpersönlichen Rechten kann
weder die urteilsunfähige Person noch der gesetzliche Vertreter das Recht ausüben. So ist es
z.B. einer urteilsunfähigen Person grundsätzlich versagt, eine Ehe abzuschliessen, ein Testament zu errichten oder als Erblasser einen Erbvertrag zu unterzeichnen. Bei relativ höchstper­
sönlichen Rechten kann der gesetzliche Vertreter demgegenüber an Stelle der urteilsunfähigen
Person handeln. So kann er insbesondere seine Zustimmung zu üblichen ärztlichen Eingriffen
erteilen.
»» Beispiel: Herr S steht unter umfassender Beistandschaft. Er wird wegen eines schweren
Hüftleidens schon seit längerem medizinisch behandelt. Nun schlägt der Arzt vor, eine
Hüftgelenksprothese einzusetzen.
Entscheidend ist, ob Herr S im Hinblick auf den zu treffenden „höchstpersönlichen“ Entscheid (Zustimmung zum vorgeschlagenen Eingriff) als urteilsfähig anzusehen ist oder
nicht. Dies muss der Arzt aufgrund eines Gesprächs mit seinem Patienten herauszufinden
versuchen. Ist Herr S urteilsfähig, d.h. kann er die Tragweite des Eingriffs und die damit
verbundenen Chancen und Risiken beurteilen, so muss er persönlich dem Eingriff zustimmen; ist er es nicht, so ist dies Aufgabe seines Beistands.
90
Erwachsenenschutz
Rechtliche Grundlagen
• Handlungsfähigkeit, Handlungsunfähigkeit: Art. 13, 17 ZGB
• Urteilsfähigkeit: Art. 16 ZGB
• Rechte handlungsunfähiger, aber urteilsfähiger Personen: Art. 19-19b ZGB
• Höchstpersönliche Rechte: Art. 19c ZGB
91
Erwachsenenschutz
Beistandschaft
Eine Beistandschaft dient dazu, das Wohl und den Schutz einer hilfsbedürftigen Person sicherzustellen. Sie soll aber das Selbstbestimmungsrecht einer Person nur soweit einschränken, als
dies vom Schutzgedanken her wirklich erforderlich ist. Das ist der Kern des neuen Erwachsenenschutzrechts, welches am 1.1.2013 in Kraft tritt und das alte 100-jährige Vormundschaftsrecht ablöst.
In diesem Kapitel erläutern wir kurz einige allgemeine Grundsätze des Erwachsenenschutzrechts und stellen dann die verschiedenen Formen der Beistandschaft vor. Schliesslich wird
auch eine Reihe von übergangsrechtlichen Fragen beantwortet.
»
Grundsätze des neuen Erwachsenenschutzrechts
»
Wann wird eine Begleitbeistandschaft angeordnet?
»
Wann ist eine Vertretungsbeistandschaft notwendig?
»
Wann wird eine Mitwirkungsbeistandschaft errichtet?
»
Wann ist eine umfassende Beistandschaft angezeigt?
»
Wer wird Beistand?
»
Vom Vormundschaftsrecht zum neuen Erwachsenenschutzrecht
»
Rechtliche Grundlagen
Grundsätze des neuen Erwachsenenschutzrechts
Generell gilt, dass eine Beistandschaft immer nur dann angeordnet werden soll, wenn der
Schutz einer Person nicht auf andere Art erreicht werden kann. Ist beispielsweise die Betreuung durch das Umfeld der betroffenen Person (z.B. Angehörige oder Freunde) ausreichend oder
die Unterstützung durch nicht-staatliche gemeinnützige Organisationen (wie z.B. Pro Infirmis)
oder durch Institutionen der staatlichen Sozialhilfe gesichert, kann und soll auf eine Beistandschaft verzichtet werden.
92
Erwachsenenschutz
Ist eine Beistandschaft nötig, dann soll sie das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Person
nicht unnötig einschränken. Das kann nur erreicht werden, wenn die Beistandschaft für die betroffene Person „massgeschneidert“ ist: Sie darf weder stärker noch schwächer als erforderlich
in die Rechtstellung der betroffenen Person eingreifen. Sie muss also „verhältnismässig“ sein.
Die Erwachsenenschutzbehörde ordnet eine Beistandschaft entweder von Amtes wegen oder
auf Antrag der betroffenen oder einer nahestehenden Person an. Vorausgesetzt ist ein im
Gesetz umschriebener Schwächezustand (geistige Behinderung, psychische Störung oder ähnlicher in der Person liegender Schwächezustand; vorübergehende Urteilsunfähigkeit oder örtliche
Abwsenheit). Da der Inhalt der Beistandschaft gesetzlich nicht im Detail festgelegt ist, muss
die Erwachsenenschutzbehörde diesen im Einzelfall konkret umschreiben. Dies führt dazu,
dass der Beistand oder die Beiständin nur für diejenigen Bereiche zuständig ist, welche von der
Behörde aufgelistet werden. In allen anderen Bereichen gilt die verbeiständete Person somit als
selbständig. Es steht der Behörde aber auch frei, die verschiedenen Arten der Beistandschaft zu
kombinieren.
Fällt der Grund für eine Beistandschaft weg, muss sie auf Antrag der betroffenen oder einer
nahestehenden Person oder von Amtes wegen wieder aufgehoben werden.
Wann wird eine Begleitbeistandschaft angeordnet?
Wer für bestimmte Angelegenheiten eine begleitende Unterstützung benötigt, erhält von der
Erwachsenenschutzbehörde einen Begleitbeistand. Dabei kann es sich zum Beispiel um eine
Unterstützung bei der Essens- und Einkaufsplanung, beim Ausfüllen von Formularen, bei der
Geltendmachung von Ansprüchen oder beim Abschluss von Verträgen handeln. Zwar stellt eine
Begleitbeistandschaft eine behördliche Massnahme dar, der sich die betroffene Person nicht
vollständig entziehen kann; sie kann aber nur wirklich wirksam sein, wenn die Person mit ihr
einverstanden und auch bereit ist, mit dem Beistand zusammenzuarbeiten. Die Begleitbeistandschaft schränkt die Handlungsfähigkeit der verbeiständeten Person nicht ein, so dass diese
weiterhin selbständig handelt. Der Begleitbeistand übt nur eine gewisse Kontrolle aus und
berät die betroffene Person.
»» Beispiel: Die 21-jährige Frau M möchte aus dem Elternhaus ausziehen. Aufgrund einer
Lernbehinderung benötigt sie bei der Wohnungssuche, bei der Wohnungsbewerbung, beim
Abschluss eines Mietvertrages und bei der Einrichtung einer Wohnung Unterstützung. Da
sie aber durchaus in der Lage ist, die Tragweite von Verträgen zu verstehen und diese auch
abzuschliessen, muss ihre Handlungsfähigkeit nicht eingeschränkt werden. Frau M kann
also den Mietvertrag, den Auftrag an das Zügelunternehmen und allfällige Kaufverträge
für Einrichtungsgegenstände selbst unterzeichnen.
93
Erwachsenenschutz
Wann ist eine Vertretungsbeistandschaft notwendig?
Wer gewisse Angelegenheiten nicht selber erledigen kann und diesbezüglich vertreten werden
muss (z.B. bei der Unterzeichnung eines Mietvertrages oder beim Kauf von Möbeln), erhält von
der Behörde einen Vertretungsbeistand. Ein Vertretungsbeistand kann auch dann notwendig
sein, wenn sich eine Person in gewissen Belangen vollständig passiv verhält (also auch nicht in
der Lage ist, jemanden zu bevollmächtigen).
Der Vertretungsbeistand wird im Rahmen der ihm übertragenen Aufgaben zum gesetzlichen
Vertreter. Die Handlungsfähigkeit der verbeiständeten Person ist damit aber nur insofern berührt, als sie sich die Handlungen des Beistandes gefallen lassen muss. Sie kann aber trotzdem
auch weiterhin selbst handeln (z.B. die gekauften Möbel wieder verkaufen). Sofern sie es als
nötig erachtet, kann die Behörde die Handlungsfähigkeit für gewisse Angelegenheiten aber
auch einschränken, so dass die Person zum Beispiel nicht selbständig einen Arbeitsvertrag abschliessen kann. Auch kann sie den Beistand mit der Einkommens- bzw. Vermögensverwaltung
beauftragen. Zum Schutz einer Person kann zudem der Zugriff auf einzelne Vermögenswerte
entzogen werden (bei Grundstücken durch Anmerkung im Grundbuch).
»» Beispiel: Herr F ist mit der Wahrung seiner Ansprüche gegenüber der Invalidenversicherung überfordert. Er kann und möchte dafür aber trotzdem niemanden bevollmächtigen.
Der hierfür eingesetzte Vertretungsbeistand vertritt Herrn F gegenüber der Invalidenversicherung und kann für ihn Anträge stellen und Rechtsmittel ergreifen.
Wann wird eine Mitwirkungsbeistandschaft errichtet?
Wenn die Gefahr besteht, dass eine Person Rechtshandlungen zu ihrem Schaden vornimmt (z.B.
durch Eingehen finanzieller Verpflichtungen, die sie sich nicht leisten kann, oder durch Abschluss unvorteilhafter Geschäfte), kann die Behörde eine Mitwirkungsbeistandschaft errichten.
Im Gegensatz zum Vertretungsbeistand ist der Mitwirkungsbeistand aber nicht gesetzlicher
Vertreter. Er kann deshalb nicht für, sondern nur mit der betroffenen Person handeln. Da
die verbeiständete Person aufgrund der Mitwirkungsbeistandschaft aber ebenfalls nicht mehr
alleine gültig handeln kann, wird ihre Handlungsfähigkeit entsprechend beschränkt. Für die
von der Massnahme betroffenen Rechtsgeschäfte bedarf sie deshalb immer der Zustimmung
des Beistandes. Die Zustimmung kann im Voraus oder im Nachhinein erteilt werden. Sie kann
ausdrücklich oder stillschweigend erfolgen. Beistand und verbeiständete Person müssen also
immer zusammen handeln. Handelt nur einer, ist das Geschäft ungültig. Die Erwachsenenschutzbehörde hat im Errichtungsbeschluss genau festzuhalten, für welche Rechtsgeschäfte die
Zustimmung des Beistandes notwendig ist.
94
Erwachsenenschutz
»» Beispiel: Herr K hat von seinen Eltern eine Liegenschaft mit mehreren Wohnungen
geerbt. Da er mit der Verwaltung der Liegenschaft überfordert ist und die Tendenz hat,
den Mietern wahllos zu kündigen und die Wohnungen leerstehen zu lassen, kann für die
Liegenschaftsverwaltung ein Mitwirkungsbeistand eingesetzt werden. Eine von Herrn F
ausgesprochene Kündigung ist deshalb nur dann gültig, wenn der Mitwirkungsbeistand der
Kündigung zustimmt.
Wann ist eine umfassende Beistandschaft angezeigt?
Eine umfassende Beistandschaft wird dann angeordnet, wenn eine besonders ausgeprägte
Hilfsbedürftigkeit besteht. Der eingesetzte Beistand hat sich dann für alle Angelegenheiten der
Personensorge, der Vermögenssorge und des Rechtsverkehrs zu kümmern. Er vertritt die verbeiständete Person bei allen Rechtsgeschäften. Davon ausgenommen sind jedoch die absolut
höchstpersönlichen Rechte, bei denen jede Vertretung ausgeschlossen ist (wie z.B. die Errichtung eines Testaments).
Mit der Errichtung einer umfassenden Beistandschaft entfällt die Handlungsfähigkeit von
Gesetzes wegen. Ist eine Person urteilsunfähig und deshalb ohnehin nicht handlungsfähig, ist
der Entzug der Handlungsfähigkeit aber nicht erforderlich. Die Behörde muss in einem solchen
Fall abwägen, ob sich eine umfassende Beistandschaft rechtfertigt, oder ob eine Vertretungsbeistandschaft mit einem besonders breit gefassten Auftrag ausreicht.
»» Beispiel: Frau W hat einen schweren Verkehrsunfall erlitten und verbringt mehrere
Jahre in Akutspitälern und Rehabilitationskliniken. Zu einer halbseitigen Lähmung kommen
eine erhebliche Einschränkung ihrer intellektuellen Fähigkeiten schwere Gedächtnisstörungen hinzu. Angesichts der komplizierten Auseinandersetzungen mit den Versicherungen
und der schwierigen Entscheide im Zusammenhang mit der Durchführung der Rehabilitation rechtfertigt sich die Anordnung einer umfassenden Beistandschaft.
Wer wird Beistand?
Der Beistand oder die Beiständin wird von der Erwachsenenschutzbehörde ernannt. Dabei kann
es sich um einen Privatbeistand oder um einen vom Gemeinwesen angestellten Berufs- bzw.
Amtsbeistand handeln. Die Behörde hat dafür zu sorgen, dass die Beistände - und dabei insbesondere die Privatbeistände - die nötige Instruktion, Beratung und Unterstützung (gegebenenfalls auch Aus- und Weiterbildung) erhalten. Erfordern es die Umstände, können auch mehrere
Personen als Beistände ernannt werden. In einem solchen Fall ist festzulegen, ob diese Personen das Amt in allen Bereichen gemeinsam ausüben, oder ob sie unterschiedliche Zuständigkeiten haben.
95
Erwachsenenschutz
Bei der Wahl der Person des Beistandes hat die Behörde in erster Linie die Wünsche und Anliegen der betroffenen Person, ihrer Angehörigen und nahestehender Personen zu berücksichtigen.
Selbstverständlich können auch weiterhin Angehörige der betroffenen Person (Ehegatte, eingetragener Partner oder eingetragene Partnerin, Eltern, Nachkommen, Geschwister, Lebenspartner oder Lebenspartnerin) das Amt des Beistandes oder der Beiständin ausüben. Wenn es die
Umstände rechtfertigen, können sie aufgrund ihrer Sonderstellung von der Inventarpflicht, von
der Pflicht zur periodischen Berichterstattung und Rechnungsablage sowie von der Pflicht, für
bestimmte Geschäfte die Zustimmung der Erwachsenenschutzbehörde einzuholen, ganz oder
teilweise entbunden werden.
Im alten Vormundschaftsrecht konnten mündige Kinder weiterhin der elterlichen Sorge unterstellt werden. Diese Möglichkeit fällt mit dem neuen Erwachsenenschutzrecht weg. Selbstverständlich können die Eltern aber weiterhin die Aufgabe übernehmen, ihre mündigen Kinder zu
unterstützen und zu vertreten. Sie können dafür als Beistände eingesetzt und aufgrund ihrer
Sonderstellung von den obgenannten Pflichten befreit werden.
»» Beispiel: Der geistig behinderte J wird volljährig. Seine Mutter möchte sich weiterhin um
seine Angelegenheiten kümmern, ist aber mit der Regelung der Finanzen (wie Geltendmachung von Versicherungsleistungen oder Finanzierung der Heimunterbringung) überfordert. Der Bruder von J ist Treuhänder und bereit, die finanziellen Aufgaben zu übernehmen. Die Erwachsenenschutzbehörde kann nun sowohl die Mutter als auch den Bruder als
Beistände einsetzen und ihnen unterschiedliche Aufgaben zuweisen. Zudem besteht die
Möglichkeit, sie von gewissen administrativen Pflichten zu befreien.
Vom Vormundschaftsrecht zum neuen Erwachsenenschutzrecht
Das neue Erwachsenenschutzrecht tritt am 1.1.2013 in Kraft. Von diesem Zeitpunkt an ist materiell nur noch das neue Recht anwendbar. Dies bedeutet, dass hängige Verfahren von den neu
zuständigen Behörden in Anwendung des neuen Rechts und der neuen Verfahrensbestimmungen weitergeführt werden.
Wer vor dem 1.1.2013 bereits entmündigt wurde und einen Vormund bzw. eine Vormundin
hat oder dessen Eltern die erstreckte elterliche Sorge innehaben, steht ab 1.1.2013 automatisch unter umfassender Beistandschaft. Für Eltern mit erstreckter elterlicher Sorge bedeutet
dies, dass sie nun gemeinsam als Beistände eingesetzt und bis auf weiteres auch weiterhin
von der Pflicht zur periodischen Berichterstattung und Rechnungsablage sowie von der Pflicht,
für bestimmte Geschäfte die Zustimmung der Erwachsenenschutzbehörde einzuholen, befreit
sind. Die Behörde muss aber so bald als möglich abklären, ob die umfassende Beistandschaft
tatsächlich die richtige Massnahme ist, oder ob die Beistandschaft angepasst werden muss.
96
Erwachsenenschutz
Wenn vor dem 1.1.2013 bereits eine Beistandschaft oder eine Beiratschaft bestand, bleibt diese
„alte“ Massnahme vorläufig bestehen. Das bedeutet, dass der Beistand bzw. die Beiständin
oder der Beirat bzw. die Beirätin mit dem bisherigen Auftrag weiterarbeitet. Für die betroffenen
Personen ändert sich auch bezüglich der Handlungsfähigkeit vorerst nichts. Diese Lösung gilt
allerdings nur während 3 Jahren. Innert dieser 3 Jahre muss die Erwachsenenschutzbehörde die
Massnahmen in Beistandschaften des neuen Rechts abändern. Dabei hat sie selbstverständlich
zu prüfen, ob die Massnahme noch angemessen ist oder ob sie aufgehoben oder abgeändert
werden muss. Erfolgt die Abänderung nicht bis Ende 2015 fallen die bisherigen Massnahmen
automatisch dahin.
Rechtliche Grundlagen
• Zweck und Voraussetzungen einer Beistandschaft: Art. 388 – 392 ZGB, Art. 399 ZGB
• Begleitbeistandschaft: Art. 393 ZGB
• Vertretungsbeistandschaft: Art. 394 und 395 ZGB
• Mitwirkungsbeistandschaft: Art. 396 ZGB
• umfassende Beistandschaft: Art. 398 ZGB
• Beistand oder Beiständin / Führung und Ende der Beistandschaft: Art. 400 – 414 ZGB, Art.
420 – 425 ZGB
97
Erwachsenenschutz
Fürsorgerische Unterbringung
Unter allen Massnahmen des Erwachsenenschutzrechts stellt die fürsorgerische Unterbringung
in einer Institution (psychiatrische Klinik, Pflegeheim) wohl den schwersten Eingriff in die persönliche Freiheit eines Menschen dar. In gewissen Fällen kann dieser Eingriff zum Schutz einer
Person jedoch angebracht sein, um ihr die nötige medizinische Behandlung zukommen zu
lassen und im Hinblick auf eine spätere Entlassung die erforderliche Betreuung sicherzustellen.
Ziel einer fürsorgerischen Unterbringung muss aber möglichst immer auch die baldige Wiedererlangung der Selbständigkeit und Selbstverantwortung sein.
In diesem Kapitel werden die Voraussetzungen dargelegt, unter welchen eine fürsorgerische
Unterbringung angeordnet werden kann. Weiter wird beschrieben, wer diese Unterbringung
anordnen kann und wie das Verfahren geregelt ist. Schliesslich zeigen wir auf, unter welchen
Bedingungen Zwangsbehandlungen während eines Klinik-Aufenthaltes zulässig sind.
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Wann darf eine fürsorgerische Unterbringung angeordnet werden?
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Wer darf eine fürsorgerische Unterbringung anordnen?
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Wann sind Zwangsbehandlungen zulässig?
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Welche Rechte hat die betroffene Person?
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Rechtliche Grundlagen
Wann kann eine fürsorgerische Unterbringung angeordnet werden?
Fürsorgerisch zur Behandlung und Betreuung untergebracht werden können nur Personen, die
von einer psychischen Störung oder einer geistigen Behinderung betroffen oder schwer ver­
wahrlost sind. Bei solchen Personen kommt eine fürsorgerische Unterbringung nur in Frage,
wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind:
• Sie muss einerseits geeignet sein, den Schutz der betroffenen Person selber und ihrer Umgebung sicherzustellen.
• Sie muss nötig sein, um das Ziel zu erreichen. Keine fürsorgerische Unterbringung ist z.B.
erforderlich, wenn eine Person überzeugt werden kann, sich freiwillig zur Behandlung in
eine Klinik zu begeben. Ebenfalls muss dann von einer fürsorgerischen Unterbringung
abgesehen werden, wenn ambulante Hilfe angeboten werden kann, ohne dass mit einer
Zwangsmassnahme in die Persönlichkeitsrechte eingegriffen werden muss.
98
Erwachsenenschutz
Beim Entscheid über die Anordnung einer fürsorgerischen Unterbringung muss immer eine
umfassende Interessenabwägung zwischen dem Interesse der Person an persönlicher Freiheit
und dem Interesse an ihrem Schutz und jenem der Umgebung vorangehen. Hierbei ist insbesondere auch die Belastung und der Schutz der Angehörigen mit zu berücksichtigen.
»» Beispiel: Frau L hat zunehmend depressive Episoden. Zudem trinkt sie exzessiv. Sie
verlässt ihre Wohnung kaum noch, erledigt ihre administrativen Angelegenheiten nicht und
lässt den Haushalt verwahrlosen. Sie beschimpft und bedroht ihre Nachbaren, sobald sich
diese über Unordnung und Gestank beschweren.
Die Behörde muss in diesem Fall in einem Gespräch abklären, ob Frau L motiviert werden
kann, zu ambulanten Hilfestellungen Hand zu bieten und ob mit der Errichtung einer
Beistandschaft die Probleme entschärft werden können. Erweist sich dies nicht als möglich
und nehmen die Drohungen an die Nachbarschaft ein ernsthaftes Ausmass an, so muss
eine fürsorgerische Unterbringung erwogen werden.
Die fürsorgerische Unterbringung darf als freiheitsentziehende Massnahme nur so lange
aufrechterhalten werden, als die genannten zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Sobald diese
entfallen, muss die betroffene Person wieder entlassen werden. Sie selber sowie ihr nahe
stehende Personen (Familienangehörige, Partner) können jederzeit um Entlassung ersuchen,
worauf ohne Verzug über das Gesuch entschieden werden muss.
Wer darf eine fürsorgerische Unterbringung anordnen?
Eine fürsorgerische Unterbringung wird grundsätzlich durch die kantonal zuständige Erwach­
senenschutzbehörde angeordnet, welche als Fachbehörde zusammengesetzt ist. Es ist also
dieselbe Behörde, die auch für die Errichtung von Beistandschaften zuständig ist.
Neben der Erwachsenenschutzbehörde können auch Ärzte und Ärztinnen eine fürsorgerische Unterbringung anordnen. In den meisten Kantonen haben alle Ärzte und Ärztinnen
dieses Recht, in einzelnen Kantonen jedoch nur einige von ihnen. Wenn ein Arzt oder eine
Ärztin eine fürsorgerische Unterbringung anordnet, darf dies nur nach vorheriger persönlicher
Untersuchung geschehen. Zudem ist eine solche Unterbringung von Gesetzes wegen zeitlich
beschränkt: Die Kantone legen die entsprechenden Fristen fest, wobei sie nicht über 6 Monate
hinausgehen dürfen. Ärztlich angeordnete Unterbringungen fallen automatisch dahin, wenn die
Frist abläuft, ohne dass die Erwachsenenschutzbehörde einen vollstreckbaren Entscheid getroffen hat.
»» Beispiel: Herr D hat schon seit einiger Zeit Wahnvorstellungen. Nun hat er seine Mutter
mit einem Messer bedroht, worauf diese den Psychiater von Herrn D avisiert. Dieser kommt
vorbei, macht sich ein Bild von der Situation und gelangt zum Ergebnis, dass weitere
Gewaltakte nicht auszuschliessen sind. Er versucht Herrn D zu überzeugen, in eine Klinik
einzutreten. Wenn ihm dies nicht gelingt, kann der Psychiater die Unterbringung in die
psychiatrische Klinik anordnen.
99
Erwachsenenschutz
Schliesslich kann die ärztliche Leitung einer Klinik eine Person mit einer psychischen Störung,
die vorerst freiwillig in die Klinik eingetreten ist, nun aber diese wieder verlassen will, für
höchstens 3 Tage gegen ihren Willen zurückbehalten. Sie darf dies nur tun, wenn die betroffene
Person sich selbst an Leib und Leben gefährdet oder andere ernsthaft gefährdet. Nach Ablauf
von 3 Tagen kann die betroffene Person die Klinik wieder verlassen, es sei denn, es liege bis
dann ein vollstreckbarer Unterbringungsentscheid der Erwachsenenschutzbehörde vor.
Wann sind Zwangsbehandlungen zulässig?
Auch im Fall einer fürsorgerischen Unterbringung gilt der Grundsatz, dass in der Regel eine
Behandlung nicht ohne Zustimmung der betroffenen Person durchgeführt werden darf. Ist die
Person urteilsunfähig, muss der vom Gesetz vorgesehene Vertreter die Zustimmung erteilen.
Bei psychischen Störungen verhält es sich im Grund nicht anders: Das Gesetz schreibt vor,
dass die behandelnden Ärzte unter Beizug der betroffenen Person (und gegebenenfalls der von
ihr bezeichneten Vertrauensperson) einen Behandlungsplan erstellen müssen. Sie haben die
betroffene Person und ihre Vertrauensperson über die Gründe, den Zweck, die Modalitäten, Risiken und Nebenwirkung der vorgesehenen Behandlung zu informieren. Sie müssen alternative
Behandlungsmöglichkeiten aufzeigen und darauf hinweisen, mit welchen Folgen bei einer Unterlassung der Behandlung zu rechnen ist. Nach erfolgter Information muss der Behandlungsplan der betroffenen Person zur Zustimmung unterbreitet werden.
Wird die Zustimmung verweigert, kann der Chefarzt oder die Chefärztin der Abteilung die vorgesehenen medizinischen Massnahmen zwangsweise anordnen, allerdings nur,
• wenn ohne die Behandlung ein ernsthafter gesundheitlicher Schaden droht oder die körperliche Integrität bzw. das Leben von Dritten ernsthaft gefährdet ist
• die betroffene Person bezüglich ihrer Behandlungsbedürftigkeit urteilsunfähig ist
• und keine angemessene Massnahme zur Verfügung steht, welche weniger einschneidend
ist
In eigentlichen Notfallsituationen können die zum Schutz der betroffenen Person oder Dritter
unerlässlichen medizinischen Massnahmen sofort ergriffen werden, ohne das oben genannte
Prozedere einzuhalten. Auch in diesen Fällen ist der Wille der betroffenen Person soweit zu
berücksichtigen, wie er bekannt ist und das Behandlungsziel dies erlaubt.
Was die bewegungseinschränkenden Massnahmen (Fixierung, Isolierung) betrifft, gelten
bei einer fürsorgerischen Unterbringung dieselben Grundsätze wie bei einem Heimaufenthalt
urteilsunfähiger Menschen: Solche Massnahmen sind zulässig zur Abwendung einer Gefahrensituation und bei schwerwiegender Störung der Gemeinschaftsordnung. Sie sind aber auf Situationen zu beschränken, bei denen die unmittelbare Gefahr einer Eskalation vermieden werden
muss, nicht aber z.B. schon bei mehreren Verstössen gegen die Hausordnung.
100
Erwachsenenschutz
Welche Rechte hat die betroffene Person?
Eine fürsorgerische Unterbringung gegen den Willen einer Person löst regelmässig Ohnmachtsgefühle aus. Betroffene fühlen sich wehrlos ausgeliefert. Um diese Situation zu entschärfen,
sieht das Gesetz vor, dass jede Person, die in einer Einrichtung untergebracht wird, eine Ver­
trauensperson beiziehen kann, die sie während des Aufenthalts und bis zum Abschluss aller
damit zusammenhängender Verfahren unterstützt.
Das Verfahren bei Auseinandersetzungen wird von den Kantonen geregelt: Jeder Kanton hat
ein Gericht bezeichnet, welches zur Beurteilung von Beschwerden gegen die Beschlüsse der
Erwachsenenschutzbehörde zuständig ist. Aber nicht nur die Entscheide der Behörde können
angefochten werden, sondern auch Beschlüsse der Ärzteschaft und der Einrichtungen. So kann
gegen eine ärztlich angeordnete Unterbringung oder einen Zurückbehaltungsentscheid einer
psychiatrischen Klinik innert 10 Tagen eine Beschwerde beim kantonal zuständigen Gericht eingereicht werden. Dasselbe gilt bei Abweisung eines Entlassungsgesuchs durch eine Klinik oder
eine andere Einrichtung. Und schliesslich kann auch der Entscheid über die Durchführung einer
Zwangsbehandlung innert 10 Tagen beim Gericht angefochten werden.
»» Beispiel: Frau S ist nach einem psychotischen Schub von ihrem Arzt in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden, wo sie seit 3 Wochen medikamentös und psychotherapeutisch betreut wird. Frau S findet, dass sie nun wieder nach Hause entlassen werden kann,
und stellt ein entsprechendes Entlassungsgesuch. Die Ärzte lehnen das Gesuch ab, weil sie
der Auffassung sind, dass Frau S noch zu wenig stabilisiert ist und ein rascher Rückfall
droht.
Frau S kann die Abweisung des Entlassungsgesuchs innert 10 Tagen beim zuständigen
kantonalen Gericht anfechten. Weil sie nicht sicher ist, ob und wie sie dies tun soll, zieht sie
zum Zwecke der Beratung und Unterstützung einen Verwandten, der mit rechtlichen Fragen vertraut ist, als Vertrauensperson bei und bespricht mit ihm die Chancen und Risiken
einer gerichtlichen Anfechtung.
101
Erwachsenenschutz
Rechtliche Grundlagen
• Wann ist eine fürsorgerische Unterbringung zulässig? Art. 426 ZGB
• Unterbringung durch die Erwachsenenschutzbehörde: Art. 428 ZGB
• Unterbringung durch Ärzte und Ärztinnen: Art. 429, 430 ZGB
• Zurückbehaltung freiwillig Eingetretener: Art. 427 ZGB
• Durchführung von medizinischen Massnahmen bei psychischen Störungen: Art. 433-435
ZGB
• Recht zum Beizug einer Vertrauensperson: Art. 432 ZGB
• Beschwerdemöglichkeiten: Art. 439 ZGB
102
Steuern
• Besteuerung von Renten,
Taggeldern und Kapitalabfindugen
• Abzug behinderungsbedingter
Mehrkosten
103
• Wehrpflichtersatz
Steuern
Besteuerung von Renten, Taggeldern und
Kapitalleistungen
Wer in der Schweiz steuerrechtlichen Wohnsitz oder Aufenthalt hat, ist steuerpflichtig und
muss auch Einkünfte aus Taggeldern, Renten und Kapitalabfindungen versteuern. Diese Ersatzeinkünfte müssen heute in aller Regel gleich wie der Lohn zu 100 % versteuert werden. Das gilt
sowohl für die Bundessteuern wie für die Kantons- und Gemeindesteuern.
In diesem Kapitel werden einige grundsätzliche Fragen beantwortet, die für Personen mit eingeschränkter Arbeits- und Erwerbsfähigkeit wichtig sein können. Die Ausführungen sind bewusst
generell gehalten und gehen nicht auf alle Details ein. Für weitergehende Fragestellungen
verweisen wir an die kantonalen Steuerbehörden oder empfehlen den Beizug qualifizierter Steuerberater. Auch die Beratungsstellen von Pro Infirmis können – beispielsweise bei der Formulierung von Steuererlassgesuchen – behilflich sein.
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Welche Leistungen müssen versteuert werden?
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Welche Leistungen sind steuerfrei?
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Kann für die Betreuung von erwachsenen behinderten Kindern ein Sozialabzug geltend gemacht werden?
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Welche Personen und welche Leistungen unterliegen der Quellensteuer?
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Wann und wo kann ein Gesuch um Steuererlass gestellt werden?
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Rechtliche Grundlagen
Welche Leistungen müssen versteuert werden?
Zu 100 % als steuerbare Einkünfte angerechnet werden:
• Taggelder der Kranken-, Unfall-, Invaliden-, Militär- und Arbeitslosenversicherung
• Renten der AHV, IV und Unfallversicherung
• Renten der Militärversicherung, soweit der Anspruch nach dem 1.1.1994 entstanden ist
• Renten der beruflichen Vorsorge
• Renten der Säule 3a
• Kapitalleistungen der Unfallversicherung, der Militärversicherung, der beruflichen Vorsorge und der Säule 3a
104
Steuern
Nur zu 80 % als steuerbare Einkünfte angerechnet werden Renten und Kapitalleistungen
der beruflichen Vorsorge,
• wenn sie vor dem 1.1.1987 zu laufen begonnen haben oder vor dem 1.1.2002 zu laufen
begonnen haben und auf einem Vorsorgeverhältnis beruhen, das am 31.12.1986 bereits
bestanden hat,
• und wenn die steuerpflichtige Person die anspruchsbegründenden Leistungen (Einlagen,
Beiträge, Prämien) zu mindestens 20% mitfinanziert hat.
Nur zu 60 % als steuerbare Einkünfte angerechnet werden Renten und Kapitalleistungen
der beruflichen Vorsorge,
• wenn sie vor dem 1.1.1987 zu laufen begonnen haben oder vor dem 1.1.2002 zu laufen
begonnen haben und auf einem Vorsorgeverhältnis beruhen, das am 31.12.1986 bereits
bestanden hat,
• und wenn die steuerpflichtige Person die anspruchsbegründenden Leistungen (Einlagen,
Beiträge, Prämien) ausschliesslich selbst erbracht hat.
»» Beispiel: Herr Z bezieht seit dem 1.6.1993 je eine Rente der IV, der Militärversicherung
und der beruflichen Vorsorge. Die IV-Rente muss er zu 100 % versteuern. Da die Rente der
beruflichen Vorsorge nicht auf einem Vorsorgeverhältnis beruht, das am 31.12.1986 bereits bestanden hat, muss er auch die Rente der beruflichen Vorsorge zu 100 % versteuern.
Da die Rente der Militärversicherung bereits vor dem 1.1.1994 zu laufen begonnen hat,
muss sie nicht versteuert werden.
Rentennachzahlungen werden gemäss gängiger Gerichts- und Verwaltungspraxis zu dem
Steuersatz versteuert, der sich ergäbe, wenn anstelle der einmaligen Leistung eine entsprechende jährliche Leistung ausgerichtet würde. Da ordentlicherweise eine periodische Ausrichtung vorgesehen ist, wird die Rentennachzahlung durch diese Steuersatzreduktion privilegiert
besteuert. Die gesamte Rentennachzahlung wird sodann aber – zusätzlich zu den laufenden
Renten des betreffenden Kalenderjahres – in derjenigen Steuerperiode erfasst, in welcher die
Auszahlung erfolgt.
Allfällige nachträgliche Rückforderungen von bereits erbrachten Leistungen (z.B. durch eine
Krankentaggeldversicherung) sollten unverzüglich der zuständigen Steuerbehörde gemeldet
werden, damit sie im Rahmen der Besteuerung berücksichtigt werden können.
»» Beispiel: Mit IV-Verfügung vom 6.1.2013 erhält Frau K rückwirkend für die Zeit ab
1.5.2010 eine ganze IV-Rente. Die Rentennachzahlung für den Zeitraum von 1.5.2010 bis
31.12.2012 (32 Monate) beträgt insgesamt 66‘000 Franken. Diese Rentennachzahlung
muss Frau K im Auszahlungsjahr 2013 und zusätzlich zu den laufenden Renten des Jahres
2013 versteuern. Damit Frau K aufgrund des hohen Nachzahlungsbetrages nicht in eine
höhere Stufe gelangt, wird die Rentennachzahlung für die Ermittlung des Steuersatzes auf
1 Jahr umgerechnet (sog. Steuersatzreduktion). Für den Steuersatz massgebend sind somit
lediglich 24‘750 Franken (66‘000 : 32 x 12).
Kapitalleistungen werden immer gesondert besteuert, und zwar ebenfalls zu einem reduzierten Satz.
105
Steuern
Welche Leistungen sind steuerfrei?
Nicht versteuert werden müssen:
• Hilflosenentschädigungen der AHV, IV und Unfallversicherung
• Genugtuungsleistungen und Integritätsentschädigungen der Unfallversicherung und der
Militärversicherung
• Integritätsschadenrenten der Militärversicherung
• Ergänzungsleistungen
• Hilfsmittel der AHV, IV und der Unfallversicherung
• Unterstützungen aus öffentlichen und privaten Mitteln (Sozialhilfe)
»» Beispiel: Frau M hat aufgrund eines erlittenen Unfalles ihre Sehfähigkeit beinahe vollständig verloren. Dank einer IV-Umschulung kann sie aber weiterhin erwerbstätig sein.
Gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 35 % erhält sie eine Rente der Unfallversicherung.
Zudem erhält sie von der Unfallversicherung eine Hilflosenentschädigung und eine Integritätsentschädigung. Die Rente der Unfallversicherung muss Frau M zu 100 % versteuern.
Die Hilflosenentschädigung und die Integritätsentschädigung sind hingegen steuerfrei.
Kann für die Betreuung von erwachsenen behinderten Kindern ein Sozial­
abzug geltend gemacht werden?
Steuerpflichtige können vom Einkommen nicht nur für jedes minderjährige oder in Ausbildung
stehende Kind, sondern auch für jede erwerbsunfähige oder beschränkt erwerbsfähige Person,
an deren Unterhalt sie sich mindestens in der Höhe von 6'500 Franken pro Jahr beteiligen, einen Abzug von 6'500 Franken geltend machen. Diesen Sozialabzug können z.B. Eltern geltend
machen, die ihr erwachsenes behindertes Kind zu Hause betreuen und unterstützen. Für minderjährige Kinder, für welche sie bereits den allgemeinen Kinderabzug geltend gemacht haben,
können sie den Sozialabzug aber nicht zusätzlich vornehmen.
»» Beispiel: Herr und Frau S haben eine minderjährige und noch in Ausbildung stehende
Tochter sowie einen volljährigen behinderten Sohn. Da der Sohn erwerbsunfähig ist und
sie sich im Umfang von über 6‘500 Franken an seinem Unterhalt beteiligen, können sie von
ihrem Einkommen nicht nur für die Tochter, sondern auch für den Sohn einen Sozialabzug
in der Höhe von 6‘500 Franken vornehmen.
106
Steuern
Welche Personen und welche Leistungen unterliegen der Quellensteuer?
In der Schweiz wohnhafte Ausländer und Ausländerinnen, welche nicht über eine Niederlassungsbewilligung C verfügen und deren Ehegatte ebenfalls nicht über das Schweizer Bürgerrecht oder die Niederlassungsbewilligung C verfügt, sind für ihr Einkommen aus unselbständiger Erwerbstätigkeit einem Steuerabzug an der Quelle unterworfen: Die Steuer wird ihnen
direkt vom Lohn abgezogen. Dieser Quellensteuer sind aber nicht bloss der Lohn, sondern
auch die Ersatzeinkünfte unterworfen. Hierzu gehören insbesondere:
• Taggelder der Kranken-, Unfall-, Invaliden- und Arbeitslosenversicherung
• Renten der IV, Unfallversicherung, beruflichen Vorsorge und der Säule 3a, solange nur eine
teilweise Erwerbsunfähigkeit besteht und die versicherte Person ihre Restarbeitsfähigkeit
noch verwerten kann
• Kapitalleistungen
In all diesen Fällen ist es Aufgabe der Arbeitgeber bzw. der Versicherungen, die Quellensteuer vom Taggeld bzw. der Rente oder der Kapitalleistung abzuziehen und den Steuerbehörden
abzuliefern.
Nicht der Quellensteuer sondern der ordentlichen Steuer unterliegen:
• Renten der AHV
• Altersrenten der beruflichen Vorsorge und der Säule 3a
• Hinterlassenenrenten der beruflichen Vorsorge und der Säule 3a
• Vollrenten der IV, Unfallversicherung, beruflichen Vorsorge und der Säule 3a, sofern keine
Resterwerbsfähigkeit mehr besteht
»» Beispiel: Frau T ist alleinstehend und in der Schweiz Jahresaufhalterin (Ausweis B). Sie
arbeitet als medizinische Praxisassistentin. Aufgrund einer längeren Erkrankung bezieht
sie seit mehreren Monaten ein Krankentaggeld. Sowohl von ihrem Erwerbseinkommen (vor
der Erkrankung) als auch von den Krankentaggeldern wird eine Quellensteuer abgezogen.
Solange die Krankentaggelder vom Arbeitgeber an Frau T weitergeleitet werden, hat der
Arbeitgeber die Quellensteuer zu erheben. Sobald Frau T die Krankentaggelder direkt von
der Versicherung ausbezahlt erhält, muss die Versicherung die Quellensteuer erheben.
Wann und wo kann ein Gesuch um Steuererlass gestellt werden?
Wenn die Bezahlung der Steuern aufgrund einer Notlage eine grosse Härte bedeutet, kann ein
Gesuch um ganzen oder teilweisen Steuererlass gestellt werden. Für den Erlass der direkten
Bundessteuer ist das Gesuch an die kantonale Erlassbehörde (bis 25‘000 Franken pro Steuerjahr) oder die Eidgenössische Erlasskommission (ab 25‘000 Franken pro Steuerjahr) zu richten.
Für den Erlass der Staats- und Gemeindesteuern sowie der Quellensteuer ist in der Regel das
Gemeindesteueramt zuständig.
107
Steuern
Im Erlassgesuch ist die Notlage darzulegen, wobei in erster Linie die Situation im Zeitpunkt
des Entscheids für den Erlass massgebend ist. Ebenfalls berücksichtigt werden die Entwicklung seit der Steuerveranlagung und die Aussichten für die Zukunft. Eine finanzielle Notlage
wird jeweils dann angenommen, wenn die Sozialhilfe für die Lebenshaltungskosten aufkommen
muss oder wenn der geschuldete Steuerbetrag in einem Missverhältnis zur finanziellen Leistungsfähigkeit steht. Ein solches Missverhältnis ist dann gegeben, wenn die Steuerschuld trotz
Einschränkung der Lebenshaltungskosten auf das Existenzminimum in absehbarer Zeit nicht
vollumfänglich beglichen werden kann.
Das Gesuch um Steuererlass muss vor der Zustellung eines Zahlungsbefehls gestellt werden,
da die Erlassbehörde ansonsten nicht auf das Gesuch eintritt.
»» Beispiel: Herr J verliert seine Arbeitsstelle. Mit den Arbeitslosentaggeldern lebt er nun
am Existenzminimum. Aufgrund dieser Notlage kann er ein Gesuch um Erlass der zurzeit
noch fälligen Steuern stellen.
Rechtliche Grundlagen
• steuerbare Einkünfte: Art. 22 Abs. 1 und 2, Art. 23 lit. a und b DBG, Art. 7 Abs. 1 StHG
• Übergangsbestimmung zu Renten und Kapitalleistungen der beruflichen Vorsorge: Art. 204
DBG
• gesonderte Besteuerung von Kapitalleistungen: Art. 38 DBG, Art. 11 Abs. 3 StHG
• Besteuerung von Rentennachzahlungen: Art. 37 DBG, Art. 11 Abs. 2 StHG
• steuerfreie Einkünfte: Art. 24 lit. d, g, h DBG, Art. 7 Abs. 4 StHG
• Sozialabzug: Art. 35 Abs. 1 lit. b bzw. Art. 213 Abs. 1 lit. b DBG, Art. 9 Abs. 2 StHG (mit
Verweis auf das jeweilige kantonale Recht)
• Quellensteuer: Art. 83 ff. DBG, Art. 32–34 und Art. 37 StHG, Quellensteuerverordnung
(QStV)
• Steuererlass: Art. 167 DBG, Steuererlassverordnung
108
Steuern
109
Steuern
Abzug von krankheits- und behinderungsbedingten
Kosten
Krankheits- und unfallbedingte Kosten, die von keiner Versicherung gedeckt sind, können vom
steuerbaren Einkommen abgezogen werden, wenn sie 5 % des Reineinkommens übersteigen.
Ungedeckte behinderungsbedingte Kosten können seit 2005 sogar vollumfänglich bei der Bemessung des steuerbaren Einkommens abgezogen werden.
Im folgenden Kapitel wird aufgezeigt, was unter Krankheits- und Unfallkosten einerseits und
unter behinderungsbedingten Kosten andererseits verstanden wird, welche Kosten im Einzelnen als krankheits- oder behinderungsbedingte Kosten abziehbar sind und wann an Stelle des
Nachweises der entstandenen Kosten ein Pauschalabzug gewählt werden kann.
»
Der Abzug von Krankheits- und Unfallkosten
»
Die anrechenbaren Krankheits- und Unfallkosten im Einzelnen
»
Der Abzug von behinderungsbedingten Kosten
»
Die anrechenbaren behinderungsbedingten Kosten im Einzelnen
»Pauschalabzüge
»
Rechtliche Grundlagen
Der Abzug von Krankheits- und Unfallkosten
Die Krankheits- und Unfallkosten sind mit Ausnahme eines Selbstbehalts in voller Höhe
abzugsberechtigt. Der Selbstbehalt beträgt 5 % des um die Aufwendungen verminderten
Einkommens (d.h. des sog. Reineinkommens). Er ist also bei Personen mit geringem Reineinkommen tiefer als bei Personen mit einem hohen Reineinkommen.
Abzugsberechtigt sind die Krankheits- und Unfallkosten, die der steuerpflichtigen Person selber und der von ihr unterhaltenen Personen (z.B. Kinder) entstehen. Diese Kosten werden nur
berücksichtigt, soweit sie durch entsprechende Belege (Arztzeugnisse, Rechnungen) nachgewiesen sind, im massgebenden Jahr auch tatsächlich bezahlt worden sind und nicht durch
Versicherungen (Krankenkasse, Unfallversicherung, IV, Privatversicherungen, Haftpflichtversicherungen) gedeckt sind.
110
Steuern
Die anrechenbaren Krankheits- und Unfallkosten im Einzelnen
Als Krankheits- und Unfallkosten gelten die Kosten für Massnahmen zur Erhaltung und Wiederherstellung der körperlichen und psychischen Gesundheit. Darunter fallen im Einzelnen:
• die Kosten für ärztliche Behandlungen und ärztlich angeordnete Therapien, welche von
diplomierten Personen durchgeführt werden. Kosten für naturheilärztliche Behandlungen
gelten ebenfalls als abzugsfähig, falls sie von einem anerkannten Naturheilpraktiker durchgeführt werden. Nicht anerkannt werden jedoch Behandlungen, die einzig zum Zwecke der
Selbsterfahrung, Selbstverwirklichung oder Persönlichkeitsreifung erfolgen.
• die Auslagen für Medikamente, sofern sie von einem Arzt oder anerkannten Naturheilpraktiker verordnet sind.
• die Kosten von medizinischen Behandlungsgeräten und Hilfsmitteln (wie z.B. Brillen),
soweit es sich nicht um Luxusausführungen handelt.
• die Zahnbehandlungskosten (Ausnahme: Behandlungen rein kosmetischer Art).
• die Kosten von Spitalaufenthalten (inkl. Drogenentzugsmassnahmen).
• die Kosten von ärztlich angeordneten Kur- und Erholungsaufenthalten (unter Abzug eines
Selbstbehalts für die im Haushalt erzielten Einsparungen).
• die Kosten ambulanter Pflege zu Hause (Kranken- und Grundpflege, nicht aber Haushaltsbesorgung: Diese Kosten können nur von „behinderten“ Personen als behinderungsbedingte Kosten zum Abzug gebracht werden).
• die von einem Alters- oder Pflegeheim in Rechnung gestellten Pflegekosten. Die übrigen
Kosten des Heimaufenthalts gelten nicht als Krankheitskosten; sie können höchstens von
„behinderten“ Personen als „behinderungsbedingte Kosten“ zum Abzug gebracht werden.
• die medizinisch notwendigen Transport-, Rettungs- und Bergungskosten, sofern aus gesundheitlichen Gründen weder die Benützung des öffentlichen Verkehrs noch eines privaten
Motorfahrzeugs möglich oder zumutbar war.
• die Mehrkosten einer ärztlich angeordneten lebensnotwendigen Diät: Zöliakiepatienten
können z.B. unter diesem Titel einen Pauschalabzug von 2'500 Franken geltend machen,
Diabetiker jedoch nur die effektiven Mehrkosten zum Abzug bringen.
Nicht als Krankheits- und Unfallkosten, sondern als nicht abzugsfähige Lebenshaltungskosten
gelten Aufwendungen, die den Rahmen üblicher und notwendiger Massnahmen übersteigen.
Ebenfalls nicht als Krankheitskosten zugelassen werden reine Präventionsmassnahmen (z.B.
Impfkosten).
111
Steuern
Der Abzug von behinderungsbedingten Kosten
Die behinderungsbedingten Kosten sind im Gegensatz zu den Krankheits- und Unfallkosten in
vollem Umfang (d.h. ohne Selbstbehalt) abzugsberechtigt; und zwar sowohl die Kosten für
die steuerpflichtige Person selber, als auch jene für eine von ihr unterhaltene Person.
Als behinderungsbedingte Kosten gelten die Kosten, die einer „behinderten Person“ als Folge
ihrer Behinderung entstehen. „Behindert“ ist eine Person im steuerrechtlichen Sinn, wenn eine
länger dauernde gesundheitliche Beeinträchtigung es ihr erschwert oder verunmöglicht, alltägliche Lebensverrichtungen vorzunehmen, soziale Kontakte zu pflegen, sich fortzubewegen, sich
aus- oder fortzubilden oder eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Wie in der IV gilt eine Beeinträchtigung als länger dauernd, wenn sie bereits während eines Jahres die Ausübung der genannten
Tätigkeiten erschwert hat oder dies voraussichtlich während eines Jahres tun wird.
Unter die „behinderten Personen“ fallen in jedem Fall die Bezüger und Bezügerinnen einer
IV-Leistung sowie einer Hilflosenentschädigung oder eines Hilfsmittels der AHV. Ebenfalls darunter fallen Heimbewohner und Spitex-Patienten, bei denen ein Pflege- und Betreuungsaufwand
von mindestens einer Stunde pro Tag anfällt. Wer nicht unter diese Umschreibung fällt, kann
den Nachweis des Vorliegens einer Behinderung mittels eines vom Arzt auszufüllenden Fragebogens erbringen. Dafür stellt die Eidg. Steuerverwaltung ein Musterformular zur Verfügung.
Nicht als „Behinderung“ gelten leichte Beeinträchtigungen, deren Auswirkungen durch ein
Hilfsmittel (z.B. eine Brille oder ein Hörgerät) einfach behoben werden können. Auch wenn die
Beeinträchtigung einzig darin liegt, dass eine Diät eingehalten werden muss, liegt praxisgemäss keine „Behinderung“ vor.
Wie bei den Krankheits- und Unfallkosten können nur jene behinderungsbedingten Kosten
abgezogen werden, die selbst getragen werden müssen, d.h. von keiner Versicherung (AHV,
IV, Krankenkasse, Unfallversicherung, Ergänzungsleistungen, Haftpflichtversicherung usw.) gedeckt und auch nicht von Hilfswerken und Stiftungen finanziert worden sind. Bei Assistenz- und
Transportkosten wird jeweils geprüft, ob sie nicht über eine Hilflosenentschädigung bereits
gedeckt sind.
Erhält eine behinderte Person von einer Versicherung (z.B. Haftpflichtversicherung) eine Kapi­
talleistung für künftige behinderungsbedingte Kosten, so entfällt ein Abzug von behinderungsbedingten Kosten so lange, bis die steuerpflichtige Person den Nachweis erbringt, dass
die tatsächlich entstandenen Kosten die Höhe der Entschädigung übersteigen.
»» Beispiel: Frau M hat nach einem schweren Unfall von der Haftpflichtversicherung eine
Kapitalabfindung von 150'000 Franken als Entschädigung für zukünftige behinderungsbedingte Kosten erhalten. Sie bezieht zudem von der IV eine monatliche Hilflosenentschädigung für mittelschwere Hilflosigkeit.
Frau M entstehen jährlich ungedeckte Kosten für Assistenz sowie Fahrkosten in der Höhe
von rund 20'000 Franken.
112
Steuern
Sie kann diese Kosten bei den Steuern erst dann als behinderungsbedingte Kosten abziehen, wenn sie den Nachweis erbracht hat, dass diese Kosten die erhaltene Kapitalabfindung
mittlerweile überstiegen haben. Zudem kann sie die Kosten nur abziehen, soweit sie nicht
durch die Hilflosenentschädigung bereits gedeckt sind. Es ist wichtig, dass Frau M alle Kostenbelege aufbewahrt. Sonst wird es ihr kaum gelingen, diesen Nachweis zu erbringen.
Die anrechenbaren behinderungsbedingten Kosten
Folgende Kosten können als „behinderungsbedingte Kosten“ abgezogen werden:
• Kosten für eine medizinische Behandlung: Sie gelten als behinderungsbedingt, falls die
Behandlung im Zusammenhang mit der Behinderung steht (z.B. Physiotherapie bei einer gelähmten Person). Steht die medizinische Behandlung jedoch mit einer Krankheit oder einem
Unfall im Zusammenhang (z.B. Zahnbehandlungskosten), so handelt es sich um „Krankheits- und Unfallkosten“, welche nur abzugsberechtigt sind, wenn sie den Selbstbehalt von
5 % des Reineinkommens übersteigen.
• Assistenzkosten: Hierzu zählen sämtliche Kosten der notwendigen Pflege, Betreuung und
Begleitung, die im Zusammenhang mit der Vornahme alltäglicher Verrichtungen, der Pflege
angemessener persönlicher Kontakte, der Fortbewegung sowie der Aus- und Weiterbildung
anfallen, sowie die behinderungsbedingt notwendige Überwachung; und zwar unabhängig
davon, ob die Assistenz von einer Spitexorganisation, einer privaten Pflegekraft, von einem
Entlastungsdienst, einer anderen Assistenzperson oder z.B. einem Gebärdensprachdolmetscher erbracht wird.
• Kosten für Haushalthilfe und Kinderbetreuung: Die Kosten notwendiger Hilfe im Haushalt und bei der Kinderbetreuung sind soweit abzugsberechtigt, als mit ärztlichem Attest
bescheinigt wird, dass eine Person behinderungsbedingt diese Tätigkeiten nicht mehr ohne
Hilfe ausüben kann.
• Kosten für den Aufenthalt in Tageszentren und Beschäftigungsstätten: Diese Kosten
sind mit Ausnahme eines Selbstbehaltes für die Verpflegung abzugsberechtigt.
• Kosten für Heim- und Entlastungsaufenthalte: Behinderte Personen können die Taxen für
den Aufenthalt in einem Wohnheim oder in einem Alters- oder Pflegeheim sowie die Kosten
für Entlastungsaufenthalte in solchen Heimen (mit Ausnahme eines Selbstbehaltes für die
eingesparten Lebenshaltungskosten bei eigenem Haushalt) zum Abzug bringen. Die Höhe
des Selbstbehaltes richtet sich nach kantonalen Weisungen und beträgt ca. 20'000 Franken
im Jahr für Heimbewohner.
113
Steuern
• Kosten für anerkannte heilpädagogische Therapien (z.B. Musiktherapie, heilpädagogisches Reiten) sowie für Sozialrehabilitationsmassnahmen (insb. bei Hör- und Sehbehinderten) sind ebenfalls abzugsberechtigt.
• Kosten für Hilfsmittel, Pflegeartikel und Kleider: Die Anschaffungskosten und Mietauslagen für Hilfsmittel, Geräte und Pflegeartikel aller Art, die es einer behinderten Person erlauben, die Folgen einer Behinderung zu minimieren, sind abzugsberechtigt. Hierzu gehört
auch die behinderungsbedingte Anpassung eines Motorfahrzeugs. Dasselbe gilt auch für
die Kosten eines Gebrauchstrainings sowie für Reparatur- und Unterhaltskosten. Ebenfalls
abzugsberechtigt sind die Kosten der Anfertigung von speziellen Kleidern oder Schuhen
sowie die Mehrkosten als Folge von behinderungsbedingtem Kleiderverschleiss.
• Wohnkosten: Die Kosten eines behinderungsbedingten Umbaus, einer behinderungsbedingten Anpassung oder des behindertenbedingten Unterhalts einer Miet- oder Eigentumswohnung können zum Abzug gebracht werden. Praxisgemäss kein Abzug ist jedoch für
allfällige Mehrkosten der Miete einer rollstuhlgerechten Wohnung zugelassen.
• Kosten für Privatschulen: Mehrkosten als Folge des Besuchs einer Privatschule werden
in der Regel nicht zum Abzug zugelassen. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn der
kantonale schulpsychologische Dienst bestätigt, dass eine angemessene Ausbildung des
behinderten Kindes in einer öffentlichen oder öffentlich subventionierten Schule nicht möglich ist.
• Transportkosten: Die durch die Behinderung verursachten Kosten für Transporte zum
Arzt, zu Therapien, zu Tagesstätten usw. können abgezogen werden. Zum Abzug sind dabei die Kosten öffentlicher Verkehrsmittel oder eines Behindertenfahrdienstes zugelassen;
nur wenn deren Benützung nicht möglich oder zumutbar ist, können auch die Kosten privater Motorfahrzeuge (Kilometerentschädigung) abgezogen werden. Die Kosten für übrige
Fahrten (insb. Freizeitfahrten) sind demgegenüber in der Regel nicht abzugsberechtigt, es
sei denn, eine Person könne glaubhaft machen, dass sie ohne Behinderung ausschliesslich
öffentliche Verkehrsmittel benützt hätte. Fahrten zum Arbeitsplatz sind schliesslich als
Gewinnungskosten und nicht als behinderungsbedingte Mehrkosten abzugsberechtigt.
»» Beispiel: Herr C lebt in der Stadt Zürich, ist Mitglied der Grünen Partei und hat bis zu
seinem Unfall nie ein eigenes Motorfahrzeug besessen. Nun kann er wegen der Unfallfolgen nur noch einen Teil seiner Freunde mit den öffentlichen Verkehrsmitteln besuchen und
schafft sich deshalb ein eigenes Fahrzeug an.
Im Fall von Herrn C erscheint es überwiegend plausibel, dass die Benützung eines privaten
Motorfahrzeugs behinderungsbedingt ist. Die Steuerbehörde sollte deshalb die Mehrkosten
(Kilometerentschädigung abzüglich der eingesparten Kosten für den öffentlichen Verkehr)
als Abzug zulassen. Sie wird sie wahrscheinlich nur bis zu einem angemessenen Betrag als
behinderungsbedingt anrechnen.
114
Steuern
Luxusausgaben werden, selbst wenn sie behinderungsbedingt sind, steuerlich nicht zum Abzug zugelassen: Das wäre beispielsweise bei der Anschaffung eines Rennrollstuhls der Fall oder
beim Einbau eines Schwimmbads in der Wohnung zu therapeutischen Zwecken.
Pauschalabzüge
Das Gesetz sieht zwar nicht vor, dass behinderungsbedingte Kosten im Rahmen einer Pauschale vom Einkommen abgezogen werden können. Gestützt auf das Kreisschreiben der Eidg.
Steuerverwaltung werden solche Pauschalabzüge jedoch zugelassen, und zwar – soweit ersichtlich – in allen Kantonen. Wer die Pauschale beansprucht, muss keine Belege sammeln, was für
viele ein grosser Vorteil ist. Dafür beschränkt sich der Abzug auf den Betrag der Pauschale, es
können keine zusätzlichen Kosten in Abzug gebracht werden.
Pauschalabzüge können in folgender Höhe geltend gemacht werden:
• 7'500 Franken für Bezüger einer Hilflosenentschädigung schweren Grades
• 5'000 Franken für Bezüger einer Hilflosenentschädigung mittleren Grades
• 2'500 Franken für Bezüger einer Hilflosenentschädigung leichten Grades
• 2'500 Franken für Gehörlose
• 2'500 Franken für Nierenkranke, die sich einer Dialyse unterziehen müssen
»» Beispiel: Herr D bezieht von der IV eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit leichten
Grades. Er hat im Laufe des Jahres verschiedene Belege für die entstandenen behinderungsbedingten Kosten gesammelt. Einige findet er jedoch nicht mehr. Weil er nur ungedeckte Kosten von ca. 2'000 Franken belegen kann, wählt er den Pauschalabzug von 2'500
Franken.
Rechtliche Grundlagen
• Abzug von Krankheits- und Unfallkosten: Art. 33 Abs. 1 Buchst. h DBG; Art. 9 Abs. 2
Buchst. h StHG
• Abzug von behinderungsbedingten Kosten: Art. 33 Abs. 1 Buchst. h bis DBG; Art. 9 Abs. 2
Buchst. h bis StHG
• Kreisschreiben Nr. 11 der Eidg. Steuerverwaltung über den Abzug von Krankheits- und Unfallkosten sowie von behinderungsbedingten Kosten
115
Steuern
Wehrpflichtersatz
Schweizer Bürger mit Wohnsitz in der Schweiz, die ihre Wehrpflicht nicht erfüllen (d.h. weder
Militär- noch Zivildienst im üblichen Umfang leisten), müssen eine Ersatzabgabe bezahlen. Diese beträgt 3 % des Reineinkommens gemäss Bundessteuergesetzgebung. Renten und Taggelder der IV, Unfallversicherung, beruflichen Vorsorge oder Krankenversicherung werden dabei
vom Einkommen abgezogen.
Menschen mit einer erheblichen Behinderung sind von dieser Ersatzpflicht befreit. In
diesem Kapitel werden die Voraussetzungen umschrieben, die zur Befreiung von der Abgabepflicht führen oder zumindest eine Reduktion der Abgabe begründen.
Nicht alle Menschen mit einer Behinderung erfüllen die Voraussetzungen für eine Befreiung von
der Abgabepflicht. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als diskriminierend
eingestuft. Der Bundesrat hat in der Folge entschieden, solchen Personen unter gewissen Bedingungen zu erlauben, trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung Militärdienst zu leisten und damit
der Ersatzpflicht zu entgehen. Am Schluss dieses Kapitels werden die Voraussetzungen hierfür
und das vorgesehene Verfahren erläutert.
»
Ersatzbefreiung für Rentenbezüger und Bezüger einer Hilflosenentschädigung
»
Sonderfall: Hilflosigkeit ohne Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung
»
Ersatzbefreiung für Menschen mit erheblicher Behinderung und bescheidenen
Einkommensverhältnissen
»
Militärdienst trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung?
»
Rechtliche Grundlagen
Ersatzbefreiung für Rentenbezüger und Bezüger einer
Hilflosenentschädigung
Von der Ersatzpflicht sind alle Personen befreit, die wegen einer erheblichen Behinderung als
dienstuntauglich eingestuft worden sind und eine Invalidenrente oder eine Hilflosenentschä­
digung der IV oder der Unfallversicherung beziehen.
Der Bezug einer Unfallversicherungsrente wird dem Bezug einer IV-Rente gleichgestellt, sofern
mindestens ein Invaliditätsgrad von 40 % vorliegt. Beim Bezug einer Hilflosenentschädigung
spielt es keine Rolle, aus welchem Grund
116
Steuern
(Hilfebedürftigkeit in mindestens zwei Lebensverrichtungen, Überwachungsbedürftigkeit, Bedarf an lebenspraktischer Begleitung) diese Entschädigung zugesprochen worden ist.
Zumindest bei den Bezügern einer IV-Rente oder einer IV-Hilflosenentschädigung sollte die
Ersatzbefreiung automatisch erfolgen: Die Behörden sind angewiesen worden, der Wehrpflichtersatzverwaltung sämtliche Rentner oder Bezüger von Hilflosenentschädigungen zu melden.
Sonderfall: Hilflosigkeit ohne Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung
Ebenfalls von der Ersatzpflicht befreit sind Personen, die zwar keine Hilflosenentschädigung
beziehen, aber „eine der zwei mindestens erforderlichen Voraussetzungen für eine Hilflosenentschädigung erfüllen“. Gemeint sind Personen, die nur in einer der von der IV anerkannten
sechs „allgemeinen Lebensverrichtungen“ (Aufstehen, Absitzen, Abliegen; An- und Ausziehen;
Körperpflege; Verrichten der Notdurft; Essen; Fortbewegung und Kontaktpflege) auf regelmässige Dritthilfe angewiesen sind. Das reicht zwar regelmässig nicht für eine Hilflosenentschädigung, soll aber dennoch eine Befreiung von der Ersatzpflicht begründen.
Personen, die gestützt auf diese Bestimmung eine Ersatzbefreiung geltend machen wollen,
müssen einen entsprechenden Antrag stellen. Dieser Antrag kann vorsorglich bei der zuständigen kantonalen Stelle eingereicht werden; möglich ist es aber auch, den Antrag erst im Rahmen
einer Einsprache gegen die Ersatzpflicht-Verfügung zu stellen. Falls noch keine Hilflosigkeitsabklärung der IV vorliegt, müssen sich die betreffenden Personen einer solchen unterziehen.
»» Beispiel: Herr T ist gehörlos. Er benötigt bei der Kontaktpflege regelmässig Dritthilfe, ist
aber in den anderen Lebensverrichtungen selbstständig.
Herr T wird gemäss den Weisungen der Eidg. Steuerverwaltung von der Ersatzplicht befreit,
wenn bei ihm ein Hörverlust von beidseits 55 dB (Mittel der Frequenzen von 500, 1000,
2000 und 4000 Hz) vorliegt. Gehörlose müssen sich – im Sinne einer Ausnahme – nicht
einer IV-Abklärung unterziehen. Es genügt, dass sie einen speziellen Fragebogen von einem
HNO-Arzt ausfüllen lassen.
Ersatzbefreiung für Menschen mit erheblicher Behinderung und
bescheidenen Einkommensverhältnissen
Von der Ersatzpflicht ebenfalls befreit sind Personen, die wegen einer erheblichen Behinderung
als dienstuntauglich eingestuft worden sind und deren Einkommen das im Einzelfall zu ermittelnde betreibungsrechtliche Existenzminimum um nicht mehr als 100% übersteigt.
117
Steuern
Auch dieser Befreiungstatbestand setzt eine erhebliche Behinderung voraus. Eine solche wird
nur dann bejaht, wenn ein Integritätsverlust von mindestens 40% gemäss den Integritätsschadentabellen der Unfallversicherung besteht. In Fällen, die aufgrund der Integritätsschadentabellen nicht abschliessend beurteilt werden können sowie in Grenzfällen erfolgt eine individuelle
Begutachtung der „Erheblichkeit“ der Behinderung durch die Eidg. Steuerverwaltung.
»» Beispiel: Herr W. hat durch einen Unfall die linke Hand verloren. Er bezieht aber weder
eine Invalidenrente noch eine Hilflosenentschädigung.
Der Verlust einer Hand entspricht gemäss den Integritätsschadentabellen der Unfallversicherung einem Integritätsverlust von 40 %. Herr W erfüllt damit knapp die Voraussetzung
einer „erheblichen Behinderung“.
Liegt eine erhebliche Behinderung vor, muss als nächstes geprüft werden, ob das massgebende Einkommen der betreffenden Person das betreibungsrechtliche Existenzminimum um nicht
mehr als 100% übersteigt. Ausgangspunkt ist dabei das „Reineinkommen“ nach der Bundessteuergesetzgebung. Hiervon werden dann eine Reihe von Abzügen vorgenommen: Insbesondere werden der gesamte Betrag bezogener Renten und Taggelder der IV, Unfallversicherung
und Krankenversicherung sowie die Summe aller ungedeckten invaliditätsbedingten Lebenskosten abgezogen. Letztere müssen im Einzelnen nachgewiesen werden. Die Erfahrung zeigt,
dass das so ermittelte Einkommen häufig tief liegt und die gesetzlichen Voraussetzungen zur
Ersatzbefreiung erfüllt werden.
Wer als „erheblich behindert“ gilt, dessen Einkommen jedoch das betreibungsrechtliche Existenzminimum um mehr als 100 % übersteigt, gelangt immerhin in den Genuss einer Privilegierung: Die Ersatzabgabe beträgt für solche Personen nur die Hälfte der üblichen Abgabe, d.h. sie
beträgt 1,5 % des taxpflichtigen Einkommens.
»» Beispiel: Weil Herr W trotz dem Verlust einer Hand einer normalen Erwerbstätigkeit
als Buchhalter nachgeht und dabei ein gutes Einkommen erzielt, wird er nicht von der
Ersatzpflicht befreit. Die Ersatzabgabe beträgt bei ihm jedoch nur 1,5 % (und nicht 3 %) des
taxpflichtigen Einkommens.
Militärdienst trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung?
Personen, die aus medizinischen Gründen für militär- und schutzdienstuntauglich erklärt
werden und daher ersatzpflichtig sind, haben seit dem 1.1.2013 die Möglichkeit, ihren
Dienstwillen ausdrücklich schriftlich zu erklären. Sie werden dann von einer spezialisierten
medizinischen Untersuchungskommission beurteilt, welche sie als „militärdiensttauglich nur
für besondere Funktionen, mit Auflagen“ einstufen und in eine Formation „Ausbildung und
Support“ einteilen kann.
118
Steuern
Die Anforderungen des Dienstes sollen bei diesen Personen einerseits auf ihre zivile Tätigkeit,
andererseits auf die körperlichen und geistigen Fähigkeiten abgestimmt werden. Der vorsitzende Arzt der Untersuchungskommission kann verbindliche Auflagen für die Dienstausübung
machen.
»» Beispiel: Herr B ist an juvenilem Diabetes erkrankt. Er wird deswegen bei der Aushebung als militärdienstuntauglich eingestuft. Herr B ist mit diesem Entscheid nicht einverstanden. Einerseits möchte er im Rahmen des obligatorischen Dienstes seinen gesellschaftlichen Beitrag leisten, andererseits möchte er nicht ersatzpflichtig werden. Herr B erklärt
deshalb schriftlich, dass er Dienst leisten will.
In diesem Fall wird die Spezial-Untersuchungskommission Herrn B als „militärdiensttauglich
nur für besondere Funktionen, mit Auflagen“ erklären und festhalten, welche Tätigkeiten
aus gesundheitlichen Gründen ausgeschlossen sind. Da Herr B im zivilen Leben eine Lehre
als technischer Zeichner absolviert, wird geprüft werden müssen, ob er in einer solchen
Tätigkeit eingesetzt werden kann. Es kommt aber auch eine andere Tätigkeit in Frage.
Streng rechtlich besteht kein Anspruch auf eine Sondereinteilung. Eine Verweigerung kann allerdings höchstens damit begründet werden, dass die gesundheitliche Beeinträchtigung in den
möglichen Einsatzgebieten ein zu hohes Risiko darstellt. Wie oft die Behörden die Tauglichkeit
aus solchen Gründen verweigern werden, wird sich erst im Laufe der Jahre erweisen.
Wer bereits vor 2013 für dienstuntauglich erklärt worden (und deshalb ersatzpflichtig
geworden) ist, kann seinen Dienstwillen nachträglich ab April 2013 mit einer schriftlichen Erklärung bei der zuständigen kantonalen Wehrpflichtersatzbehörde erklären. Diese wird veranlassen, dass die betroffene Person ein Aufgebot von der spezialisierten medizinischen Untersuchungskommission erhält.
Rechtliche Grundlagen
• Befreiung von der Ersatzabgabe für Rentner und Bezüger einer Hilflosenentschädigung: Art.
4 Abs. 1 Buchst. abis WPEG, Art. 1 Abs. 2 WPEV
• Sonderfall der Hilflosigkeit nur in einer Lebensverrichtung: Art. 4 Abs. 1 Buchst. ater WPEG
• Befreiung von der Ersatzabgabe wegen erheblicher Behinderung und bescheidener Einkommensverhältnisse: Art. 4 Abs. 1 Buchst. a WPEG, Art. 12 Abs. 1 WPEG
• Reduktion der Ersatzabgabe bei erheblicher Behinderung: Art. 13 Abs. 2 WPEG
• Die Leistung von Militärdienst für besondere Funktionen und mit Auflagen: Anhang 1,
Buchst. B4 und E der VMBM
119
Steuern
120
Arbeit
• Leistungen der IV bei
der Arbeitsuche
• Anstellung
• Hilfsmittel und Assistenz
am Arbeitsplatz
• Arbeitsunfähigkeit während
eines Arbeitsverhältnisses
• Beendigung des
Arbeitsverhältnisses
• Vorzeitige Pensionierung
Arbeit
Leistungen der IV bei der Arbeitssuche
Wenn wegen einer Krankheit, eines Unfalls oder einer Geburtsbehinderung Unterstützung bei
der Arbeitssuche notwendig wird, ist dafür als Versicherung primär die IV zuständig. Sie bietet
eine breite Palette von Leistungen an, die in den letzten Jahren sukzessive ausgebaut worden
sind: Berufsberatung, Integrationsmassnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung, Massnahmen der Arbeitsvermittlung sowie finanzielle Anreize für Arbeitgeber. Menschen
mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen müssen sich allerdings bewusst sein, dass all diese
Angebote noch keineswegs garantieren, dass wirklich eine angepasste Stelle gefunden werden
kann. Die wichtigste Erfolgsgarantie bei der Arbeitssuche bleibt die eigene Motivation und das
persönliche Engagement.
Dieses Kapitel zeigt, mit welcher Unterstützung behinderte Menschen bei der Suche nach
einem Arbeitsplatz seitens der IV rechnen können. Informationen zu weiteren beruflichen Massnahmen der IV (erstmalige berufliche Ausbildung, berufliche Weiterbildung, Umschulung) sind
im Kapitel „Berufliche Ausbildung“ zu finden.
»
Anmeldung und Frühintervention
»
Integrationsmassnahmen der IV
»
Welches sind die Leistungen der IV bei der Arbeitssuche?
»
Anreize zugunsten anstellungsbereiter Arbeitgeber
»
Rechtliche Grundlagen
Anmeldung und Frühintervention
Je länger eine Person ohne Arbeit bleibt, je kleiner werden erfahrungsgemäss die Chancen,
dass sie eine angepasste Arbeitsstelle findet. Damit die nötigen Schritte rechtzeitig eingeleitet
werden können, ist eine möglichst frühzeitige Anmeldung bei der IV empfehlenswert.
In einem ersten Schritt kann die IV im Rahmen der sog. „Frühintervention“ Hilfe anbieten. Ist
eine Anmeldung eingetroffen, wird die IV-Stelle die behinderte Person zu einem Erstgespräch
einladen und dabei einerseits evaluieren, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen bestehen
und wie sehr sich diese auf die Vermittelbarkeit auswirken, andererseits aber auch erfassen,
welche persönliche und beruflichen Ressourcen noch vorhanden sind. Gestützt auf diese erste
Evaluation wird den Berufs-Fachleuten der IV ein weiterführender Auftrag erteilt.
122
Arbeit
Im Rahmen der Frühintervention können sämtliche beruflichen Massnahmen gewährt werden,
ohne dass zuvor umfassende medizinische Berichte eingeholt und weitere rechtliche Abklärungen getroffen werden. Ziel einer Frühintervention soll es sein, möglichst rasch eine Lösung zu
finden. Pro Person kann die IV in der Frühinterventionsphase aber höchstens 20‘000 Franken
ausgeben. Während der Durchführung von Frühinterventionsmassnahmen besteht zudem
kein Anspruch auf ein IV-Taggeld. Diese beiden Einschränkungen fallen weg, sobald die IV
die nötigen medizinischen und versicherungsrechtlichen Abklärungen durchgeführt hat, um
ordentliche Eingliederungsmassnahmen zuzusprechen. Das müsste spätestens 6 Monate nach
eingegangener Anmeldung der Fall sein.
Integrationsmassnahmen der IV
Vor allem bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen erweist sich eine direkte berufliche Eingliederung häufig noch gar nicht als möglich. In einem ersten Schritt müssen diese
Personen mit gezieltem Training auf die Anforderungen der Berufswelt vorbereitet werden. Zu
diesem Zweck kann die IV Integrationsmassnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche
Eingliederung zusprechen. Es handelt sich hierbei um sozialberufliche Rehabilitationsprogramme mit dem Ziel der Gewöhnung an den Arbeitsprozess, der Förderung der Arbeitsmotivation,
der Stabilisierung der Persönlichkeit, der Einübung sozialer Grundfähigkeiten und der Erhöhung
der Belastbarkeit. Sie finden in der Regel in spezialisierten Eingliederungsstätten statt, können
aber auch direkt bei einem Arbeitgeber vorgesehen werden, sofern sich ein solcher findet.
Integrationsmassnahmen setzen eine Präsenzzeit von mindestens 4 Tagen pro Woche à je 2
Stunden voraus, können bis zu einem Jahr dauern (unter Umständen verlängerbar auf 2 Jahre)
und werden anhand eines Eingliederungsplans durchgeführt und begleitet. Während einer Integrationsmassnahme erhält die betroffene Person selber ein IV-Taggeld ausbezahlt. Erweist sich,
dass das Ziel der Integrationsmassnahme nicht erreicht werden kann, wird diese abgebrochen.
»» Beispiel: Herr R hat vor 18 Monaten seine Stelle wegen einer schweren depressiven
Störung sowie einer Angststörung verloren. In der Zwischenzeit hat sich sein Gesundheitszustand wieder etwas stabilisiert. Die Ärzte sind der Auffassung, dass er wieder in kleinen
Schritten wieder an das Berufsleben herangeführt werden könnte. Die IV spricht deshalb
Integrationsmassnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung in einer Eingliederungsstätte zu. Herr R beginnt sein Training mit einem Pensum von 30 %. Er erhöht
dieses sukzessive auf 60%. Nachdem er das Training erfolgreich abgeschlossen hat, ordnet
die IV eine Arbeitsvermittlung an.
123
Arbeit
Welches sind die Leistungen der IV bei der Arbeitssuche?
Wer wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung auf Hilfe bei der Suche eines angepassten
Arbeitsplatzes angewiesen ist, hat Anspruch auf aktive Unterstützung durch die Berufsfachleute
der IV-Stellen. Die Arbeitsvermittlung der IV umfasst unterschiedliche Tätigkeiten: Beratung
bei der Erstellung eines Bewerbungsdossiers und beim Verfassen eines Bewerbungsschreibens
oder Vorbereitung eines Bewerbungsgesprächs, Hinweis auf offene Stellen, Versand der Bewerbungsunterlagen an potentielle Arbeitgeber, und im Idealfall sogar Vermittlung einer konkreten
Arbeitsstelle. In Anbetracht des heutigen Arbeitsmarktes ist diese Aufgabe sehr anspruchsvoll
und bedingt persönliche Motivation der Betroffenen sowie gute Kooperation mit den Arbeitsvermittlern der IV-Stellen.
Bleibt die Arbeitsvermittlung der IV ohne Erfolg, so wird sie in der Regel nach einer Dauer von
6 Monaten abgeschlossen. Dagegen kann man sich allerdings wehren. Die Gerichte haben
verschiedentlich festgestellt, dass eine Arbeitsvermittlung auch über die Dauer von 6 Monaten
zu verlängern ist, solange die betroffene Person aktiv mitarbeitet und die Vermittlung eines
Arbeitsplatzes nicht offensichtlich aussichtslos ist.
»» Beispiel: Frau M hat keine Ausbildung absolviert und war jahrelang als Raumpflegerin
tätig, als bei ihr die Diagnose Multiple Sklerose gestellt wurde. Aufgrund des schubartigen
Verlaufs musste sie ihr Arbeitspensum sukzessive verringern, bis ihr die körperlich strenge
Tätigkeit in der Reinigung gar nicht mehr möglich war.
Frau M will unbedingt weiter arbeiten. Sie meldet sich deshalb bei der IV für berufliche
Massnahmen an. Die Berufsfachleute der IV-Stelle eruieren vorerst, welche körperliche Belastung Frau M noch zumutbar ist. Sie zeigen ihr auf, welche Tätigkeiten ihrem Belastungsprofil, aber auch ihrem Ausbildungsniveau entsprechen. Im Rahmen der Arbeitsvermittlung
gelingt es sodann, für Frau M eine überwiegend sitzende 80 %-Tätigkeit in einer Produktionsfirma zu finden.
Damit die tatsächliche Leistungsfähigkeit einer Person im Arbeitsmarkt abgeklärt werden kann,
kann die IV einen maximal 180 Tage dauernden Arbeitsversuch vorsehen. Während des Arbeitsversuchs entsteht kein Arbeitsverhältnis im rechtlichen Sinne und beim Arbeitgeber fallen
keine Lohnkosten an. Die geleistete Arbeit wird vielmehr durch ein IV-Taggeld entschädigt. Der
Arbeitgeber kann somit ohne eigenes Risiko testen, ob die betroffene Person seinen Ansprüchen entspricht, und diese kann ihre Fähigkeiten im freien Arbeitsmarkt unter Beweis stellen.
»» Beispiel: Herr H arbeitet als Chauffeur. Aufgrund einer aufgetretenen Epilepsie kann
und darf er diesen Beruf nicht mehr ausüben. Nach Gesprächen mit dem IV-Berufsberater
und nach Absolvierung einer beruflichen Abklärung vermittelt ihm die IV einen 6 Monate
dauernden Arbeitsversuch als Hauswart. Leider stellt sich nach bereits 3 Monaten heraus,
dass die Weiterführung des Arbeitsversuchs aus medizinischen Gründen nicht möglich ist.
Der Arbeitsversuch muss daher vorzeitig abgebrochen werden. Die IV leitet nun die Rentenprüfung ein.
124
Arbeit
Auffallend ist, dass sich die Bemühungen der IV bei der Arbeitssuche im kantonalen Vergleich
doch sehr unterscheiden. Während sich einige IV-Stellen auf die Unterstützung beim Bewerben auf öffentlich ausgeschriebene Stellen beschränken, suchen die anderen IV-Stellen den
Kontakt zu den Arbeitgebern und setzen sich intensiv dafür ein, eine konkrete Arbeitsstelle zu
vermitteln. Massgebend für den Erfolg bei der Suche nach einer geeigneten Arbeitsstelle sind
also nicht nur die eigenen Bemühungen und die grundsätzliche Bereitschaft der Arbeitgeber,
behinderte Menschen anzustellen, sondern oft auch der Wohnsitz der Betroffenen und die sich
daraus ergebende Zuständigkeit der IV-Stelle.
Anreize zugunsten anstellungsbereiter Arbeitgeber
Das Gesetz sieht auch verschiedene Anreize vor, welche es den Arbeitgebern erleichtern sollen,
eine behinderte Person anzustellen. Das ist wichtig, denn viele Arbeitgeber haben Angst, dass
eine neu angestellte Person mit gesundheitlicher Beeinträchtigung die erwünschte Leistung
nicht erbringt oder nach kurzer Zeit erneut arbeitsunfähig wird, und dass in solchen Fällen
Belastungen für den Arbeitgeber entstehen. Unter diese Anreize fallen einerseits die „Einarbeitungszuschüsse“, andererseits die „Entschädigungen für Beitragserhöhungen“.
Hat die IV eine Arbeitsstelle vermittelt, kann sie für die Einarbeitungszeit im neuen Betrieb während maximal 6 Monaten einen Einarbeitungszuschuss gewähren. Der Einarbeitungszuschuss
wird an den Arbeitgeber ausgerichtet und soll einen Ausgleich dafür schaffen, dass die neu
eingestellte Person während der Einarbeitungszeit noch nicht die volle Leistung erbringt. Der
Arbeitgeber hat dabei von Anfang an den vollen Lohn zu zahlen und die Sozialversicherungsbeiträge abzurechnen.
»» Beispiel: Die IV-Stelle hat Frau M eine 80 %-Stelle in einer Produktionsfirma vermitteln
können. Da Frau M noch nie eine solche Tätigkeit ausgeübt hat und sie sich erst noch einarbeiten muss, wird sie zu Beginn noch keine volle Leistung erbringen. Als Ausgleich gewährt
die IV der Produktionsfirma während einer 3-monatigen Einarbeitungszeit einen Einarbeitungszuschuss, und zwar in der Höhe von 2/3 des Lohnes, den Frau M von der Firma
erhält.
Zusätzlich kann die IV dem Arbeitgeber eine „Entschädigung für Beitragserhöhungen“
ausrichten. Eine solche Entschädigung wird fällig, wenn eine behinderte Person nach erfolgter Arbeitsvermittlung innert 3 Jahren erneut während mehr als 15 Tagen arbeitsunfähig wird
und das Arbeitsverhältnis in diesem Zeitpunkt bereits länger als 3 Monate gedauert hat. Wenn
die behinderte Person in einem solchen Fall weiterhin den Lohn oder Krankentaggelder erhält,
wird dem Arbeitgeber ab dem 16. Tag eine entsprechende Entschädigung (48 Franken pro Tag
für Betriebe mit bis zu 50 Mitarbeitenden, 34 Franken pro Tag für Betriebe mit mehr als 50
Mitarbeitenden) ausgerichtet, und zwar so lange der Lohn oder ein Krankentaggeld geleistet
wird. Nicht erforderlich ist, dass die Krankentaggeldversicherung oder die Pensionskasse des
Arbeitgebers wegen des eingetretenen „Schadenfalls“ tatsächlich die Beiträge erhöht.
125
Arbeit
»» Beispiel: Nach 2 Jahren erleidet Frau M erneut einen MS-Schub. Dieser hat eine längere
Arbeitsunfähigkeit zur Folge. Da Frau M bei der Produktionsfirma krankentaggeldversichert ist, erhält sie als Lohnersatz Krankentaggelder ausgerichtet. Ab dem 16. Tag der
Arbeitsunfähigkeit bezahlt die IV dem Arbeitgeber eine „Entschädigung für Beitragserhöhungen“ aus. Die Produktionsfirma hat 75 Mitarbeitende, die Entschädigung an den Arbeitgeber beträgt daher 34 Franken pro Tag.
Rechtliche Grundlagen
• Massnahmen der Frühintervention: Art. 7d IVG, Art. 1sexies – 1octies IVV
• Integrationsmassnahmen: Art. 14a IVG, Art. 4quater – 4septies IVV
• Arbeitsvermittlung: Art. 18 IVG
• Arbeitsversuch: Art. 18a IVG, Art. 6bis IVV
• Einarbeitungszuschuss: Art. 18b IVG, Art. 6ter IVV
• Entschädigung für Beitragserhöhungen: Art. 18c IVG, Art. 6quater IVV
126
Arbeit
127
Arbeit
Anstellung
Menschen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung haben erfahrungsgemäss oft grosse
Schwierigkeiten, eine Stelle zu finden. Zwar unterstützt sie die Invalidenversicherung bei der
Stellensuche, das schweizerische Recht gewährt ihnen aber keinen Anspruch auf Anstellung.
Es gelten vielmehr die Bestimmungen des Arbeitsvertragsrechts, die es Arbeitgebern erlauben,
eine Anstellung unter anderem auch wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung zu verweigern.
Das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) verpflichtet einzig den Bund als Arbeitgeber,
behinderten Menschen gleiche Chancen wie nicht behinderten Personen zu bieten. Er hat das
berufliche Umfeld entsprechend den Bedürfnissen behinderter Angestellter zu gestalten, besonders was die Arbeitsräume, Arbeitsplätze, Arbeitszeiten und Möglichkeiten der Weiterbildung
betrifft. Ein Anspruch auf Anstellung besteht aber auch gegenüber dem Bund nicht: Hat eine
behinderte Person den Verdacht, wegen ihrer Behinderung nicht angestellt worden zu sein,
kann sie einzig eine schriftliche Darlegung der Nichtanstellungsgründe verlangen.
In diesem Kapitel sollen einzelne rechtliche Fragen beantwortet werden, welche sich regelmässig stellen, wenn behinderte Menschen sich um eine Stelle bewerben und einen Arbeitsvertrag
abschliessen: Inwiefern müssen sie über gesundheitliche Beeinträchtigungen informieren? Wie
sind vorhersehbare Arbeitsausfälle wegen medizinischer Behandlungen zu regeln? Und wie ist
im Arbeitsvertrag der Lohn bei eingeschränkter Leistungsfähigkeit festzulegen?
»
Informationspflichten bei Vertragsabschluss
»
Gesundheitsfragebogen der Versicherer
»
Medizinische Behandlungen
»
Leistungslohn und Soziallohn
»
Rechtliche Grundlagen
Informationspflichten bei Vertragsabschluss
Gesundheitlich eingeschränkte Menschen sind oft unsicher, ob und wie weit sie verpflichtet
sind, bei einer Stellenbewerbung Angaben zu ihrer Krankheit oder Behinderung zu machen. Es
gelten diesbezüglich folgende Regeln: Über gesundheitliche Beeinträchtigungen, welche die
Erfüllung des Arbeitsvertrages wesentlich erschweren, muss der Arbeitgeber informiert werden.
Es besteht hier also eine Mitteilungspflicht.
128
Arbeit
Keine Informationspflicht besteht hingegen, wenn der Gesundheitsschaden keinen Einfluss auf
die geforderte Arbeitsleistung hat. Auch muss nicht mitgeteilt werden, welche Erkrankung für
die Einschränkung verantwortlich ist.
»» Beispiel: Herr T leidet unter Rückenbeschwerden und darf keine Gewichte von über
5 kg. heben. Er bewirbt sich für eine Anstellung als Logistiker. Wenn in dieser Tätigkeit damit gerechnet werden muss, dass Gewichte von mehr als 5 kg. zu heben sind, muss Herr T.
aufgrund der Mitteilungspflicht seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Bewerbungsgespräch erwähnen.
Stellt ein Arbeitgeber bei der Bewerbung konkrete Fragen nach bestehenden oder vergangenen
gesundheitlichen Beeinträchtigungen, sind diese im Rahmen der Auskunftspflicht grundsätzlich
wahrheitsgetreu zu beantworten. Über Krankheiten, welche keinen Einfluss auf das einzugehende Arbeitsverhältnis haben, oder über zurückliegende Krankheiten, bei denen keine ernsthafte
Rückfallgefahr besteht, muss aber nicht informiert werden.
»» Beispiel: Frau H hatte vor vielen Jahren eine Brustkrebsoperation. Die darauffolgenden
Untersuchungen verliefen immer unauffällig. Sie bewirbt sich für eine Anstellung in einem
Reisebüro. Die Frage nach bestehenden oder vergangenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen kann sie ohne weiteres verneinen, denn weder besteht eine ernsthafte Rückfallgefahr, noch beeinträchtigt die ehemalige Brustkrebserkrankung die zu erbringende Arbeitsleistung. Frau H hat in Bezug auf ihre Brustkrebserkrankung somit keine Auskunftspflicht.
Behinderte Menschen, die sich bereits unzählige Male vergeblich um eine Stelle beworben haben, neigen verständlicherweise dazu, ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu verschweigen. Ein Arbeitgeber kann das Arbeitsverhältnis bei Verletzung der Mitteilungs- und Auskunftspflicht aber kündigen, bei schwerwiegenden Verletzungen unter Umständen sogar fristlos. Es
empfiehlt sich deshalb, wenn möglich mit „offenen Karten“ zu spielen. Die offene Darlegung
der Verhältnisse kann beim Arbeitgeber durchaus auch zu einem gewissen Verständnis und
einer toleranten Haltung gegenüber Arbeitsunterbrechungen führen.
Gesundheitsfragebogen der Versicherer
Oft holen aber nicht die Arbeitgeber, sondern die Krankentaggeldversicherungen und die Pensionskassen detaillierte Auskünfte über den Gesundheitszustand ein, indem sie neue Arbeitnehmer auffordern, einen Gesundheitsfragebogen auszufüllen. Gegenüber den Versicherern hat
die behinderte Person eine Auskunftspflicht und die Fragen sind wahrheitsgetreu zu beantworten. Sowohl Taggeldversicherer wie auch Pensionskassen dürfen die erhaltenen Auskünfte zwar
nur mit der Zustimmung der Betroffenen an die Arbeitgeber weiterleiten, trotzdem sickern aber
immer wieder Informationen durch. Dies geschieht erfahrungsgemäss insbesondere dann,
wenn die Versicherer das Personalbüro des Arbeitgebers direkt mit dem Einholen der Gesundheitsdaten beauftragen. In solchen Fällen empfiehlt es sich, den ausgefüllten Fragebogen direkt
an den Versicherer zu senden.
129
Arbeit
»» Beispiel: Wie im obigen Beispiel erwähnt, trifft Frau H anlässlich des Bewerbungsgesprächs gegenüber dem Arbeitgeber keine Auskunftspflicht. Nachdem sie die Stelle
erhalten hat, frägt nun aber die Pensionskasse mit einem Fragebogen nach bestehenden
oder vergangenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Hier ist es wichtig, dass Frau H
wahrheitsgetreu antwortet. Füllt sie den Gesundheitsfragebogen nicht oder nicht ganz
wahrheitsgetreu aus, läuft sie Gefahr, im Fall einer erneuten Brustkrebserkrankung und
einer eintretenden Invalidität eine tiefere Pensionskassenrente zu erhalten. Gegenüber der
Pensionskasse hat Frau H also eine Auskunftspflicht. Möchte sie auf jeden Fall vermeiden,
dass der Arbeitgeber von ihrer Brustkrebserkrankung erfährt, kann sie den ausgefüllten
Fragebogen direkt der Pensionskasse zusenden.
Medizinische Behandlungen
Viele behinderte Menschen müssen sich öfter medizinischen Behandlungen unterziehen (z.B.
Physiotherapie, Dialyse). Ist eine Therapie oder eine Behandlung regelmässig während der
üblichen Arbeitszeit durchzuführen, empfiehlt es sich, dies bereits anlässlich des Bewerbungsgesprächs mit dem Arbeitgeber zu besprechen und zu regeln. Unter Umständen können die
Arbeitszeiten entsprechend angepasst und das Arbeitspensum reduziert werden.
»» Beispiel: Herr T hat sich für eine Stelle als Disponent beworben und der Arbeitgeber ist
grundsätzlich bereit, ihn anzustellen. Da Herr T wegen seiner Lähmungen auf regelmässige
Physiotherapie angewiesen ist, wünscht er, zu 90 % angestellt zu werden. Dies ermöglicht
ihm, für die Therapien einen Nachmittag frei zu nehmen. Im Arbeitsvertrag wird vereinbart, dass der freie Nachmittag von Arbeitgeber und Arbeitnehmer in gegenseitigem
Einvernehmen festgelegt wird.
Leistungslohn und Soziallohn
In der Regel richtet sich der Lohn nach der geleisteten Arbeit. Kann eine Person wegen ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung keine volle Leistung erbringen, so wird der Arbeitgeber dieser
Tatsache Rechnung tragen, indem er bei der Anstellung einen geringeren Lohn festlegt. Damit
dies gegenüber den Versicherungen ersichtlich wird, empfiehlt es sich, nicht nur den Lohn festzuhalten, sondern auch zu deklarieren, wie dieser errechnet worden ist.
»» Beispiel: Herr S arbeitet wegen seiner geistigen Behinderung sehr langsam und muss
dabei immer eng begleitet werden. Er findet nach längerer Suche und nach Durchführung
eines Arbeitsversuchs eine Stelle in einer Wäscherei. An Stelle des üblichen Lohns von 4‘000
Franken wird ein Lohn von 1‘600 Franken vereinbart mit der Anmerkung „100 %-Pensum,
40 %-Leistung“. Diese Regelung im Arbeitsvertrag verschafft gegenüber der IV, welche die
Invalidität bemessen muss, Klarheit.
130
Arbeit
Besonders bei verwandtschaftlichen oder freundschaftlichen Verhältnissen kommt es aber
durchaus auch vor, dass ein Arbeitgeber, z.B. der Onkel einer behinderten Person, bereit ist,
einen höheren Lohn zu bezahlen als es der Leistung entspricht. Dabei handelt es sich um einen
sogenannten Soziallohn. In solchen Fällen empfiehlt es sich, die Soziallohnkomponente wenn
möglich im Arbeitsvertrag schriftlich festzuhalten. Spätestens wenn Versicherungen sich im
Zusammenhang mit der Bemessung des Invaliditätsgrades nach dem Lohn erkundigen, sollte
der Arbeitgeber genau angeben können, welcher Teil des Lohns der tatsächlichen Leistung entspricht und welcher Teil Soziallohn ist.
»» Beispiel: Frau K kann aufgrund einer psychischen Beeinträchtigung zwar noch im Umfang von 100 % präsent sein, dabei aber nur noch eine 60 %-ige Leistung erbringen. Ein
langjähriger Freund ihrer Familie betreibt ein Restaurant und stellt Frau K an. Obwohl Frau
K eine um 40 % verminderte Arbeitsleistung erbringt, bezahlt der Arbeitgeber aus sozialen
Gründen einen vollen Lohn. Damit deutlich wird, welchen Verdienst Frau K trotz ihrer Behinderung leistungsmässig erzielen kann, sollte der Arbeitgeber den Soziallohnanteil (hier
40 % des Lohnes) gegenüber der IV ausweisen.
Rechtliche Grundlagen
• Gesetzliche Regelung des Arbeitsvertrags: Art. 319 ff. OR
• Verpflichtungen des Bundes als Arbeitgeber: Art. 13 BehiG, Art. 12-15 BehiV
131
Arbeit
Hilfsmittel und Assistenz am Arbeitsplatz
Menschen mit einer Behinderung sind oft auf Hilfsmittel, bauliche Anpassungen und Assistenz
angewiesen, wenn sie einer Erwerbstätigkeit im ersten Arbeitsmarkt nachgehen. Das gleiche
gilt auch, wenn eine behinderte Person trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung den Haushalt
selber führt.
Für Hilfsmittel am Arbeitsplatz kommt die Invalidenversicherung auf. Dieses Kapitel listet die
verschiedenen Leistungen der IV auf und erläutert die Voraussetzungen, die für eine Finanzierung erfüllt sein müssen. Schliesslich wird auch dargelegt, unter welchen Bedingungen die
Kosten von Dienstleistungen Dritter an Stelle eines Hilfsmittels übernommen werden können.
»
Unter welchen Voraussetzungen bezahlt die IV Hilfsmittel am Arbeitsplatz?
»
Welche Hilfsmittel und baulichen Massnahmen finanziert die IV?
»
Kosten von Gebrauchstraining, Unterhalt und Reparaturen
»
Landwirtschafts- und Gewerbebetriebe: Selbstamortisierende Darlehen
»
Welche Hilfsmittel übernimmt die IV zur Überwindung des Arbeitsweges?
»
Werden auch Motorfahrzeuge finanziert?
»
Wann übernimmt die IV die Kosten von Dienstleistungen Dritter?
»
Rechtliche Grundlagen
Unter welchen Voraussetzungen bezahlt die IV Hilfsmittel am
Arbeitsplatz?
Die Kosten von Hilfsmitteln am Arbeitsplatz und im „Aufgabenbereich“ (Haushaltführung, gemeinnützige Tätigkeiten) werden unter folgenden Voraussetzungen von der IV übernommen:
• Die behinderte Person muss entweder einer entlöhnten Erwerbstätigkeit nachgehen, bei
welcher sie einen Mindestlohn von jährlich 4'667 Franken erzielt; oder sie muss für regel­
mässige Tätigkeiten im Aufgabenbereich verantwortlich sein.
»» Beispiel: Frau A ist neu auf einen Rollstuhl angewiesen, kann aber noch einen Grossteil
des Haushaltes selber besorgen.
132
Arbeit
Gewisse Türen müssen dafür aber verbreitert, die Arbeitsflächen in der Küche angepasst
und einzelne Schränke versetzt werden.
Die IV wird die entsprechenden Kosten übernehmen, wenn die Arbeitsfähigkeit von Frau A
bei der Haushaltführung dank dieser Massnahmen in beachtlichem Ausmass verbessert
werden kann. Bei sehr teuren Anpassungen verlangt die IV gar eine Steigerung von mindestens 10%. Diese Regel wird mit dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit begründet. Im Fall
von hohen Kosten muss zuvor eine Fachstelle (in der Regel die SAHB) bestätigen, dass der
vorgesehene Umbau zweckmässig ist und sich die Kosten in vertretbarem Rahmen halten.
• Die Hilfsmittel müssen „kostspielig“ sein, d.h. ihr Preis muss den Betrag von 400 Franken
überschreiten.
• Sie müssen behinderungsbedingt notwendig sein. Handelt es sich um Geräte, die auch
eine nicht behinderte Person benötigt, hat sich die behinderte Person an den Kosten zu
beteiligen. Die IV übernimmt nur die behinderungsbedingten Mehrkosten.
»» Beispiel: Herr T ist in erheblichem Mass sehbehindert. Er benötigt ein angepasstes
Schreib- und Lesegerät an seinem Arbeitsplatz. Die IV übernimmt die invaliditätsbedingten
Mehrkosten für einen speziellen Bildschirm sowie für Spezial-Software. Die Kosten für den
PC hat jedoch der Arbeitgeber zu übernehmen. Begründet wird dies damit, dass der PC zur
üblichen Ausstattung eines Arbeitsplatzes gehört.
Welche Hilfsmittel und baulichen Massnahmen finanziert die IV?
Die Hilfsmittel-Liste ist bewusst sehr offen formuliert worden, um möglichst flexibel auf die
Bedürfnisse im Einzelfall eingehen zu können. Sie umfasst folgende Kategorien von Hilfsmitteln
und baulichen Massnahmen:
• Invaliditätsbedingte Arbeits- und Haushaltgeräte sowie Zusatzeinrichtungen, Zusatzgeräte und Anpassungen für die Bedienung von Apparaten und Maschinen (Ziffer 13.01).
»» Beispiel: Frau G ist in erheblichem Masse hörbehindert und hat Mühe, den Gesprächen
an den regelmässig in ihrem Betrieb stattfindenden Besprechungen und Sitzungen zu
folgen. Sie hat deshalb Anspruch auf eine FM-Anlage, welche ihr ermöglicht, die verschiedenen Voten an diesen Sitzungen zu verstehen.
• Der Behinderung individuell angepasste Sitz-, Liege- und Stehvorrichtungen (Ziffer
13.02): Unter diesem Titel können nicht nur eigentliche individuelle Spezial-anfertigungen
finanziert werden, sondern auch serienmässig für behinderte Menschen hergestellte Stühle,
die eine individuelle Anpassung zulassen.
• Der Behinderung individuell angepasste Arbeitsflächen (Ziffer 13.03)
133
Arbeit
• Invaliditätsbedingte bauliche Änderungen am Arbeitsplatz und im Aufgabenbereich (Ziffer 13.04).
Kosten von Gebrauchstraining, Unterhalt und Reparaturen
Hat die IV ein Hilfsmittel finanziert, so übernimmt sie unter gewissen Voraussetzungen auch
die Nebenkosten, die mit diesem Hilfsmittel verbunden sind:
• Gebrauchstraining: Bei der erstmaligen Abgabe eines Hilfsmittels übernimmt die IV die
Kosten eines notwendigen Gebrauchstrainings.
»» Beispiel: Der erheblich sehbehinderte Herr T hat von der IV einen Spezialbildschirm
sowie sehbehindertengerechte Software erhalten. Die IV übernimmt in diesem Fall auch die
Kosten der Einschulung sowie allfälliger weiterer Beratung und Hilfeleistungen bei Problemlösungen.
• Reparaturkosten: Werden Reparaturen von Arbeitsgeräten und anderen Hilfsmitteln trotz
sorgfältiger Verwendung und Wartung nötig, so kommt die IV für die Kosten dieser Reparaturen auf. Sie finanziert auch notwendig werdende Anpassungen und die teilweise Erneuerung von Hilfsmitteln.
• Betriebs- und Unterhaltskosten: An die Betriebs- und Unterhaltskosten eines Hilfsmittels
bezahlt die IV einen jährlichen Beitrag von maximal 485 Franken im Jahr oder übernimmt
die Kosten für ein Service-Abonnement (z.B. im EDV-Bereich oder bei Treppenliften).
Landwirtschafts- und Gewerbebetriebe: Selbstamortisierende Darlehen
Bei Landwirtschafts- und Gewerbebetrieben finanziert die IV behinderungsbedingt benötigte
kostspielige Arbeitsgeräte und Einrichtungen am Arbeitsplatz (z.B. landwirtschaftliche Maschinen) in Form eines zinslosen selbstamortisierenden Darlehens, falls diese Hilfsmittel von
der Versicherung nicht mehr zurückgenommen oder nur schwer wieder abgegeben werden
können.
Die Darlehenssumme verringert sich während der Dauer der Amortisation jährlich um den Betrag des linearen Abschreibungssatzes, bis sie getilgt ist. Fallen die Anspruchsvoraussetzungen
vorher dahin (z.B. bei Aufgabe der Erwerbstätigkeit), so wird die Rückzahlung der Restschuld
fällig. In Härtefällen kann die Rückzahlung ermässigt werden. In der Praxis ist dies relativ häufig der Fall.
134
Arbeit
Selbstamortisierende Darlehen werden mit einer gewissen Zurückhaltung und immer erst nach
eingehender Prüfung gewährt. Verlangt wird, dass die von der IV zu tragenden Kosten in einem
angemessenen Verhältnis zum Eingliederungserfolg stehen. Zudem darf der Eingliederungserfolg nicht in Frage gestellt sein, weil die wirtschaftliche Existenz des Betriebs kurz- und mittelfristig gefährdet ist.
Wird mit dem finanzierten Arbeitsgerät ein Rationalisierungseffekt erzielt (z.B. Zeiteinsparung, Wegfall von Lohnkosten), so wird dieser kapitalisiert und als invaliditätsfremder Kostenanteil von der Darlehenssumme abgezogen.
Welche Hilfsmittel übernimmt die IV zur Überwindung des Arbeitsweges?
Die IV übernimmt nicht nur die Kosten von Arbeitsgeräten und baulichen Massnahmen am
Arbeitsplatz selber, sondern sie finanziert auch verschiedene Vorkehren, damit gehbehinderte
Personen den Weg von der Wohnung zur Arbeitsstätte überwinden können. So bezahlt die IV
Hebebühnen und Treppenlifte und finanziert die Beseitigung oder Änderung von baulichen
Hindernissen, und zwar nicht nur am Arbeitsort, sondern auch am Wohnort (Ziffer 13.05 der
Hilfsmittel-Liste).
Da es sich in der Regel um kostspielige Hilfsmittel handelt, müssen verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein:
• Es muss einerseits Gewähr dafür bestehen, dass diese Hilfsmittel während längerer Zeit
benutzt werden können. Deshalb werden von den Arbeitgebern verlässliche Aussagen über
den Weiterbestand einer Arbeitsstelle erwartet. Auch muss gesichert sein, dass eine Wohnung voraussichtlich über längere Zeit genutzt werden kann.
• Die Leistungen erfolgen nur, wenn sie wirklich notwendig sind. Es wird von den Betroffenen
erwartet, dass sie alle Vorkehren treffen, um den „Schaden“ zu vermindern.
»» Beispiel: Herrn S ist die bisherige Wohnung gekündigt worden. Es wird von ihm erwartet, dass er eine neue Wohnung sucht, welche keine grossen Anpassungen erfordert, und
dass er beim allfälligen Bau eines Eigenheims die Rollstuhlgängigkeit von Beginn weg plant.
Die IV finanziert in solchen Fällen nur unvermeidbare behinderungsbedingte Mehrkosten.
• Es wird immer nur die günstigste Variante finanziert, die den Zweck (Überwindung des
Arbeits- und Ausbildungswegs) noch gewährleistet. Die IV holt in diesem Zusammenhang
fachtechnische Stellungnahmen der SAHB ein.
Auch bei Haushaltführenden kann der Einbau eines Treppenliftes finanziert werden. Die IV tut
dies aber nur, wenn dank dieses Einbaus die Arbeitsfähigkeit im Haushalt um mindestens 10%
gesteigert werden kann.
135
Arbeit
»» Beispiel: Frau H kann dank des Treppenlifts den Keller und die Garage des Einfamilienhauses erreichen. Das ermöglicht ihr nicht nur, die Wäsche zu besorgen, sondern auch
selbständig mit dem Auto das Haus zu verlassen, die Einkäufe zu tätigen und ihre noch
kleinen Kinder ausser Haus zu begleiten. Die Arbeitsfähigkeit im Aufgabenbereich Haushalt
kann damit um 13 % gesteigert werden, weshalb die IV die Kosten des Treppenlifts übernimmt.
Werden auch Motorfahrzeuge finanziert?
Die IV gewährt unter bestimmten Voraussetzungen auch Amortisationsbeiträge (von jährlich
3'000 Franken) an die Anschaffung eines Motorfahrzeugs, wenn dieses behinderungsbedingt
zur Überwindung des Arbeitswegs benötigt wird (Ziffer 10.04 der Hilfsmittel-Liste). Folgende
Voraussetzungen müssen erfüllt sein:
• Die Person übt eine Erwerbstätigkeit aus und erzielt dabei einen „existenzsichernden“
Lohn von monatlich mindestens 1'755 Franken.
• Die Person ist behinderungsbedingt auf ein Motorfahrzeug angewiesen. Es ist ihr wegen
ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht möglich resp. nicht zumutbar, den Arbeitsweg zu Fuss, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen.
»» Beispiel: Herr W würde ohne Behinderung täglich 2 x 45 Minuten für die Zurücklegung
des Arbeitsweges (zu Fuss und mit der Eisenbahn) benötigen. Da er schwer gehbehindert
ist und sich nur mit Mühe fortbewegen kann, verlängert sich der Arbeitsweg auf 2 x 90
Minuten. Zudem besteht bei winterlicher Witterung eine erhebliche Sturzgefahr. Herrn W ist
dieser Arbeitsweg nicht zuzumuten. Er hat Anspruch auf Amortisationsbeiträge.
• Die Person wäre ohne Invalidität nicht auf ein Motorfahrzeug angewiesen. Wer z.B. auch
ohne Invalidität wegen seines Berufs (Taxifahrer, Vertreter) ein Motorfahrzeug benötigt,
kann im Falle einer Invalidität von der IV keine Amortisationsbeiträge beanspruchen.
Auch Haushaltführende können Amortisationsbeiträge an die Kosten eines Motorfahrzeugs
beanspruchen, wenn sie das Auto für den Weg zum Einkaufen oder im Zusammenhang mit der
Kinderbetreuung invaliditätsbedingt benötigen. Ein Anspruch besteht aber nur, wenn sie den
Haushalt weitgehend selbständig bewältigen können.
Mit dem jährlichen Amortisationsbeitrag sind sämtliche Betriebs- und Unterhaltskosten sowie
die Reparaturkosten abgegolten. Die IV übernimmt als zusätzliche Leistungen einzig im Sinne
eines Gebrauchstrainings die behinderungsbedingten Mehrkosten für Fahrunterricht. Weiter
bezahlt sie einen Höchstbeitrag von 1'500 Franken an die Kosten eines automatischen Toröff­
ners, wenn ein solcher zur selbständigen Ein- und Ausfahrt bei der Garage benötigt wird.
136
Arbeit
Muss ein Motorfahrzeug behinderungsbedingt angepasst werden, werden die Kosten der Anpassung von der IV unabhängig davon bezahlt, ob eine Person einer Erwerbstätigkeit nachgeht
oder selbständig einen Haushalt führt oder nicht. Abänderungskosten werden an Neuwagen
höchstens alle 10 Jahre oder alle 200'000 Kilometer finanziert, an Occasionswagen höchstens
alle 6 Jahre. Die Umbaukosten werden in der Regel nur bis zu einem maximalen Betrag von
25'000 Franken bezahlt. An die Mehrkosten für ein Automatikgetriebe vergütet die IV bei einer
Neuanschaffung maximal 1'300 Franken, falls das zuständige Strassenverkehrsamt ein solches
vorschreibt.
Wann übernimmt die IV die Kosten von Dienstleistungen Dritter?
Gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz oder auf dem Arbeitsweg können
nicht in allen Fällen durch Hilfsmittel und bauliche Anpassungen überwunden werden. Oft sind
hierzu Hilfeleistungen von Menschen (Dienstleistungen Dritter) sinnvoller. Diese werden von
der Invalidenversicherung dann vergütet, wenn sie an Stelle eines Hilfsmittels erbracht werden.
Die behinderte Person muss also Anspruch auf ein bestimmtes Hilfsmittel haben, dieses jedoch
nicht beanspruchen, sondern aus Gründen der Praktikabilität die entsprechende Dienstleistung
vorziehen. In folgenden Fällen werden praxisgemäss solche Dienstleistungen Dritter vergütet:
• Kosten des Transports einer Person, welche die Voraussetzungen für Amortisationsbeiträge an ein Motorfahrzeug erfüllen würde, auf deren Bezug aber verzichtet. Der Transport kann beispielsweise durch ein Taxi oder durch Familienangehörige erfolgen, wobei in
letzterem Fall nur Kilometerentschädigungen gewährt werden. Von diesen Kosten werden
die Kosten abgezogen, welche einer nicht behinderten Person für denselben Arbeitsweg
entstehen würden.
• Kosten der Begleitung einer sehbehinderten Person auf dem Arbeitsweg an Stelle der
Gewährung von Amortisationsbeiträgen an ein Motorfahrzeug oder der Abgabe eines Blindenführhundes.
• Kosten für das Dolmetschen von anspruchsvollen Gesprächen am Arbeitplatz (z.B. an Sitzungen) durch Gebärdensprachdolmetscher.
• Kosten, die durch das Vorlesen von berufsnotwendigen Texten zur Berufsausübung im
Fall von Blindheit oder hochgradiger Sehbehinderung entstehen. Nicht vergütet werden
aber Arbeitsleistungen, welche Dritte z.B. aus Gründen der Effizienz an Stelle der behinderten Person erbringen.
»» Beispiel: Herr F ist erblindet. Damit er seine Tätigkeit als Sozialarbeiter ausüben kann,
hat er eine Person engagiert, welche ihm jeden Morgen die eingetroffene Post vorliest.
Diese Arbeit wird von der IV-Stelle als Dienstleistung Dritter vergütet. Wenn die angestellte
Person jedoch für Herrn F noch gewisse Korrespondenzen erledigt, dann können diese Leistungen nicht entschädigt werden.
137
Arbeit
Die monatliche Vergütung für Dienstleistungen Dritter beträgt maximal 1'755 Franken. Sie darf
zudem nicht höher sein als der Betrag des monatlichen Bruttoerwerbseinkommens. Die angefallenen Kosten müssen durch Rechnungen oder Lohnabrechnungen nachgewiesen werden.
Der von der IV gewährte Beitrag für Dienstleistungen Dritter deckt häufig nicht die gesamten
Kosten der Begleitung und Assistenz, welche im Rahmen einer Erwerbstätigkeit oder einer
Tätigkeit im Aufgabenbereich benötigt werden. Für Menschen mit einer erheblichen Behinderung, welche eine Hilflosenentschädigung der IV beziehen, gibt es seit 2012 die Möglichkeit,
zusätzlich einen Assistenzbeitrag zu beantragen. Mit diesem können auch Assistenzkosten finanziert werden, welche am Arbeitsplatz entstehen (vgl. hierzu das Kapitel „Assistenzbeitrag“).
Rechtliche Grundlagen
• Anspruch auf Hilfsmittel: Art. 21 IVG, Art. 2 HVI
• Hilfsmittel und bauliche Massnahmen am Arbeitsplatz: Anhang zur HVI, Ziffern 13.01,
13.02, 13.03 und 13.04
• Gebrauchstraining, Reparatur und Betrieb von Hilfsmitteln: Art. 7 HVI
• Selbstamortisierende Darlehen: Art. 21ter Abs. 3 IVG
• Hilfsmittel zur Überwindung des Arbeitswegs: Anhang zur HVI, Ziffern 10.04, 10.05 und
13.05
• Anspruch auf Vergütung von Dienstleistungen Dritter an Stelle eines Hilfsmittels: Art. 21ter
Abs. 2 IVG, Art. 9 HVI
• Verwaltungsweisungen zu den Hilfsmitteln: Kreisschreiben über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (KHMI)
138
Arbeit
139
Arbeit
Arbeitsunfähigkeit während eines Arbeitsverhältnisses
Nimmt die Leistungsfähigkeit während eines Arbeitsverhältnisses ab und wird eine Person ganz
oder teilweise arbeitsunfähig, so stellen sich verschiedene Fragen: Wann leistet eine KrankenTaggeldversicherung Lohnersatz? Wie lange muss der Lohn vom Arbeitgeber weiter bezahlt
werden? Ist es sinnvoll, sich schon nach kurzer Zeit bei der IV anzumelden? Und wie soll reagiert werden, wenn der Arbeitgeber eine Anpassung des Arbeitsverhältnisses vorschlägt?
Dieses Kapitel behandelt Lohnansprüche und Lohnersatzansprüche bei gesundheitlich bedingter Arbeitsunfähigkeit und gibt Ratschläge, was bei Leistungsreduktionen zu beachten ist und
wie im Einzelfall am besten vorzugehen ist.
»
Freiwillige Reduktion des Arbeitspensums
»
Wann liegt eine Arbeitsunfähigkeit vor?
»
Anspruch auf Krankentaggelder
»
Anspruch auf Taggelder der Unfallversicherung
»
Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers
»
Wann soll eine IV-Anmeldung erfolgen?
»
Anpassung des Arbeitsvertrags
»
Rechtliche Grundlagen
Freiwillige Reduktion des Arbeitspensums
Wenn die Belastung am Arbeitsplatz aufgrund von gesundheitlichen Problemen zu gross wird,
kann eine Reduktion des Arbeitspensums Abhilfe schaffen. Viele Personen entscheiden sich zu
einer solchen freiwilligen Reduktion des Arbeitspensums, um ihren gesundheitlichen Beeinträchtigungen einerseits Rechnung zu tragen und andererseits ihre bisherige Stelle nicht zu
gefährden. Das ist – gerade in fortgeschrittenem Alter – oft ein vernünftiger Weg, sofern der Arbeitgeber sich mit dieser Reduktion einverstanden erklärt und die Lohneinbusse tragbar bleibt.
Problematisch ist eine freiwillige Reduktion des Arbeitspensums einerseits, wenn die Einkommensverhältnisse knapp sind und der teilweise Lohnausfall zu existentiellen Schwierigkeiten
führt.
140
Arbeit
In diesen Fällen sollte die betroffene Peson ernsthaft prüfen, ob sie sich nicht besser von ihrem
Arzt als teilarbeitsunfähig schreiben lässt. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die
Krankentaggeldversicherung oft erst ab einem bestimmten Grad der Arbeitsunfähigkeit
(z.B. 25 %) Taggelder zahlt.
Problematisch ist eine freiwillige Reduktion des Pensums auch im Hinblick auf eine eventuelle
spätere Verschlechterung des Gesundheitszustands und den Eintritt einer eigentlichen Invalidität; denn die Invalidität von Menschen, die freiwillig nur ein Teilpensum bekleiden, wird in
der IV nach der gemischten Methode bemessen, welche sich nachteilig auswirkt (vgl. hierzu die
Ausführungen im Kapitel „Invalidität: Begriff und Bemessung“).Hinzu kommt, dass im Falle einer späteren Invalidität auch in der beruflichen Vorsorge geringere Leistungen resultieren. Um
diese negativen Auswirkungen zu verhindern, sollte der behandelnde Arzt zumindest in seiner
Krankengeschichte ausdrücklich festhalten, dass die Pensumsreduktion von ihm aus gesundheitlichen Gründen empfohlen worden ist.
»» Beispiel: Frau W arbeitet zu 100 % in einem Spital als Krankenpflegerin. Sie leidet in
zunehmendem Ausmass an den Folgen einer Arthrose in den Kniegelenken. Frau W entschliesst sich nach Rücksprache mit ihrem Arzt, das Arbeitspensum auf 80 % zu reduzieren. Sie bespricht ihren Wunsch mit dem Arbeitgeber, der sich mit einer Reduktion des
Arbeitspensums einverstanden erklärt und zudem bereit ist, seiner langjährigen Mitarbeiterin teilweise administrative Aufgaben zu übertragen, die sie in sitzender Position verrichten
kann.
Der Arzt von Frau W attestiert keine 20 %-Arbeitsunfähikeit zuhanden des Taggeldversicherers. Dies würde auch keinen Sinn machen, da die betriebliche Taggeldversicherung erst
ab einer Arbeitsunfähigkeit von 25 % Leistungen erbringt. Hingegen hält er in seiner Krankengeschichte fest, dass die Reduktion des Arbeitspensums aus medizinischen Gründen
zwingend angezeigt gewesen ist.
Wann liegt eine Arbeitsunfähigkeit vor?
Unter einer „Arbeitsunfähigkeit“ versteht man die durch eine Beeinträchtigung der körperlichen,
geistigen oder psychischen Gesundheit bedingte volle oder teilweise Unfähigkeit, im bisherigen
Beruf zumutbare Arbeit zu leisten.
Eine Arbeitsunfähigkeit muss immer von einem Arzt oder einer Ärztin bestätigt werden. In der
Regel muss das entsprechende Attest spätestens nach 3 Tagen Arbeitsunfähigkeit beim Arbeitgeber eingereicht werden.
Wenn eine Arbeitsunfähigkeit nicht nur von geringer und vorübergehender Dauer ist, lohnt es
sich, mit dem Arzt oder der Ärztin Art und Ausmass der Arbeitsunfähigkeit abzusprechen. Es
hilft in der Regel wenig, wenn von den Medizinern eine Arbeitsunfähigkeit nur aus Gefälligkeit
attestiert wird; denn die Ärzte müssen in ihren Berichten gegenüber den Versicherern
141
Arbeit
(Krankentaggeldversicherung, IV) die von ihnen attestierte länger dauernde Arbeitsunfähigkeit auch überzeugend begründen können. Sie sollten zudem klarstellen, was sie unter einer
Arbeitsunfähigkeit genau verstehen: Ist ihrem Patienten bloss eine weniger lange Arbeitszeit
zuzumuten oder besteht aus ihrer Sicht auch eine gesundheitlich bedingte Leistungsreduktion
während der Präsenz am Arbeitsplatz?
»» Beispiel: Herr P hat bisher als Sachbearbeiter in einer Versicherungsgesellschaft gearbeitet. Seit zwei Jahren verschlechtert sich sein Sehvermögen in erheblichem Mass. Trotz
angepasster Hilfsmittel vermag er nicht mehr die von ihm erwartete Leistung zu erbringen.
Es geschehen öfter Fehler und abends leidet er an Spannungskopfschmerzen.
Herr P bespricht seine Probleme mit dem Augenarzt eingehend, welcher ihm schliesslich
eine 50 %-Arbeitsunfähigkeit attestiert. Der Arzt präzisiert in seinem Bericht zu Handen
des Arbeitsgebers, dass Herr P nach wie vor jeden Tag arbeiten könne, die Arbeit aber auf
6 Stunden täglich reduzieren müsse. Hinzu komme, dass durch die Sehbehinderung eine
Verlangsamung in der Arbeit verursacht werde. Insgesamt resultiere eine Einschränkung
der Leistungsfähigkeit von 50 %. Herr P erhält gestützt auf dieses Arztzeugnis fortan noch
einen halben Lohn und zusätzlich ein Krankentaggeld für eine 50 %-Arbeitsunfähigkeit.
Dauert eine Arbeitsunfähigkeit längere Zeit, so prüfen die Taggeldversicherer, ob es der
betroffenen Person nicht möglich wäre, ihre Arbeitsfähigkeit in einer anderen beruflichen
Tätigkeit besser zu verwerten. Ein entsprechender Berufswechsel wird im Sinn der Schadenminderungspflicht als zumutbar erachtet. Die behandelnden Ärzte oder Ärztinnen werden dann
regelmässig aufgefordert, sich zur Arbeitsfähigkeit in einer „leidensangepassten“ beruflichen
Tätigkeit zu äussern. Gelangen sie zur Auffassung, dass die Arbeitsunfähigkeit auch in einer
anderen Tätigkeit weiterhin besteht, müssen sie dies überzeugend begründen, sonst holen die
Versicherer ein Gutachten bei einem Vertrauensarzt ein. Auch im Hinblick auf diese ärztlichen
Folgeatteste ist es wichtig, mit dem behandelnden Arzt oder der Ärztin ein offenes Gespräch zu
führen.
Anspruch auf Krankentaggelder
Die meisten Arbeitgeber in der Schweiz haben für ihre Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen
eine Kollektiv-Krankentaggeldversicherung abgeschlossen, welche im Fall einer Arbeitsunfähigkeit von einem bestimmten Ausmass (in der Regel mindestens 25 %) ein Taggeld von üblicherweise 80% des entfallenden Lohnes entrichtet.
Das ist nicht selbstverständlich, da es in der Schweiz nach wie vor kein gesetzliches Obliga­
torium gibt. Immerhin bestehen in verschiedenen Branchen, wie z.B. der Baubranche und der
Gastwirtschaftsbranche, Gesamtarbeitsverträge, welche die Arbeitgeber zum Abschluss einer
Kollektiv-Krankentaggeldversicherung verpflichten. Ausserhalb des Bereichs dieser Gesamtarbeitsverträge kommt es aber immer wieder vor, dass vor allem kleinere Betriebe auf den
Abschluss einer Taggeldversicherung verzichten.
142
Arbeit
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen haben ein Recht zu erfahren, bei welcher Versicherungsgesellschaft der Arbeitgeber die Kollektivversicherung abgeschlossen hat und welches die Versicherungsbedingungen im Einzelnen sind. Die Arbeitgeber sind verpflichtet, die entsprechenden Informationen zu liefern und auf Wunsch ein Exemplar der massgebenden allgemeinen
Versicherungsbedingen (AVB) auszuhändigen. Das „Kleingedruckte“ ist oft von wesentlicher
Bedeutung: So wird beispielsweise in gewissen Verträgen festgehalten, dass bei einer Arbeitsunfähigkeit, welche auf eine bei Beginn des Arbeitsvertrages bereits bestehende Krankheit
zurückzuführen ist, nur während einer beschränkten Zeit Taggelder ausgerichtet werden.
Hat sich ein Arbeitgeber im Arbeitsvertrag zum Abschluss einer Kollektiv-Krankentaggeldversicherung verpflichtet (resp. ist er aufgrund eines Gesamtarbeitsvertrags hierzu verpflichtet), tut
er dies aber nicht, so kann ein Arbeitnehmer, der für längere Zeit arbeitsunfähig geworden ist,
vom Arbeitgeber Schadenersatz in der Höhe des entgangenen Taggeldes verlangen.
»» Beispiel: Frau S hat einen Arbeitsvertrag abgeschlossen, in welchem der Abschluss einer
Kollektiv-Krankentaggeldversicherung zugesichert worden ist. Frau S erkrankt an einem
Tumor und wird arbeitsunfähig. Frau S erfährt nun, dass der Taggeldversicherer den Kollektivvertrag gekündigt hat, weil der Arbeitgeber mit den Prämien in Verzug geraten ist.
Der Arbeitgeber hat seine Verpflichtungen aus dem Arbeitsvertrag verletzt und wird dafür
schadenersatzpflichtig. Frau S kann von ihm verlangen, dass er dieselben Leistungen entrichtet, welche der Taggeldversicherer bezahlt hätte.
Wird ein Krankentaggeld bezahlt, so ist der Arbeitgeber von seiner Lohnfortzahlungspflicht
entbunden. Soweit er keinen Lohn mehr bezahlt, muss er auch keine Sozialversicherungsbeiträge (insb. AHV/IV/EO-Beiträge) überweisen. Oft kommt es aber vor, dass der Arbeitgeber –
zumindest für eine gewisse Dauer – weiterhin den Lohn bezahlt und auch Sozialversicherungsbeiträge entrichtet.
Die weiteren für die Krankentaggeldversicherung massgebenden Regeln finden sich im Kapitel
„Krankentaggeld“.
Anspruch auf Taggelder der Unfallversicherung
Alle Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sind obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen
versichert. Berufsunfälle sind in jedem Fall, also auch bei Kleinstpensen und unregelmässiger
Arbeit versichert. Nichtberufsunfälle sind demgegenüber nur versichert, wenn die Arbeitszeit
einer Person bei einem Arbeitgeber mindestens 8 Stunden pro Woche beträgt.
Die Unfallversicherung wird vom Arbeitgeber abgeschlossen. Er kann zusätzlich zur obligatorischen Versicherung Zusatzversicherungen abschliessen, insbesondere um den Lohnanteil zu
versichern, der über den obligatorisch zu versichernden Anteil hinausgeht. Die Arbeitnehmer
haben ein Recht zu erfahren, bei welcher Versicherung sie gegen Unfälle versichert sind.
143
Arbeit
Tritt eine Arbeitsunfähigkeit als Folge eines Unfalls ein, bezahlt die Unfallversicherung ab dem
3. Tag ein Taggeld von 80 % des Lohnes. Dies ist auch bei einer Teilarbeitsunfähigkeit der
Fall, das Taggeld reduziert sich entsprechend.
Das Taggeld wird solange bezahlt, als eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit besteht und von
der medizinischen Behandlung eine wesentliche Verbesserung des Gesundheitszustands erwartet werden kann. Ist letzteres nicht mehr der Fall, muss der Unfallversicherer entscheiden, ob
ein Rentenanspruch besteht.
Wird ein Taggeld der Unfallversicherung bezahlt, ist der Arbeitgeber von seiner Lohnfortzah­
lungspflicht entbunden. Soweit er keinen Lohn mehr bezahlt, muss er auch keine Sozialversicherungsbeiträge (insb. AHV/IV/EO-Beiträge) entrichten. Oft kommt es aber vor, dass der
Arbeitgeber – zumindest für eine gewisse Dauer – weiterhin den Lohn bezahlt und auch Sozialversicherungsbeiträge überweist.
Weitere für das Unfalltaggeld massgebende Regeln finden sich im Kapitel „Unfalltaggeld“.
Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers
Wird eine Person arbeitsunfähig und entsteht weder ein Anspruch auf ein Krankentaggeld noch
auf ein Unfalltaggeld, muss der Arbeitgeber bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit den
Lohn im 1. Dienstjahr während 3 Wochen und danach für eine „angemessene längere Zeit“ entrichten. So steht es im Gesetz. Diese gesetzliche Regelung gelangt allerdings nur zur Anwendung
• wenn das Arbeitsverhältnis mehr als 3 Monate gedauert hat oder für mehr als 3 Monate
eingegangen worden ist
• und wenn im Einzelarbeitsvertrag keine längere Lohnfortzahlung vereinbart worden ist
• und wenn keine längere Lohnfortzahlungspflicht im Rahmen eines anwendbaren Gesamtarbeitsvertrags vorgeschrieben wird
Was bedeutet eine „angemessen längere Dauer“? Die Gerichte haben diese Bestimmung in
unterschiedlichen Skalen (Berner Skala, Zürcher Skala, Basler Skala) präzisiert, welche in den
einzelnen Kantonen der Schweiz zur Anwendung gelangen. Das bedeutet, dass die Lohnfortzahlung je nach Kanton unterschiedlich lang dauern kann. Welche der 3 Skalen am jeweiligen
Arbeitsort massgebend ist, erfährt man beim örtlich zuständigen Arbeits- oder Zivilgericht.
Als Beispiel sei die Berner Skala wiedergegeben, welche am häufigsten zur Anwendung gelangt: Im 1. Dienstjahr muss der Lohn bei Arbeitsunfähigkeit während 3 Wochen weiter bezahlt
werden, im 2. Dienstjahr während eines Monats, im 3. und 4. Dienstjahr während 2 Monaten,
im 5. bis 9. Dienstjahr während 3 Monaten, im 10. bis 14. Dienstjahr während 4 Monaten, usw.
144
Arbeit
»» Beispiel: Herr T arbeitet in der Firma X bereits 5 Jahre und 2 Monate, als er für längere
Zeit arbeitsunfähig wird. Im Arbeitsvertrag ist zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
nichts geregelt. Es besteht auch kein Gesamtarbeitsvertrag für dieses Arbeitsverhältnis.
Auch hat die Firma leider für ihre Arbeitnehmer keine Krankentaggeldversicherung abgeschlossen.
Die Lohnfortzahlung richtet sich bei diesem Arbeitsverhältnis somit nach den gesetzlichen
Bestimmungen des OR. Weil die Firma X im Kanton Bern ansässig ist, ist die Berner Skala
massgebend. Gemäss dieser besteht im 6. Dienstjahr eine Lohnfortzahlungspflicht von
maximal 3 Monaten.
Sämtliche Absenzen im selben Dienstjahr werden jeweils zusammengezählt. Im folgenden
Dienstjahr beginnt der Anspruch auf Lohnfortzahlung von neuem.
»» Beispiel: Herr T ist nach 5 Jahren und 2 Monaten für 10 Wochen arbeitsunfähig geworden. Danach hat er die Arbeit wieder aufgenommen. Kurz vor Beginn des 6. Dienstjahres
erkrankt er erneut. Diesmal bleibt er für längere Zeit arbeitsunfähig.
Herr T hat im 5. Dienstjahr nur noch während einer relativ kurzen Zeit Anspruch auf Lohnfortzahlung. Sobald er das 6. Dienstjahr erreicht hat, entsteht aber erneut ein Anspruch
auf Lohnfortzahlung während 3 Monaten.
Bei einer teilweisen Arbeitsunfähigkeit verlängert sich der Anspruch auf Lohnfortzahlung
nach herrschender Lehre entsprechend. Das Bundesgericht hat über diese Frage allerdings bis
heute noch nicht entschieden.
»» Beispiel: Frau G ist seit 8 Monaten angestellt, als sie erkrankt. Sie wird von ihrem Arzt
für 14 Tage zu 100 % arbeitsunfähig geschrieben, dann für weitere 4 Wochen zu 50 %. Es
besteht im Betrieb keine Krankentaggeldversicherung.
Frau G hat im 1. Dienstjahr einen gesetzlichen Anspruch auf Lohnfortzahlung von maximal
3 Wochen. In diesem Fall erhält sie ihren Lohn während insgesamt 4 Wochen voll ausbezahlt (während 2 Wochen 100 %-Arbeitsunfähigkeit und 2 Wochen 50 %-Arbeitsunfähigkeit). Während der letzten 2 Wochen ihrer teilweisen Arbeitsunfähigkeit erhält sie nur noch
einen 50 %-Lohn ausbezahlt.
Wann soll eine IV-Anmeldung erfolgen?
Dauert eine Arbeitsunfähigkeit längere Zeit und ist damit zu rechnen, dass eine gesundheitliche Beeinträchtigung bestehen bleibt und die frühere Arbeit nicht mehr im bisherigen Ausmass
weiter geleistet werden kann, sollte eine IV-Anmeldung ernsthaft geprüft werden.
Eine solche IV-Anmeldung ist immer dann zu empfehlen, wenn mit dem Arbeitgeber keine dem
Gesundheitszustand angepasste Lösung für die Weiterführung der Tätigkeit im Betrieb gefunden werden kann.
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Arbeit
In solchen Fällen können die Berufsfachleute der IV unter Umständen weiterhelfen: Sie können
die versicherte Person sowie den Arbeitgeber beraten, wie der Arbeitsplatz besser angepasst
werden könnte. Auch können sie veranlassen, dass die Kosten für eine Umschulung auf eine
andere Tätigkeit im Betrieb oder für Hilfsmittel zur besseren Anpassung des Arbeitsplatzes
übernommen werden.
»» Beispiel: Herr S arbeitet in der Buchhaltung einer kleineren Firma und erleidet einen
Bandscheibenvorfall. Zwar arbeitet er weiterhin in seinem 100 %-Pensum, doch die Schmerzen nehmen immer mehr zu und es kommt öfter zu schmerzbedingten Ausfällen. Herr S
meldet sich deshalb bei der IV an. Da der behandelnde Arzt vermehrtes Arbeiten im Stehen
empfiehlt, finanziert die IV Herrn S im Rahmen einer Frühinterventionsmassnahme ein
Stehpult. Dadurch kann Herr S sowohl seinen Arbeitsplatz als auch sein Arbeitspensum
beibehalten.
»» Beispiel: Frau T arbeitet in einer Fensterfabrik. Aufgrund einer Arthrose im Schultergelenk kann sie ihre handwerkliche Tätigkeit nicht mehr ausüben. Da der Arbeitgeber Frau T
weiterhin beschäftigen möchte, übernimmt die IV im Rahmen einer Frühinterventionsmassnahme die Finanzierung eines dreimonatigen Informatikkurses. Nach Absolvierung dieses
Kurses kann Frau T in der Lagerverwaltung und für weitere administrative Arbeiten eingesetzt werden. Sie kann somit unter Beibehaltung ihres Lohnes und ihres Arbeitspensums
weiterhin in der Fensterfabrik tätig sein.
Eine IV-Anmeldung sollte so oder so in jedem Fall erfolgen, wenn eine Arbeitsunfähigkeit
bereits 6 Monate gedauert hat. Dies ist nötig, weil ein allfälliger IV-Rentenanspruch immer erst
6 Monate nach der Anmeldung entstehen kann. Wer sich zu spät anmeldet, verliert einen Teil
der ihm zustehenden IV-Rente, welche üblicherweise nach einer Wartefrist von einem Jahr ab
Beginn der Arbeitsunfähigkeit entsteht.
»» Beispiel: Frau A ist vor 6 Monaten schwer erkrankt und seither zu 100 % arbeitsunfähig
geschrieben. Sie bezieht von der Krankentaggeldversicherung ihres Arbeitgebers ein Taggeld von 80 % des Lohnes. Auch wenn berufliche Massnahmen vorderhand nicht in Frage
kommen, sollte sich Frau A ohne Verzug bei der IV anmelden. Vermutlich wird sie auch von
ihrem Taggeldversicherer spätestens zu diesem Zeitpunkt hierzu aufgefordert. Widersetzt
sich Frau A einer solchen Aufforderung des Taggeldversicherers, kann dieser seine Leistungen einstellen.
Anpassung des Arbeitsvertrags?
Dauert eine Arbeitsunfähigkeit längere Zeit und ist nicht mehr damit zu rechnen, dass die betroffene Person in der bisherigen Tätigkeit wieder voll arbeitsfähig wird, schlagen Arbeitgeber
oft eine Anpassung des Arbeitsvertrags vor:
146
Arbeit
Mit dieser Anpassung sollen die Funktionen neu umschrieben und das Pensum sowie der Lohn
der eingeschränkten Arbeitsfähigkeit angepasst werden. Dass ein Arbeitgeber seinen Arbeitnehmer resp. seine Arbeitnehmerin trotz eingeschränkter Arbeitsfähigkeit weiterhin beschäftigen will, ist grundsätzlich erfreulich. Dennoch gilt es gewisse Fragen zu klären, bevor ein neuer
Arbeitsvertrag unterzeichnet wird.
Unproblematisch ist die Unterzeichnung eines neuen Arbeitsvertrags, wenn die maximale Dauer des Anspruchs auf Krankentaggelder (in der Regel 720 Tage) ausgeschöpft ist. In diesem Fall
muss einzig sichergestellt werden, dass das Gesuch um Gewährung einer Invalidenrente aus
beruflicher Vorsorge bei der Pensionskasse deponiert ist und dass der Anspruch aufgrund des
bisherigen Vertrags bzw. des bisherigen versicherten Verdienstes beurteilt wird.
Problematischer ist es hingegen, wenn der Arbeitgeber eine Anpassung des Arbeitsvertrags
schon nach kürzerer Zeit vorschlägt. In diesem Fall sollte der neu formulierte Vertrag nur unterzeichnet werden, wenn der Arbeitgeber schriftlich garantiert, dass die Anpassung des Vertrags
aus gesundheitlichen Gründen erfolgt, dass der (noch nicht ausgeschöpfte) Taggeldanspruch
weiter besteht und dass im Falle des Eintritts einer Invalidität die Ansprüche gegenüber der
Pensionskasse sich nach dem bisherigen Vertrag bemessen. In solchen Situationen empfiehlt es
sich, rechtlichen Rat einzuholen, bevor ein neuer Vertrag unterzeichnet wird.
»» Beispiel: Frau T arbeitet seit 12 Jahren in einer Vertriebsfirma. Sie ist vor einem Jahr
wegen eines Nierenleidens zu 50 % arbeitsunfähig geworden und bezieht seither ein Krankentaggeld. Mit einer Verbesserung des Gesundheitszustandes ist in nächster Zeit leider
nicht zu rechnen. Ein Rentengesuch ist bei der IV bereits eingereicht worden. Der Arbeitgeber schlägt Frau T nun vor, dass sie in eine andere Abteilung der Firma wechselt und dass
neu ein Arbeitspensum von 50 % festgelegt wird. Ein entsprechender neuer Arbeitsvertrag
wird ihr unterbreitet.
Frau T sollte diesen neuen Vertrag nur unterzeichnen, wenn einerseits klargestellt wird,
dass die Vertragsänderung aus gesundheitlichen Gründen erfolgt, und andererseits der
Arbeitgeber schriftlich garantiert, dass das bisherige 50%-Taggeld bis zur Erschöpfung des
Anspruchs weiter ausgerichtet wird und sich ein allfälliger Anspruch auf eine Invalidenrente aus beruflicher Vorsorge aufgrund der bisherigen Versicherungsbedingungen bestimmt.
Niemand ist verpflichtet, einer Änderung des Arbeitsvertrags zuzustimmen. Wer sich weigert
dies zu tun, muss allerdings damit rechnen, dass der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis unter
Einhaltung der massgebenden Kündigungsfristen auflöst. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass gewisse Gesamtarbeitsverträge eine Kündigung nicht erlauben, solange eine
Person ein Krankentaggeld bezieht.
147
Arbeit
Rechtliche Grundlagen
• Begriff der Arbeitsunfähigkeit: Art. 6 ATSG
• Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers bei Arbeitsunfähigkeit: Art. 324a, 324b OR
• Unfallversicherungsschutz: Art. 1a – 9 UVG, Art. 12 – 14 UVV
• Anspruch auf ein Taggeld der Unfallversicherung: Art. 15 – 17 UVG, Art. 22, 23 und 25 UVV
• Beginn des Rentenanspruchs in der IV erst 6 Monate nach Anmeldung: Art. 29 Abs. 1 IVG
148
Arbeit
149
Arbeit
Beendigung des Arbeitsverhältnisses
Die Schweiz hat ein liberales Arbeitsvertragsrecht, der Kündigungsschutz ist relativ schwach:
Sowohl der Arbeitgeber wie auch der Arbeitnehmer können darum ein Arbeitsverhältnis unter
Einhaltung gewisser Fristen beenden, ohne hierfür besondere Gründe nennen zu müssen. Ist
eine Auflösung des Arbeitsvertrags vor allem auf gesundheitliche Ursachen zurückzuführen,
stellen sich allerdings regelmässig eine ganze Reihe von versicherungsrechtlichen Fragen.
Dieses Kapitel erläutert, welche Kündigungsfristen gelten und inwiefern sich diese im Falle
einer krankheits- und unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit verlängern. Weiter wird geklärt, ob
und allenfalls unter welchen Bedingungen es sich empfiehlt, als gesundheitlich beeinträchtigter Arbeitnehmer selber ein Arbeitsverhältnis zu kündigen. Schliesslich wird dargelegt, wann
es sinnvoll ist, sich bei der IV und der Arbeitslosenversicherung anzumelden, wie der Versicherungsschutz gegen die Folgen eines krankheits- oder unfallbedingten Erwerbsausfalls aufrechterhalten werden kann, und was mit dem angesparten Altersguthaben aus beruflicher Vorsorge
bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses geschieht. Details zu versicherungsrechtlichen Fragen
sind in den besonderen Kapitel über den Taggeld- und Rentenanspruch behandelt.
»Kündigungsfristen
»Kündigungs-Sperrfristen
150
»
Wann ist eine fristlose Entlassung zulässig?
»
Selber kündigen?
»
Hilfe der IV bei der Arbeitsplatzerhaltung
»
Krankentaggeld: Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes
»
Aufrechterhaltung des Unfallversicherungsschutzes
»
Anmeldung bei der Arbeitslosenversicherung?
»
Pensionskasse: Was geschieht bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses?
»
Rechtliche Grundlagen
Arbeit
Kündigungsfristen
Ein Arbeitsverhältnis kann sowohl vom Arbeitgeber wie auch vom Arbeitnehmer unter Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden. Es dürfen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer
nicht unterschiedliche Fristen gelten. Ist dies dennoch vereinbart worden, so gilt für beide
Parteien die längere Frist.
Falls nichts anderes schriftlich vereinbart worden ist, kann ein Arbeitsverhältnis unter Einhaltung folgender gesetzlicher Fristen gekündigt werden:
• in der Probezeit jederzeit unter Einhaltung einer Frist von 7 Tagen
• danach im 1. Dienstjahr mit einer Frist von einem Monat auf das Ende eines Monats
• im 2. bis 9. Dienstjahr mit einer Frist von 2 Monaten auf das Ende eines Monats
• ab 10. Dienstjahr mit einer Frist von 3 Monaten auf das Ende eines Monats
Längere Fristen gelten, falls dies von den Parteien im Vertrag schriftlich vereinbart worden
ist oder falls ein anwendbarer Gesamtarbeitsvertrag oder Normalarbeitsvertrag längere
Fristen vorsieht.
Eine Kündigung muss spätestens am letzten Tag des Monats bei der Gegenpartei eingetroffen
sein, damit die Frist am ersten Tag des darauf folgenden Monats zu laufen beginnt. Massgebend ist also nicht der Tag des Kündigungsversands, sondern des Empfangs der Kündigung.
»» Beispiel: Herr A arbeitet seit 3 Jahren im Betrieb X. Der Arbeitgeber schon mehrmals angetönt, dass es in Anbetracht der unbefriedigenden Leistungen von Herrn A so nicht mehr
weiter gehen könne. Am 28. Mai schickt er ihm eingeschrieben per Post die Kündigung auf
Ende Juli. Herr A ist nicht zu Hause, als der Postbeamte vorbeikommt und eine Abholungseinladung in den Briefkasten legt. Herr A holt den Brief erst am 2. Juni bei der Post ab.
Die Kündigung ist damit erst am 2. Juni zugestellt worden. Da eine 2-monatige Kündigungsfrist gilt, ist sie somit erst auf Ende August gültig. Herr A muss dies seinem Arbeitgeber möglichst rasch mitteilen.
Kündigungs-Sperrfristen
Im schweizerischen Arbeitsvertragsrecht besteht ein vergleichsweise schwacher Kündigungsschutz. Eine Kündigung ist auch zulässig, wenn die Arbeitsleistung ohne Verschulden der
betroffenen Person nachgelassen hat. Immerhin sieht das Gesetz gewisse Schutzfristen vor,
welche zur Anwendung kommen, wenn eine Person unverschuldet durch Krankheit oder
Unfall ganz oder teilweise arbeitsunfähig geworden ist. In diesen Fällen ist eine Kündigung
nach Ablauf der Probezeit während folgender Sperrfristen unzulässig:
• im 1. Dienstjahr während 30 Tagen
• im 2. bis 5. Dienstjahr während 90 Tagen
• ab 6. Dienstjahr während 180 Tagen.
151
Arbeit
Liegen verschiedene Unfälle oder Krankheiten vor, beginnt die Kündigungs-Sperrfrist für jede
Arbeitsunfähigkeits-Phase neu zu laufen. Dies gilt jedoch nicht, wenn dieselbe Krankheit im Sinne eines Rückfalls zu einer erneuten Arbeitsunfähigkeit führt.
Alle Kündigungen, die während einer Sperrfrist durch den Arbeitgeber ausgesprochen worden
sind, sind ungültig: Sie haben keine Wirkung und müssen nach Ablauf der Sperrfrist wiederholt
werden.
»» Beispiel: Frau T arbeitet schon seit 7 Jahren im Betrieb Y. Wegen eines Rückenleidens ist
sie im März und April 2 Monate arbeitsunfähig gewesen und hat danach die Arbeit wieder
aufgenommen. Am 6. Juli erkrankt sie an einem Tumor und bleibt bis auf weiteres
100 % arbeitsunfähig. Im Dezember kündigt der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis auf
Ende Februar.
Im Falle von Frau T gilt für die neu aufgetretene Arbeitsunfähigkeit als Folge der Krebserkrankung eine 6-monatige Sperrfrist bis zum 6. Januar des Folgejahres. Die erfolgte
Kündigung ist somit ungültig und muss vom Arbeitgeber nach Ablauf der Sperrfrist erneut
ausgesprochen werden.
Ist eine Kündigung zuerst ausgesprochen worden und wird eine Person erst danach innerhalb
der Kündigungsfrist arbeitsunfähig, bleibt die Kündigung gültig. Allerdings verlängert sich in
diesen Fällen die Kündigungsfrist um die Dauer der Arbeitsunfähigkeit (maximal um die Dauer der Sperrfrist). Dies gilt jedoch nur, wenn das Arbeitsverhältnis vom Arbeitgeber gekündigt
worden ist.
»» Beispiel: Herr M arbeitet seit knapp 4 Jahren in der Firma Z, als er am 23. Januar die
Kündigung des Arbeitsverhältnisses per Ende März erhält. Herr M wird in der Folge von
seinem Psychiater ab 1. Februar zu 50 % arbeitsunfähig geschrieben. Die Kündigungsfrist
verlängert sich dadurch um die Dauer der Arbeitsunfähigkeit, längstens aber um 3 Monate
(Sperrfrist im 4. und 5. Dienstjahr). Bleibt Herr M weiterhin arbeitsunfähig, wird das Arbeitsverhältnis somit auf Ende Juni beendet.
»» Beispiel: Frau K hat sich zu einer beruflichen Änderung entschlossen. Sie kündigt ihr
Arbeitsverhältnis in der Firma Q unter Einhaltung der Kündigungsfrist von 2 Monaten auf
Ende August. Im Juli erleidet Frau K einen Herzinfarkt und wird für längere Zeit arbeitsunfähig. Weil sie selber gekündigt hat, kommen keine Sperrfristen zur Anwendung und die
Kündigung per Ende August bleibt gültig.
Gewisse allgemein verbindliche Gesamtarbeitsverträge (z.B. GAV für das Bauhauptgewerbe)
sehen für Personen, die als Folge von Krankheit arbeitsunfähig geworden sind, einen weiter
gehenden Kündigungsschutz vor, indem z.B. eine Kündigung generell verboten wird, solange
eine Person ein Kranken- oder Unfall-Taggeld erhält. Es sollte deshalb in jedem Kündigungsfall
geprüft werden, ob nicht ein solcher Gesamtarbeitsvertrag zur Anwendung kommt.
Die Kündigungs-Sperrfristen bei Krankheit und Unfall garantieren nicht, dass während dieser
Zeit auch Anspruch auf Lohn oder ein Taggeld besteht (vgl. hierzu die Ausführungen im Kapitel
„Arbeitsunfähigkeit während eines Arbeitsverhältnisses“).
152
Arbeit
Wann ist eine fristlose Entlassung zulässig?
Eine fristlose Entlassung ist dann zulässig, wenn das Vertrauensverhältnis durchj einen
Arbeitnehmer derart verletzt worden ist, dass dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zumutbar ist. Dies ist z.B. der Fall, wenn ein Arbeitnehmer wiederholt
unentschuldigt vom Arbeitsplatz fernbleibt oder wiederholt Anweisungen des Arbeitgebers
missachtet und dieses Verhalten auch nach entsprechender Verwarnung fortsetzt.
Nachlassende Leistungen eines Arbeitnehmers oder einer Arbeitnehmerin infolge einer
Krankheit rechtfertigen demgegenüber niemals eine fristlose Entlassung. Das gilt auch dann,
wenn eine psychische Erkrankung die Ursache des Fehlverhaltens eines Arbeitnehmers ist. Wird
vom Arbeitgeber in solchen Fällen eine fristlose Entlassung ausgesprochen, muss unverzüglich
gegen diese Entlassung schriftlich und mit eingeschriebener Post protestiert werden. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses kann dadurch nicht verhindert werden, der Arbeitgeber muss
jedoch bei einer ungerechtfertigten fristlosen Entlassung Schadenersatz entrichten.
»» Beispiel: Herr S ist an einer schweren Depression erkrankt, erkennt den Krankheitscharakter vorerst aber nicht. Er führt die Aufträge des Arbeitgebers nicht mehr richtig aus
und erscheint verspätet zur Arbeit. Der Arbeitgeber entlässt ihn nach einer Vorwarnung
fristlos.
Herr S begibt sich nun sofort zu einem Arzt, der eine schwere depressive Episode diagnostiziert und rückwirkend eine Arbeitsunfähigkeit attestiert. Herr S muss nun gegen die
fristlose Entlassung unter Beilegung des ärztlichen Berichts protestieren und Schadenersatz
verlangen. Hierfür nimmt er mit Vorteil rechtliche Beratung in Anspruch.
Auch der Arbeitnehmer kann ein Arbeitsverhältnis fristlos auflösen, wenn ihm die Fortsetzung
„nach Treu und Glauben“ nicht mehr zugemutet werden kann. Das ist besonders dann der Fall,
wenn der Arbeitgeber sich trotz Mahnung weigert, den fälligen Lohn zu bezahlen. Aber auch
Tätlichkeiten, sexuelle Belästigungen oder ein schweres Mobbing, die klar über die üblichen
Konflikte am Arbeitsplatz hinausgehen, berechtigen zur fristlosen Auflösung des Arbeitsverhältnisses.
Selber kündigen?
Arbeitnehmer neigen immer wieder dazu, ein Arbeitsverhältnis selber zu kündigen, wenn gesundheitliche Beeinträchtigungen die Arbeit erschweren und keine innerbetriebliche Umstellung
möglich ist. Es kommt aber auch vor, dass Arbeitgeber ihren Arbeitnehmern nahe legen, das
Arbeitsverhältnis selber zu kündigen, wenn die Leistungen aus gesundheitlichen Gründen nachlassen. Oft wird dafür ein besonders günstiges Arbeitszeugnis in Aussicht gestellt.
153
Arbeit
Auch wenn jede Situation individuell betrachtet werden muss und allgemeine Aussagen nur
mit Zurückhaltung gemacht werden dürfen, muss von einer solchen Kündigung im Regelfall
dringend abgeraten werden, zumindest wenn noch keine neue Stelle schriftlich zugesichert ist;
denn es können verschiedenste versicherungsrechtlich Nachteile resultieren, zum Beispiel:
• Bei der Arbeitslosenversicherung wird im Falle einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses
durch den Arbeitnehmer in der Regel eine selbstverschuldete Arbeitslosigkeit angenommen, was als Sanktion zur Einstellung in der Anspruchsberechtigung während mehrerer
Wochen führt.
• Zur Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes gegen die Folgen krankheitsbedingter
Arbeitsunfähigkeit muss unter Umständen ein Übertritt von der kollektiven in die EinzelVersicherung vorgenommen werden, was mit einer zusätzlichen Prämienbelastung verbunden ist.
• Bei der beruflichen Vorsorge kann eine Versicherungslücke bei der Deckung der Risiken
Tod und Invalidität entstehen.
• Im Falle einer späteren Invalidität bleibt unklar, ob die Beendigung des Arbeitsverhältnisses aus zwingenden gesundheitlichen Gründen oder freiwillig erfolgt ist, was sich bei der
Festlegung des Invaliditätsgrades nachteilig auswirken kann.
Hilfe der IV bei der Arbeitsplatzerhaltung
Kündigt der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis einer gesundheitlich beeinträchtigten Person,
sollte spätestens in diesem Zeitpunkt eine IV-Anmeldung ernsthaft geprüft werden, sofern dies
bisher noch nicht geschehen ist. Besser ist es, die Anmeldung bereits bei drohender Kündigung
vorzunehmen.
Sobald eine IV-Anmeldung eingegangen ist, wird die IV-Stelle die betroffene Person zu einem
Erstgespräch einladen und dabei abklären, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen bestehen und wie sich diese auf die Arbeitsfähigkeit auswirken. Die Berufsfachleute der IV-Stelle
können dann im Rahmen der sogenannten Frühintervention mit dem Arbeitgeber Kontakt
aufnehmen und abklären, ob mit einer Anpassung des Arbeitsplatzes oder mit einer von der IV
unterstützten Umschulung auf eine andere Tätigkeit im Betrieb die drohende Beendigung des
Arbeitsverhältnisses verhindert werden kann.
»» Beispiel: Herr T arbeitet seit 18 Jahren als Bauarbeiter in der Firma W. Wegen Rückenbeschwerden wird er von den Ärzten seit mehreren Monaten für seinen bisherigen Beruf arbeitsunfähig geschrieben. Eine leichtere, weniger rückenbelastende Tätigkeit sollte Herrn T
jedoch aus ärztlicher Sicht in Zukunft ohne weiteres möglich ein. Weil Herr T die Kündigung
seines Arbeitsverhältnisses befürchtet, meldet er sich bei der IV an.
154
Arbeit
Die IV-Berufsfachleute erfahren, dass der Arbeitgeber an einer Weiterbeschäftigung seines
geschätzten Mitarbeiters grundsätzlich interessiert ist. Sie klären darauf ab, mit welchen
beruflichen Massnahmen die nötigen Qualifikationen für eine andere Tätigkeit in der Firma
erreicht werden könnten. Die Kosten einer solchen Umschulung können in der Folge von der
IV übernommen werden.
Lange nicht immer zeigen Arbeitgeber aber ein Interesse an der Weiterbeschäftigung eines
gesundheitlich beeinträchtigten Arbeitnehmers. In solchen Fällen wird die IV-Stelle Hilfeleistungen bei der Suche eines neuen Arbeitsplatzes gewähren (vgl. hierzu die Ausführungen im
Kapitel „Leistungen der IV bei der Arbeitssuche“), die Möglichkeit einer Umschulung ausserhalb
des bisherigen Betriebs abklären (vgl. hierzu das Kapitel „Umschulung“) und bei erheblichen
gesundheitlichen Problemen auch die Rentenfrage prüfen.
Krankentaggeld: Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes
Der Versicherungsschutz gegen die Folgen eines krankheitsbedingten Erwerbsausfalls
endet mit dem Ende des Arbeitsverhältnisses. Wer bisher über die Kollektivversicherung des Arbeitgebers versichert gewesen ist, kann diesen Versicherungsschutz wie folgt aufrechterhalten:
• Entweder wird eine neue Stelle gefunden und der neue Arbeitgeber hat wiederum eine
Kollektiv-Krankentaggeldversicherung für seine Mitarbeiter abgeschlossen. In diesem Fall
lohnt es sich abzuklären, ob diese neue Versicherung auch eine allfällige Arbeitsunfähigkeit
als Folge einer bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigung deckt.
• Oder es besteht kein genügender Versicherungsschutz bei einem neuen Arbeitgeber: Dann
kann das Gesuch um Übertritt aus der bisherigen Kollektivversicherung in die Einzelver­
sicherung gestellt werden. Ein solches Übertrittsrecht muss von Gesetzes wegen allen
Personen gewährt werden, die sich nach Beendigung eines Arbeitsverhältnis bei der Arbeitslosenversicherung zum Leistungsbezug anmelden. Aber auch in den übrigen Fällen sehen
praktisch alle Reglemente der Kollektiv-Versicherungen ein Übertrittsrecht vor.
»» Beispiel: Frau R ist die bisherige Stelle auf Ende Dezember gekündigt worden. Sie ist
beim bisherigen Arbeitgeber für ein Krankentaggeld von 80 % des Lohnes versichert gewesen. Sie hat vorübergehend ein solches Taggeld erhalten, im letzten halben Jahr vor Auflösung des Arbeitsverhältnisses jedoch nicht mehr. Frau R hat keine neue Stelle gefunden
und sich bei der Arbeitslosenversicherung angemeldet.
Frau R möchte auch während der Dauer der Arbeitslosigkeit taggeldversichert bleiben. Sie
kann innert dreier Monate ab Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein Gesuch um Übertritt
in die Einzelversicherung stellen und den Versicherer bitten, ihr eine Offerte vorzulegen.
Sobald sie die Höhe der Prämien kennt, kann sie sich definitiv entscheiden, ob sie die Taggeldversicherung als Einzelversicherte weiterführen will oder ob ihr der Preis hierfür zu
hoch ist.
155
Arbeit
Wie verhält es sich aber, wenn eine Arbeitsunfähigkeit während des Arbeitsverhältnisses
eingetreten ist und bei Beendigung des Arbeitvertrags immer noch andauert? Die meisten
Krankentaggeldversicherungen bezahlen in einem solchen Fall das Taggeld auch nach Beendigung des Arbeitsvertrags weiter, ohne dass ein Übertritt in die Einzelversicherung nötig ist.
Sie bezahlen es, solange die Arbeitsunfähigkeit aus derselben Krankheitsursache andauert,
längstens aber bis zur Ausschöpfung des maximalen Anspruchs (von meistens 720 Tagen). Es
gibt allerdings einige wenige Taggeldversicherungen, welche in ihren Versicherungsbedingungen den Taggeldanspruch auf die Dauer des Arbeitsvertrags begrenzen. In diesem Fall muss
unbedingt der Übertritt in die Einzelversicherung erklärt werden, und zwar wenn möglich
noch vor Ende des Arbeitsverhältnisses.
»» Beispiel: Herr K hat von seinem Arbeitgeber die Kündigung erhalten und ist kurz darauf
arbeitsunfähig geworden. Dadurch hat sich die Kündigungsfrist noch etwas verlängert. In
einem Monat wird das Arbeitsverhältnis aber definitiv zu Ende gehen. Herr K bezieht von
der betrieblichen Krankentaggeldversicherung ein Taggeld. Er erkundigt sich schriftlich
beim Arbeitgeber und beim Taggeldversicherer, ob ihm das Taggeld aus der Kollektivversicherung auch nach Ende des Arbeitsvertrags weiter ausbezahlt werde oder ob er in die
Einzelversicherung übertreten müsse. Er erhält darauf die schriftliche Zusicherung, dass
ein Übertritt nicht nötig sei, das Taggeld werde für diesen Krankheitsfall weiter aus der
Kollektivversicherung bezahlt.
Aufrechterhaltung des Unfallversicherungsschutzes
Der Versicherungsschutz gegen die Folgen von Unfällen endet spätestens 30 Tage nach der
Beendigung eines Arbeitsverhältnisses. Es besteht die Möglichkeit diesen Unfallversicherungsschutz beim bisherigen Versicherer um bis zu 180 Tage zu verlängern. Dies geschieht, indem
vor Ablauf von 30 Tagen die erforderliche Prämie überwiesen wird. Die entsprechenden Einzahlungsscheine muss der bisherige Arbeitgeber abgeben.
Eine solche Verlängerung der Unfallversicherung (sog. „Abredeversicherung“) ist immer dann
sinnvoll, wenn eine Person nach Beendigung eines Arbeitsverhältnisses keine neue Stelle gefunden hat und sich auch nicht zum Bezug von Taggeldern der Arbeitslosenversicherung anmeldet. Wer dagegen eine neue Stelle findet, ist vom ersten Tag an beim Unfallversicherer seines
neuen Arbeitgebers wieder versichert. Ebenfalls versichert sind die Bezüger eines Arbeitslosentaggeldes, und zwar bei der SUVA.
Ist eine Person während der Dauer eines Arbeitsverhältnisses verunfallt, bleibt der bisherige Unfallversicherer ohne zeitliche Begrenzung für alle Folgen dieses Unfalls weiterhin zuständig. Das Ende des Arbeitsverhältnisses hat somit keinen Einfluss auf die Leistungspflicht für
Heilbehandlungen, Taggelder, Renten, Hilflosenentschädigungen und Integritätsentschädigungen. Die einzige Änderung besteht darin, dass die Taggelder nun nicht mehr vom Unfallversicherer an den Arbeitgeber (und von diesem an die verunfallte Person) bezahlt werden, sondern
direkt vom Unfallversicherer an die verunfallte Person gehen.
156
Arbeit
Anmeldung bei der Arbeitslosenversicherung?
Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses können sich auch gesundheitlich beeinträchtigte Personen bei der Arbeitslosenversicherung zur Arbeitsvermittlung und zum Bezug von Taggeldern
anmelden. Das ist allerdings nur möglich, wenn von den Ärzten eine Vermittlungsfähigkeit
von mindestens 20 % bestätigt wird. Diese Vermittlungsfähigkeit muss nicht in der bisherigen
Tätigkeit bestehen, sondern kann sich auf eine der Behinderung angepasste Tätigkeit beziehen.
Besteht nur eine verminderte Vermittlungsfähigkeit, so wird das Taggeld der Arbeitslosenversicherung üblicherweise entsprechend gekürzt. Das ist einzig dann nicht der Fall, wenn sich
eine Person nicht nur bei der Arbeitslosenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet hat,
sondern ebenfalls bei der IV. In diesen Fällen wird bis zum Rentenentscheid der IV das volle
Taggeld ausgerichtet, auch wenn die Ärzte nur eine teilweise Vermittlungsfähigkeit attestieren.
Man spricht in diesem Zusammenhang von der Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversiche­
rung. Sobald die IV einen Rentenentscheid gefällt hat, wird das Taggeld der Arbeitslosenversicherung für die Zukunft entsprechend dem Grad der von der IV festgehaltenen Resterwerbsfähigkeit gekürzt.
»» Beispiel: Frau S hat bisher als Pflegerin in einem Altersheim gearbeitet. Wegen rheumatischer Beschwerden ist sie für die bisherige Arbeit zu 100 % arbeitsunfähig geschrieben
worden und hat ein entsprechendes 100 %-Krankentaggeld bezogen. Nachdem der Taggeldanspruch ausgeschöpft ist, wird das Arbeitsverhältnis vom Spital gekündigt.
Frau S hat sich bereits vor längerer Zeit bei der IV angemeldet, doch hat sie bis jetzt noch
keinen Rentenentscheid erhalten. Sie meldet sich nun auch noch bei der Arbeitslosenversicherung an. Der Arzt attestiert weiterhin eine 100 %-Arbeitsunfähigkeit für die bisherige
Tätigkeit, ist aber der Meinung, dass in einer angepassten Tätigkeit eine Arbeitsfähigkeit
von 50 % besteht. Solange Frau S auch bereit ist, eine entsprechende 50 %-Stelle zu suchen
und dies durch Arbeitsbemühungen glaubhaft macht, und solange die IV noch keinen Rentenentscheid gefällt hat, erhält Frau S von der Arbeitslosenversicherung das volle Taggeld.
Taggelder der Arbeitslosenversicherung werden nur ausgerichtet, wenn sich eine Person in
genügendem Ausmass um eine neue Stelle bemüht. Die Stellenbewerbungen werden von RAVStellen regelmässig kontrolliert. Diese verlangen auch, dass mit den Bemühungen nicht erst
ab Beendigung des alten Arbeitsverhältnisses begonnen wird, sondern bereits nach erfolgter
Kündigung. Wer nur ungenügende Bemühungen nachweist, riskiert in der Anspruchsberechtigung für eine Anzahl Tage eingestellt zu werden.
»» Beispiel: Frau S beginnt mit ihren Bemühungen zur Arbeitssuche erst, nachdem sie sich
bei der Arbeitslosenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet hat. Damit hat sie ihre
Pflichten verletzt. Sie wird in der Anspruchsberechtigung für insgesamt 15 Tage eingestellt
und erhält während dieser Zeit keine Taggelder.
157
Arbeit
Pensionskasse: Was geschieht bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses?
Ist eine Person bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig und führt diese
Arbeitsunfähigkeit später zu einer Invalidität, wird die Pensionskasse des bisherigen Arbeitgebers auch dann Invalidenleistungen gewähren müssen, wenn das Arbeitsverhältnis in der Zwischenzeit beendet worden ist. Die meisten Pensionskassen pflegen in solchen Situationen den
Entscheid der IV abzuwarten, bevor sie selber über Invaliditätsleistungen entscheiden. Während
der Wartezeit können sie entweder das Dossier bei sich pendent lassen, oder sie überweisen
das Altersguthaben vorderhand auf ein Freizügigkeitskonto. Gewähren sie später eine Invalidenrente, werden sie das ganze Altersguthaben (bei Gewährung einer ganzen Invalidenrente)
oder einen Teil des Altersguthabens (bei Gewährung einer Teil-Invalidenrente) wieder zurückfordern. In der Praxis bietet dies keine Schwierigkeiten.
»» Beispiel: Herr T ist seit 11 Monaten arbeitsunfähig und bezieht Krankentaggelder. Der
Arbeitgeber kündigt ihm nun das Arbeitsverhältnis unter Einhaltung der gesetzlichen
Kündigungsfrist. Herr T hat sich bereits seit längerer Zeit zum Bezug von IV-Leistungen angemeldet, doch hat die IV bis jetzt noch keinen Entscheid gefällt, weil sie auf die Ergebnisse
eines Gutachtens wartet.
Herr T ist weiterhin nicht arbeitsfähig. Die Pensionskasse des bisherigen Arbeitgebers fragt
ihn deshalb an, auf welches Konto sie das Altersguthaben überweisen soll. Herr T gibt ihr
die Adresse seiner Kantonalbank an, worauf die Pensionskasse das Guthaben auf ein von
dieser Bank geführtes Freizügigkeitskonto überweist. 15 Monate später anerkennt die frühere Pensionskasse, Herrn T eine 50 %-Invalidenrente zu schulden. Sie wird nun die Hälfte
des überwiesenen Altersguthabens zurückfordern. Auf Wunsch von Herrn T wird die Bank,
die das Freizügigkeitskonto führt, die Rücküberweisung in die Wege leiten.
Besteht bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses keine Arbeitsunfähigkeit, so
überweist die Pensionskasse des bisherigen Arbeitgebers das Altersguthaben entweder an die
Pensionskasse des neuen Arbeitgebers, falls ein solcher bekannt ist; oder sie überweist es
auf ein Freizügigkeitskonto oder eine Freizügigkeitspolice, wenn noch kein neuer Arbeitgeber bekannt ist. In diesem Fall bleibt der Vorsorgeschutz gegen die Folgen von Tod und
Invalidität noch während eines Monats aufrechterhalten und erlischt danach. Eine Ausnahme
besteht für Personen, die sich bei der Arbeitslosenversicherung für den Bezug von Taggeldern
anmelden: Übersteigt die Arbeitslosenentschädigung die gesetzliche Mindestschwelle von
jährlich 21›060 Franken, so besteht weiterhin ein gewisser – allerdings eher schwacher – Schutz
gegen die Folgen von Tod und Invalidität.
Wer keine neue Stelle gefunden hat und sich auch nicht bei der Arbeitslosenversicherung zum
Bezug von Leistungen anmeldet, kann sich freiwillig im Rahmen der beruflichen Vorsorge bei
der sogenannten „Auffangeinrichtung“ weiter versichern. Das ist allerdings teuer, denn es
müssen in diesem Fall die gesamten gesetzlichen Beiträge selber berappt werden.
158
Arbeit
Rechtliche Grundlagen
• Kündigung im allgemeinen: Art. 335 OR
• Gesetzliche Kündigungsfristen: Art. 335a – 335c OR
• Kündigungs-Sperrfristen bei Arbeitsunfähigkeit: Art. 336c OR
• Fristlose Entlassung: Art. 337, 337b – 337c OR
• Frühinterventionsmassnahmen der IV: Art. 7d IVG, Art. 1sexies – 1octies IVV
• Anspruch auf Übertritt von der Kollektiv- in die Einzel-Taggeldversicherung: Art 100 Abs. 2
VVG, Art. 71 Abs. 1 und 2 sowie Art. 73 KVG
• Verlängerung des Unfallversicherungsschutzes: Art. 3 Abs. 3 UVG, Art. 8 UVV
• Vermittlungsfähigkeit in der Arbeitslosenversicherung: Art. 15 Ab. 2 AVIG, Art. 15 Abs. 3
AVIV
• Arbeitslosenversicherung: Einstellung in der Anspruchsberechtigung wegen ungenügender
Bemühungen: Art. 30 AVIG, Art. 45 AVIV
• Überweisung des Altersguthabens auf ein Freizügigkeitskonto oder eine Freizügigkeitspolice: Art. 4 FZG, Art. 10 FZV
• Weiterführung der beruflichen Vorsorge bei der Auffangeinrichtung: Art. 47 Abs. 1 BVG
159
Arbeit
Vorzeitige Pensionierung
Erschwert eine gesundheitliche Beeinträchtigung die bisherige berufliche Tätigkeit erheblich
und steht die betroffene Person bereits kurz vor dem AHV-Rentenalter, so wird oft von den
Arbeitgebern als Alternative zu einer IV-Anmeldung die Möglichkeit einer vorzeitigen Pensionierung, d.h. eines vorzeitigen Bezugs von Altersleistungen, ins Spiel gebracht.
In diesem Kapitel werden die Voraussetzungen für den vorzeitigen Bezug der Altersrente
sowohl in der AHV wie auch in der beruflichen Vorsorge dargelegt, und es werden die damit
verbundenen Vor- und Nachteile beschrieben. Schliesslich werden einige Kriterien aufgezeigt,
die den Betroffenen beim schwierigen Entscheid über die vorzeitige Pensionierung behilflich
sein können.
»
Vorzeitiger Bezug der AHV-Rente
»
Vorzeitiger Bezug der Altersrente aus beruflicher Vorsorge
»
Invalidenrente oder vorzeitiger Bezug der Altersrente?
»
Rechtliche Grundlagen
Vorzeitiger Bezug der AHV-Rente
Männer und Frauen können die AHV-Rente 1 oder 2 Jahre vorbeziehen, d.h.Männer ab 63
oder 64 Jahren und Frauen ab 62 oder 63 Jahren. Während der Dauer des Vorbezugs werden
keine Kinderrenten ausgerichtet. Der Vorbezug der Altersrente ist allerdings mit einem erheblichen Nachteil verbunden: Die AHV-Rente wird pro Vorbezugsjahr lebenslänglich um 6,8 %
gekürzt.
Wer die Altersrente vorbeziehen will, muss ein entsprechendes Gesuch spätestens bis zum
Ende des Monats eingereicht haben, in dem das 62., 63. oder 64. Altersjahr vollendet wird.
Eine rückwirkende vorzeitige Pensionierung ist ausgeschlossen.
Auch nach Vorbezug der Altersrente muss eine Person weiterhin AHV/IV-Beiträge bis zum
Erreichen des ordentlichen Rentenalters bezahlen. Wer kein Erwerbseinkommen von rund 5'000
Franken im Jahr mehr erzielt, wird als nichterwerbstätige Person beitragspflichtig, es sei denn,
der Ehegatte leiste noch als erwerbstätige Person mindestens das Doppelte der Mindestbeiträge: Dann müssen keine Beiträge entrichtet werden.
160
Arbeit
Wer eine AHV-Rente vorbezieht und in bescheidenen finanziellen Verhältnissen lebt, hat Anspruch auf Ergänzungsleistungen. Die mit dem Vorbezug verbundene Kürzung der AHV-Rente
kann damit aufgefangen werden, denn bei der EL-Berechnung wird nur die gekürzte Rente als
anrechenbares Einkommen berücksichtigt.
»» Beispiel: Herr S kämpft mit zunehmenden gesundheitlichen Problemen am Arbeitsplatz.
Er will sich aber unter keinen Umständen bei der IV anmelden. Dafür entschliesst er sich,
die AHV-Rente mit 63 Jahren vorzubeziehen, und meldet sich drei Monate vor seinem 63.
Geburtstag bei seiner Ausgleichskasse hierfür an.
Herr S ist sich bewusst, dass seine AHV-Rente als Folge des Vorbezugs jährlich um 13,6 %
gekürzt wird. Er kann dies in Kauf nehmen, weil seine AHV-Rente und die sehr kleine Altersrente der Pensionskasse ohnehin den Existenzbedarf nicht decken. Herr S wird deshalb,
sobald er die AHV-Rentenverfügung erhalten hat, ein Gesuch um Ergänzungsleistungen
stellen.
Wer die AHV-Rente vorzeitig bezieht, muss sich bewusst sein, dass dieser Entscheid auch Folgen für den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung sowie auf Hilfsmittel hat: Sobald eine
Altersrente (vor)bezogen wird, unterliegt die betreffende Person den Regeln des AHV-Gesetzes
und nicht mehr jenen des IV-Gesetzes: Tritt nach dem Vorbezug eine Hilflosigkeit ein, oder
benötigt eine Person nach dem Vorbezug erstmals ein bestimmtes Hilfsmittel, so bestimmt sich
ein allfälliger Anspruch nach den wesentlich restriktiveren AHV-Regeln.
Vorzeitiger Bezug der Altersrente aus beruflicher Vorsorge
Die Pensionskassen sind gesetzlich nicht verpflichtet, den vorzeitigen Bezug der Altersrente
anzubieten. Tun sie es nicht, so erhalten Männer die Altersrente erst mit 65 Jahren und die
Frauen mit 64 Jahren.
Die allermeisten Pensionskassen sehen jedoch in ihren Reglementen die Möglichkeit einer
vorzeitigen Pensionierung vor: Viele ermöglichen im Sinn eines flexiblen Altersrücktritts
die Alterspensionierung zwischen 60 und 65 Jahren (bei Frauen zwischen 59 und 64 Jahren),
sobald eine Person in diesem Alter das Arbeitsverhältnis beendet. Einige Pensionskassen gestatten auch die Möglichkeit einer Teilpensionierung, falls eine Person z.B. ihr Arbeitspensum
reduziert.
»» Beispiel: Herr W hat aus gesundheitlichen Gründen zunehmend Mühe, seine bisherige 100 %-Tätigkeit in der Schreinerei X zu absolvieren. Er erkundigt sich im Alter von 62
Jahren bei seinem Arbeitgeber, ob eine Reduktion des Pensums auf 50 % möglich wäre. Der
Arbeitgeber ist damit einverstanden.
Die Pensionskasse der Firma X sieht die Möglichkeit einer Teilpensionierung ab 60 Jahren
vor. Herr W erhält deshalb vorzeitig eine halbe Altersrente von der Pensionskasse. Dadurch
erfährt seine Altersrente aus beruflicher Vorsorge zwar ebenfalls eine Kürzung, sie fällt
aber nicht so gravierend wie bei einer Vollpensionierung mit 62 Jahren aus.
161
Arbeit
Der vorzeitige Bezug einer Altersrente aus beruflicher Vorsorge führt immer zu einer erheblichen lebenslänglichen Reduktion der Altersrente. Die Kürzung ist nicht immer gleich hoch,
liegt jedoch häufig zwischen 5 % und 7 % pro Vorbezugsjahr.
Einzelne Pensionskassen bieten für Versicherte, die vor dem ordentlichen AHV-Alter in Pension
gehen, auch zeitlich limitierte Überbrückungszuschüsse (als Ersatz für die fehlende AHV-Rente) an. Wenn diese Überbrückungszuschüsse nicht vom Arbeitgeber finanziert werden, müssen
sie von der versicherten Person selber finanziert werden, indem die Altersrente zusätzlich (entweder von Beginn weg oder ab Eintritt ins ordentliche AHV-Alter) gekürzt wird.
»» Beispiel: Frau H kann ihre beruflichen Aufgaben aus gesundheitlichen Gründen nicht
mehr zur Zufriedenheit des Arbeitgebers erfüllen, weshalb er ihr das Arbeitsverhältnis
kündigt. Frau H wird bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses 60 Jahre und 10 Monate alt
sein. Der Arbeitgeber macht seine Mitarbeiterin darauf aufmerksam, dass sie gemäss dem
Reglement der Pensionskasse bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorzeitig pensioniert
werde; ihre monatliche Altersrente betrage 700 Franken.
Da Frau H über keine Vermögensreserven verfügt und mit einer solchen Rente nicht leben
kann, erkundigt sie sich, ob die Pensionskasse einen Überbrückungszuschuss gewährt. Dies
ist leider nicht der Fall. Frau H wird sich deshalb bei der Arbeitslosenversicherung anmelden müssen. Sie wird von dieser ein Taggeld erhalten, von dem allerdings der Betrag der
Altersrente (700 Franken) abgezogen wird. Sobald sie 62-jährig ist, kann sie die AHV-Rente
vorbeziehen und sich dann auch für den Bezug von Ergänzungsleistungen anmelden.
Wird ein Arbeitsverhältnis in einem Alter beendet, in welchem gemäss Reglement der Pensionskasse der Vorbezug der Altersrente bereits möglich ist, will aber die betroffene Person noch
nicht in den Ruhestand treten, sondern an einem anderen Ort die Erwerbstätigkeit weiterführen, so darf sie an Stelle des Vorbezugs der Altersrente eine Austrittsleistung beanspruchen.
Diese Austrittsleistung entspricht ihrem Altersguthaben und ist an die Vorsorgeeinrichtung
des neuen Arbeitgebers zu überweisen. Dasselbe gilt, wenn sich eine Person nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses als arbeitslos meldet. In diesem Fall kann die Austrittsleistung
auf ein Freizügigkeitskonto überwiesen werden.
»» Beispiel: Frau H verzichtet explizit auf den Vorbezug der Altersrente. Sie meldet sich
nach ihrer Entlassung bei der Arbeitslosenversicherung an. Die Pensionskasse überweist
das Altersguthaben darauf auf ein Freizügigkeitskonto.
Leider findet Frau H keine neue Stelle mehr. Zwei Jahre später ist der Anspruch auf Taggelder der Arbeitslosenversicherung ausgeschöpft. Nun wird Frau H ihr Altersguthaben vom
Freizügigkeitskonto beziehen können. Dies ist ab 60 Jahren immer zulässig. Eine Altersrente aus beruflicher Vorsorge erhält sie in diesem Fall allerdings nicht mehr.
162
Arbeit
Invalidenrente oder vorzeitiger Bezug der Altersrente?
Wenn eine gesundheitlich beeinträchtigte Person, die das 60. Altersjahr erreicht hat, merkt,
dass sie die beruflichen Anforderungen am bisherigen Arbeitsplatz nicht mehr erfüllen kann,
oder wenn der Arbeitgeber die Auflösung des Arbeitsverhältnisses androht, so stellt sich regelmässig die Frage, ob es klüger ist, die Altersleistungen vorzeitig zu beziehen und die damit
verbundenen Kürzungen in Kauf zu nehmen, oder ob eine IV-Anmeldung eingereicht werden
soll. Es ist nicht möglich, auf diese Frage eine allgemein gültige Antwort zu geben. Jeder individuelle Fall liegt anders. Es ist deshalb in solchen Situationen immer ratsam, eine persönliche
Beratung in Anspruch zu nehmen. An dieser Stelle können nur einige Faktoren genannt werden,
die für die eine oder die andere Lösung sprechen.
Folgende Faktoren sprechen (unter anderen) für einen vorzeitigen Bezug der Altersleistungen:
• Ein vorzeitiger Bezug der Altersrente ist überhaupt möglich, sei es, dass bereits die AHVRente vorbezogen werden kann, sei es, dass das Reglement der Pensionskasse den Vorbezug der Altersrente aus beruflicher Vorsorge in diesem Alter erlaubt;
• Die Altersleistungen sind trotz Kürzung genügend hoch, um die Existenz zu sichern (was
insbesondere der Fall ist, wenn die Pensionskasse noch einen Überbrückungszuschuss
gewährt);
• oder die Altersleistungen sind zwar zu wenig hoch, es besteht aber noch Vermögen, um die
Lücke zu schliessen, oder die Lücke kann durch Ergänzungsleistungen geschlossen werden
(was erst ab Vorbezug der AHV-Rente möglich ist);
• die betroffene Person will sich nicht mehr einem IV-Abklärungsverfahren unterziehen, welches immer auch mit Belastungen und Unsicherheiten verbunden ist.
Folgende Faktoren sprechen (unter anderen) für eine Anmeldung bei der IV:
• Die zu erwartenden Kürzungen bei den Altersleistungen sind erheblich. Der individuelle
Existenzbedarf kann nicht mehr gewährleistet werden.
• Es besteht im Betrieb eine kollektive Krankentaggeldversicherung, welche den Lohn bis zum
Entscheid der IV zu decken vermag.
• Die Ärzte sind bereit, eine Arbeitsunfähigkeit zu attestieren und überzeugend zu begründen, und zwar nicht nur hinsichtlich der bisherigen Tätigkeit, sondern auch hinsichtlich
einer angepassten Tätigkeit.
• Es muss mit einer weiteren Verschlechterung der gesundheitlichen Probleme gerechnet
werden.
Es kommt immer wieder vor, dass sich eine Person für eine IV-Leistung angemeldet hat, dass
sich das IV-Abklärungsverfahren aber in die Länge zieht und die Existenzsicherung während
des Wartens auf den IV-Entscheid plötzlich in Frage gestellt ist. In solchen Fällen kann sich als
Alternative zum Gang zur Sozialhilfe der Vorbezug einer AHV-Rente anbieten. Gewährt die IV
später rückwirkend eine IV-Rente, so kann auf den Vorbezug der AHV-Rente wieder verzichtet
werden. Ob dies allerdings auch bezüglich der Renten aus beruflicher Vorsorge möglich ist, ist
rechtlich umstritten.
163
Arbeit
»» Beispiel: Frau G hat bisher zu 70 % im Verkauf gearbeitet und monatlich 2‘500 Franken
verdient. Kurz vor ihrem 60. Altersjahr erkrankt sie an einem Lungenleiden und wird von
ihren Ärzten zu 100 % arbeitsunfähig geschrieben. Die Taggeldversicherung des Betriebs
bezahlt ihr ein Taggeld von 80 % des Lohnes.
Frau G hat sich bei der IV angemeldet. Deren Entscheid zieht sich jedoch in die Länge, weil
sie noch ein Gutachten verlangt hat. Der Taggeldanspruch erlischt nach 720 Tagen.
Da Frau G keine Reserven hat, müsste sie sich jetzt an den Sozialdienst wenden. Frau G will
dies vermeiden und entscheidet sich dafür, die AHV-Rente mit 62 Jahren vorzubeziehen.
Gleichzeitig bezahlt ihr die Pensionskasse des Arbeitgebers eine Altersrente aus beruflicher
Vorsorge.
3 Monate, nachdem Frau G die AHV-Rente erhalten hat, gewährt ihr die IV-Stelle rückwirkend eine ganze Invalidenrente, welche höher ist als die gekürzte AHV-Rente. In diesem Fall
kann Frau G den Verzicht auf die vorbezogene AHV-Rente erklären. Ob auch die Pensionskasse einen entsprechenden Verzicht akzeptiert, muss sie abklären.
Rechtliche Grundlagen
• Vorbezug der AHV-Rente: Art. 40 AHVG, Art. 56 AHVV
• Ausschluss eines rückwirkenden Vorbezugs der Altersrente: Art. 67 Abs. 1bis AHVV)
• Anspruch auf Ergänzungsleistungen nach Vorbezug der AHV-Rente: Art. 15a ELV
• Anspruch auf Vorbezug der Altersrente aus beruflicher Vorsorge: Art. 13 Abs. 2 BVG
• Anspruch auf Austrittsleistung an Stelle des Vorbezugs der Altersrente aus beruflicher Vorsorge: Art. 2 Abs. 1bis FZG
• Anspruch auf ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung nach vorzeitigem Bezug der Altersrente aus beruflicher Vorsorge: Art. 18c AVIG, Art. 12 AVIV
164
Ansprüche
bei Erwerbs­
ausfall
• Krankenversicherungstaggeld
• Unfallversicherungstaggeld
• IV-Taggeld
• Arbeitslosenversicherungs-­
taggeld
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Krankenversicherungstaggeld
Die Schweiz kennt nach wie vor kein gesetzliches Obligatorium für eine Krankentaggeldversicherung. Das ist insofern erstaunlich, als das Krankentaggeld ein wichtiges Element des sozialen Netzes darstellt und fehlender Versicherungsschutz zu vielen sozialen Härtefällen führt.
Trotz fehlendem Obligatorium sind zumindest die meisten Arbeitnehmer in der Schweiz gegen
die Folgen eines krankheitsbedingten Erwerbsausfalls versichert. Allerdings stützt sich nur
noch ein kleiner Teil der Taggeldversicherungen auf das Krankenversicherungsgesetz (KVG),
der weit grössere Teil folgt demgegenüber den Regeln des Privatversicherungsrechts und
somit dem Versicherungsvertragsgesetz (VVG). Das erschwert den rechtlichen Überblick ganz
generell, besonders aber auch in Bezug auf die Rechtslage von Menschen mit gesundheitlichen
Beeinträchtigungen im Besonderen.
Krankentaggeldversicherungen können als Einzelversicherungen oder als Kollektivversicherungen abgeschlossen werden. Im Folgenden werden die verschiedenen Typen von Taggeldversicherungen erläutert und es wird erklärt, wie der Versicherungsschutz bei Beendigung einer
Kollektivversicherung aufrechterhalten werden kann. Schliesslich wird gezeigt, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein Taggeld bezahlt wird, wie lange ein Anspruch besteht
und unter welchen Voraussetzungen Taggelder eingestellt und gekürzt werden können.
166
»
Fehlendes Obligatorium
»
KVG-Versicherungen und VVG-Versicherungen
»
Abschluss einer Einzelversicherung
»
Kollektivversicherung von Arbeitgebern
»
Die Folgen einer Anzeigepflichtverletzung
»
Übertritt von der Kollektivversicherung in die Einzelversicherung
»
Wann liegt eine Arbeitsunfähigkeit vor?
»
Erwerbsausfall als weitere Voraussetzung für den Taggeldanspruch?
»
Höhe des Taggeldes
»
Beginn und Dauer des Taggeldanspruchs
»
Kürzung und Rückforderung von Krankenversicherungstaggeldern
»
Rechtliche Grundlagen
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Fehlendes Obligatorium
Die Schweiz kennt kein gesetzliches Obligatorium für eine Krankentaggeldversicherung.
Trotz fehlendem Obligatorium verfügt die überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen über einen Versicherungsschutz. Das ist einmal darauf zurückzuführen, dass
die meisten Gesamtarbeitsverträge die Arbeitgeber verpflichten, ihre Arbeitnehmer im Rahmen einer Kollektivversicherung für ein Taggeld zu versichern. Ist ein Gesamtarbeitsvertrag von
Bundesrat allgemeinverbindlich erklärt worden, so gilt die Verpflichtung zum Abschluss einer
Kollektiv-Krankentaggeldversicherung für alle Arbeitgeber der betreffenden Branche.
Viele Arbeitgeber verpflichten sich aber auch im Rahmen von Einzelarbeitsverträgen zum
Abschluss einer Krankentaggeldversicherung, obschon sie weder durch das Gesetz noch durch
einen Gesamtarbeitsvertrag dazu gezwungen wären.
KVG-Versicherungen und VVG-Versicherungen
Krankentaggeldversicherungen können sowohl gestützt auf das Krankenversicherungsgesetz
(KVG) als auch gestützt auf das Versicherungsvertragsgesetz (VVG) abgeschlossen werden.
Wünscht eine in der Schweiz wohnende oder arbeitende Person eine KVG-Versicherung abzuschliessen und wendet sie sich an eine Krankenkasse, so ist diese verpflichtet, den Abschluss
einer Taggeldversicherung anzubieten. KVG-Versicherungen decken heute allerdings weniger
als 10% der Taggeldversicherungen ab und sind vor allem bei den Kollektivversicherungen
kaum noch anzutreffen. Der Grund liegt darin, dass die Prämien oft sehr hoch sind und die
Krankenkassen häufig nur noch KVG-Taggeldversicherungen mit tiefen versicherten Taggeldern
anbieten.
Die übliche Taggeldversicherung ist heute die VVG-Versicherung. Es handelt sich um eine
Privatversicherung, die sowohl von Krankenkassen als auch von Versicherungsgesellschaften
angeboten wird. Sowohl der Versicherer wie auch der Versicherungsnehmer sind frei, ob sie
einen Vertrag abschliessen wollen. Der Versicherer kann insbesondere den Abschluss eines Vertrags verweigern, wenn ihm das Risiko angesichts des Gesundheitszustands der zu versichernden Person zu hoch erscheint. Das Versicherungsvertragsgesetz enthält nur wenige zwingende
Bestimmungen betreffend die Ausgestaltung der Verträge. Alles Wesentliche wird in der Police
und den allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) geregelt.
167
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Abschluss einer Einzelversicherung
Bei der Einzelversicherung schliesst der Versicherungsnehmer mit dem Versicherer einen
Vertrag für sich selber ab. Solche Einzelversicherungsverträge werden vor allem von Selbständigerwerbenden, teilweise aber auch von Nichterwerbstätigen abgeschlossen. Arbeitnehmer
schliessen nur selten einen Einzelversicherungsvertrag ab, so etwa dann, wenn ihr Arbeitgeber
keine oder nur eine ungenügende Kollektivversicherung abgeschlossen hat.
Einzelversicherungen können als KVG-Versicherungen oder als VVG-Versicherungen abgeschlossen werden. Es gelten dabei unterschiedliche Grundsätze:
Wer in der Schweiz Wohnsitz hat oder erwerbstätig ist, und das 15. Altersjahr, aber noch nicht
das 65. Altersjahr vollendet hat, kann bei jeder Krankenkasse eine KVG-Taggeldversicherung
abschliessen. Die Krankenkassen dürfen den Abschluss einer solchen Taggeldversicherung
nicht ablehnen. Sie können aber in ihren Reglementen eine Maximalhöhe des versicherbaren
Taggelds festlegen. Diese ist oft bescheiden. Auch Personen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen muss auf Wunsch eine Taggeldversicherung angeboten werden. Es können einzig
bei Vertragsabschluss bestehende gesundheitliche Beeinträchtigungen sowie frühere Beeinträchtigungen, die erfahrungsgemäss zu Rückfällen führen können, mit einem Vorbehalt von
maximal 5 Jahren von der Versicherung ausgeschlossen werden. Der Vorbehalt ist nur gültig,
wenn er der versicherten Person schriftlich mitgeteilt wird, unter genauer Bezeichnung der
vorbehaltenen Krankheit und der Dauer des Vorbehalts. Diese Grundsätze gelten auch bei einer
Erhöhung des Taggeldes (oder einer Verkürzung der Wartezeit) sinngemäss.
»» Beispiel: Frau M führt ein kleines Geschäft. Sie will sich gegen die Folgen eines krankheitsbedingten Erwerbsausfalls versichern. Sie wendet sich an ihre Krankenkasse und bittet
um eine entsprechende Offerte. Die Krankenkasse muss Frau M eine Krankentaggeldversicherung nach KVG anbieten. Gemäss dem Reglement der Krankenkasse ist aber maximal
ein Taggeld von 80 Franken pro Tag versicherbar. Für Frau M genügt dies.
Die Krankenkasse wird zudem Frau M bitten, einen Fragebogen auszufüllen und die Fragen
nach bestehenden und früheren gesundheitlichen Beeinträchtigungen wahrheitsgetreu zu
beantworten. Frau M gibt an, gesund zu sein, aber vor 2 Jahren wegen Rückenbeschwerden
in physiotherapeutischer Behandlung gestanden zu haben. Die Krankenkasse errichtet darauf einen 5-jährigen Vorbehalt für „Rückenbeschwerden“ und teilt diesen Frau M schriftlich
mit.
Wer eine Krankentaggeldversicherung abschliessen will, kann sich auch bei einer Krankenkasse
oder einer Versicherungsgesellschaft um den Abschluss einer VVG-Versicherung bemühen. Es
besteht jedoch kein rechtlicher Anspruch auf den Abschluss einer solchen Versicherung. Die
Versicherer nehmen eine Risikoabwägung vor und entscheiden gestützt darauf frei, ob und unter welchen Bedingungen sie einen Versicherungsvertrag anbieten wollen oder nicht. Auch beim
Abschluss einer VVG-Versicherung müssen regelmässig Fragen zu bestehenden und früheren
Krankheiten beantwortet werden.
168
Ansprüche bei Erwerbsausfall
»» Beispiel: Frau M hat sich auch bei einer Versicherungsgesellschaft um den Abschluss
einer VVG-Versicherung bemüht. Diese ist wegen des Alters von Frau M (53 Jahre) und der
früher aufgetretenen Rückenbeschwerden nicht bereit gewesen, mit Frau M eine Taggeldversicherung abzuschliessen. Dagegen kann sich Frau M rechtlich nicht wehren.
Kollektivversicherungen von Arbeitgebern
Im Bereich des Krankentaggelds haben die Kollektivversicherungen in der Schweiz die grössere
Bedeutung als die Einzelversicherungen. Kollektivversicherungen werden in der Regel von
einem Arbeitgeber (der „Versicherungsnehmer“) für seine Arbeitnehmer (die „Versicherten“)
abgeschlossen. Die Arbeitnehmer erhalten dabei ein direktes Forderungsrecht gegenüber der
Versicherungsgesellschaft.
Der Inhalt des Taggeldversicherungsvertrags bildet einen Bestandteil des Arbeitsvertrags. Die
Arbeitgeber sind deshalb auch verpflichtet, ihre Arbeitnehmer über den Umfang des Versicherungsschutzes zu informieren: Die Arbeitnehmer können jederzeit Einblick in die Police und
die allgemeinen Versicherungsbedingungen verlangen. Jede erhebliche Änderung des Versicherungsvertrags stellt auch eine Änderung des Arbeitsvertrags dar und muss den Versicherten
mitgeteilt werden.
In der Regel wird in den Kollektivversicherungsverträgen festgehalten, dass der Versicherungsschutz mit dem Beginn des Arbeitsverhältnisses beginnt. Selten findet sich die Bestimmung,
dass er erst nach Ablauf der Probezeit beginnt. Der Versicherungsschutz endet in den meisten
Fällen mit dem Ende des Arbeitsverhältnisses, wobei – eher selten – noch eine Nachdeckungsfrist von 30 Tagen eingeräumt wird.
Hat sich ein Arbeitgeber im Arbeitsvertrag zum Abschluss einer Kollektiv-Krankentaggeldversicherung verpflichtet (bzw. ist er aufgrund eines Gesamtarbeitsvertrags hierzu verpflichtet), und
kommt er dieser Pflicht nicht nach, so kann ein Arbeitnehmer, der für längere Zeit arbeitsunfähig wird, vom Arbeitgeber Schadenersatz in der Höhe des entgangenen Taggeldes verlangen.
»» Beispiel: Frau S hat einen Arbeitsvertrag abgeschlossen, in welchem der Abschluss einer
Kollekiv-Krankentaggeldversicherung zugesichert worden ist. Frau S erkrankt an einem
Tumor und erfährt nun, dass der Taggeldversicherer den Kollektivvertrag gekündigt hat,
weil der Arbeitgeber mit den Prämien in Verzug ist.
Der Arbeitgeber hat seine Verpflichtungen aus dem Arbeitsvertrag verletzt und wird dafür
schadenersatzpflichtig. Frau S kann von ihm verlangen, dass er dieselben Leistungen entrichtet, welche der Taggeldversicherer bezahlt hätte.
Der Versicherungsschutz von Personen, die bereits bei Arbeitsantritt eine gesundheitliche
Beeinträchtigung aufweisen, wird in den allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) der
VVG-Verträge sehr unterschiedlich geregelt. Es finden sich folgende Lösungen:
169
Ansprüche bei Erwerbsausfall
• Volldeckung: Personen mit vorbestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen erhalten
im Fall einer Arbeitsunfähigkeit die vollen Leistungen, sofern sie bei Arbeitsantritt im Rahmen des vertraglichen Arbeitspensums voll arbeitsfähig sind.
• Ausschluss oder Vorbehalt: Verschiedene Verträge sehen vor, dass bei Vertragsabschluss
von jedem Versicherten ein Gesundheitsfragebogen ausgefüllt werden muss. Gestützt auf
die erhaltenen Angaben entscheidet darauf der Versicherer, ob er eine Person vom Versicherungsschutz ganz ausschliessen oder einen Vorbehalt errichten will. Entscheidet er sich
hierzu, so muss der Arbeitnehmer darüber informiert werden. Im Krankheitsfall muss dann
der Arbeitgeber mindestens die Lohnfortzahlung gemäss Gesetz oder Vertrag übernehmen.
• Reduzierte Leistungen aufgrund des Vertrags: Relativ häufig findet sich in den AVB die
Regelung, dass im Falle einer Arbeitsunfähigkeit, die auf eine bei Arbeitsantritt vorbestehende gesundheitliche Beeinträchtigung zurückzuführen ist, nur zeitlich limitierte (nach
Vertragsdauer abgestufte) Taggelder entrichtet werden, welche die Lohnfortzahlungspflicht
des Arbeitgebers abdecken, aber nicht oder nicht wesentlich darüber hinaus gehen. Diese
Vertragsregelung ist dann höchst problematisch, wenn sie den Versicherten nicht mitgeteilt
wird und diese mit einem maximal 720 Tage dauernden Taggeldanspruch rechnen.
»» Beispiel: Herr M ist vor 2 Jahren in die Firma X eingetreten, nachdem er zuvor während
rund eines halben Jahres an einer depressiven Episode erkrankt war. Beim Abschluss des
Arbeitsvertrags und danach muss Herr M keinen Gesundheitsfragebogen ausfüllen.
Als Herr M erneut wegen einer Depression arbeitsunfähig wird, richtet die Kollektiv-Taggeldversicherung des Arbeitgebers zuerst ein Taggeld aus, stellt dieses aber nach 3 Monaten ein. Sie beruft sich dabei auf eine Bestimmung in den AVB, wonach eine Person, die im
3. Dienstjahr wegen einer Krankheit arbeitsunfähig wird, die sich bereits vor Arbeitsantritt
manifestiert hatte, nur Anspruch auf ein beschränktes Taggeld während 3 Monaten habe.
Herr M kann gegen den Versicherer nichts unternehmen. Er kann höchstens prüfen lassen,
ob der Arbeitgeber mit dem Abschluss einer solchen Taggeldversicherung seine Pflichten
aus dem Arbeitsvertrag verletzt hat.
Die Folgen einer Anzeigepflichtverletzung
Wer bei Abschluss einer Taggeldversicherung klar formulierte Fragen des Versicherers zum
Gesundheitszustand falsch beantwortet, begeht eine Anzeigepflichtverletzung. Die Folgen
einer solchen Anzeigepflichtverletzung sind unterschiedlich, je nach dem, ob es sich um eine
KVG-Versicherung oder eine VVG-Versicherung handelt.
Handelt es sich um eine KVG-Versicherung, so kann die Krankenkasse, wenn sie nachträglich
von einer Anzeigepflichtverletzung Kenntnis erhält, rückwirkend einen 5-jährigen Vorbehalt ab
Versicherungsbeginn errichten. Sie kann dies praxisgemäss innert eines Jahres ab Kenntnis der
Anzeigepflichtverletzung tun und allfällige zu Unrecht ausbezahlte Taggelder zurückfordern.
170
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Handelt es sich um eine VVG-Versicherung, so kann der Versicherer den Versicherungsvertrag innert 4 Wochen seit Kenntnis der Anzeigepflichtverletzung schriftlich kündigen. Wird der
Vertrag durch eine solche Kündigung aufgelöst, erlischt auch die Leistungspflicht für bereits
eingetretene Schäden, die mit der nicht angezeigten gesundheitlichen Beeinträchtigung in Zusammenhang stehen. Bereits ausgerichtete Taggelder können zurückgefordert werden. Hingegen bleibt die Leistungspflicht für eine bereits eingetretene Arbeitsunfähigkeit bestehen, wenn
diese in keinem Zusammenhang mit der verschwiegenen Tatsache steht.
»» Beispiel: Herr T hat beim Abschluss seiner VVG-Taggeldversicherung die Frage, ob er in
den letzten 5 Jahren in medizinischer Behandlung gestanden sei, mit „nein“ beantwortet. Er
hat vergessen, dass er vor 3 Jahren wegen Rückenbeschwerden in physiotherapeutischer
Behandlung gestanden ist.
4 Jahre nach Abschluss des Vertrags erleidet Herr T einen Herzinfarkt und bleibt in der
Folge während längerer Zeit arbeitsunfähig. Die Versicherungsgesellschaft erfährt bei
der Konsultation ärztlicher Berichte, dass Herr T seinerzeit eine Anzeigepflichtverletzung
begangen hat. Sie teilt ihm innert 20 Tagen nach Kenntnis dieser Verletzung mit, dass sie
den Vertrag per sofort kündige. Weil der Herzinfarkt aber in keinem Zusammenhang mit
den seinerzeitigen Rückenbeschwerden steht, wird die Versicherungsgesellschaft für die
Folgen der eingetretenen Arbeitsunfähigkeit weiterhin die versicherten Taggelder bezahlen
müssen.
Übertritt von der Kollektiv- in die Einzelversicherung
Wer bisher im Rahmen einer Kollektivversicherung gegen die Folgen eines krankheitsbedingten
Erwerbsausfalls versichert gewesen ist, kann bei Beendigung des Kollektivversicherungsschutzes (in der Regel bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses) durch Übertritt in die Einzelversicherung den Versicherungsschutz aufrechterhalten. Die rechtliche Regelung unterscheidet sich
dabei, je nachdem ob man in einer KVG- oder einer VVG-Versicherung versichert gewesen ist.
Bei KVG-Kollektivversicherungen endet nicht nur der Versicherungsschutz bei Beendigung
des Arbeitsverhältnisses, sondern es ist selbst bei einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit keine
Nachleistung aus dem Kollektivvertrag möglich. Wer (als Gesunder) den Versicherungsschutz aufrechterhalten will oder (als Arbeitsunfähiger) die Versicherungsleistungen weiter
beziehen will, muss somit in die Einzelversicherung übertreten.
Der KVG-Kollektivversicherer muss die Versicherten über ihr Recht zum Übertritt in die Einzelversicherung schriftlich aufklären. Unterbleibt die Information, bleibt die versicherte Person
kollektivversichert. Der Übertritt muss innerhalb von 3 Monaten nach Erhalt der Mitteilung
geltend gemacht werden. Soweit die versicherte Person nicht höhere Leistungen versichern will,
dürfen beim Übertritt keine neuen Versicherungsvorbehalte angebracht und Leistungsausschlüsse vorgesehen werden. Bestehende Vorbehalte können bis zu ihrem Ablauf weitergeführt
werden.
171
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Kein Besitzstand besteht demgegenüber hinsichtlich der Prämienhöhe: Die Prämien in der
KVG-Einzelversicherung sind oft prohibitiv hoch! Deshalb empfiehlt es sich immer, während der
Übertrittsfrist eine Prämienofferte einzuholen. Arbeitslose können im Übrigen gegen angemessene Prämienanpassung verlangen, dass ihre bisherige Versicherung in eine Versicherung mit
Leistungsbeginn ab dem 31. Tag umgewandelt wird.
Bei VVG-Versicherungen fehlt es an einer allgemeinen gesetzlichen Regelung zum Übertrittsrecht. Die allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) gewähren aber in aller Regel den
vorbehaltlosen Übertritt für die gleichen versicherten Leistungen. Der Übertritt muss (je nach
AVB) unter Einhaltung einer Frist von 30 Tagen bis 3 Monaten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses beantragt werden, ansonsten das Übertrittsrecht verwirkt ist. Allerdings ist der Versicherer – anders als bei KVG-Versicherungen – bei VVG-Kollektivversicherungen nicht verpflichtet, auf die Übertrittsmöglichkeit hinzuweisen. Hingegen muss der Arbeitgeber aufgrund
seiner Fürsorgepflicht bei Vertragsende auf diese Möglichkeit hinweisen.
Eine gesetzliche Ausnahmeregelung besteht für Versicherte, die nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Sinne des Arbeitslosenversicherungsgesetzes arbeitslos sind. Für sie gelten auch bei VVG-Kollektivversicherungen dieselben Pflichten wie bei KVG-Kollektivversicherungen: Informationspflicht des Versicherers, 3-monatige Frist zur Geltendmachung des Übertritts,
Garantie des vorbehaltlosen Übertritts, gleiche Leistungen. Als „arbeitslos“ gilt eine Person, die
in keinem Arbeitsverhältnis steht, eine Beschäftigung sucht und sich beim RAV zur Arbeitsvermittlung angemeldet hat.
Personen, die am Ende des Arbeitsvertrags arbeitsunfähig sind und Taggelder beziehen,
können bei VVG-Versicherungen – anders als bei KVG-Versicherungen – die Taggelder weiterhin
aus der Kollektivversicherung beziehen (sog. Nachleistung), zumindest soweit die AVB nichts
anderes vorsehen.
»» Beispiel: Frau S ist seit 10 Monaten arbeitsunfähig und bezieht von der Kollektivversicherung ihres Arbeitgebers ein Krankentaggeld. Nun hat der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis gekündigt. Frau S erfährt, dass es sich bei ihrer Taggeldversicherung um eine
VVG-Versicherung handelt.
Frau S muss sich jetzt ohne Verzug beim Versicherer erkundigen, ob sie das Taggeld weiterhin von der Kollektiversicherung erhält, solange die Arbeitsunfähigkeit andauert. Ist dies
der Fall, braucht sie nicht zwingend in die Einzelversicherung überzutreten, ausser sie will
sich noch gegen die Folgen weiterer möglicher Krankheiten versichern. Besteht allerdings
ausnahmsweise aufgrund der AVB keine Nachleistungspflicht aus der Kollektivversicherung, muss Frau S unbedingt rasch den Übertritt in die Einzelversicherung erklären. Sonst
verliert sie ihren Taggeldanspruch bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
172
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Wann liegt eine Arbeitsunfähigkeit vor?
Ein Krankentaggeld erhält, wer arbeitsunfähig ist. Versichert ist in der Regel eine Arbeitsunfähigkeit, wenn sie mindestens 25% beträgt. Wenige Versicherer versichern auch schon eine
geringere Arbeitsunfähigkeit. Es gibt aber auch Versicherer, welche eine Arbeitsunfähigkeit erst
ab einem Grad von 50% versichern.
Ob in der bisherigen Tätigkeit eine Arbeitsunfähigkeit eingetreten ist und in welchem Ausmass sie eingetreten ist, bestimmt der Arzt oder die Ärztin mit einem Zeugnis. Dieses Zeugnis ist für den Versicherer zumindest in der ersten Phase der Arbeitsunfähigkeit verbindlich.
Es besteht freie Arztwahl in der Schweiz. Das Arztzeugnis sollte ohne Verzug eingereicht und
regelmässig erneuert werden.
Dauert eine Arbeitsunfähigkeit längere Zeit, so kann die Versicherungsgesellschaft oder Krankenkasse eine vertrauensärztliche Überprüfung oder Begutachtung anordnen. Dabei geht es
um die Klärung der Frage, in welchem Ausmass die Arbeitsfähigkeit in der bisherigen Tätigkeit
besteht und ob allenfalls in einer anderen, dem Leiden besser angepassten Tätigkeit eine volle
Arbeitsfähigkeit erreicht werden könnte. Die Frage ist deshalb von Bedeutung, weil Taggeldbezüger aufgrund der sogenannten Schadenminderungspflicht verpflichtet sind, im Fall einer
länger dauernden Arbeitsunfähigkeit auch Tätigkeiten ausserhalb des bisherigen Berufs zu
suchen und anzunehmen, sofern ihre Gesundheit dies erlaubt. Dies ist insbesondere der Fall,
wenn eine Rückkehr in den bisherigen Beruf aus gesundheitlichen Gründen unwahrscheinlich
erscheint und das bisherige Arbeitsverhältnis durch Kündigung aufgelöst worden ist.
Gelangt der Taggeldversicherer zum Ergebnis, dass es der versicherten Person zumutbar ist,
sich um eine angepasste andere Tätigkeit zu bemühen, so hat er die versicherte Person hierzu
aufzufordern und ihr eine angemessene Übergangsfrist von mindestens 3 Monaten einzuräumen. Das Taggeld darf erst nach Ablauf dieser Frist aufgehoben oder gekürzt werden.
»» Beispiel: Herr K hat bisher als Elektromonteur auf dem Bau gearbeitet. Wegen erheblicher Schulter- und Kniebeschwerden muss er seine Tätigkeit aufgeben. Er erhält von der
Taggeldversicherung seines Arbeitgebers seit 9 Monaten ein Taggeld von 80% seines Lohns.
Der Taggeldversicherer veranlasst nun eine vertrauensärztliche Untersuchung. Der Vertrauensarzt gelangt zum Schluss, dass Herr K nie mehr auf seinem Beruf arbeiten kann. Er
ist aber der Meinung, dass Herr K in einer angepassten Tätigkeit weiterhin eine Arbeitsleistung von 80% erbringen könnte. Der Taggeldversicherer fordert Herrn K auf, sich um eine
angepasste Tätigkeit ausserhalb seines Berufs zu bemühen. Das Taggeld werde nur noch
während einer Übergangszeit von 3 Monaten in vollem Umfang ausgerichtet und danach
gekürzt.
Eine angepasste Tätigkeit darf vom Taggeldversicherer nur dann berücksichtigt werden, wenn
sie auf dem konkreten Arbeitsmarkt noch verwertbar erscheint. Das ist beispielsweise nicht der
Fall, wenn eine Person, die jahrelang in einem bestimmten Berufsfeld gearbeitet hat, kurz vor
der Pensionierung noch eine neue Tätigkeit aufnehmen sollte. Kann zudem in der angepassten
173
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Tätigkeit nur noch ein geringerer Lohn als bisher erzielt werden, berechnet sich der Grad der
Arbeitsunfähigkeit aus der Differenz zwischen bisherigem Lohn und zumutbarem Lohn in
einer angepassten Tätigkeit.
»» Beispiel: Herr K hat bisher als langjähriger Elektromonteur einen Lohn von 6›000 Franken monatlich erzielt. In einer leichten angepassten Tätigkeit könnte er unter Berücksichtigung einer Leistungsfähigkeit von 80% noch einen Lohn von 3›600 Franken erzielen. Dieser
Lohn liegt 40% unter dem bisherigen Lohn, weshalb der Taggeldversicherer das Taggeld
nicht aufheben, sondern nur kürzen darf: Herr K erhält noch ein Taggeld von 32% (40%
von 80%) des bisherigen Lohns.
Dauert eine Arbeitsunfähigkeit länger als 6 Monate, so fordern die meisten Taggeldversicherer
ihre Taggeldbezüger auf, sich bei der IV anzumelden. Weigert sich die betroffene Person aus
irgendeinem Grund dies zu tun, kann der Taggeldversicherer die Leistungen in dem Ausmass
kürzen, in dem er sie auch bei rechtzeitiger IV-Anmeldung hätte kürzen können (vgl. hierzu
weiter unten).
Erwerbsausfall als weitere Voraussetzung für den Taggeldbezug?
Es wird bei den Taggeldversicherungen zwischen Summen- und Schadenversicherungen unterschieden.
Eine Summenversicherung zeichnet sich dadurch aus, dass für die Leistungspflicht kein Vermögensschaden vorausgesetzt wird. Es genügt also, dass eine Arbeitsunfähigkeit eingetreten
ist, und es braucht nicht noch ein Erwerbsausfall nachgewiesen zu werden. Das Taggeld darf
dann auch nicht gekürzt werden, weil andere Versicherungsleistungen zugesprochen worden
sind. Summenversicherungen finden sich oft bei Einzelversicherungen für Selbständigerwerbende und Nichterwerbstätige. Bei den Kollektivversicherungen kommen sie kaum vor.
Eine Schadenversicherung setzt demgegenüber für die Leistungspflicht den Eintritt eines
Vermögensschadens (Erwerbsausfalls) voraus. Sie enthält regelmässig Koordinationsbestimmungen, um eine Überentschädigung auszuschliessen. Die meisten Taggeldversicherungen
sind Schadenversicherungen. Das gilt insbesondere für alle KVG-Versicherungen wie auch für
Kollektivversicherungen, bei denen ein Prozentsatz des Lohnes versichert ist.
Bei den Schadenversicherungen stellt sich die Frage des Vermögensschadens insbesondere
dann, wenn eine Person arbeitslos geworden ist. Die Rechtsprechung hat hierzu folgende
Grundsätze entwickelt:
• Hat eine Person ihre Stelle zufolge Kündigung verloren, als sie schon arbeitsunfähig war,
gilt die Vermutung, dass sie erwerbstätig geblieben wäre, wenn sie nicht erkrankt wäre. Der
Erwerbsausfall wird also bejaht.
174
Ansprüche bei Erwerbsausfall
• Ist eine Person bei Beginn der Arbeitsunfähigkeit bereits arbeitslos und bezieht ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung, gilt die Vermutung, dass sie auch ohne Krankheit weiter
Arbeitslosenversicherungstaggelder bis zur Aussteuerung bezogen hätte, dann aber nicht
mehr. Der Erwerbsausfall entspricht dem Ausfall der Arbeitslosenversicherungstaggelder.
• Ist eine Person bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit bei der Arbeitslosenversicherung bereits
ausgesteuert, gilt die (durch Stellennachweis widerlegbare) Vermutung, dass sie auch ohne
Krankheit keinen Erwerb erzielt hätte.
»» ® Beispiel: Frau H ist bei Beendigung des letzten Arbeitsverhältnisses von der Kollektivversicherung des früheren Arbeitgebers in die Einzelversicherung übergetreten. Sie
bezieht bereits seit 10 Monaten ein Arbeitslosentaggeld von 70% des früheren Lohnes,
als sie arbeitsunfähig wird. Der Taggeldversicherer wird ihr nun ein Taggeld in Höhe des
Erwerbsausfalls, d.h. des entgangenen Arbeitslosentaggelds gewähren, allerdings nur bis
zum Zeitpunkt, bis zu welchem Frau H auch bei guter Gesundheit ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung erhalten hätte.
Auch bei Personen, die bereits das AHV-Rentenalter erreicht haben, kann sich die Frage des
Erwerbsausfalls stellen. Die meisten AVB der Taggeldversicherungen begrenzen den Taggeldanspruch ab diesem Alter auf beispielsweise maximal 180 Tage. Fehlt es an einer spezifischen
Regelung, muss die versicherte Person den Nachweis erbringen, dass sie ohne Erkrankung mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit erwerbstätig geblieben wäre.
Höhe des Taggeldes
Die Höhe des Taggelds ergibt sich aus dem Versicherungsausweis bzw. der Versicherungspolice: Bei den Einzelversicherungen ist es ein bestimmter Betrag (Summe) pro Tag, der versichert ist. Bei Kollektivversicherungen ist es ein bestimmter Prozentsatz (in der Regel 80%,
manchmal auch 90% oder 100%) des Lohnes, der versichert ist: Als Lohn gilt der Jahreslohn,
geteilt durch 365.
Bei einer Teilarbeitsunfähigkeit wird ein entsprechender Prozentsatz dieses Betrags bezahlt.
Auf Krankentaggeldern werden keine Abzüge für AHV/IV/EO/AlV/NbU-Beiträge vorgenommen. Wer ein ganzes Jahr lang nur noch Taggelder und keinen Lohn von einer bestimmten
Höhe mehr bezieht, muss Beiträge als Nichterwerbstätiger entrichten (ausser die Beiträge des
Ehegatten sind doppelt so hoch wie der Minimalbeitrag). Es gibt allerdings Arbeitgeber, die
den Lohn weiter ausrichten und die Taggelder dafür an sich auszahlen lassen. In diesem Fall
können weiterhin Beiträge abgezogen werden.
175
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Beginn und Dauer des Taggeldanspruchs
Bei vielen Taggeldversicherungen ist vertraglich eine Wartezeit vereinbart: Das Taggeld wird
dann erst ab einer bestimmten Dauer der Arbeitsunfähigkeit (z.B. nach 30 Tagen, 2 Monaten
oder 6 Monaten) bezahlt. Ist vertraglich nichts anderes vereinbart worden, gilt bei KVG-Versicherungen eine Wartezeit von 2 Tagen, das Taggeld wird somit ab dem 3. Tag der Arbeitsunfähigkeit bezahlt. Bei Kollektivversicherungen muss der Arbeitgeber während der Wartezeit den
Lohn weiter auszahlen.
Bei KVG-Versicherungen muss das Taggeld im Fall einer Arbeitsunfähigkeit für eine oder mehrere Erkrankungen während maximal 720 Tagen innerhalb von 900 Tagen geleistet werden.
Bei VVG-Versicherungen richtet sich die maximale Bezugsdauer nach dem Vertrag. Sie beträgt
in der Regel ebenfalls 720 oder 730 Tage (bei Versicherungen mit einer Wartezeit manchmal
auch weniger lange). Oftmals ist in den AVB festgehalten, dass die Maximalbezugsdauer „pro
Krankheitsfall“ gilt.
»» Beispiel: Herr N ist über seinen Arbeitgeber im Rahmen einer VVG-Versicherung versichert worden. Er erkrankt an einem Nierenleiden und wird während einer Dauer von 5
Monaten arbeitsunfähig. Die Taggeldversicherung gewährt in dieser Zeit ein Taggeld von
80% des Lohnes.
4 Monate nach Wiederaufnahme der Arbeit wird Herr N nach einem Herzinfarkt erneut
arbeitsunfähig. Da in den AVB festgehalten ist, dass der Anspruch von maximal 720 Taggeldern „für jeden „Krankheitsfall“ gilt, werden Herrn N die bereits bezogenen Taggelder
nicht an die maximale Dauer des Taggeldanspruchs von 720 Tagen angerechnet.
Was geschieht nun aber, wenn der Versicherungsschutz bei einer Kollektivversicherung
endet, weil der Arbeitsvertrag aufgelöst worden ist? Auch in diesem Fall gelten unterschiedliche
Regelungen, je nachdem ob es sich um eine KVG- oder um eine VVG-Versicherung handelt:
• Bei KVG-Kollektivversicherungen endet die Leistungspflicht mit dem Austritt aus dem
versicherten Kollektiv, d.h. bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Wer das Taggeld weiter beanspruchen will, muss in die Einzelversicherung übertreten. Die unter der Kollektivversicherung ausgerichteten Taggelder werden an die Bezugsdauer der Einzelversicherung
angerechnet.
• Bei VVG-Kollektivversicherungen endet die Leistungspflicht mit der Beendigung des
Arbeitsverhältnisses im Normalfall nicht: Für eine während der Dauer der Kollektivdeckung
eingetretene Arbeitsunfähigkeit kommt der Kollektivversicherer weiterhin auf. Ein Übertritt
in die Einzelversicherung ist somit nicht nötig. Von diesem allgemeinen Grundsatz sehen
allerdings einzelne Versicherer Ausnahmen in den AVB vor, indem sie eine Nachleistung
bloss für eine beschränkte Dauer (z.B. von maximal 180 Tagen) vorsehen oder eine Nachleistung ganz ausschliessen. Ob eine solche Ausnahmeregelung besteht, muss im Einzelfall
immer abgeklärt werden.
176
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Unterschiedliche Regelungen bestehen auch bezüglich der Frage, ob sich der Taggeldanspruch verlängert, wenn das Taggeld wegen einer Überentschädigung gekürzt wird:
• Bei KVG-Versicherungen verlängert sich die Bezugsdauer bei einer Kürzung des Taggeldes, bis der Gegenwert von insgesamt 720 vollen Taggeldern ausgeschöpft ist.
• Bei VVG-Versicherungen gibt es kaum entsprechende Vereinbarungen, ausser sie seien
durch einen Gesamtarbeitsvertrag vorgeschrieben. Der Taggeldanspruch erlischt somit
nach der vereinbarten Dauer selbst dann, wenn das Taggeld z.B. bei Nachzahlung einer IVLeistung gekürzt worden ist.
Kürzung und Rückforderung von Krankenversicherungstaggeldern
Unterschiedliche Regelungen bestehen auch bezüglich der Frage, ob und unter welchen Bedingungen Krankentaggelder gekürzt werden dürfen.
• KVG-Taggelder dürfen nur gekürzt werden, wenn sie zusammen mit anderen Sozialversicherungsleistungen zu einer Überentschädigung führen. Eine solche liegt vor, wenn die
Taggelder den wegen des Versicherungsfalls mutmasslich entgangenen Verdienst zuzüglich der durch den Versicherungsfall verursachten Mehrkosten (z.B. ungedeckte Pflegekosten) und der Einkommenseinbussen von Angehörigen übersteigen. Eine Kürzung von KVGTaggeldern wegen einer Leistung eines VVG-Versicherers ist demgegenüber nicht zulässig.
• In welchem Ausmass VVG-Taggelder gekürzt werden können, ergibt sich allein aus dem
Versicherungsvertrag (bzw. den AVB). Üblich ist heute die Regelung, dass die Taggelder gekürzt werden, soweit sie zusammen mit anderen anrechenbaren Leistungen das versicherte
Taggeld (in der Regel 80% des versicherten Verdienstes) übersteigen. Konkret bedeutet
dies, dass das Taggeld um den vollen Betrag der IV-Rente gekürzt wird, sobald eine solche
zugesprochen worden ist. Es ist allerdings darauf zu achten, dass nur der „erwerbliche“
Anteil der IV-Rente angerechnet werden darf, wenn die IV-Rente aufgrund der sogenannten
gemischten Methode berechnet worden ist.
»» Beispiel: Frau E hat bereits seit 19 Monaten ein VVG-Taggeld von monatlich 3›600
Franken bezogen. Sie ist nach wie vor arbeitsunfähig. Nun gewährt ihr die IV eine ganze
Rente von monatlich 2’000 Franken. Der Taggeldversicherer kürzt, gestützt auf eine entsprechende Bestimmung in den AVB, das monatliche Taggeld für die restliche Bezugsdauer
um den Betrag von 2’000 Franken und zahlt von jetzt an nur noch einen Betrag von 1›600
Franken aus.
Die IV hält in ihrer Verfügung fest, dass die Rente nicht nur für die Zukunft, sondern auch
rückwirkend für die letzten 7 Monate zugesprochen wird. Der Taggeldversicherer wird,
gestützt auf die AVB, eine Rückforderung geltend machen und gegenüber der IV-Stelle den
Antrag stellen, es sei diese Rückforderung mit den Nachzahlungen der IV zu verrechnen.
Die Nachzahlungen werden deshalb direkt an den Taggeldversicherer bezahlt.
177
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Rechtliche Grundlagen
• Abschluss einer KVG-Taggeldversicherung: Art. 67-69 KVG
• Abschluss einer VVG-Taggeldversicherung: Art. 1-3a VVG
• Anzeigepflicht und Folgen der Anzeigepflichtverletzung bei VVG-Versicherungen: Art. 4-8
VVG
• Übertritt von einer KVG-Kollektivversicherung in die Einzelversicherung: Art. 71 KVG
• Übertritt von einer VVG-Kollektivversicherung in die Einzelversicherung: Art. 100 Abs. 2
VVG
• Arbeitsunfähigkeit: Art. 6 ATSG
• Dauer des Taggeldanspruchs bei KVG-Versicherungen: Art. 72 KVG
• Überentschädigungsberechnung bei KVG-Versicherungen: Art. 69 ATSG, Art. 122 KVV
• Rückforderungsrecht der Taggeldversicherer im Falle der Nachzahlung einer IV-Rente: Art.
85bis IVV
178
Ansprüche bei Erwerbsausfall
179
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Unfallversicherungstaggeld
Ein Unfall ist kaum vorhersehbar, trifft plötzlich ein und führt oft zu einschneidenden finanziellen Konsequenzen. Wird eine Person als Folge eines Unfalles arbeitsunfähig, stellt sich unter
anderem die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen sie Anspruch auf ein Taggeld hat.
Diese und weitere Fragen im Zusammenhang mit dem Unfallversicherungstaggeld beantworten
wir in diesem Kapitel.
»
Obligatorische Versicherung
»
Wann liegt ein Unfall oder eine Berufskrankheit vor?
»
Höhe des Taggeldes
»
Beginn und Ende des Anspruchs
»
Unfallkausalität als Voraussetzung
»
Kürzung des Taggeldes bei Überentschädigung
»
Rechtliche Grundlagen
Obligatorische Versicherung
Alle in der Schweiz beschäftigten Arbeitnehmenden sind obligatorisch unfallversichert. Als
Arbeitnehmende gelten Personen in einem Arbeitsverhältnis mit Lohnzahlungspflicht. Nicht
von Bedeutung ist, ob eine Person krank oder behindert ist. Sobald sie in einem Arbeitsverhältnis steht, muss sie vorbehaltlos gegen die Folgen von Unfällen versichert werden. Arbeitnehmende sind selbst dann versichert, wenn ihr Arbeitgeber es unterlassen hat, eine Versicherung
abzuschliessen oder die Prämien zu zahlen. In diesem Fall werden die gesetzlichen Leistungen
entweder von der SUVA (bei Betrieben, die der SUVA zugeteilt sind) oder von der sogenannten
Ersatzkasse erbracht.
Ebenfalls obligatorisch versichert sind zudem alle Bezüger eines Arbeitslosentaggeldes.
Teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmende, deren Arbeitszeit weniger als 8 Stunden pro Woche beträgt, sind nur gegen Berufsunfälle versichert. Bei Nichtberufsunfällen besteht kein Versicherungsschutz im Rahmen der obligatorischen Unfallversicherung. Unfälle auf dem Arbeitsweg
gelten bei diesen Personen aber als Berufsunfälle.
180
Ansprüche bei Erwerbsausfall
In der Schweiz wohnhafte Selbständigerwerbende und ihre nicht obligatorisch versicherten
mitarbeitenden Familienangehörigen (z.B. Personen, die ohne Lohn im Betrieb ihres Ehegatten
arbeiten) können sich freiwillig versichern lassen.
Nicht versichert sind alle übrigen Personen: im Haushalt arbeitende Personen, Studierende,
Kinder und nicht erwerbstätige Rentner. Diese Personen müssen sich bei einem Unfall entweder
mit den Leistungen ihrer Krankenkasse begnügen (Übernahme von Behandlungskosten mit
Kostenbeteiligung) oder diese durch eine private Zusatzversicherung ergänzen.
»» Beispiel: Frau H hat eine kaufmännische Grundausbildung und half bisher bei Bedarf
ohne Lohn in der Buchhaltung des Malergeschäfts ihres Ehemannes aus. Obwohl es möglich
gewesen wäre, sich freiwillig der UVG-Versicherung anzuschliessen, hat sie dies nicht getan.
Neu arbeitet Frau H während 6 Stunden pro Woche als Buchhalterin in einem kleineren
Reisebüro. Durch diese Tätigkeit ist sie für Berufsunfälle obligatorisch versichert, das heisst
für Unfälle, die sich bei der Arbeit oder auf dem Arbeitsweg ereignen. Würde Frau H im Reisebüro mehr als 8 Stunden pro Woche arbeiten, wäre sie auch für Nichtberufsunfälle (z.B.
Skiunfall in der Freizeit) obligatorisch versichert.
Wann liegt ein Unfall oder eine Berufskrankheit vor?
In der obligatorischen Unfallversicherung sind sowohl die Folgen von Unfällen wie auch die von
Berufskrankheiten versichert.
Als Unfall gilt die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper. Den Unfällen gleichgestellt sind gewisse
Körperschädigungen, auch wenn es an einer ungewöhnlichen Einwirkung fehlt (z.B. Knochenbrüche, Verrenkungen, Meniskusrisse, Muskelrisse und -zerrungen, Sehnenrisse, Bandläsionen
oder Trommelfellverletzungen). Versichert sind auch Schädigungen, die einer verunfallten
Person bei der Heilbehandlung zugefügt werden (z.B. durch ärztliche Kunstfehler), sowie
Rückfälle und Spätfolgen.
»» Beispiel: Herr L ist vor einigen Jahren vollständig erblindet. Er arbeitet während 5 Stunden pro Tag als kaufmännischer Angestellter und erhält daneben eine IV-Rente. Während
seiner Ferien in Italien stürzt er über ein Hindernis auf dem Trottoir und zieht sich dabei
eine komplizierte Knieverletzung zu.
Der Sturz von Herrn L erfüllt den Unfallbegriff: Es liegt eine plötzliche, nicht beabsichtigte
schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen
Körper vor. Nicht von Bedeutung ist, dass eine sehende Person an dieser Stelle kaum gestürzt wäre, dass also die Sehbehinderung für den Unfall mitverantwortlich ist, denn auf
die Ursache des Unfalls kommt es nicht an. Da Herr L mehr als 8 Stunden pro Woche als
Arbeitnehmer tätig ist, ist er auch für Nichtberufsunfälle voll versichert, und zwar auch für
solche im Ausland.
181
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Ebenfalls versichert sind Berufskrankheiten. Darunter fallen Krankheiten, welche bei der beruflichen Tätigkeit vorwiegend oder ausschliesslich durch gewisse Stoffe oder Arbeiten verursacht
worden sind. Die anerkannten Stoffe und Arbeiten sind in einer Liste aufgeführt. Auch andere
Krankheiten, die nachgewiesenermassen stark überwiegend durch eine berufliche Tätigkeit
verursacht worden sind, gelten als Berufskrankheit.
»» Beispiel: Frau B arbeitet in einer Grossbäckerei. Aufgrund einer Mehlstauballergie
erlässt die Unfallversicherung eine Nichteignungsverfügung und Frau B darf ihren Beruf
als Bäckerin nicht mehr ausüben. Die Unfallversicherung hat für die Folgen dieser Berufskrankheit aufzukommen und wird während einer gewissen Zeit ein Übergangstaggeld und
eine Übergangsentschädigung bezahlen, damit sich Frau B beruflich neu orientieren kann.
Höhe des Taggeldes
Bei voller Arbeitsunfähigkeit bezahlt die Unfallversicherung ein Taggeld von 80% des letzten
vor dem Unfall bezogenen Lohnes, des sogenannten versicherten Verdienstes. Dieser versicherte Verdienst ist gesetzlich auf maximal 126‘000 Franken pro Jahr begrenzt. Bei teilweiser
Arbeitsunfähigkeit wird das Taggeld entsprechend gekürzt. Erhält die verunfallte Person zur
Zeit des Unfalls bereits ein Taggeld (als Lohnersatz), so gilt der Lohn, der diesem Taggeld zugrunde liegt, als versicherter Verdienst.
»» Beispiel: Herr M arbeitet bei einer Strassenbaufirma und verdient 5‘000 Franken pro
Monat bzw. 65‘000 Franken pro Jahr (inkl. 13. Monatslohn). Nach einem unglücklichen
Sturz mit dem Fahrrad hat er sich einen Arm gebrochen und eine Fussverletzung zugezogen, so dass er für mehrere Wochen arbeitsunfähig ist. In dieser Zeit erhält er von der
Unfallversicherung ein Taggeld von 142.50 Franken pro Tag (65’000 Franken x 0,8 : 365).
Das Taggeld für den Monat April beträgt somit 4‘275 Franken (30 Tage à 142.50 Franken).
Hält sich eine Person auf Kosten der Unfallversicherung in einer Heilanstalt auf, erfolgt ein
Abzug vom Taggeld. Bei Alleinstehenden ohne Unterhalts- und Unterstützungspflichten beträgt
der Abzug 20% bzw. maximal 20 Franken, bei Verheirateten und bei unterhalts- oder unterstützungspflichtigen Alleinstehenden beträgt er 10% bzw. maximal 10 Franken. Hat die verunfallte
Personen für minderjährige oder in Ausbildung stehende Kinder zu sorgen, wird kein Abzug
vorgenommen.
Das Taggeld kann unter gewissen Umständen auch gekürzt werden. So ist eine Kürzung
des Taggeldes zulässig, wenn die Person den Unfall bei Ausübung eines Verbrechens oder
Vergehens (z.B. beim Fahren in angetrunkenem Zustand) oder im Zusammenhang mit einem
Wagnis (z.B. Base-Jumping) erlitten hat. Wenn die verunfallte Person für Angehörige zu sorgen
hat, darf die Kürzung aber höchstens 50% betragen.
182
Ansprüche bei Erwerbsausfall
»» Beispiel: Hätte sich der Fahrradunfall von Herrn M bei einer riskanten Downhill-Abfahrt
mit dem Mountain Bike ereignet, wäre dies als Wagnis qualifiziert worden. Herr M hätte
mit einer Kürzung des Taggeldes rechnen müssen. Da Herr M Vater von 2 minderjährigen
Kindern ist, dürfte die Kürzung aber maximal 50% betragen.
Hat eine Person einen Nichtberufsunfall grobfahrlässig verursacht, so können die Taggelder
während höchstens 2 Jahren gekürzt werden. Ansonsten ist bei Grobfahrlässigkeit keine Kürzung zulässig.
Keine Kürzung der Taggelder erfolgt, wenn die Gesundheitsschädigung nur teilweise Folge
eines Unfalls ist.
»» Beispiel: Herr K hat sich bereits vor seinem Sturz vom Baugerüst hin und wieder über
Rückenbeschwerden beklagt, seinen Beruf als Dachdecker aber immer ohne Einschränkung
weiter ausgeübt. Durch den Sturz verschlimmern sich die Beschwerden derart, dass er
seine Tätigkeit als Dachdecker vorübergehend nicht mehr ausüben kann. Obwohl Herr K
bereits vor dem Unfall unter Rückenbeschwerden litt, darf das Unfalltaggeld nicht gekürzt
werden.
Beginn und Ende des Anspruchs
Arbeitsunfähige Personen haben ab dem 3. Tag nach dem Unfall Anspruch auf ein Taggeld für
alle Wochentage, einschliesslich der Sonn- und Feiertage. Solange Anspruch auf ein Taggeld der
Invalidenversicherung (z.B. während einer Umschulung) oder auf eine Mutterschaftsentschädigung besteht, wird aber kein Taggeld bezahlt.
Das Unfalltaggeld erlischt mit der Wiedererlangung der vollen Arbeitsfähigkeit, mit dem
Beginn einer Rente oder mit dem Tod der verunfallten Person. Ein Rentenanspruch entsteht
frühestens dann, wenn von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung keine namhafte Besserung mehr erwartet werden kann. Ist dies der Fall, wird die Rentenprüfung eingeleitet und der
Taggeldanspruch endet mit dem Rentenentscheid.
»» Beispiel: Herr K aus dem obigen Beispiel erholt sich nur schlecht von seinem Sturz
vom Baugerüst. Seine Rückenbeschwerden behindern ihn derart, dass er seinen Beruf als
Dachdecker auch nach der medizinischen Behandlung nicht mehr ausüben kann. Er muss
sich nun mit einer schlechter bezahlten Hilfsarbeit begnügen. Da von der Fortsetzung der
ärztlichen Behandlung keine namhafte Besserung mehr erwartet werden kann, wird die
Rentenprüfung eingeleitet. Nachdem eine Unfallrente zugesprochen wurde, endet das Unfalltaggeld von Herrn K.
183
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Verunfallt eine arbeitslose Person und ist sie zu mehr als 50% arbeitsunfähig, erhält sie das
volle Unfallversicherungstaggeld. Beträgt die Arbeitsunfähigkeit mehr als 25%, aber höchstens
50%, erhält sie das halbe Taggeld. Bei einer Arbeitsunfähigkeit von 25% und weniger, entfällt
der Anspruch auf ein Unfallversicherungstaggeld.
Kann die Unfallversicherung arbeitslose Personen unter dem Titel der Schadenminderungspflicht zur Aufnahme einer leidensangepassten Tätigkeit verpflichten? Dies ist zulässig, sofern
die verunfallte Person in ihrer zuletzt ausgeübten Tätigkeit voraussichtlich dauernd beeinträchtigt ist und nicht nur ein labiles Geschehen während einer zeitlich beschränkten Dauer vorliegt;
und zwar selbst dann, wenn die Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit unbestrittenermassen aufgrund der Unfallfolgen beeinträchtigt ist. Die Unfallversicherung muss der Person
aber eine gewisse Anpassungszeit gewähren, um sich auf die neue Situation einzustellen
(Stellensuche etc.). In der Praxis wird eine Anpassungszeit von 3-5 Monaten als angemessen
erachtet. Für die Zeit danach hat die Unfallversicherung anhand eines Einkommensvergleichs
zu prüfen, ob weiterhin noch ein Taggeld geschuldet ist. Je nach Ergebnis des so ermittelten
Prozentsatzes verringert sich der Taggeldanspruch oder er erlischt ganz.
»» Beispiel: Frau T war arbeitslos, bezog Arbeitslosentaggelder und suchte eine Anstellung
in ihrer angestammten Tätigkeit als Receptionistin, als sie Opfer eines Brandunfalls wurde.
Trotz intensiver Behandlung verbleiben entstellende Brandnarben im Gesicht, so dass Frau
T kaum mehr als Receptionistin tätig sein kann. Die Unfallversicherung darf Frau T deshalb
auffordern, eine angepasste Tätigkeit aufzunehmen (z.B. in einem Call Center). Sie hat ihr
hierzu eine Anpassungszeit von 3-5 Monaten zu gewähren. Da Frau T bei der Arbeitslosenversicherung einen versicherten Verdienst von 60’000 Franken aufwies, in einem Call
Center zurzeit nur in einem 60%-Pensum einsatzfähig ist und dabei 30’000 Franken pro
Jahr verdienen kann, wird ihr Unfalltaggeld um 50% gekürzt.
Unfallkausalität als Voraussetzung
Zwischen dem Unfall (bzw. der Berufskrankheit) einerseits und der Arbeitsunfähigkeit andererseits muss ein Kausalzusammenhang bestehen.
Der Kausalzusammenhang ist gegeben, wenn ohne Unfall (bzw. Berufskrankheit) die Arbeitsunfähigkeit gar nicht, nicht in gleicher Stärke oder nicht im gleichen Zeitpunkt eingetreten wäre.
Der Unfall muss also nicht die alleinige oder unmittelbare Ursache sein. Ist die Unfallkausalität
einmal ärztlich nachgewiesen, so entfällt die Leistungspflicht des Unfallversicherers erst dann,
wenn der Gesundheitsschaden nur noch und ausschliesslich auf unfallfremden Ursachen beruht, die Unfallkausalität also wegfällt.
184
Ansprüche bei Erwerbsausfall
»» Beispiel: Herr W leidet schon seit einigen Jahren immer wieder an Rückenbeschwerden.
Er arbeitet seit zwei Monaten als Plattenleger, als er bei der Arbeit ausrutscht und unglücklich stürzt. Weil Herr W von seinem Arzt wegen der Verschimmerung seiner Beschwerden
zu 100% arbeitsunfähig geschrieben wird, erhält er von der SUVA ein Taggeld.
4 Monate nach dem Unfall gelangt der Vertrauensarzt der SUVA zum Ergebnis, die Folgen
des Unfalls seien abgeheilt; die verbleibenden Beschwerden würden heute auch ohne das
Unfallereignis bestehen. Wegen Wegfalls der Kausalität wird das Taggeld eingestellt.
Kürzung des Taggeldes bei Überentschädigung
Eine verunfallte Person, die bleibend in ihren Erwerbsmöglichkeiten eingeschränkt ist, erhält
nach einer einjährigen Wartezeit eine IV-Rente. Solange von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung noch eine namhafte Besserung erwartet werden kann, richtet die Unfallversicherung
aber weiterhin ein Unfalltaggeld aus. Die Person erhält also neben ihrer IV-Rente zusätzlich
auch Unfalltaggelder und somit Leistungen verschiedener Sozialversicherungen. Dies darf nun
aber nicht dazu führen, dass die Person dadurch mehr Einkünfte erzielt, als sie ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erzielen würde. Eine sogenannte Überentschädigung liegt dann vor,
wenn die Sozialversicherungsleistungen den mutmasslich entgangenen Verdienst zuzüglich der
verursachten Mehrkosten (z.B. Behandlungskosten) sowie allfälliger Einkommenseinbussen von
Angehörigen übersteigen. Da die Renten der 1. Säule, also der IV und der AHV, nicht gekürzt
werden dürfen, werden bei einer Überentschädigung die Unfalltaggelder gekürzt.
»» Beispiel: Herr T ist Hilfsarbeiter auf dem Bau und erleidet einen Skiunfall. Aufgrund der
schweren Verletzungen ist er auch ein Jahr nach dem Unfall noch in medizinischer Behandlung und bis auf weiteres vollumfänglich arbeitsunfähig. Er erhält deshalb eine ganze IVRente in der Höhe von 2‘200 Franken pro Monat. Weil Herr T mit dem Unfallversicherungstaggeld von 4‘300 Franken und der Rente von 2‘200 Franken insgesamt 1‘150 Franken
mehr erhalten würde als sein mutmasslich entgangener Verdienst, wird das Taggeld um
1‘150 Franken gekürzt.
Die Frage nach einer Überentschädigung stellt sich auch, wenn eine Person verunfallt, die
bereits eine IV-Rente bezieht und daneben erwerbstätig ist. Als mutmasslich entgangener
Verdienst gilt in einem solchen Fall dasjenige Einkommen, das die betreffende Person bei voller
Arbeitsfähigkeit erzielen würde.
185
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Rechtliche Grundlagen
• Obligatorische Versicherung: Art. 1a - 3 UVG; Art. 1 - 8 UVV; Verordnung über die Unfallversicherung von arbeitslosen Personen
• Freiwillige Versicherung: Art. 4 und 5 UVG, Art. 134 - 140 UVV
• Ersatzkasse: Art. 72 und 73 UVG
• Unfall: Art. 4 ATSG, Art. 6 UVG, Art. 9 - 11 UVV
• Berufsunfälle: Art. 7 UVG, Art. 12 und 13 UVV
• Nichtberufsunfälle: Art. 8 UVG, Art. 13 UVV
• Berufskrankheiten: Art. 9 UVG, Art. 14 UVV, UVV Anhang 1
• Versicherter Verdienst: Art. 15 UVG, Art. 22 - 24 UVV
• Unfalltaggeld: Art. 16 und 17 UVG, Art. 25 - 27 UVV
• Kürzung des Unfalltaggeldes: Art. 36 - 39 UVG, Art. 49 und 50 UVV
• Überentschädigung: Art. 68 und 69 ATSG
186
Ansprüche bei Erwerbsausfall
187
Ansprüche bei Erwerbsausfall
IV-Taggeld
Die Invalidenversicherung bezahlt während Abklärungs- und Eingliederungsmassnahmen ein
Taggeld und deckt damit (zum grossen Teil) den Erwerbsausfall, der als Folge solcher Massnahmen entsteht: Dank des IV-Taggelds wird der Lebensunterhalt der behinderten Person und
ihrer Familienangehörigen während solcher Massnahmen sichergestellt. Solange ein Taggeldanspruch besteht, entsteht noch kein Anspruch auf eine Rente. Das entspricht auch dem in der IV
geltenden generellen Grundsatz „Eingliederung vor Rente“.
In diesem Kapitel wird näher aufgezeigt, bei welchen Abklärungs- und Eingliederungsmassnahmen Anspruch auf ein IV-Taggeld besteht, unter welchen Voraussetzungen ein Taggeld bezahlt
wird und wie die Höhe des IV-Taggelds berechnet wird.
»
Wann wird ein IV-Taggeld bezahlt?
»
Wer erhält ein IV-Taggeld?
»
IV-Taggeld auch während Wartezeiten?
»
Wie wird das IV-Taggeld bemessen?
»
Sonderfall „Kleines Taggeld“
»
Rechtliche Grundlagen
Wann wird ein IV-Taggeld bezahlt?
Folgende Abklärungs- und Eingliederungsmassnahmen berechtigen zur Ausrichtung eines IV-Taggeldes:
• Abklärungsmassnahmen in einem Spital, einer MEDAS oder einer beruflichen Eingliederungsstätte
• Integrationsmassnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung
• erstmalige berufliche Ausbildungen
• Umschulungen
• Arbeitsversuche
• medizinische Massnahmen bis zum vollendeten 20. Altersjahr
• Gebrauchstraining bei von der IV abgegebenen Hilfsmitteln
Während Abklärungsmasnahmen wird ein IV-Taggeld bezahlt, wenn diese an mindestens zwei
aufeinanderfolgenden Tagen durchgeführt werden.
188
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Während Eingliederungsmassnahmen besteht Anspruch auf ein IV-Taggeld, wenn die behinderte Person
• wegen der Massnahme an mindestens drei aufeinanderfolgenden Tagen vollständig verhindert ist, einer Arbeit nachzugehen. Der Anspruch besteht hier für die Eingliederungstage
(und die dazwischen liegenden Samstage und Sonntage).
• während einer mindestens drei aufeinanderfolgende Tage dauernden Massnahme in ihrer
bisherigen Tätigkeit zu mindestens 50% arbeitsunfähig ist. Der Anspruch besteht hier für
die Eingliederungstage und die dazwischen liegenden Tage.
»» Beispiel: Frau B ist 19 Jahre alt und leidet an einem Herzfehler, der von der IV als
Geburtsgebrechen anerkannt worden ist. Während einer notwendigen Operation (medizinische Massnahme) erhält sie von der IV ein Taggeld.
Aufgrund der langen Rekonvaleszenz und der Nachbehandlungen muss Frau B ihre Ausbildung für längere Zeit unterbrechen. Da sie in dieser Zeit keinen Lehrlingslohn erhält und
somit einen Erwerbsausfall erleidet, richtet die IV auch während dieser Zeit ein Taggeld
aus.
Der Anspruch auf ein IV-Taggeld beginnt frühestens mit dem Beginn der Abklärung oder Eingliederung und erlischt spätestens mit dem Abschluss der Massnahme.
Muss eine Eingliederungsmassnahme aus gesundheitlichen Gründen unterbrochen werden,
so wird das Taggeld für eine beschränkte Zeit weiter bezahlt (je nach Dauer der Eingliederung
während längstens 30, 60 oder 90 Tagen).
Wer erhält ein IV-Taggeld?
Anspruch auf ein IV-Taggeld besteht frühestens nach Vollendung des 18. Altersjahrs.
Personen, die in einer erstmaligen beruflichen Ausbildung stehen und Personen, die das 20.
Altersjahr noch nicht vollendet haben und noch nicht erwerbstätig gewesen sind, erhalten ein
sogenanntes „kleines Taggeld“ (vgl. hierzu weiter unten).
Ein IV-Taggeld erhält grundsätzlich nur, wer als erwerbstätig gilt: Diese Voraussetzung gilt als
erfüllt, wenn eine Person unmittelbar vor ihrer Arbeitsunfähigkeit ein AHV-pflichtiges Erwerbseinkommen erzielt hat oder wenn sie glaubhaft machen kann, dass sie nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit eine Erwerbstätigkeit von längerer Dauer aufgenommen hätte. Wer bei Eintritt einer
Arbeitsunfähigkeit Arbeitslosentaggelder bezieht oder wer die Erwerbstätigkeit bereits früher
aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste, gilt ebenfalls als erwerbstätig.
Personen, die in der erstmaligen beruflichen Ausbildung stehen und solche, die noch vor
Vollendung des 20. Altersjahrs ganz oder teilweise arbeitsunfähig geworden sind, werden den
erwerbstätigen Personen gleichgestellt.
189
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Alle anderen Personen gelten als nicht erwerbstätig und haben keinen Anspruch auf ein
IV-Taggeld. Hingegen besteht allenfalls Anspruch auf eine Entschädigung für die wegen einer
Eingliederungsmassnahme anfallenden zusätzlichen Kosten für die Betreuung von Kindern
oder Familienangehörigen.
»» Beispiel: Herr A ist Karosseriespengler und hat seine Anstellung aus persönlichen Gründen aufgelöst. Danach findet er leider keine Anstellung mehr, wird bei der Arbeitslosenversicherung ausgesteuert und bezieht in der Folge Sozialhilfe. Er erleidet nun einen schweren
Autounfall und ist hernach querschnittgelähmt. Herr A meldet sich bei der IV an und diese
finanziert ihm eine Umschulung zum Sozialarbeiter. Da Herr A vor dem Unfall von der
Sozialhilfe unterstützt worden ist, gilt er als nicht erwerbstätig. Während der Umschulung
erhält er somit kein IV-Taggeld. Er kann höchstens eine Entschädigung für die aufgrund
der Umschulung allenfalls anfallenden Kinderbetreuungskosten verlangen.
Hätte Herr A unmittelbar vor dem Unfall noch Arbeitslosentaggelder bezogen, oder hätte
er seine Anstellung als Karosseriespengler aufgrund des Unfalls aufgeben müssen, hätte
ihm die IV während seiner Umschulung ein IV-Taggeld bezahlt.
IV-Taggeld auch während der Wartezeiten?
Wer aus Gründen, die nicht in der eigenen Person liegen, auf den Beginn einer erstmaligen beruflichen Ausbildung oder einer Umschulung warten muss und in der bisherigen Tätigkeit zu
mindestens 50% arbeitsunfähig ist, erhält ein Wartezeittaggeld. Der Anspruch auf ein solches
Taggeld beginnt, sobald die IV feststellt, dass eine erstmalige berufliche Ausbildung oder eine
Umschulung angezeigt ist und deshalb weitere Vorkehren anordnet (z.B. Suche eines geeigneten Umschulungsplatzes). Solange aber ein ganzes Taggeld der Arbeitslosenversicherung,
ein Taggeld oder eine Rente der Militärversicherung, eine IV-Rente, eine Entschädigung der
Erwerbsersatzordnung oder ein Taggeld der Unfallversicherung während einer Heilbehandlung
im Sinne des Unfallversicherungsgesetzes ausbezahlt wird, richtet die IV kein Wartezeittaggeld
aus.
Anspruch auf ein Wartezeittaggeld (von maximal 60 Tagen) hat zudem, wer im Anschluss an
eine erstmalige berufliche Ausbildung oder an eine Umschulung von der IV Arbeitsvermittlung
erhält und noch keine Stelle gefunden hat. Dieser Anspruch besteht jedoch nur, wenn kein Anspruch auf ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung besteht.
»» Beispiel: Frau M erkrankt an Multipler Sklerose und muss ihre Tätigkeit als Physiotherapeutin aufgeben. Die IV erachtet eine Umschulung zur kaufmännischen Angestellten als
angezeigt. Bis zum Beginn des entsprechenden Lehrgangs dauert es aber noch 5 Monate.
Die IV bezahlt Frau M während diesen 5 Monaten ein Wartezeittaggeld.
Nach Abschluss der Umschulung, während der Frau M ein normales IV-Taggeld bezogen
hat, unterstützt die IV Frau M noch im Sinne einer Arbeitsvermittlung. Weil Frau M nun
aber Anspruch auf ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung hat, kann sie kein IV-Wartezeittaggeld mehr beziehen.
190
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Wie wird das IV-Taggeld bemessen?
Das Taggeld besteht aus einer Grundentschädigung und einem zusätzlichen Kindergeld. Zusammen dürfen Grundentschädigung und Kindergeld zurzeit den Betrag von 346 Franken pro
Tag nicht übersteigen.
Die Grundentschädigung entspricht 80% des Erwerbseinkommens, das die behinderte Person
in ihrer letzten beruflichen Tätigkeit vor Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung verdient
hat, zurzeit maximal aber 277 Franken.
Ein Kindergeld erhält eine Person für jedes Kind und Pflegekind bis zum 18. Altersjahr oder bis
zum Abschluss der Ausbildung (längstens jedoch bis zum 25. Altersjahr). Ein Kindergeld wird
jedoch nur bezahlt, wenn für das Kind nicht bereits eine erwerbstätige Person Familienzulagen
erhält. Das Kindergeld beträgt zurzeit 7 Franken pro Tag pro Kind.
Wenn eine Person während der Eingliederung eine Erwerbstätigkeit ausübt und das Einkommen
aus dieser Tätigkeit zusammen mit dem Taggeld höher ist als das vor Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung erzielte Einkommen, wird das Taggeld wegen Überentschädigung
gekürzt.
Kommt die IV während der Eingliederungsmassnahme für Verpflegung und Unterkunft auf,
werden vom Taggeld 20%, maximal aber 20 Franken, abgezogen. Bei Personen mit Unterhaltspflichten gegenüber Kindern beträgt der Abzug nur 10%, maximal aber 10 Franken.
»» Beispiel: Herr K ist Aussendienstmitarbeiter in einer grösseren Firma, als er psychisch
erkrankt. Aus gesundheitlichen Gründen kann er nun nicht mehr im Aussendienst arbeiten.
Die IV gewährt ihm eine Umschulung auf eine Tätigkeit in der Buchhaltung. Diese Umschulung kann in der gleichen Firma durchgeführt werden. Als Aussendienstmitarbeiter verdiente Herr K 60‘000 Franken pro Jahr. Während der Umschulung erhält er ein Jahreseinkommen von 40‘000 Franken. Die Grundentschädigung beträgt 132 Franken pro Tag (80%
× 60‘000 Franken ÷ 365). Weil diese Grundentschädigung zusammen mit dem während der
Umschulung bezogenem Verdienst (40‘000 Franken pro Jahr bzw. 110 Franken pro Tag) zu
einer Überentschädigung führen würde, wird sie auf 54 Franken pro Tag gekürzt. Zusammen erhält Herr K gleich viel, wie er als Aussendienstmitarbeiter bezogen hat, nämlich 164
Franken pro Tag bzw. 60‘000 Franken pro Jahr.
Sonderfall „Kleines Taggeld“
Personen in erstmaliger beruflicher Ausbildung sowie unter 20-Jährige, die noch nie erwerbstätig waren, erhalten das sogenannte „kleine Taggeld“. Vorausgesetzt ist aber auch hier,
dass sie eine invaliditätsbedingte Erwerbseinbusse erleiden. Diese liegt immer dann vor,
191
Ansprüche bei Erwerbsausfall
wenn die behinderte Person im Vergleich zu einer nichtbehinderten Person mit dem gleichen
Berufsziel
• einen behinderungsbedingt reduzierten (oder gar keinen) Ausbildungslohn erhält;
• die Ausbildung behinderungsbedingt verzögert antreten muss;
• die Ausbildung behinderungsbedingt verlängern muss;
• oder die Ausbildung behinderungsbedingt infolge Durchführung einer medizinischen Eingliederungsmassnahme zwischen dem 18. und dem 20. Altersjahr unterbrechen muss.
Das kleine Taggeld beträgt jeweils 10% des Höchstbetrages des grossen Taggeldes. Da sich
dieser Höchstbetrag zurzeit auf 346 Franken beläuft, beträgt das kleine Taggeld 34.60 Franken pro Tag.
Bei Personen, die aus gesundheitlichen Gründen ihre erstmalige berufliche Ausbildung abbrechen und eine neue beginnen mussten, erhöht sich das Taggeld auf einen Dreissigstel des
während der abgebrochenen Ausbildung zuletzt erzielten Monatseinkommens.
Wenn Anspruch auf ein Kindergeld besteht, erhöht sich auch das kleine Taggeld um das Kindergeld (7 Franken pro Tag pro Kind).
Vom kleinen Taggeld werden wiederum folgende Beträge abgezogen:
• ein Dreissigstel des während der Ausbildung erzielten monatlichen Erwerbseinkommens,
• 20% des kleinen Taggelds, maximal aber 20 Franken, wenn die IV für die Verpflegung aufkommt (bei Personen mit Unterhaltspflicht gegenüber Kindern beträgt der Abzug 10% des
kleinen Taggelds, maximal aber 10 Franken).
»» Beispiel: Der 18-jährige Herr S ist körperbehindert, macht eine Anlehre in einer geschützten Werkstatt und erhält dabei keinen Lehrlingslohn. Unter der Woche wohnt er auf
Kosten der IV im dazugehörenden Wohnhaus, das Wochenende verbringt er zu Hause bei
seinen Eltern. Sein Taggeld bemisst sich wie folgt: Von Montag bis Freitag erhält er ein
Taggeld von je 27.70 Franken pro Tag (80% von 34.60 Franken), am Samstag und Sonntag
erhält er je 34.60 Franken pro Tag.
Wer in erstmaliger beruflicher Ausbildung steht und diese Ausbildung ohne gesundheitliche Beeinträchtigung bereits abgeschlossen hätte und im Erwerbsleben stünde, erhält ein Taggeld in
der Höhe von 30% des Höchstbetrages des grossen Taggeldes und somit von 103.80 Franken
pro Tag.
»» Beispiel: Die 19-jährige Frau T musste ihre Verkaufslehre aufgrund einer depressiven
Episode im 2. Lehrjahr für rund 1 Jahr unterbrechen. Im 3. Lehrjahr beträgt ihr Lehrlingslohn 1‘200 Franken. Da Frau T heute ohne Gesundheitsschaden bereits im Erwerbsleben
stehen würde, beträgt ihr Taggeld 63.80 Franken pro Tag (103.80 Franken abzüglich 1/30
von 1‘200 Franken).
192
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Rechtliche Grundlagen
• Anspruch auf ein IV-Taggeld: Art. 22 IVG, Art. 17, 17bis, 20quater, 20sexies IVV
• Wartezeittaggeld: Art. 18 und 19 IVV
• Bemessung des IV-Taggelds: Art. 23-25 IVG, Art. 21-21novies IVV
• „Kleines Taggeld“: Art. 22 Abs. 1bis IVG, Art. 22 IVV
• Kreisschreiben über die Taggelder der Invalidenversicherung (KSTI)
193
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Arbeitslosenversicherungstaggeld
Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen werden häufig arbeitslos. Sie verlieren
oft ihre Stelle, weil der Arbeitgeber mit den Leistungen nicht zufrieden ist, und haben dann
grosse Probleme, wieder eine neue Arbeit zu finden. Weil Arbeitslosigkeit meistens aus dem
Zusammenwirken verschiedener Faktoren resultiert, können sich zudem Abgrenzungsprobleme
zwischen den verschiedenen Sozialversicherungen ergeben. Die folgenden Ausführungen sollen
zeigen, unter welchen Voraussetzungen behinderte Menschen Taggelder der Arbeitslosenversicherung in Anspruch nehmen können, was sie dabei beachten müssen, wie hoch die Leistungen sind und wie lange sie in Anspruch genommen werden können.
In diesem Kapitel kann allerdings nur ein sehr kurzer Überblick über die Grundsätze des Arbeitslosenversicherungsrechts gegeben werden, ohne auf die vielen Ausnahmen und Sonderregeln in diesem dicht geregelten Rechtsgebiet näher einzugehen.
»
Voraussetzungen zum Bezug eines Taggelds der Arbeitslosenversicherung
»
Wann gilt die Beitragszeit als erfüllt?
»
Wer ist vom Nachweis der Beitragszeit befreit?
»
Vermittlungsfähigkeit
»
Nachweis der Arbeitsbemühungen
»
Anmeldung
»
Höhe des Taggeldes
»
Dauer des Taggeldanspruchs
»
Einstellung in der Anspruchsberechtigung
»
Rechtliche Grundlagen
Voraussetzungen zum Bezug eines Taggelds der Arbeitslosenversicherung
Anspruch auf ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung hat nur, wer sämtliche nachfolgende
Voraussetzungen erfüllt:
194
Ansprüche bei Erwerbsausfall
• Arbeitslosigkeit: Die betroffene Person muss arbeitslos sein. Ganz arbeitslos ist, wer in
keinem Arbeitsverhältnis steht und eine Vollzeitbeschäftigung sucht. Teilweise arbeitslos
ist, wer in keinem Arbeitsverhältnis steht und eine Teilzeitarbeit sucht, oder wer in einem
Teilzeitarbeitsverhältnis steht und eine weitere Teilzeitbeschäftigung oder eine Vollzeitbeschäftigung sucht.
• Arbeitsausfall: Die betroffene Person muss einen Arbeitsausfall von mindestens zwei aufeinander folgenden vollen Arbeitstagen erleiden, der zu einem Verdienstausfall führt. Bei
einer teilzeiterwerbstätigen Person gilt der Arbeitsausfall als anrechenbar, wenn die betroffene Person innerhalb von zwei Wochen mindestens einen Ausfall von zwei vollen Teilzeitarbeitstagen aufweist. Solange noch ein Lohn- oder Entschädigungsanspruch gegenüber
dem bisherigen Arbeitgeber besteht, oder dieser freiwillige Leistungen erbringt, die den
Verdienstausfall decken, besteht kein anrechenbarer Arbeitsausfall.
• Wohnen in der Schweiz: Anspruch auf ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung hat nur,
wer in der Schweiz wohnt. Ausländer, die sich aufgrund einer Aufenthaltsbewilligung zur
Erwerbstätigkeit in der Schweiz aufhalten, erfüllen diese Voraussetzung, nicht aber Grenzgänger, die in der Schweiz gearbeitet haben, ohne hier zu wohnen.
• Alter: Anspruch auf ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung hat nur, wer nach kantonaler
Gesetzgebung nicht mehr schulpflichtig ist und wer weder das ordentliche AHV-Rentenalter
erreicht hat noch die AHV-Rente vorbezieht. Wer sich nur im Rahmen der beruflichen Vorsorge vorzeitig pensionieren lässt, kann demgegenüber ein Taggeld beanspruchen, wenn
die Pensionierung aus wirtschaftlichen Gründen erfolgte.
»» Beispiel: Herrn T wird das Arbeitsverhältnis im Rahmen einer Restrukturierung des
Betriebs gekündigt. Weil Herr T bereits 62-jährig ist, zahlt ihm die Pensionskasse keine Austrittsleistung, sondern ab Auflösung des Arbeitsverhältnisses eine Altersrente.
Herr T wäre gerne noch einige Jahre erwerbstätig. Er kann sich nun, weil die Pensionierung aus wirtschaftlichen Gründen und nicht freiwillig erfolgt ist, bei der Arbeitslosenkasse
melden und ein Taggeld beanspruchen. Das Taggeld wird allerdings um den Betrag der
Altersrente gekürzt.
• Beitragszeit: Anspruch auf ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung hat nur, wer in den
letzten 2 Jahren vor der Anmeldung (sog. Rahmenfrist für die Beitragszeit) während mindestens 12 Monaten eine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat oder die gesetzlichen
Voraussetzungen für eine Befreiung vom Nachweis der Beitragszeit erfüllt (vgl. die näheren
Ausführungen weiter unten).
• Vermittlungsfähigkeit: Nur Personen, die bereit und in der Lage sind, eine zumutbare
Arbeit anzunehmen, und die zudem berechtigt sind, eine Erwerbstätigkeit in der Schweiz
auszuüben, haben Anspruch auf Taggelder der Arbeitslosenversicherung (vgl. die näheren
Ausführungen weiter unten).
195
Ansprüche bei Erwerbsausfall
• Kontrollvorschriften: Nur wer regelmässig die Kontrollvorschriften erfüllt, hat Anspruch
auf ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung. Das bedingt eine frühzeitige Meldung beim
regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) zur Arbeitsvermittlung (vgl. die näheren Ausführungen weiter unten).
Wann gilt die Beitragszeit als erfüllt?
Die Beitragszeit gilt grundsätzlich als erfüllt, wenn eine Person während den letzten 2 Jahren
vor dem Zeitpunkt der Anmeldung während mindestens 12 Monaten eine beitragspflichtige
Beschäftigung ausgeübt hat.
Ist eine Person in den letzten 2 Jahren vor der Anmeldung zwar in einem Arbeitsverhältnis
gestanden, hat sie aber wegen einer Krankheit oder eines Unfalls keinen Lohn erhalten und
deshalb keine Beiträge bezahlt, so werden diese Zeiten gleich wie eine beitragspflichtige Beschäftigung angerechnet.
»» Beispiel: Frau M ist vor 15 Monaten arbeitsunfähig geworden und hat seither von ihrem
Arbeitgeber ein Krankentaggeld von 80% des Lohnes erhalten. Nachdem ihr das Arbeitsverhältnis gekündigt worden ist, meldet sich Frau M sofort bei der Arbeitslosenversicherung
zum Leistungsbezug an. Der behandelnde Arzt erachtet sie für eine angepasste Tätigkeit
als 50% arbeitsfähig.
Da Frau M in den letzten 2 Jahren vor der Anmeldung immer in einem Arbeitsverhältnis
gestanden ist, erfüllt sie die Voraussetzung der Beitragzeit ohne weiteres.
Wird eine Person im Anschluss an eine berufliche Massnahme der IV arbeitslos und hat sie während der letzten 2 Jahre vor der Anmeldung während mindestens eines Jahres ein IV-Taggeld
bezogen, so erfüllt sie dann die Voraussetzung einer 1-jährigen Beitragszeit, wenn auf dem
IV-Taggeld Arbeitslosenversicherungsbeiträge bezahlt worden sind. Das ist immer dann der
Fall, wenn eine Person vor Beginn der beruflichen Massnahmen der IV als Arbeitnehmer oder
Arbeitnehmerin tätig gewesen ist.
Wer ist vom Nachweis der Beitragszeit befreit?
Verschiedene Personengruppen sind vom Nachweis genügender Beitragszeit befreit. Das betrifft insbesondere
• Personen, die wegen einer Ausbildung, Umschulung oder Weiterbildung die Mindestbeitragszeit in den letzten 2 Jahren nicht erfüllen konnten, allerdings nur, wenn sie mindestens 10 Jahre lang Wohnsitz in der Schweiz hatten;
196
Ansprüche bei Erwerbsausfall
• Personen, die wegen Krankheit, Unfall oder Mutterschaft die Mindestbeitragszeit in den
letzten 2 Jahren nicht erfüllen konnten, sofern sie während dieser Zeit Wohnsitz in der
Schweiz hatten.
Diese Tatbestände können kumuliert werden. Sie müssen in den letzten 2 Jahren vor der Anmeldung insgesamt während mehr als 12 Monaten erfüllt gewesen sein.
Vom Nachweis der Beitragszeit befreit ist zudem, wer wegen einem nicht mehr als einem Jahr
zurückliegenden Ereignis wie Trennung oder Scheidung der Ehe, Tod oder Invalidität des
Ehegatten oder wegen Wegfalls einer Invalidenrente gezwungen ist, sich um eine Erwerbstätigkeit zu bemühen.
Schliesslich sind auch Personen vom Nachweis der Beitragszeit befreit, die während mehr als
einem Jahr (im gleichen Haushalt lebende und auf dauernde Hilfe angewiesene) pflegebedürftige Personen betreut haben, falls diese Betreuungspflicht vor nicht mehr als einem Jahr vor der
Anmeldung weggefallen ist.
Bei allen diesen Befreiungstatbeständen entsteht allerding immer nur ein zeitlich befristeter Anspruch auf maximal 90 Taggelder, was einer Leistungsdauer von rund 4 Monaten entspricht.
»» Beispiel: Herrn S ist vor 5 Monaten die bisherige ganze Invalidenrente auf eine Viertelsrente (Invaliditätsgrad 45%) herabgesetzt worden. Herr S kann sich nun, obschon er in
den letzten 2 Jahren nie einer beitragspflichtigen Beschäftigung nachgegangen ist und die
Beitragszeit somit nicht erfüllt hat, zum Bezug eines Arbeitslosentaggeldes anmelden. Er
wird dieses jedoch für maximal 4 Monate erhalten. Da er zudem nach wie vor nur teilweise
vermittlungsfähig ist, wird er nur ein Taggeld von 55% der vollen Ansätze erhalten.
Vermittlungsfähigkeit
Als vermittlungsfähig gilt eine Person, wenn sie bereit, berechtigt und in der Lage ist, eine zumutbare Arbeit anzunehmen.
Die Vermittlungsfähigkeit ist somit einerseits nur dann gegeben, wenn eine Person bereit ist,
jede Arbeit unverzüglich anzunehmen. Allerdings müssen unzumutbare Arbeiten nicht angenommen werden. Das ist etwa dann der Fall, wenn eine Arbeit den berufs- und ortsüblichen,
insbesondere den gesamt- und normalarbeitsvertraglichen Bedingungen nicht entspricht, wenn
sie nicht angemessen auf die Fähigkeiten einer Person Rücksicht nimmt oder wenn sie dem
Alter, den persönlichen Verhältnissen oder dem Gesundheitszustand der versicherten Person
nicht angemessen ist.
197
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Die Vermittlungsfähigkeit wird sodann nur bejaht, wenn eine Person aus familiären und gesundheitlichen Gründen in der Lage ist, eine Arbeit anzunehmen. Im Zweifelsfall haben die behandelnde Ärzte zu bestätigen, ob und in welchem Ausmass eine
Arbeitsfähigkeit aus medizinischer Sicht besteht. Selbst bei reduzierter Arbeitsfähigkeit wird
bei behinderten Menschen eine Vermittlungsfähigkeit bejaht, falls die Restarbeitsfähigkeit auf
dem Arbeitsmarkt verwertbar erscheint.
»» Beispiel: Frau A ist Bezügerin einer Dreiviertelsrente der IV und geht einer 40%-Erwerbstätigkeit in einem Büro nach. Das Arbeitsverhältnis wird ihr gekündigt und Frau A meldet
sich zum Bezug von Arbeitslosentaggeldern an. Die behandelnden Ärzte bestätigen, dass
Frau A weiterhin in der Lage ist, einer leichten 40%-Tätigkeit nachzugehen. Falls sie bereit
ist, entsprechende Stellen anzunehmen, gilt Frau A als vermittlungsfähig; denn es werden
auf dem Arbeitsmarkt im kaufmännischen Bereich durchaus auch Teilzeitangestellte mit
kleineren Pensen gesucht.
Liegen Zweifel am Ausmass der Vermittlungsfähigkeit vor, sollten sich gesundheitlich beeinträchtigte Menschen sowohl bei der Arbeitslosenversicherung wie auch bei der IV anmelden. Bis
die IV (oder allenfalls die Unfallversicherung oder Pensionskasse) über den Grad der Invalidität
und damit über den Rentenanspruch entschieden hat, gilt die betreffende Person als voll vermittlungsfähig und hat Anspruch auf das volle Taggeld. Das bedingt aber, dass aus medizinischer Sicht mindestens eine Teilarbeitsfähigkeit – allenfalls in einer angepassten Tätigkeit –
bestätigt wird und die versicherte Person auch bereit ist, im Rahmen dieser Teilarbeitsfähigkeit
eine Stelle zu suchen.
»» Beispiel: Herr M hat bisher als Plattenleger gearbeitet. Wegen eines schweren Rückenschadens muss er diese Tätigkeit aufgeben. Nachdem das Arbeitsverhältnis aufgelöst
worden ist, meldet sich Herr M bei der Arbeitslosenversicherung an. Auch bei der IV ist ein
Leistungsgesuch hängig. Der behandelnde Arzt von Herrn M ist der Auffassung, dass Herr
M nicht mehr als Plattenleger arbeiten kann, dass ihm aber eine angepasste rückenschonende Tätigkeit noch zu 50% zumutbar sein sollte.
Wenn Herr M bereit ist, eine solche 50%-Stelle zu suchen und anzunehmen, erhält er bis
zum Entscheid der IV ein ungekürztes 100%-Taggeld.
Sobald die IV, Unfallversicherung oder Pensionskasse einen Rentenentscheid gefällt hat, wird
das Taggeld entsprechend dem festgehaltenen Invaliditätsgrad für die Zukunft herabgesetzt.
Was die bereits geleisteten Taggelder betrifft, so werden sie von der versicherten Person nicht
zurückgefordert, aber mit allfälligen Rentennachzahlungen verrechnet.
»» Beispiel: 20 Monate nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit legt die IV den Invaliditätsgrad
auf 55% fest und gewährt Herrn M eine halbe Rente. Die Arbeitslosenversicherung passt
nun das Taggeld an: Es beträgt ab jetzt nur noch 45% des bisherigen Betrags (100% - 55%
= 45%). Zudem macht die Arbeitslosenversicherung für jene 8 Monate, für welche die IV
eine Nachzahlung gewährt, eine Rückforderung geltend, die mit den Nachzahlungen der IV
verrechnet wird. Herr M muss selber aber keine Taggelder zurückzahlen.
198
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Nachweis der Arbeitsbemühungen
Es gehört zu den Pflichten einer arbeitslosen Person, sich aktiv um Arbeit auch ausserhalb des
bisherigen Berufs zu bemühen, eine vom regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) vermittelte zumutbare Arbeit anzunehmen und auf Weisung des RAV angemessene Umschulungsund Weiterbildungskurse zu besuchen.
Mit den Arbeitsbemühungen muss bereits begonnen werden, wenn eine Kündigung eingetroffen ist und die Arbeitslosigkeit damit absehbar ist. Die Bemühungen müssen schriftlich in
genügender Anzahl dokumentiert werden, und die Zusammenstellung muss dem RAV monatlich (bis spätestens am 5. Tag des Folgemonats) abgeliefert werden. Es empfiehlt sich, eng mit
dem zuständigen Mitarbeiter des RAV zusammenzuarbeiten, welcher auch über Art, Form und
Anzahl der nötigen Bemühungen Auskunft geben kann. Im Falle ungenügender Arbeitsbemühungen drohen Sanktionen (vgl. weiter unten).
Anmeldung
Wer ein Taggeld beanspruchen will, muss sich bei einer Arbeitslosenkasse anmelden. Die
Arbeitslosenkasse – und nicht das RAV – zahlt dann auch das Taggeld aus. Es gibt öffentliche
Kassen der Kantone, aber auch private Arbeitslosenkassen z.B. der Gewerkschaften. Da ein
Kassenwechsel nach erfolgter Wahl der Kasse kaum mehr möglich ist, lohnt es sich, sich bei
Bekannten oder Beratungsstellen nach kundenfreundlichen Arbeitslosenkassen zu erkundigen.
Das Tempo der Gesuchsbearbeitung, der Auszahlungsmodus und die Häufigkeit, mit welcher
Einstelltage verhängt werden, können durchaus unterschiedlich sein.
Höhe des Taggeldes
In der Arbeitslosenversicherung wird anders als in der Kranken- und Unfallversicherung das
Taggeld nicht als Monatsbetrag festgelegt, sondern als Tagesansatz. Dieser Tagesansatz wird
jeweils nur für 5 Tage pro Woche ausbezahlt. Für die Umrechnung geht man von durchschnittlich 21,7 Arbeitstagen pro Monat aus.
Die Höhe des Taggeldes errechnet sich aufgrund des versicherten Verdienstes: Als solcher
gilt in der Regel der letzte Lohn vor Beginn der Arbeitslosigkeit, bei grösseren Lohnschwankungen der Durchschnittslohn während eines Zeitraumes bis zu 12 Monaten. Die Einkommen von
verschiedenen Arbeitsstellen werden zusammengezählt.
199
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Nicht versichert ist ein monatlicher Verdienst von unter 500 Franken, auch wenn darauf Beiträge entrichtet worden sind. Nicht versichert ist ebenfalls ein 106›800 Franken übersteigender
Jahresverdienst.
Bei Versicherten, die keine genügende Beitragszeit aufweisen, aber die Voraussetzungen für
die Befreiung von der Beitragszeit erfüllen, werden vom Bundesrat festgelegte Pauschalen
als versicherter Verdienst herangezogen. Die Höhe der Pauschalen richtet sich nach dem
Ausbildungsgrad einer Person. Sie reduzieren sich bei Personen, die nach einer Ausbildung ein
Taggeld beanspruchen, das 25. Altersjahr noch nicht erreicht haben und keine Unterhaltspflicht
gegenüber Kindern erfüllen müssen, um 50%.
Ein Taggeld von 70% des versicherten Verdienstes erhalten Personen, die
• keine Unterhaltspflicht gegenüber Kindern unter 25 Jahren haben;
• ein volles Taggeld erreichen, das mehr als 140 Franken beträgt; und
• keine Invalidenrente aufgrund eines Invaliditätsgrades von mindestens 40% beziehen.
Die übrigen Versicherten erhalten ein Taggeld von 80% des versicherten Verdienstes.
»» Beispiel: Frau K, die über eine abgeschlossene berufliche Ausbildung im Detailhandel
verfügt, ist in den letzten 2 Jahren wegen einer erheblichen depressiven Störung 100%
arbeitsunfähig gewesen und keiner beruflichen Tätigkeit mehr nachgegangen. Da der Arzt
sie wieder arbeitsfähig einschätzt, sucht Frau K eine Stelle und meldet sich bei der Arbeitslosenversicherung an.
Bei Frau K wird der versicherte Verdienst aufgrund der Pauschalansätze bestimmt. Sie
erhält ein Taggeld von 80% in Höhe von 127 Franken (Ansatz für Personen mit abgeschlossener beruflicher Ausbildung), d.h. von 101.60 Franken pro Tag. Monatlich ergibt dies ein
Taggeld von durchschnittlich rund 2›200 Franken.
Erzielt eine Person während der Dauer des Taggeldbezugs einen Zwischenverdienst (d.h.
ein Einkommen aus unselbständiger oder selbständiger Erwerbstätigkeit, das tiefer liegt als
das Bruttotaggeld), so muss sie dies umgehend melden. Der Zwischenverdienst wird an das
Taggeld angerechnet. Im Ergebnis erhält die versicherte Person für die Dauer des Zwischenverdienstes etwas mehr Geld als ohne Zwischenverdienst.
Dauer des Taggeldanspruchs
Das Arbeitslosentaggeld wird gewährt, solange eine Person arbeitslos ist. Innerhalb der Rahmenfrist zum Leistungsbezug (d.h. innerhalb von 2 Jahren seit der Anmeldung) besteht jedoch
Anspruch auf maximal folgende Taggelder:
• 260 Taggelder, wenn eine Person in den letzten 2 Jahren vor der Anmeldung eine Beitragszeit von mindestens 12 Monaten nachweisen kann;
200
Ansprüche bei Erwerbsausfall
• 400 Taggelder, wenn eine Person in den letzten 2 Jahren vor der Anmeldung eine Beitragszeit von mindestens 18 Monaten nachweisen kann;
• 520 Taggelder, wenn eine Person in den letzten 2 Jahren vor der Anmeldung eine Beitragszeit von mindestens 22 Monaten nachweisen kann und bereits das 55. Altersjahr zurückgelegt hat oder eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 40% bezieht;
• 90 Taggelder, wenn eine Person keine genügende Beitragszeit nachweisen kann, aber vom
Nachweis der Beitragszeit befreit ist.
Personen unter 25 Jahren und ohne Unterhaltspflicht gegenüber Kindern haben immer nur
Anspruch auf maximal 200 Taggelder. Dafür verlängert sich der maximale Anspruch bei
Personen, die sich in den letzten 4 Jahren vor Erreichen des AHV-Alters zum Bezug von
Taggeldern anmelden, um zusätzliche 120 Taggelder. Die Rahmenfrist zum Leistungsbezug
verlängert sich dabei bis zum AHV-Alter.
Der Anspruch auf ein Taggeld entsteht in der Regel nicht sofort mit der Anmeldung, sondern
erst nach einer gewissen Wartezeit, welche je nach Höhe des versicherten Verdienstes und
allfälliger Unterhaltspflichten gegenüber Kindern zwischen 5 und 20 Tagen beträgt. Keine
Wartezeit zu bestehen haben einzig Versicherte mit einem versicherten Verdienst bis 36›000
Franken pro Jahr. Dasselbe gilt für Versicherte mit einem versicherten Verdienst von 36›000 bis
60›000 Franken, falls Sie gegenüber Kindern unter 25 Jahren unterhaltspflichtig sind.
Wer vom Nachweis der Beitragszeit befreit ist, muss ebenfalls eine Wartezeit von 5 Tagen
bestehen. Ist die Befreiung allerdings erfolgt, weil eine Person in den letzten 2 Jahren vor der
Anmeldung während mindestens eines Jahres eine Ausbildung absolviert hat, beträgt die Wartezeit 120 Tage, bevor der Anspruch auf ein Taggeld entsteht.
»» Beispiel: Frau K hat ihren letzten Arbeitsplatz vor 20 Monaten verloren. Sie ist seither
arbeitsunfähig gewesen, was ärztlich attestiert worden ist. Nun hat sich der Gesundheitszustand nach einer Operation wieder verbessert und Frau K sucht wieder eine Stelle. Sie
meldet sich bei der Arbeitslosenversicherung an.
Frau K erfüllt die Beitragszeit nicht, ist aber vom Nachweis der Beitragszeit befreit, weil sie
in den letzten 2 Jahren während mindestens eines Jahres wegen ihrer Krankheit arbeitsunfähig gewesen ist. Sie wird von der Arbeitslosenkasse nach einer Wartezeit von 5 Tagen ein
Taggeld erhalten, allerdings nur für maximal 90 Tage, d.h. während rund 4 Monaten.
Ist eine Person vorübergehend wegen Krankheit, Unfall oder Schwangerschaft arbeitsunfähig, so wird das Taggeld längstens bis zum 30. Tag der Arbeitsunfähigkeit weiter bezahlt.
Diese Fortzahlung ist im Fall mehrmaliger Arbeitsunfähigkeit innerhalb einer Rahmenfrist auf
insgesamt 44 Taggelder begrenzt. 201
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Einstellung in der Anspruchsberechtigung
Hat eine arbeitslose Person durch eigenes Verschulden ihre Stelle verloren (z.B. eigene Kündigung), hat sie auf Lohn- und Entschädigungsansprüche gegenüber dem bisherigen Arbeitgeber
verzichtet, bemüht sie sich nicht in genügendem Ausmass um zumutbare Arbeit, lehnt sie eine
zumutbare Arbeit ab oder tritt sie eine vom RAV angeordnete Weiterbildungsmassnahme nicht
an bzw. bricht diese wieder ab, so kann die zuständige kantonale Amtsstelle im Sinne einer
Sanktion eine Einstellung in der Anspruchsberechtigung für bis zu 60 Tage verfügen. Die
Dauer der Einstellung hängt von der Schwere des Verschuldens ab: Während der Einstelltage
erhält die betreffende Person, obschon sie alle Voraussetzungen erfüllt, kein Taggeld.
»» Beispiel: Herrn S ist seine letzte Stelle vom Arbeitgeber gekündigt worden, weil dieser
mit den Leistungen nicht mehr zufrieden gewesen ist. Die kantonale Amtsstelle verfügt in
der Folge eine Einstellung in der Anspruchsberechtigung für 30 Tage wegen selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit.
Herr S kann sich gegen diese Sanktion rechtlich wehren, wenn er nachweist, dass er die
ungenügenden Leistungen nicht selbst verschuldet hat, sondern eine gesundheitliche Beeinträchtigung deren Ursache gewesen war. Er muss eine entsprechende ärztliche Bestätigung
beibringen.
202
Ansprüche bei Erwerbsausfall
Rechtliche Grundlagen
• Voraussetzungen zum Bezug eines Taggeldes der Arbeitslosenversicherung: Art. 8 AVIG
• Begriff der Arbeitslosigkeit: Art. 10 AVIG
• Anrechenbarer Arbeitsausfall: Art. 11, 11a AVIG
• Anspruch von vorzeitig pensionierten Personen: Art. 12 AVIV
• Erfüllung der Beitragszeit: Art. 13 AVIG
• Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit: Art. 14 AVIG; Art. 13 AVIV
• Vermittlungsfähigkeit: Art. 15, 16 AVIG; Art. 15 AVIV
• Erfüllung der Kontrollvorschriften: Art. 17 AVIG; Art. 26-27 AVIV
• Versicherter Verdienst: Art. 23 AVIG, Art. 37, 40-41 AVIV
• Höhe des Taggeldes: Art. 22 AVIG; Art. 33-34 AVIV
• Zwischenverdienst: Art. 24 AVIG
• Höchstzahl der Taggelder: Art. 27 AVIG, Art. 41b AVIV
• Wartezeiten: Art. 18 AVIG; Art. 6, 6a AVIV
• Anspruch auf Taggelder bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit: Art. 28 AVIG
• Einstellung in der Anspruchsberechtigung: Art. 30 AVIG; Art. 44-45 AVIV
203
Ansprüche bei Erwerbsausfall
204
Renten und
Ergänzungsleistungen
• Invalidität: Begriff und
Bemessung
• Invalidenrenten der IV
• Invalidenrenten der
Unfallversicherung
• Invalidenrenten der beruflichen Vorsorge
• Ergänzungsleistungen
Renten und Ergänzungsleistungen
Invaliditätsbegriff und Invaliditätsbemessung
Eine Rente wird nur bezahlt, wenn eine Invalidität im rechtlichen Sinn besteht und wenn diese
Invalidität einen bestimmten Grad erreicht.
Auch wer in erheblichem Mass gesundheitlich beeinträchtig ist, erfüllt die Voraussetzungen
für eine Rente nicht immer; denn eine Invalidität wird erst anerkannt, wenn sich die gesundheitlichen Probleme auf die Erwerbsmöglichkeiten oder die Arbeitsfähigkeit im angestammten
Aufgabenbereich auswirken. So kommt es, dass – zum Erstaunen vieler – ein Paraplegiker oft
keine Rente bezieht, weil er beruflich gut eingegliedert ist.
Die Invaliditätsbemessung gibt wie keine andere Frage im Bereich des Sozialversicherungsrechts regelmässig zu rechtlichen Auseinandersetzungen Anlass. Das liegt einerseits daran,
dass es für die betroffenen Personen um eine existentiellen Anspruch geht: Nur wer über die
nötigen Mittel verfügt, kann auch aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Es liegt aber
andererseits auch daran, dass die Ausgaben für Renten die Sozialversicherer und die Öffentlichkeit stark belasten, weshalb diese bemüht sind, die Voraussetzungen restriktiv auszulegen.
In diesem Kapitel wird erklärt, wann im schweizerischen Sozialversicherungsrecht eine Invalidität anerkannt wird und wie der Invaliditätsgrad bemessen wird. Dabei werden nur die wesentlichen Grundsätze dargestellt, auf alle Besonderheiten kann nicht eingegangen werden.
206
»
Der Invaliditätsbegriff
»
Welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen gelten als objektiv überwindbar?
»
Verschiedene Methoden der Invaliditätsbemessung
»
Die Methode des Einkommensvergleichs
»
Wie wird das hypothetische Einkommen ohne Invalidität ermittelt?
»
Wie wird das zumutbare Invalideneinkommen ermittelt?
»
Die Methode des Betätigungsvergleichs
»
Die gemischte Methode
»
Medizinische Beurteilung, berufliche Abklärung und Hauhaltsabklärung
»
Rechtliche Grundlagen
Renten und Ergänzungsleistungen
Der Invaliditätsbegriff
Als „Invalidität“ wird gemäss gesetzlicher Definition eine voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit verstanden. Eine „Erwerbsunfähigkeit“ liegt dann vor, wenn als Folge einer Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder
psychischen Gesundheit auch nach zumutbarer Behandlung und Eingliederung ein vollständiger
oder teilweiser Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt resultiert.
Jeder Invalidität muss somit als erstes eine gesundheitliche Beeinträchtigung zugrunde liegen. Die Ursache dieser gesundheitlichen Beeinträchtigung ist ohne Bedeutung. Es spielt also
keine Rolle, ob eine Person von Geburt an beeinträchtigt ist oder ob sie später erkrankt oder
verunfallt.
Der Gesundheitsschaden kann körperlicher, geistiger oder psychischer Art sein. Während sich
körperliche und sensorische Beeinträchtigungen meistens mit bildgebenden Verfahren und im
Rahmen von klinischen Untersuchungen nachweisen lassen, bestehen diesbezüglich bei geistigen und psychischen Beeinträchtigungen grosse Schwierigkeiten.
»» Beispiel: Herr S leidet als Folge eines Geburtsgebrechens an einer Intelligenzminderung.
In einem Test ist ein IQ von 75 ermittelt worden. Zusätzlich hat eine neuropsychologische
Untersuchung erhebliche Defizite in den Bereichen der Wahrnehmung und Konzentration
ergeben.
Nach geltender Praxis liegt ein geistiger Gesundheitsschaden vor, wenn der IQ unter 70
liegt. Weil aber bei Herrn S noch zusätzliche Einschränkungen bestehen, wird bei ihm das
Vorliegen einer Invalidität bejaht.
»» Beispiel: Frau H ist vor 8 Jahren in die Schweiz eingereist und beherrscht die hiesige
Sprache nur mässig. Nun ist sie von ihrem Mann verlassen worden. Auch am Arbeitsplatz
erhöht sich der Druck und es droht der Verlust der Arbeitsstelle. Frau H reagiert auf diese
Geschehnisse mit einer Depression.
Solange eine psychische Beeinträchtigung in erster Linie auf persönliche und soziokulturelle Faktoren zurückzuführen ist, liegt gemäss geltender Praxis noch kein invalidisierender
Gesundheitsschaden vor. Erst wenn sich die depressive Störung von Frau H verselbständigt
und chronifiziert hat, wird eine Invalidität anerkannt.
»» Beispiel: Herr B trinkt übermässig Alkohol und hat deswegen seine langjährige Stelle
deswegen verloren. Die Ärzte halten ihn auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr für vermittelbar.
Eine stationäre Entzugsbehandlung lehnt Herr B bisher jedoch ab.
Süchte (wie z.B. Alkoholismus, Medikamenten- und Drogenabhängigkeit) gelten nicht als
invalidisierende Beeinträchtigungen im Sinn der Sozialversicherungen, ausser die Sucht
sei selber Folge einer anderen gesundheitlichen Beeinträchtigung (z.B. einer schweren
Persönlichkeitsstörung) oder habe ihrerseits zu einer irreversiblen Beeinträchtigung (z.B.
neuropsychologische Störung) geführt.
207
Renten und Ergänzungsleistungen
Um Letzteres beurteilen zu können, verlangen die Sozialversicherer häufig, dass sich die
betreffende Person einer Entzugsbehandlung unterzieht. Solange sich Herr B dagegen
wehrt, wird er kaum eine Rente zugesprochen erhalten.
Eine gesundheitliche Beeinträchtigung genügt für sich allein nicht zur Annahme einer Invalidität, auch wenn sie die körperliche und seelische Integrität eines Menschen noch so stark
beeinflusst. Für die Sozialversicherungen ist sie im Hinblick auf die Beurteilung eines Rentenanspruchs erst dann relevant, wenn sie die Erwerbsfähigkeit einschränkt, und zwar für die Dauer
von mehr als einem Jahr. Massgebend ist somit, wie stark als Folge der gesundheitlichen Beeinträchtigung die Erwerbsmöglichkeiten eingeschränkt werden.
Eine Invalidität liegt zudem nur vor, wenn die Erwerbsunfähigkeit einer Person wirklich primär
Folge ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung und nicht anderer Faktoren ist. Dieser Kausalzusammenhang muss gegeben sein. Ausser acht gelassen werden persönliche Faktoren wie
Ausländerstatus, sprachliche Probleme, Alter oder auch Probleme auf dem Arbeitsmarkt (Rezession).
® Beispiel: Herr F arbeitet seit 30 Jahren als Hilfsarbeiter auf dem Bau. Im Alter von 53 Jahren
muss er seine Tätigkeit wegen Kniebeschwerden aufgeben. Die medizinischen Abklärungen der
Invalidenversicherung ergeben, dass Herr F nicht mehr auf seinen Beruf zurückkehren kann.
In einer leichteren vorwiegend sitzenden Tätigkeit wird jedoch volle Arbeitsfähigkeit attestiert.
Obschon die IV Herrn F bei der Stellensuche unterstützt, findet dieser keine neue Stelle mehr.
Dass Herr F wegen seines Alters, seiner sprachlichen Defizite und eher bescheidenen Anpassungsfähigkeit keine Arbeit mehr findet, wird bei der Invaliditätsbemessung nicht berücksichtigt. Nur wenn eine Person kurz vor Erreichen des AHV-Alters ihre langjährige Tätigkeit aus
gesundheitlichen Gründen aufgeben muss, wird der Tatsache Rechnung getragen, dass eine
solche Person praktisch nicht mehr eingegliedert werden kann.
Es gibt gewisse Personengruppen, bei denen sich die Erwerbsunfähigkeit als untaugliches Kriterium für die Feststellung einer Invalidität erweist. Zu denken ist etwa an Hausfrauen und Hausmänner, die auch ohne gesundheitliche Beeinträchtigung keiner Erwerbstätigkeit nachgehen
würden: Diese Personen gelten dann als invalid, wenn ihre Arbeitsfähigkeit bezüglich ihres
Aufgabenbereichs (z.B. der Haushaltführung und Kinderbetreuung) während mehr als eines
Jahres beeinträchtigt ist.
Welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen gelten als objektiv
überwindbar?
Nach der heutigen Praxis gelten eine ganze Reihe von gesundheitlichen Beeinträchtigungen
als objektiv überwindbar und begründen deshalb in aller Regel keine Invalidität: Es sind dies
Schmerz- und Ermüdungszustände, die sich organisch nicht (oder zumindest nicht im geklagten Ausmass) erklären lassen, wie z.B. die somatoformen Schmerzstörungen, die Fibromyalgie,
208
Renten und Ergänzungsleistungen
das Chronic Fatigue Syndrom, die Hypersomnie oder das Schleudertrauma ohne organisch
nachweisbare Funktionsausfälle. Das Bundesgericht spricht von „pathogenetisch-ätiologisch
unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Ursache“.
Bei den genannten gesundheitlichen Beeinträchtigungen wird nur ganz ausnahmsweise eine
Invalidität anerkannt. Das ist dann der Fall, wenn eine „ausgewiesene psychische Komorbidität von erheblicher Schwere, Ausprägung, Intensität und Dauer“ besteht, das heisst wenn ein
zusätzliches eigenständiges psychisches Leiden vorliegt, welches die Möglichkeit der Überwindung stark beeinträchtigt. Es ist weiter dann der Fall, wenn mehrere andere Kriterien erfüllt
sind, wie z.B. chronische körperliche Begleiterkrankungen mit langjährigem und fortschreitendem Verlauf oder unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequent durchgeführter
Behandlungsbemühungen.
»» Beispiel: Frau T leidet seit vielen Jahren an diffusen Schmerzen, welche von ihren Ärzten
als Fibromyalgie diagnostiziert worden sind. Sie hat deswegen ihre Arbeit vor 3 Jahren
aufgegeben. Alle therapeutischen Versuche sind bisher gescheitert. Wegen der ständigen
Schmerzen hat sich bei Frau T eine leichte depressive Störung entwickelt.
Die Invalidenversicherung wird mit grösster Wahrscheinlichkeit keine Invalidität anerkennen, da das Schmerzsyndrom als objektiv überwindbar gilt. Es hilft Frau T auch nicht, dass
sie depressiv geworden ist, denn bei leichtgradigen depressiven Erkrankungen anerkennen
die Gerichte keine psychische Komorbidität von erheblicher Schwere.
Früher war die Praxis der Sozialversicherer noch weniger streng. Damals haben zahlreiche
Betroffene wegen somatoformer Schmerzstörungen (körperlicher Beschwerden, die sich nicht
oder nicht hinreichend auf eine organische Erkrankung zurückführen lassen) und ähnlicher Leiden noch eine Invalidenrente erhalten. Das Parlament hat darauf im Rahmen der IVG-Revision
6a beschlossen, dass all diese Renten in den Jahren 2012-2014 überprüft und herabgesetzt
oder aufgehoben werden sollen, wenn nach den neuen Kriterien keine Invalidität mehr angenommen werden kann. Von dieser Überprüfung bleibt nur verschont, wer am 1.1.2012 bereits
das 55. Altersjahr erreicht hat oder im Zeitpunkt der Überprüfung die Rente schon seit 15
Jahren oder länger bezogen hat.
»» Beispiel: Herr L leidet an einer somatoformen Schmerzstörung. Er bezieht seit 2001 eine
halbe IV-Rente. Im Jahr 2014 leitet die IV-Stelle eine Überprüfung dieser Rente ein. Da Herr
L das 55. Altersjahr noch nicht erreicht hat, wird seine Rente aufgehoben, es sei denn, es
bestehen noch weitere gesundheitliche Beeinträchtigungen, die eine Invalidität begründen
könnten. Um dies abzuklären, wird die IV-Stelle ein Gutachten in Auftrag geben. Gelangt
die IV-Stelle zum Ergebnis, dass die Rente aufzuheben ist, muss sie Herrn L berufliche
Eingliederungsmassnahmen anbieten. Falls Herr L bereit ist, an diesen Massnahmen aktiv
mitzuwirken, wird die Rente für die Dauer der beruflichen Massnahmen weiter bezahlt,
allerdings maximal für 2 Jahre.
209
Renten und Ergänzungsleistungen
Verschiedene Methoden der Invaliditätsbemessung
Die Bemessung des Invaliditätsgrades ist oft komplex und gibt zu vielen rechtlichen Auseinandersetzungen Anlass. Es wird in der Invalidenversicherung grundsätzlich zwischen drei
verschiedenen Methoden unterschieden:
• Die Methode des Einkommensvergleichs kommt zur Anwendung, wenn eine Person ohne
gesundheitliche Beeinträchtigung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einer 100%-Erwerbstätigkeit nachgehen würde.
• Die Methode des Betätigungsvergleichs kommt zur Anwendung, wenn eine Person ohne
gesundheitliche Beeinträchtigung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit keiner Erwerbstätigkeit nachgehen würde, dafür aber in einem „Aufgabenbereich“ tätig wäre (z.B. Haushaltführung oder Kinderbetreuung).
• Die gemischte Methode kommt schliesslich zur Anwendung, wenn eine Person ohne gesundheitliche Beeinträchtigung einer Teilerwerbstätigkeit nachgehen würde und daneben
noch in einem anderen Aufgabenbereich tätig wäre.
»» Beispiel: Frau H ist alleinstehend und hat bis zum Ausbruch ihrer schweren Krankheit
zu 80% als Pflegefachfrau gearbeitet. Daneben hat sie sich von ihrer Arbeit erholt und viel
Sport getrieben.
In diesem Fall ist zwar Frau H zwar nicht zu 100% erwerbstätig gewesen. Da sie aber in
Ergänzung zu ihrer Erwerbstätigkeit in keinem anerkannten Aufgabenbereich tätig gewesen ist, gelangt dennoch die Methode des Einkommensvergleichs und nicht die gemischte
Methode bei der Bemessung des Invaliditätsgrades zur Anwendung.
Massgebend für die Wahl der Methode ist immer, was eine Person tun würde, wenn sie nicht
invalid geworden wäre. Weil diese Frage nie mit absoluter Sicherheit beantwortet werden kann,
wird ermittelt, welches die überwiegend wahrscheinliche Konstellation ist. Die Abklärungsdienste der IV-Stellen beurteilen die Frage aufgrund einer Befragung der betroffenen Person
und unter Berücksichtigung der Verhältnisse vor Eintritt der Invalidität.
»» Beispiel: Frau C, 38-jährig, seit 10 Jahren verheiratet, hat bis kurz vor der Geburt ihrer
Tochter vor 8 Jahren zu 100% als Sekretärin gearbeitet. Seither besorgt sie den Haushalt
und betreut ihre Tochter. Vor 5 Jahren ist sie an Multipler Sklerose erkrankt. Nachdem
sich ihr Gesundheitszustand erheblich verschlechtert hat, meldet sie sich zum Bezug von
IV-Leistungen an.
In diesem Fall steht zwar fest, dass Frau C vor Eintritt der Invalidität nicht erwerbstätig
gewesen ist. Es ist aber durchaus denkbar, dass sie ohne ihre Krankheit wieder eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hätte, beispielsweise seitdem die Tochter zur Schule geht. Für
die IV ist massgebend, welche Möglichkeit als die wahrscheinlichste erscheint. Diese Frage
wird aufgrund der konkreten Umstände (Beziehung der Frau zu ihrem Beruf, finanzielle
Verhältnisse, Betreuungsbedarf des Kindes) beantwortet.
210
Renten und Ergänzungsleistungen
In diesem Fall kommt der Abklärungsdienst der IV zum Ergebnis, dass Frau C mit überwiegender Wahrscheinlichkeit wieder eine 50%-Erwerbstätigkeit aufgenommen hätte. Es
gelangt deshalb die gemischte Methode zur Anwendung.
Anders als in der Invalidenversicherung wird bei der Unfallversicherung und der beruflichen
Vorsorge der Invaliditätsgrad immer nach der Methode des Einkommensvergleichs ermittelt.
Die Methode des Einkommensvergleichs
Bei der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs wird der Invaliditätsgrad aufgrund
eines Vergleichs zweier Einkommen ermittelt:
• einerseits des Einkommens, das die betreffende Person mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erzielen würde (sog. „hypothetisches Einkommen ohne Invalidität“ oder auch „Valideneinkommen“)
• andererseits des Einkommens, welches die betreffende Person nach Durchführung der zumutbaren Behandlung und Eingliederung auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt theoretisch
noch erzielen könnte (sog. zumutbares Invalideneinkommen)
»» Beispiel: Herr T hat vor seinem Unfall als Dachdecker gearbeitet und einen monatlichen
Verdienst von 5‘900 Franken erzielt. Da Herr T weiter auf seinem Beruf gearbeitet hätte
und der Arbeitgeber den Lohn der Teuerung angepasst hätte, ergibt sich ein hypothetisches
Einkommen ohne Invalidität von 6‘000 Franken.
Herr T kann nun aus ärztlicher Sicht nur noch zu 50% einer angepassten leichten Tätigkeit
nachgehen. Die IV-Stelle ermittelt ein zumutbares Invalideneinkommen von monatlich
2‘400 Franken.
Der Vergleich dieser beiden Einkommen ergibt eine Verdiensteinbusse von 60%. Der Invaliditätsgrad von Herrn T beträgt somit 60%.
Wie wird das hypothetische Einkommen ohne Invalidität ermittelt?
Gefragt wird, was eine Person im Moment des Einkommensvergleichs ohne gesundheitliche
Beeinträchtigung verdienen würde. Wenn eine Person während vielen Jahren auf ihrem Beruf
gearbeitet hat und diesen nur wegen der gesundheitlichen Probleme aufgegeben oder reduziert
hat, wird auf das letzte Einkommen vor Beginn der gesundheitlichen Einschränkungen abgestellt und dieses der Teuerung angepasst.
211
Renten und Ergänzungsleistungen
Schwieriger ist es, das hypothetische Einkommen ohne Invalidität zu ermitteln, wenn eine
Person in den letzten Jahren oft die Stelle gewechselt, unterschiedlichste Einkommen erzielt hat
und dazwischen auch arbeitslos gewesen ist. In solchen Fällen wird in der Regel auf die statistischen Durchschnittslöhne abgestellt, welche mit dem erlernten Beruf in der Schweiz erzielt
werden (sog. LSE-Tabellenlöhne).
Besteht eine Behinderung bereits seit der Geburt oder ist sie in der Jugendzeit eingetreten und
konnte die betreffende Person deshalb gar keine eigentliche Berufsausbildung absolvieren, ist
es natürlich schwierig zu bestimmen, welches Einkommen sie ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erzielen würde. Bei diesen Geburts- und Frühbehinderten wird mangels einer präzisen
Vergleichsbasis der statistisch ermittelte durchschnittliche Arbeitnehmerlohn in der Schweiz
als Valideneinkommen eingesetzt. Dieser beträgt für Personen ab 30 Jahren 77‘000 Franken im
Jahr. Bei Versicherten bis 21 Jahren werden 70% davon eingesetzt (53‘900 Franken), bei Versicherten bis 25 Jahren 80% (61‘600 Franken) und bei Versicherten zwischen 25 und 30 Jahren
90% (69‘300 Franken).
»» Beispiel: Herr O ist geistig beeinträchtigt. Er hat die Sonderschule besucht und anschliessend in einer Eingliederungsstätte eine interne Ausbildung zum Gärtnerei-Praktiker
absolviert. Hierbei handelt es sich nicht um einen üblichen anerkannten Ausbildungsabschluss, weshalb bei Herrn O für die Invaliditätsbemessung der durchschnittliche Arbeitnehmerlohn als hypothetisches Einkommen ohne Invalidität eingesetzt wird. Herr O ist mittlerweile 22-jährig, sein jährliches Valideneinkommen beträgt damit 61'600 Franken.
Besonders schwierig ist die Ermittlung des hypothetischen Einkommens ohne Invalidität bei
Selbständigerwerbenden. Deren Verdienst unterliegt häufig grossen Schwankungen. Zur Ermittlung des hypothetischen Einkommens ohne Invalidität wird deshalb auf den Durchschnitt der
letzten Jahre zurückgegriffen. Das ist allerdings dann nicht zulässig, wenn ein Betrieb erst in
der Aufbauphase ist und damit zu rechnen ist, dass er sich weiter entwickelt hätte. In solchen
Fällen muss der mutmassliche Verdienst ohne Invalidität aufgrund einer Abklärung vor Ort und
in Berücksichtigung der Ergebnisse ähnlicher Betriebe ermittelt werden.
»» Beispiel: Herr P betreibt eine kleine Bäckerei. In den Jahresabschlüssen der letzten 3
Jahre hat er im Durchschnitt Jahresgewinne zwischen 28‘000 und 36‘000 Franken ausgewiesen und versteuert. Es ist davon auszugehen, dass Herr P ohne sein Lungenleiden seinen
Betrieb weitergeführt hätte. Die IV-Stelle setzt deshalb als hypothetisches Einkommen ohne
Invalidität einen jährlichen Verdienst von teuerungsangepasst 35‘000 Franken ein. Es
nützt Herrn P nichts, dass er als Arbeitnehmer in einer Grossbäckerei mehr verdient hätte,
denn für die Bestimmung des Valideneinkommens ist einzig massgebend, was eine Person
ohne gesundheitliche Beeinträchtigung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit verdienen
würde, nicht was sie hätte verdienen können.
212
Renten und Ergänzungsleistungen
Wie wird das zumutbare Invalideneinkommen ermittelt?
Das Invalideneinkommen entspricht dem Einkommen, das eine gesundheitlich beeinträchtigte Person nach Durchführung von zumutbaren medizinischen Behandlungen und beruflichen
Eingliederungsmassnahmen bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage zumutbarerweise erzielen
könnte. Was zumutbar ist, bestimmt dabei weitgehend die medizinische Beurteilung.
Ob eine behinderte Person eine ihr zumutbare Tätigkeit tatsächlich ausübt, ist für die Bemessung des Invalideneinkommens nicht erheblich. Bei Personen, die aus irgendwelchen Gründen
nicht im Ausmass der von den Ärzten festgehaltenen Arbeitsfähigkeit arbeiten, wird das zumutbare Invalideneinkommen nicht aufgrund des effektiven Verdienstes festgelegt, sondern in der
Regel anhand von statistischen Durchschnittslöhnen (sog. LSE-Tabellenlöhne). Von diesen
Tabellenlöhnen wird dann ein sog. „leidensbedingter Abzug“ bis maximal 25% vorgenommen,
wenn eine Person aus gesundheitlichen Gründen nur noch beschränkt einsetzbar ist oder wenn
sie aus anderen Gründen (wie z.B. fortgeschrittenes Alter) nicht mehr in der Lage ist, den statistischen Lohn zu erreichen.
»» Beispiel: Bei Frau S, die früher als Krankenpflegerin gearbeitet hat, verneinen die medizinischen Gutachter eine Arbeitsfähigkeit im früheren Beruf. Sie halten jedoch eine leichte
70%-Erwerbstätigkeit ohne längeres Stehen und ohne Heben von Gewichten von mehr als 5
kg als zumutbar. Frau S arbeitet effektiv aber nur noch zu 40% im Geschäft ihres Onkels.
Da Frau S die ihr zugemutete Arbeitsfähigkeit nicht voll nutzt, wird das Invalideneinkommen nicht aufgrund ihres effektiven Verdienstes festgesetzt, sondern anhand von statistischen Durchschnittslöhnen von Hilfsarbeiterinnen. Von diesen statistischen Löhnen wird
ein Anteil von 70% angerechnet. Zusätzlich wird ein sog. „leidensbedingter“ Abzug von 10%
vorgenommen und damit der Tatsache Rechnung getragen, dass Frau S nur noch eingeschränkt einsetzbar ist und deshalb mit einem unterdurchschnittlichen Lohn rechnen muss.
Die Sozialversicherungen gehen bei der Festlegung des Invalideneinkommens nicht von den
Verdienstmöglichkeiten auf dem realen Arbeitsmarkt aus, sondern unterstellen einen „ausgeglichenen“ Arbeitsmarkt, der das ganze Spektrum möglicher Tätigkeiten anbietet. Das führt
zum unbefriedigenden Ergebnis, dass viele behinderte Menschen zwar keine Stelle mehr finden, aber auch keine Rente erhalten.
»» Beispiel: Herr K hat 38 Jahre lang als Schreiner gearbeitet. Für die bisherige Tätigkeit
ist er aufgrund seiner neurologischen Erkrankung zwar unbestrittenermassen nicht mehr
arbeitsfähig, gilt jedoch aus Sicht des ärztlichen Dienstes der IV-Stelle für eine leichte und
wechselbelastete Tätigkeit ohne körperliche Belastungen und mit der Möglichkeit, jede
Stunde eine Pause einzulegen, noch als 80% leistungsfähig. Herr K findet im Alter von 57
Jahren allerdings trotz intensiver Bemühungen in der weiteren Umgebung seines Wohnortes keinen Arbeitgeber, der bereit ist, ihm eine solche Tätigkeit anzubieten.
Ungeachtet dieser Tatsache geht die IV davon aus, dass solche Stellen auf einem „ausgeglichenen“ Arbeitsmarkt vorhanden sind und bemisst das Invalideneinkommen gestützt auf
statistische Durchschnittslöhne für ungelernte Tätigkeiten, wobei 80% angerechnet werden
und zusätzlich ein leidensbedingter Abzug von 20% vorgenommen wird.
213
Renten und Ergänzungsleistungen
Das Bundesgericht hat immerhin in letzter Zeit in gewissen Situationen, bei denen eine Person kurz vor Erreichen des AHV-Alters die bisherige Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen
aufgeben muss, anerkannt, dass die Verwertbarkeit einer theoretisch möglichen angepassten
Tätigkeit selbst auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt nicht mehr besteht.
Massgebend ist schliesslich immer, was eine behinderte Person aufgrund ihrer effektiven Leistungen noch verdienen kann. Wenn der Arbeitgeber aus sozialem Verantwortungsbewusstsein
einem langjährigen Mitarbeiter trotz erheblicher Leistungseinbussen den Lohn hochhält, so
wird der Anteil an sog. Soziallohn nicht in die Berechnung des Invalideneinkommens einbezogen. Die Sozialversicherungen sind allerdings eher zurückhaltend mit der Anerkennung von
Soziallohn.
Die Methode des Betätigungsvergleichs
Die Methode des Betätigungsvergleichs kommt bei allen Personen zur Anwendung, die auch
ohne gesundheitliche Beeinträchtigung keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, sondern sich einem
„Aufgabenbereich“ widmen würden. Zu denken ist in erster Linie an Hausfrauen und Hausmänner.
Als Aufgabenbereiche anerkannt werden nebst der Haushaltführung und der Pflege und Betreuung von Kindern und anderen Familienangehörigen auch gemeinnützige und künstlerische
Tätigkeiten sowie Ausbildungstätigkeiten. Nicht dazu gehören reine Freizeitbeschäftigungen.
Bei all diesen Personen wird die Invalidität bemessen, indem einerseits die verschiedenen
Tätigkeiten, welchen eine Person ohne gesundheitliche Beeinträchtigung nachgehen würde,
erfasst und gewichtet werden, und darauf bei jeder dieser Teiltätigkeiten geprüft wird, wie weit
sie einer behinderten Person noch möglich und zumutbar ist. Zusammengezählt ergeben diese
Einschränkungen den Invaliditätsgrad.
»» ® Beispiel: Frau S ist schwer verunfallt und seither Paraplegikerin. Sie ist unmittelbar
vor dem Unfall keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen, sondern hat sich um den ehelichen
Haushalt und die Betreuung der 2- und 4-jährigen Kinder gekümmert. Frau S gibt an, dass
sie auch ohne den Unfall bis zur Schulpflicht ihrer Kinder keine Erwerbstätigkeit aufgenommen hätte. Der Invaliditätsgrad von Frau S wird deshalb nach der Methode des Betätigungsvergleichs bemessen.
Eine Mitarbeiterin des Abklärungsdienstes der IV-Stelle kommt bei Frau S zu Hause vorbei
und ermittelt die Arbeitsfähigkeit von Frau S in den verschiedenen Haushaltsbereichen
(Einkauf, Ernährung, Wohnungspflege, Wäsche, Kinderbetreuung und verschiedene andere
Tätigkeiten) anhand eines Fragebogens. Sie gelangt zu einem Invaliditätsgrad von 54%,
weshalb Frau S eine halbe IV-Rente erhält.
214
Renten und Ergänzungsleistungen
Der Invaliditätsgrad ist bei Haushaltführenden oft erheblich geringer als bei Erwerbstätigen. Dies liegt daran, dass sich Haushaltführende – zumindest wenn sie nicht Kleinkinder
betreuen müssen – ihre Zeit einteilen und Pausen einlegen können. Hinzu kommt, dass den
jugendlichen und erwachsenen Mitbewohnern zugemutet wird, einen Teil der Haushaltstätigkeit im Rahmen der Schadenminderungspflicht selber zu übernehmen und die gesundheitlich
beeinträchtigte Person zu entlasten.
Die gemischte Methode
Die gemischte Methode kommt bei all jenen Personen zur Anwendung, die ohne ihre gesundheitliche Beeinträchtigung teilweise erwerbstätig wären und daneben in einem anerkannten
Aufgabenbereich tätig wären. Bei dieser Methode werden die Methode des Einkommensvergleichs und die Methode des Betätigungsvergleichs zur Bemessung des Invaliditätsgrades
kombiniert: Dabei wird als erstes der mutmassliche Prozentsatz der Erwerbstätigkeit ermittelt. Die Differenz zwischen diesem Prozentsatz und 100% ergibt den Anteil der Tätigkeit im
Aufgabenbereich. Danach wird die Invalidität in jedem der beiden Bereiche nach der jeweiligen
Bemessungsmethode separat ermittelt, gewichtet und zusammengezählt.
»» Beispiel: Frau H, Mutter eines 8-jährigen Kindes, gibt im Gespräch mit der Abklärungsperson der IV glaubwürdig an, dass sie ohne ihre psychischen Probleme einer 60%-Erwerbstätigkeit als Lehrerin nachgehen würde. Frau H wird deshalb von der IV zu 60% als
Erwerbstätige eingestuft und zu 40% als Haushaltführende.
Nach Ansicht der Ärzte ist Frau H nicht mehr in der Lage, als Lehrerin zu arbeiten, könnte
in einer angepassten Tätigkeit jedoch noch zu 50% tätig sein. Der Einkommensvergleich
ergibt eine Erwerbseinbusse von 45%. Bei der Haushaltführung und Betreuung des Kindes
ist Frau H gemäss den Erhebungen des IV-Abklärungsdienstes zu 25% eingeschränkt. Der
Invaliditätsgrad wird in diesem Fall wie folgt bemessen:
Anteil Erwerbstätigkeit60%
Invalidität in diesem Bereich
40%
Gewichtete Invalidität (45 x 60%)
24%
24%
Anteil Haushaltsführung40%
Invalidität in diesem Bereich
25%
Gewichtete Invalidität (25 x 40%)
10%
10%
Invaliditätsgrad total34%
Frau H ist zu 34% invalid. Sie hat somit keinen Anspruch auf eine IV-Rente.
Die gemischte Methode führt erfahrungsgemäss häufig zu einem geringen Invaliditätsgrad. Sie
ist deshalb auch politisch umstritten. Das Problem liegt bei dieser Methode darin, dass die 215
Renten und Ergänzungsleistungen
Invalidität jeweils in jedem Bereich (z.B. Erwerbstätigkeit, Haushaltführung) unabhängig von
den Aufgaben im anderen Bereich ermittelt wird. Das Bundesgericht hat zwar verlangt, dass im
Einzelfall der Wechselwirkung der Belastungen Rechnung zu tragen ist, indem bei der prozentual weniger gewichtigen Tätigkeit (im oben beschriebenen Beispiel somit bei der Haushaltführung) eine zusätzliche Reduktion der Arbeitsfähigkeit anzunehmen ist, doch wird diesen
Grundsätzen nur selten nachgelebt.
Medizinische Beurteilung, berufliche Abklärung und Haushaltabklärung
Wie bereits weiter oben erwähnt, ist für die Invaliditätsbemessung in erster Linie die medizinische Einschätzung massgebend. Die Ärzte haben sich dazu zu äussern, ob und wie weit die
Arbeitsfähigkeit in der bisherigen Tätigkeit eingeschränkt ist und welche andere angepasste
Tätigkeit einer Person in welchem Ausmass und unter welchen Einschränkungen noch möglich
und zumutbar ist.
Die Sozialversicherer holen zu diesem Zweck bei den behandelnden Ärzten und Ärztinnen Berichte ein, stützen sich aber kaum noch ausschliesslich auf diese Berichte, sondern überlassen
die medizinische Beurteilung ihren ärztlichen Diensten (Regionale ärztliche Dienste RAD in
der IV, kreisärztliche Dienste bei der SUVA usw.). Diese ärztlichen Dienste können aufgrund der
vorliegenden Akten entscheiden oder selber eine Untersuchung durchführen und gestützt darauf eine Einschätzung vornehmen. Halten die ärztlichen Dienste eine externe Begutachtung
für nötig, so veranlassen die Sozialversicherer je nach Bedarf eine monodisziplinäre, bidisziplinäre oder polydisziplinäre Begutachtung.
»» Beispiel: Herr W leidet an Rückenbeschwerden, Schulterbeschwerden, an einer Hypertonie sowie an Persönlichkeits- und Angststörungen. Der RAD der IV gelangt zum Ergebnis,
dass zur Ermittlung der Arbeitsfähigkeit in diesem Fall ein polydisziplinäres Gutachten
anzuordnen ist.
Polydisziplinäre Gutachten werden in der IV durch spezielle medizinische Abklärungsstellen
(MEDAS) durchgeführt. Die Wahl der MEDAS erfolgt nach dem Zufallsprinzip und kann in
der Regel nicht angefochten werden.
Im Fall von Herrn W gelangen die Ärzte der MEDAS zum Ergebnis, dass Herrn W eine angepasste leichte Tätigkeit im Umfang von 50% zuzumuten ist und dass er in einer solchen
Tätigkeit noch eine Leistung von 80% erbringen könnte. Wenn das Gutachten schlüssig ist
(was in der Regel angenommen wird), wird sich die IV-Stelle darauf abstützen. Für Herrn W
ist es praktisch nur möglich, diese Schlussfolgerungen in Zweifel zu ziehen, wenn er mit detaillierten und gut begründeten Stellungnahmen der behandelnden Ärzte erhebliche Zweifel
am gutachterlichen Ergebnis auszulösen vermag.
Es kommt relativ oft vor, dass die medizinischen Einschätzungen den Ergebnissen zuvor durchgeführter beruflicher Abklärungen widersprechen. Die ärztlichen Dienste und Gutachter sind
verpflichtet, diese Ergebnisse zu berücksichtigen. Wollen sie die Arbeitsfähigkeit in Abweichung
davon festlegen, so haben sie dies detailliert zu begründen.
216
Renten und Ergänzungsleistungen
»» Beispiel: Nachdem Herr D seine Stelle als Schreiner aus gesundheitlichen Gründen
aufgeben musste, hat die IV-Stelle eine berufliche Abklärung in einer Eingliederungsstätte
veranlasst. Dabei hat sich gezeigt, dass Herr D auch in einer einfachen Serientätigkeit nur
noch eine Leistung von 40-50% erbracht hat.
Wollen die Gutachter die Arbeitsfähigkeit in Abweichung von diesen beruflichen Ergebnissen festlegen, müssen sie dies überzeugend begründen können. Denkbar wäre beispielsweise, dass Herr D nicht mit voller Motivation bei der beruflichen Abklärung mitgewirkt hat
oder dass andere invaliditätsfremde Gründe die Leistung reduziert haben.
Sobald die medizinischen Schlussfolgerungen der Ärzte und Ärztinnen vorliegen, ist es Aufgabe der Sachbearbeiter der IV oder der Unfallversicherung, den Invaliditätsgrad nach der jeweils
massgebenden Methode zu ermitteln. In der Invalidenversicherung wird diese Aufgabe bei
Personen, die ohne gesundheitliche Beeinträchtigung nur teilweise erwerbstätig wären und bei
denen die Methode des Betätigungsvergleichs oder die gemischte Methode zur Anwendung gelangt, an spezialisierte Abklärungsdienste delegiert. Dasselbe geschieht, wenn bei Selbständigerwerbenden die Invalidität zu bemessen ist. Die Abklärungsdienste führen Hausbesuche
durch und halten ihre Schlussfolgerungen in einem umfassenden Bericht fest. Auch zu diesen
Berichten kann kritisch Stellung genommen werden. Die IV-Stellen und Gerichte sind allerdings
in der Regel nur bereit, von den Empfehlungen der Abklärungsdienste abzuweichen, wenn erhebliche Fehleinschätzungen überzeugend nachgewiesen werden können.
Rechtliche Grundlagen
• Definition der Erwerbsunfähigkeit: Art. 7 ATSG
• Definition der Invalidität: Art. 8 Abs. 1 ATSG
• Definition der Invalidität bei Minderjährigen: Art. 8 Abs. 2 ATSG
• Definition der Invalidität bei Nichterwerbstätigen mit Aufgabenbereich: Art. 8 Abs. 3 ATSG
• Invaliditätsbemessung (Methode des Einkommensvergleichs): Art. 16 ATSG, Art. 28a Abs. 1
IVG, Art. 25 IVV
• Festlegung des hypothetischen Einkommens ohne Invalidität bei Frühbehinderten: Art. 26
IVV
• Invaliditätsbemessung (Methode des Betätigungsvergleichs): Art. 28a Abs. 2 IVG, Art. 27
IVV
• Invaliditätsbemessung (gemischte Methode): Art. 28a Abs. 3 IVG
• Verwaltungsweisungen: Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit KSIH
217
Renten und Ergänzungsleistungen
Invalidenrenten der IV
Haben die Eingliederungsbemühungen der IV nicht oder nur teilweise zum gewünschten Erfolg
geführt oder waren sie von vornherein aussichtslos, muss der Rentenanspruch geprüft werden.
Wird dabei ein Invaliditätsgrad von mindestens 40% ermittelt, besteht Anspruch auf eine Rente.
In diesem Kapitel wird gezeigt, bei welchem Invaliditätsgrad welche Rente ausgerichtet wird,
welches der Unterschied zwischen einer Vollrente und einer Teilrente sowie zwischen einer
ordentlichen Rente und einer ausserordentlichen Rente ist, und wann Anspruch auf eine Kinderrente besteht. Ebenfalls beantwortet werden die Fragen zum Beginn der Rente sowie zu den
Möglichkeiten der Anpassung einer Rente und der Rückforderung von Rentenleistungen.
Am Schluss dieses Kapitels wird auf die besonderen Voraussetzungen hingewiesen, die für den
Rechtsanspruch ausländischer Staatsangehöriger auf eine Rente der IV gelten.
218
»
Vier Rentenstufen
»
Mindestbeitragsdauer für ordentliche Renten
»
Vollrente oder Teilrente?
»
Höhe der ordentlichen Renten
»
Ausserordentliche Renten
»
Kinderrenten
»
Beginn des Rentenanspruchs
»
Wann können Renten revidiert werden?
»
Wann können Rentenverfügungen in Wiedererwägung gezogen werden?
»
Rückforderung von Renten
»
Rechtsansprüche von Ausländerinnen und Ausländern
»
Rechtliche Grundlagen
Renten und Ergänzungsleistungen
Vier Rentenstufen
Je nach Höhe des Invaliditätsgrades besteht Anspruch auf eine ganze Rente, eine Dreiviertelsrente, eine halbe Rente oder eine Viertelsrente:
InvaliditätsgradRentenanspruch
40 - 49%
50 - 59%
60 - 69%
70 - 100%
Viertelsrente
halbe Rente
Dreiviertelsrente
ganze Rente
Im Rahmen der 6. IVG-Revision war die Einführung eines stufenlosen Rentensystems geplant
gewesen. Das Parlament hat diesen Teil der 6. IVG-Revision aber abgelehnt. Es ist jedoch nicht
auszuschliessen, dass das System der vier Rentenstufen bei einer zukünftigen IVG-Revision
erneut zugunsten einer feineren Abstufung in Frage gestellt wird.
Mindestbeitragsdauer für die ordentlichen Renten
Der Anspruch auf eine ordentliche IV-Rente setzt voraus, dass die Person bei Eintritt der Invalidität während mindestens 3 Jahren AHV/IV Beiträge geleistet hat. Dabei gilt ein Beitragsjahr
als erfüllt, wenn:
• die Person aufgrund unselbständiger oder selbständiger Erwerbstätigkeit während mindestens 11 Monaten selbst Beiträge einbezahlt hat,
• die Person mit jemandem verheiratet war oder in eingetragener Partnerschaft gelebt hat,
der oder die mindestens den doppelten Mindestbeitrag entrichtet hat,
• der Person Erziehungsgutschriften für die Betreuung von Kindern unter 16 Jahren angerechnet werden können, oder
• der Person Betreuungsgutschriften für die Betreuung von nahen Verwandten im eigenen
Haushalt angerechnet werden können.
»» Beispiel: Bis vor 2 Jahren war Frau M verheiratet. Da ihr Ehemann jeweils mehr als den
doppelten Mindestbetrag entrichtet hatte, gelten ihre AHV/IV-Beiträge bis zur Scheidung als
geleistet. Nach der Scheidung hat sie eine unselbständige Erwerbstätigkeit aufgenommen
und ihre AHV/IV-Beiträge selbst einbezahlt. Vor einem Jahr hat Frau M einen Hirnschlag
erlitten und ist seither nicht mehr erwerbsfähig. Da sie im Zeitpunkt des Eintritts der Invalidität, d.h. bei Ablauf der 1-jährigen Wartezeit, mehr als 3 Beitragsjahre aufweist, hat sie
Anspruch auf eine ordentliche Rente.
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Renten und Ergänzungsleistungen
Vollrente oder Teilrente?
Wer Anspruch auf eine ordentliche Rente hat und seit dem 20. Altersjahr ohne Unterbruch
jährlich Beiträge an die AHV/IV bezahlt hat, erhält im Invaliditätsfall eine sogenannte Vollrente.
Wer hingegen für gewisse Jahre keine Beiträge entrichtet hat, weist Beitragslücken auf und erhält deshalb im Invaliditätsfall lediglich eine tiefere Teilrente. Solche Beitragslücken entstehen
oft dadurch, dass eine Person vorübergehend im Ausland gelebt und sich in dieser Zeit nicht
freiwillig bei der AHV/IV weiterversichert hat. Auch ausländische Staatsangehörige, die erst
nach dem 20. Altersjahr in die Schweiz eingereist sind, weisen Beitragslücken auf.
Bei unselbständig Erwerbstätigen und bei Bezügern von Arbeitslosentaggeldern werden
die AHV/IV-Beiträge vom Arbeitgeber bzw. von der Arbeitslosenkasse an die Ausgleichskasse
weitergeleitet. Immer wieder mal kommt es vor, dass ein Arbeitgeber seinen Angestellten die
Beiträge zwar vom Lohn abzieht, diese dann aber nicht an die Ausgleichskasse weiterleitet.
Sofern die Arbeitnehmer mittels Lohnausweis oder Lohnabrechnungen belegen können, dass
ihnen die Beiträge vom Lohn abgezogen wurden, werden diese Summen von der Ausgleichskasse berücksichtigt und es entsteht dadurch keine Beitragslücke.
Selbständig Erwerbstätige und Nichterwerbstätige müssen sich selbst bei der Ausgleichskasse melden. Sollte es vorkommen, dass aus Unwissenheit oder Unbekümmertheit keine Beiträge
einbezahlt wurden, können fehlende Beiträge für die letzten 5 Jahre nachbezahlt werden.
Weitergehende Rückzahlungen sind jedoch nicht möglich, so dass allenfalls eine Beitragslücke
bestehen bleibt.
Wer Beitragslücken aufweist und im Invaliditätsfall daher lediglich eine Teilrente erhält, muss
einen tieferen Rentenbetrag in Kauf nehmen, als er bei voller Beitragszeit erhalten würde. Der
Unterschied entspricht dem Verhältnis zwischen den effektiven Beitragsjahren und den vollen
Beitragsjahren.
»» Beispiel: Herr K ist 40 Jahre alt, als die IV einen Invaliditätsgrad von 75% ermittelt und
ihm eine ganze Rente zuspricht. Da Herr K erst als 30-Jähriger in die Schweiz eingereist ist
und somit erst seit diesem Zeitpunkt AHV/IV-Beiträge geleistet hat, erhält er eine Teilrente
von ca. 50% einer Vollrente. Er muss sich also mit einer relativ tiefen IV-Rente zufrieden
geben. Hat er allerdings vor dem 30. Altersjahr im Ausland bereits Beiträge bezahlt, erhält
er eventuell von der Rentenversicherung jenes States ebenfalls eine Teilrente.
Höhe der ordentlichen Renten
Bestehen keine Beitragslücken und somit Anspruch auf eine Vollrente, beträgt diese monatlich:
• bei einer ganzen Rente: 220
zwischen 1‘170 und 2‘340 Franken
Renten und Ergänzungsleistungen
• bei einer Dreiviertelsrente: • bei einer halben Rente: • bei einer Viertelsrente:
zwischen 878 und 1‘755 Franken
zwischen 585 und 1‘170 Franken
zwischen 293 und 585 Franken
Ob eine Person die Maximalrente oder die Minimalrente oder eine Rente im Zwischenbereich
erhält, hängt vom durchschnittlichen Jahreseinkommen ab, das seit dem 20. Altersjahr erzielt wurde und worauf AHV/IV-Beiträge entrichtet wurden. Zusätzlich zum durchschnittlichen
Jahreseinkommen werden sodann noch allfällige Erziehungs- und Betreuungsgutschriften
berücksichtigt.
»» Beispiel: Herr S absolvierte eine KV-Lehre und arbeitete anschliessend während 3 Jahren
als kaufmännischer Angestellter. Danach holte er auf dem zweiten Bildungsweg die Maturität nach und studierte Medizin. Kurz nach Studienabschluss erkrankt er schwer und die IV
spricht ihm eine Dreiviertelsrente zu. Herr S hat seit seiner Lehrzeit AHV/IV-Beiträge einbezahlt (während der KV-Lehre und der Zeit als kaufmännischer Angestellter als Erwerbstätiger, während der Maturitätsschule und dem Studium als Nichterwerbstätiger), weist somit
keine Beitragslücken auf und erhält deshalb eine Vollrente. Aufgrund der eher bescheidenen geleisteten Beiträge beträgt seine Dreiviertelsrente aber lediglich 900 Franken pro
Monat.
Ausserordentliche Renten
Geburts- und Frühbehinderte, die vor ihrem 20. Altersjahr und somit noch vor Beginn ihrer
AHV/IV-Beitragspflicht invalid geworden sind, erfüllen die 3-jährige Mindestbeitragsdauer nicht
und erhalten deshalb keine ordentliche Rente. Sie haben dafür aber Anspruch auf eine sogenannte ausserordentliche Rente. Diese entspricht einer fixen Summe und beträgt:
•
•
•
•
bei einer ausserordentlichen ganzen Rente:
bei einer ausserordentlichen Dreiviertelsrente:
bei einer ausserordentlichen halben Rente:
bei einer ausserordentlichen Viertelsrente:
1‘560 Franken
1‘170 Franken
780 Franken
390 Franken
Ausserordentliche Renten werden nur an Personen ausbezahlt, die ihren Wohnsitz und Aufenthalt in der Schweiz haben. Wer also aus der Schweiz auswandert, erhält keine ausserordentliche Rente mehr.
»» Beispiel: Frau T leidet seit Geburt an Muskeldystrophie. Da sie nur im geschützten
Rahmen einsatzfähig ist, erhält sie von der IV ab dem 18. Altersjahr eine ausserordentliche
ganze Rente in der Höhe von 1‘560 Franken ausbezahlt. Im Alter von 22 Jahren spielt sie
mit dem Gedanken, zu ihrer Schwester nach Frankreich zu ziehen. Da sie dann aber ihre
Rente verlieren würde, entscheidet sie sich für einen Verbleib in der Schweiz.
221
Renten und Ergänzungsleistungen
Kinderrenten
Rentnerinnen und Rentner erhalten für jedes ihrer Kinder bis zu deren 18. Altersjahr zusätzlich
zur eigenen Rente (sog. Hauptrente) noch eine Kinderrente. Steht das Kind noch in Ausbildung,
wird die Kinderrente bis zum Abschluss der Ausbildung, längstens aber bis zum 25. Altersjahr ausgerichtet. Die IV fordert daher regelmässig Bestätigungen an, aus denen hervorgehen
muss, dass es sich um eine zielgerichtete Ausbildung handelt, und dass diese auch ordnungsgemäss durchgeführt wird. Die Kinderrente beträgt 40% der Hauptrente.
Bei mehreren Kindern kann es sein, dass die Renten (Hauptrente zusammen mit den Kinderrenten) zu einer Überentschädigung führen. In diesem Fall gilt folgende Regel: Wenn die Kinderrenten zusammen mit der Hauptrente des Vaters oder der Mutter 90% des für die Berechnung
dieser Rente massgebenden durchschnittlichen Jahreseinkommens übersteigen, so werden sie
gekürzt.
Beginn des Rentenanspruchs
Der Rentenanspruch entsteht erst 6 Monate nach der IV-Anmeldung, frühestens aber mit der
Vollendung des 18. Altersjahrs. Anspruch auf eine Rente besteht zudem erst dann, wenn die
betroffene Person während eines Jahres ohne wesentliche Unterbrechung mindestens zu 40%
arbeitsunfähig gewesen ist (sog. Wartezeit). Durch eine volle Arbeitsfähigkeit von 30 Tagen
oder mehr wird diese Wartezeit unterbrochen und beginnt wieder von vorn zu laufen. Bei wechselndem Krankheitsverlauf sollten unsichere Arbeitsaufnahmen von den behandelnden Ärzten
und Ärztinnen deshalb als Arbeitsversuch bezeichnet werden.
Obwohl der Rentenanspruch erst nach Ablauf der 1-jährigen Wartezeit beginnt, sollte die IV-Anmeldung bei voraussichtlich dauerhafter Einschränkung bereits früher erfolgen. Einerseits weil
dadurch allfällige berufliche Eingliederungsmassnahmen abgeklärt werden können, andererseits aber auch, weil frühestens 6 Monate nach der IV-Anmeldung eine Rente ausbezahlt wird.
Dies bedeutet, dass in jedem Fall spätestens im 6. Monat nach dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit eine IV-Anmeldung eingereicht werden sollte.
»» Beispiel: Am 1. Juni 2013 erleidet Herr K einen schweren Sturz von einem Baugerüst
und ist seither querschnittgelähmt. Aufgrund der langen Rehabilitationsphase meldet er
sich erst 10 Monate später, am 1. April 2014, bei der IV an. Dies ist angesichts des Gesundheitszustandes von Herrn K bei weitem früh genug für die Abklärung beruflicher Eingliederungsmassnahmen. Sollte aber eine rentenrelevante Erwerbseinbusse zurückbleiben, hat er
erst ab Oktober 2014 (6 Monate nach Anmeldung) Anspruch auf eine Rente.
Hätte sich Herr K spätestens im 6. Monat nach dem Sturz, also im Dezember 2013, bei der
IV angemeldet, hätte er bereits nach Ablauf der 1-jährigen Wartezeit und somit ab Juni
2014 eine Rente ausbezahlt erhalten.
222
Renten und Ergänzungsleistungen
Wann können Renten revidiert werden?
Die heutige Gesetzeslage sieht folgende Revisionsgründe vor, die zu einer Veränderung des
Rentenanspruchs führen können:
• Der Gesundheitszustand der rentenbeziehenden Person hat sich für mehr als drei Monate
verschlechtert und der Invaliditätsgrad hat sich dadurch massgeblich erhöht: Die Rente
wird in diesem Fall 3 Monate nach Eintritt der Verschlechterung, frühestens aber ab Zeitpunkt des selbst gestellten Erhöhungsgesuchs, erhöht.
• Der Gesundheitszustand der rentenbeziehenden Person hat sich für mehr als drei Monate
verbessert und der Invaliditätsgrad hat sich dadurch massgeblich reduziert: Die Rente wird
in diesem Fall mittels Verfügung herabgesetzt oder aufgehoben. Die Herabsetzung bzw.
Aufhebung erfolgt frühestens auf das Ende des der Verfügung folgenden Monats. Eine rückwirkende Herabsetzung oder Aufhebung ist nur dann möglich, wenn der Rentner oder die
Rentnerin die Meldepflicht verletzt hat.
• Die Lebenssituation hat sich derart verändert (z.B. hypothetische Erhöhung des Erwerbspensums wegen Schuleintritt der Kinder, hypothetische Reduktion des Erwerbspensums
wegen der Geburt eines Kindes, etc.), dass sich auch die Grundlage für die Bemessung des
Invaliditätsgrades massgeblich verändert hat. Je nach Veränderung der Lebenssituation
kann dies eine Erhöhung oder eine Herabsetzung bzw. Aufhebung der Rente zur Folge
haben.
»» Beispiel: Aufgrund eines Invaliditätsgrades von 55% erhält Herr N seit einigen Jahren
eine halbe Rente. Im Juli verunfallt er schwer und bleibt in der Folge zu 100% arbeits- und
erwerbsunfähig. Da sich der Gesundheitszustand von Herrn N somit massgeblich verschlechtert hat, hat er nach 3 Monaten, d.h. ab Oktober, Anspruch auf eine ganze Rente.
Dies setzt aber voraus, dass Herr N die Verschlechterung seines Gesundheitszustandes der
IV spätestens im Oktober meldet. Die Erhöhung der Rente erfolgt nämlich frühestens auf
den Zeitpunkt, in dem das Rentenerhöhungsgesuch eingereicht wurde. Meldet sich Herr N
erst im Dezember bei der IV, wird seine Rente erst per Dezember erhöht.
»» Beispiel: Frau S erhält seit einigen Jahren eine Dreiviertelsrente. Anlässlich der alle 2-4
Jahre stattfindenden Revision durch die IV stellt sich heraus, dass sich der Gesundheitszustand von Frau S massgeblich verbessert hat und sie zu 60% arbeitsfähig ist. Aber nicht
nur ihr Gesundheitszustand, sondern auch ihre Lebenssituation hat sich verändert. Sie lebt
seit kurzem von ihrem Ehemann getrennt und die in ihrem Haushalt lebenden Kinder sind
nun alle schulpflichtig. Unter diesen Umständen wäre sie heute ohne gesundheitliche Beeinträchtigung im Umfang von 100% und nicht mehr nur im Umfang von 50% erwerbstätig.
Die IV muss nun nicht nur den verbesserten Gesundheitszustand berücksichtigen, sondern
auch die Methode der Invaliditätsbemessung ändern. Der Invaliditätsgrad von Frau S wird
nicht mehr nach der gemischten Methode, sondern nach der Methode des
223
Renten und Ergänzungsleistungen
Einkommensvergleichs ermittelt. Unter Berücksichtigung der höheren Arbeitsfähigkeit hat
sie somit noch Anspruch auf eine Viertelsrente.
Am 16. April erlässt die IV eine Verfügung, wonach die Rente von einer Dreiviertelsrente
auf eine Viertelsrente reduziert wird. Dies bedeutet, dass die Rente per Ende Mai herabgesetzt wird und Frau S ab Juni nur noch eine Viertelsrente erhält.
Eine weitere Möglichkeit der Rentenrevision kann sich ergeben, wenn die IV bei einer Person
anlässlich der Überprüfung des Rentenanspruchs ein Eingliederungspotenzial erkennt. Sie kann
dann Wiedereingliederungsmassnahmen anordnen. Konnte die Erwerbsfähigkeit durch diese
Wiedereingliederungsmassnahmen nach Ansicht der IV massgeblich verbessert werden, wird
sie die Rente herabsetzen oder aufheben. Das gleiche gilt, wenn eine Person von sich aus neu
ein Erwerbseinkommen erzielen kann oder ihr bisheriges Erwerbseinkommen erhöhen konnte
(Selbsteingliederung). Bei diesen Fällen der Rentenherabsetzung oder der Rentenaufhebung
gilt eine 3-jährige Übergangszeit. Was diese Übergangszeit bedeutet, soll das folgende Beispiel aufzeigen:
»» Beispiel: Aufgrund einer schweren Depression musste Frau T ihre Erwerbstätigkeit
aufgeben und erhielt während mehreren Jahren eine ganze Rente der IV sowie eine ganze
Rente der Pensionskasse. Aufgrund einer Verbesserung ihres Gesundheitszustandes kann
sie im Umfang von 50% wieder eine Erwerbstätigkeit aufnehmen und meldet dies der IV.
Daraufhin setzen sowohl die IV als auch die Pensionskasse die ganze Rente auf eine halbe
Rente herab. 18 Monate später verschlechtert sich der psychische Gesundheitszustand von Frau T wieder
derart, dass sie für 4-6 Wochen stationär in eine Klinik eintreten muss. Da sie innert der
3-jährigen Übergangszeit während mehr als 30 Tagen zu mindestens 50% arbeitsunfähig
geworden ist, erhält Frau T von der IV sofort wieder eine ganze Rente ausbezahlt (sog.
Übergangsleistung). Gleichzeitig unternimmt die IV medizinische Abklärungen, überprüft
den Invaliditätsgrad und fällt einen neuen Rentenentscheid.
Die 3-jährige Übergangszeit hat zudem zur Folge, dass Frau T während dieser Zeit bei ihrer
bisherigen Pensionskasse versichert bleibt und bei ihrem neuen Arbeitgeber kein neues
Vorsorgeverhältnis entsteht.
Wann können Rentenverfügungen in Wiedererwägung gezogen werden?
Kommt die IV zum Schluss, dass die ursprüngliche Rentenzusprache offensichtlich falsch
gewesen ist, kann sie die im damaligen Zeitpunkt erlassene und mittlerweile rechtskräftige
Verfügung in Wiedererwägung ziehen und die Rente herabsetzen oder aufheben. Die Anforderungen an eine solche Wiedererwägung sind aber streng. Es genügt nicht, dass ein neuer
Gutachter zu einer anderen Einschätzung und Beurteilung gelangt als der frühere Gutachter.
War die ursprüngliche Rentenzusprechung vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage, wie
sie sich im damaligen Zeitpunkt darbot, durchaus vertretbar, liegt keine zweifellose 224
Renten und Ergänzungsleistungen
Unrichtigkeit vor und die Verfügung darf nicht in Wiedererwägung gezogen werden. Ausgeschlossen ist eine Wiedererwägung zudem immer dann, wenn die Angelegenheit gerichtlich
beurteilt wurde.
»» Beispiel: Herr L ist Bauarbeiter und leidet an Rückenbeschwerden. Gestützt auf einen
Arztbericht seines Rheumatologen, der ihn in seiner bisherigen Tätigkeit zu 100% arbeitsunfähig erachtete, sprach ihm die IV im Jahre 2005 eine ganze Rente zu. Anlässlich einer
der regelmässigen Rentenrevisionen ordnete die IV eine rheumatologische Begutachtung
an. Daraus geht nun hervor, dass der Gesundheitszustand von Herrn L unverändert ist.
Der Gutachter teilt die Einschätzung des behandelnden Rheumatologen aus dem Jahre
2005, wonach Herr L als Bauarbeiter nicht mehr einsatzfähig ist. Seines Erachtens ist er
aber in einer körperlich leichten Tätigkeit im Umfang von 80% arbeitsfähig.
Da sich der behandelnde Rheumatologe im Jahre 2005 nicht zur Arbeitsfähigkeit von Herrn
L in einer angepassten Tätigkeit geäussert hat, und da die medizinischen Unterlagen im
damaligen Zeitpunkt auch nicht vom ärztlichen Dienst der IV geprüft worden sind, erweist
sich die rentenzusprechende Verfügung aus dem Jahre 2005 als offensichtlich unrichtig.
Die IV darf in diesem Fall die rechtskräftige Verfügung in Wiedererwägung ziehen und die
Rente je nach Ausgang des Einkommensvergleichs herabsetzen oder aufheben.
Hätte sich der behandelnde Rheumatologe im Jahre 2005 auch eingehend zur Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit geäussert, und wären die medizinischen Unterlagen im
damaligen Zeitpunkt vom ärztlichen Dienst der IV geprüft und bestätigt worden, wäre eine
Wiedererwägung der rentenzusprechenden Verfügung nicht zulässig und Herr L würde
weiterhin eine ganze Rente erhalten.
Ist eine Rente aufgrund eines „pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebilds ohne nachweisbare organische Grundlage“ (wie z.B. die somatoforme Schmerzstörung, die Fibromyalgie, das Chronic Fatigue Syndrom, die Hypersomnie oder das Schleudertrauma) zugesprochen worden, so kann die IV gestützt auf die Bestimmungen der IVG-Revision 6a
in den Jahren 2012-2014 überprüfen, ob die Beschwerden mit zumutbarer Willensanstrengung
überwindbar sind oder nicht. Gelten die Beschwerden als überwindbar, wird die Rente herabgesetzt oder aufgehoben. Dies ist auch dann der Fall, wenn der Gesundheitszustand völlig
unverändert ist.
»» Beispiel: Herr O erhält aufgrund einer Fibromyalgie seit 2003 eine halbe Rente. Im Jahr
2014 leitet die IV gestützt auf die IVG-Revision 6a eine Überprüfung dieser Rente ein und
kommt zum Schluss, dass er seine Beschwerden mit einer zumutbaren Willensanstrengung
überwinden könnte, und dass die Rente deshalb aufzuheben ist. Die IV muss Herrn O nun
berufliche Eingliederungsmassnahmen anbieten. Bei einer aktiven Teilnahme an diesen
Massnahmen erhält Herr O die halbe Rente noch so lange, als er daran teilnimmt, längstens aber während 2 Jahren.
Hätte Herr O am 1.1.2012 bereits das 55. Altersjahr erreicht gehabt oder hätte er die Rente im Zeitpunkt der Überprüfung bereits seit mindestens 15 Jahren bezogen, wäre er von
225
Renten und Ergänzungsleistungen
der Überprüfung und der Rentenaufhebung verschont geblieben. Seine Rente könnte dann
nur im Falle einer Verbesserung des Gesundheitszustandes herabgesetzt oder aufgehoben
werden.
Die Wiedererwägung einer Verfügung liegt im Ermessen der IV-Stelle: Ist eine Person selber
der Auffassung, eine frühere Verfügung sei offensichtlich unrichtig gewesen, so kann sie ein
Wiedererwägungsgesuch stellen. Lehnt es die IV-Stelle jedoch ab, auf das Wiedererwägungsgesuch einzutreten, so kann dagegen nichts unternommen werden; denn es besteht kein rechtlich durchsetzbarer Anspruch auf Wiedererwägung einer Verfügung.
Rückforderung von Renten
Wer eine Rente bezieht, ist verpflichtet, wesentliche Änderungen der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (z.B. Gesundheitszustand, Einkünfte, Familienverhältnisse) sofort zu
melden. Wird diese Meldepflicht verletzt und stellt sich nachträglich heraus, dass die Rente
bei rechtzeitiger Information bereits früher hätte herabgesetzt oder gar aufgehoben werden
müssen, kann die IV die zu Unrecht ausbezahlten Rentenbeträge zurückfordern bzw. mit einer
weiterlaufenden Rente verrechnen.
Gegen eine korrekte Rückforderung kann sich die betroffene Person nur mit der Begründung
wehren, der Rückforderungsanspruch sei verjährt. Die Verjährung tritt dann ein, wenn die
Verwaltung die Rentenleistungen nicht innerhalb eines Jahres seit Kenntnis des Rückforderungsgrundes zurückfordert, spätestens aber nach 5 Jahren. Renten die also mehr als 5 Jahre
zurückliegen, können nicht mehr zurückgefordert werden.
Ist die Rückforderung nicht nur korrekt, sondern auch rechtzeitig geltend gemacht worden,
besteht nur noch die Möglichkeit, ein Erlassgesuch zu stellen. Für einen Erlass der Rückforderung müssen kumulativ zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Einerseits muss der Nachweis erbracht werden, dass die Meldepflicht weder absichtlich noch grobfahrlässig verletzt wurde und
der Rentenbezug somit gutgläubig erfolgte. Andererseits muss die Rückerstattung zusätzlich
eine grosse wirtschaftliche Härte darstellen.
»» Beispiel: Frau B erhält eine Rente sowie Kinderrenten für ihre beiden Töchter. Zusätzlich
bezieht sie Ergänzungsleistungen. Nach der Matura reist die ältere Tochter in die USA, ist
dort als Au-pair tätig und besucht eine Sprachschule. Frau B geht davon aus, dass sich ihre
Tochter aufgrund der Sprachschule weiterhin in Ausbildung befindet und bezieht deshalb
auch weiterhin beide Kinderrenten. Die Verwaltung beurteilt die Sache aber anders. Da sich
die ältere Tochter von Frau B seit Abschluss der Matura nicht mehr in Ausbildung befindet,
sondern vielmehr eine Erwerbstätigkeit ausübt, fordert die IV diese Kinderrenten zurück.
Frau B kann ihren guten Glauben nachweisen. Da angesichts des Ergänzungsleistungsbezugs auch die grosse wirtschaftliche Härte gegeben ist, wird ihr Erlassgesuch gutgeheissen
und sie muss die Kinderrenten nicht zurückerstatten.
226
Renten und Ergänzungsleistungen
Rechtsansprüche von Ausländerinnen und Ausländern
Die Rechtsansprüche von in der Schweiz lebenden Ausländerinnen und Ausländern hängen
davon ab, zu welcher Gruppe sie gehören:
• EU- und EFTA-Staatsangehörige:
Gestützt auf das Freizügigkeitsabkommen werden EU- und EFTA-Staatsangehörige gleich
behandelt wie Schweizer Bürger. In Bezug auf die Voraussetzung der Mindestbeitragsdauer
von 3 Jahren für eine ordentliche Rente werden in einem EU- oder EFTA-Staat erworbene
Beitragszeiten mitberücksichtigt. Allerdings muss mindestens 1 Beitragsjahr in der Schweiz
entrichtet worden sein.
Bei einer Rückkehr ins Heimatland werden die Renten weiter ausbezahlt.
• Angehörige von Staaten, die mit der Schweiz ein Sozialversicherungsabkommen abgeschlossen haben:
In den meisten Abkommen ist vorgesehen, dass Staatsangehörige der Vertragsstaaten unter
den gleichen Voraussetzungen Anspruch auf eine ordentliche Rente haben wie Schweizer
Bürger. Anders als bei den Personen aus EU- und EFTA-Staaten werden Beitragszahlungen in
einem anderen Land für die Erfüllung der Mindestbeitragsdauer aber nicht angerechnet.
Ein Anspruch auf eine ausserordentliche Rente ist hingegen nicht in allen Sozialversicherungsabkommen vorgesehen. Wenn er vorgesehen ist, entsteht der Anspruch oft erst nachdem sich die Person während 5 Jahren ununterbrochen in der Schweiz aufgehalten hat.
Bei einer Rückkehr ins Heimatland werden nur Renten ab einem Invaliditätsgrad von 50%
weiter ausbezahlt.
• Angehörige von Staaten, die über kein Sozialversicherungsabkommen mit der Schweiz
verfügen:
Staatsangehörige von Nicht-Vertragsstaaten haben unter den gleichen Voraussetzungen
Anspruch auf eine ordentliche Rente wie Schweizer Bürger.
In der Regel besteht aber kein Anspruch auf eine ausserordentliche Rente.
Die Auszahlung der Rente ist an den Wohnsitz und den Aufenthalt in der Schweiz gebunden. Wer also ins Heimatland zurückkehrt, erhält keine Rente mehr ausbezahlt. Für im
Ausland wohnhafte Kinder werden keine Kinderrenten bezahlt.
• Anerkannte Flüchtlinge und Staatenlose:
Auch sie haben unter den gleichen Voraussetzungen Anspruch auf eine ordentliche Rente
wie Schweizer Bürger.
Anspruch auf eine ausserordentliche Rente besteht auch unter denselben Bedingungen, wie
sie für Schweizer Bürger gelten. Allerdings entsteht der Anspruch erst, wenn sich die Person
ununterbrochen während 5 Jahren in der Schweiz aufgehalten hat.
Die Auszahlung der Rente ist auch hier an den Wohnsitz und den Aufenthalt in der Schweiz
gebunden und auch Kinderrenten werden nur ausbezahlt, wenn die Kinder Wohnsitz und
Aufenthalt in der Schweiz haben.
227
Renten und Ergänzungsleistungen
»» Beispiel: Herr M, portugiesischer Staatsangehöriger, lebt und arbeitet seit 2008 in der
Schweiz. Im März 2013 erkrankt er an MS und erhält ab März 2014 eine Viertelsrente
zugesprochen. Seine Familie lebt in Portugal und Herr M kehrt deshalb in sein Heimatland
zurück. Da er EU-Bürger ist, erhält er die Viertelsrente auch nach Portugal ausbezahlt.
Wäre Herr M Angehöriger eines Staates, mit dem die Schweiz ein Sozialversicherungsabkommen abgeschlossen hat, würde ihm die Viertelsrente nicht in sein Heimatland
ausbezahlt werden, denn sein Invaliditätsgrad müsste mindestens 50% betragen. Wäre er
Staatsangehöriger aus einem Nichtvertragsstaat könnte er selbst eine halbe Rente nicht
exportieren.
Rechtliche Grundlagen
• Rentenstufen: Art. 28 Abs. 2 IVG
• Mindestbeitragsdauer: Art. 36 IVG; Art. 29ter Abs. 2 AHVG
• Vollrente / Teilrente: Art. 29ter Abs. 1; Art. 34 ff. und Art. 38 AHVG
• Höhe der ordentlichen Rente: Art. 37 IVG; Art. 29quater-30 und Art. 34 AHVG
• Ausserordentliche Renten: Art. 39-40 IVG
• Kinderrente: Art. 35, 38, 38bis und 40 Abs. 2 IVG; Art. 33bis IVV; Art. 25 AHVG; Art. 47,
49-49ter AHVV
• Beginn Rentenanspruch: Art. 28 Abs. 1 und 29 IVG
• Rentenrevision bei Verschlechterung oder Verbesserung des Gesundheitszustandes: Art. 17
ATSG; Art. 87, 88a und 88bis IVV
• Rentenüberprüfungen aufgrund der IVG-Revision 6a: lit. a der Schlussbestimmungen der 6.
IV-Revision
• Eingliederungsorientierte Rentenrevision / Übergangszeit und Übergangsleistung: Art. 8a,
Art. 32-34 IVG; Art. 30 und 31 IVV
• Rückforderung von Renten / Verjährung / Erlass: Art. 25 ATSG, Art. 2-5 ATSV
• Rentenansprüche für Ausländer und Ausländerinnen aus der EU: Verordnung EG 883/04
228
Renten und Ergänzungsleistungen
• Rentenansprüche von Personen aus Vertragsstaaten: Diverse Sozialversicherungsabkommen
• Rentenansprüche von Personen aus Nichtvertragsstaaten: Art. 6 Abs. 2, Art. 9 Abs. 3 und
Art. 39 Abs. 3 IVG
• Rentenansprüche von Flüchtlingen: Bundesbeschluss über die Rechtstellung der Flüchtlinge
und Staatenlosen in der AHV und IV (FlüB)
229
Renten und Ergänzungsleistungen
Invalidenrenten der Unfallversicherung
Ein Unfall ist kaum vorhersehbar, trifft plötzlich ein und führt oft zu einschneidenden finanziellen Konsequenzen. Wird eine Person als Folge eines Unfalls arbeitsunfähig und kann von der
medizinischen Behandlung keine wesentliche Verbesserung des Gesundheitszustandes mehr
erwartet werden, stellt sich die Frage, ob und unter welchen Bedingungen das bisher ausgerichtete Unfallversicherungstaggeld durch eine Invalidenrente abgelöst wird.
Dieses Kapitel behandelt die Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine Unfallversicherungsrente, die natürliche und die adäquate Kausalität sowie Fragen nach der Höhe, dem Beginn
und dem Ende der Rente. Da bei einer unfallbedingten Invalidität oft auch die IV Leistungen
erbringt, wird auch die Koordination mit der IV dargelegt und die Berechnung von Komplementärrenten erläutert. Erklärt wird zudem, wann Unfallversicherungsrenten gekürzt und angepasst
werden können.
»
Rentenanspruch
»
Natürliche und adäquate Kausalität
»
Rentenhöhe
»
Beginn und Ende des Rentenanspruchs
»
Komplementärrente und Koordination mit der IV
»
Wann können Renten gekürzt werden?
»
Wann können Renten revidiert werden?
»
Rechtliche Grundlagen
Rentenanspruch
Im Gegensatz zur IV kennt die Unfallversicherung keine Rentenstufen und es besteht bereits
ab einem Invaliditätsgrad von 10% Anspruch auf eine Rente. Anders als bei der IV ist bei der
Unfallversicherung nur die Erwerbstätigkeit und nicht auch die Haushalttätigkeit versichert. Der
Invaliditätsgrad wird daher nicht nach unterschiedlichen Bemessungsmethoden, sondern ausschliesslich nach der Methode des Einkommensvergleichs ermittelt. Dabei wird als Valideneinkommen (Einkommen, das die betreffende Person ohne unfallbedingte Beeinträchtigung erzielen würde) immer der Lohn aus einer vollen Erwerbstätigkeit berücksichtigt. Dies bedeutet,
230
Renten und Ergänzungsleistungen
dass das massgebliche Einkommen bei einer teilerwerbstätigen Person auf ein 100%-Pensum
aufgerechnet wird, unabhängig davon, zu wieviel Prozent die Person vor dem Unfall tatsächlich
angestellt war. Dieses Valideneinkommen wird sodann dem Invalideneinkommen (Einkommen,
das die betreffende Person zumutbarerweise noch erzielen könnte) gegenübergestellt. Die Rente richtet sich prozentgenau nach dem daraus resultierenden Invaliditätsgrad.
»» Beispiel: Im Zeitpunkt des Unfalls war Herr H in einem 70%-Pensum angestellt und erzielte ein Jahreseinkommen von 70‘000 Franken. Aufgrund der Unfallfolgen kann er seine
bisherige Tätigkeit nicht mehr ausüben. In einer angepassten Tätigkeit ist Herr H noch zu
50% arbeitsfähig und könnte dabei ein Jahreseinkommen von 40‘000 Franken erzielen.
Bei der Ermittlung des Invaliditätsgrades rechnet die Unfallversicherung das bisherige, in
einem 70%-Pensum erwirtschaftete Einkommen auf ein 100%-Pensum auf. Dies ergibt ein
Valideneinkommen von 100‘000 Franken. Verglichen mit dem Invalideneinkommen von
40‘000 Franken resultiert ein Invaliditätsgrad von 60%. Herr H erhält somit eine 60%-Rente.
Natürliche und adäquate Kausalität
Damit eine Rente zugesprochen werden kann, muss zwischen dem Unfall (bzw. der Berufskrankheit) und der Invalidität sowohl ein natürlicher als auch ein adäquater Kausalzusammenhang bestehen.
Der natürliche Kausalzusammenhang ist gegeben, wenn ohne Unfall (bzw. Berufskrankheit)
die Invalidität gar nicht, nicht in gleicher Stärke oder nicht im gleichen Zeitpunkt eingetreten
wäre. Der Unfall muss also nicht die alleinige oder unmittelbare Ursache sein. Ist die Unfallkausalität einmal ärztlich nachgewiesen, so entfällt die Leistungspflicht des Unfallversicherers erst
dann, wenn der Gesundheitsschaden nur noch und ausschliesslich auf unfallfremden Ursachen
beruht, die Unfallkausalität also wegfällt.
Der adäquate Kausalzusammenhang ist gegeben, wenn eine Ursache (z.B. ein sehr schwerer
Verkehrsunfall) nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet ist, eine bestimmte Wirkung
(z.B. eine psychische Beeinträchtigung) auszulösen. Mit dem Begriff der Adäquanz soll eine
vernünftige Begrenzung der sich aus der natürlichen Kausalkette ergebenden Tatsachen und
damit der Haftung erreicht werden. Der adäquate Kausalzusammenhang ist vor allem bei Unfällen mit psychischen Folgen und bei Unfällen mit Schleudertraumata relevant und führt nicht
selten zu Streitigkeiten. Gestützt auf die Gerichtspraxis ist in diesen Fällen die Schwere des
Unfalls massgebend.
»» Beispiel: Frau A ist Rechtsanwältin und erleidet einen schweren Motorradunfall mit
Querschnittlähmung. Zwischen dem Unfall und der aufgrund der körperlichen Verletzungen bestehenden Arbeitsunfähigkeit ist vorerst klar ein natürlicher und auch ein adäquater
Kausalzusammenhang gegeben.
231
Renten und Ergänzungsleistungen
Nach mehreren Rehabilitationsaufenthalten und nach Anpassung ihres Arbeitsplatzes wäre
Frau A aus körperlicher Sicht wieder voll einsatzfähig. Da sie aber seit dem Unfall zusätzlich an Depressionen leidet, kann sie ihre Tätigkeit noch nicht aufnehmen. Die Unfallversicherung wird nun prüfen, ob die verbleibende psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit in
einem adäquaten Kausalzusammenhang zum Unfall steht und wird dabei die Schwere des
Unfalls berücksichtigen. Verneint sie den adäquaten Kausalzusammenhang, beachtet sie
nur die durch die Querschnittlähmung verursachte Erwerbseinbusse. Beträgt diese weniger
als 10%, erhält Frau A von ihrer Unfallversicherung keine Rente.
Rentenhöhe
Die Höhe der Rente richtet sich nach dem sogenannten versicherten Verdienst, das heisst
nach demjenigen Bruttolohn (zuzüglich Familienzulagen), den die Person im letzten Jahr vor
dem Unfall erzielt hat. Das Gesetz hat den versicherten Verdienst in der obligatorischen Unfallversicherung auf maximal 126‘000 Franken begrenzt. Wer vor dem Unfall also ein Jahreseinkommen von über 126‘000 Franken erzielt hat, ist für den darüber liegenden Betrag nur
versichert, wenn der Arbeitgeber eine Zusatzversicherung abgeschlossen hat.
Bei einer Invalidität von 100% beträgt die jährliche Rente 80% des versicherten Verdienstes.
Bei einer Teilinvalidität reduziert sich der jährliche Rentenbetrag entsprechend. Beträgt der
Invaliditätsgrad weniger als 10%, besteht kein Anspruch auf eine Rente. Im Gegensatz zur IV
richtet die Unfallversicherung keine Kinderrenten aus.
»» Beispiel: Die Unfallversicherung ermittelt bei Frau K einen Invaliditätsgrad von 100%
und spricht ihr eine volle Rente zu. Da sie vor dem Unfall ein Jahreseinkommen von 85‘000
Franken erzielt hat, beträgt ihre Rente 68‘000 Franken pro Jahr (80% von 85‘000 Franken)
bzw. 5‘667 Franken pro Monat. Würde der Invaliditätsgrad nur 75% betragen, würde Frau
K eine Rente von 51‘000 Franken pro Jahr (75% von 68‘000 Franken) bzw. 4‘250 Franken
pro Monat erhalten.
Beginn und Ende des Rentenanspruchs
Der Rentenanspruch entsteht, sobald von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung keine
namhafte Besserung des Gesundheitszustandes mehr erwartet werden kann, und wenn
allfällige Eingliederungsmassnahmen der IV abgeschlossen sind. Mit dem Beginn der Rente
endet der Anspruch auf das bisher ausgerichtete Unfallversicherungstaggeld. Die Unfallversicherung übernimmt in der Regel von diesem Moment an auch keine Heilbehandlungskosten
mehr.
232
Renten und Ergänzungsleistungen
»» Beispiel: Herr S ist Bankangestellter und erleidet bei einem Verkehrsunfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Während der langwierigen Behandlungs- und Regenerationszeit
erhält er ein Unfallversicherungstaggeld. Da die IV ein Jahr nach dem Unfall eine ganze
IV-Rente ausrichtet, werden die Unfallversicherungstaggelder in dieser Zeit wegen Überentschädigung gekürzt.
Drei Jahre nach dem Unfall kann von der ärztlichen Behandlung keine namhafte Besserung
mehr erwartet werden und die Unfallversicherung fällt einen Rentenentscheid. Da Herr S
für eine Tätigkeit in der freien Wirtschaft arbeitsunfähig bleibt, erhält er nach rund 3 Jahren und gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 100% auch von der Unfallversicherung eine
volle Rente.
Im Gegensatz zur Rente der IV endet die Rente der Unfallversicherung aber nicht mit dem
Erreichen des AHV-Alters, sondern wird bis zum Tod der rentenbeziehenden Person weiter
ausgerichtet.
Komplementärrente und Koordination mit der IV
Wer einen Unfall mit einer bleibenden gesundheitlichen Beeinträchtigung erleidet, hat neben
dem Anspruch auf Leistungen der Unfallversicherung oft auch Anspruch auf Leistungen der IV.
Bezahlen sowohl die IV als auch die Unfallversicherung eine Invalidenrente, gewährt die Unfallversicherung nur eine sogenannte Komplementärrente. Dies bedeutet, dass die Rente der Unfallversicherung gekürzt wird, wenn sie zusammen mit der Rente der IV 90% des letzten vor
dem Unfall erzielten Jahresverdienstes übersteigt. Die Rente der IV und der Unfallversicherung
dürfen zusammen also nicht mehr als 90% des letzten Jahresverdienstes betragen.
»» Beispiel: Herr S aus dem obigen Beispiel erhält nun also eine ganze Rente der IV und
eine volle Rente der Unfallversicherung (Komplementärrente). Da er vor dem Unfall einen
Jahresverdienst von 120‘000 Franken erzielt hat, dürfen die beiden Renten zusammen
nicht mehr als 108‘000 Franken (90% von 120‘000 Franken) betragen. Neben der Rente
der IV von 2‘200 Franken pro Monat bzw. 26‘400 Franken pro Jahr erhält Herr S von der
Unfallversicherung somit eine Komplementärrente von 6‘800 Franken pro Monat bzw.
81‘600 Franken pro Jahr. Die Unfallversicherung hat ihre Rente somit um 14‘400 Franken
pro Jahr bzw. 1‘200 Franken pro Monat gekürzt.
Solange die IV im Rahmen einer beruflichen Massnahme ein IV-Taggeld bezahlt, erbringt die
Unfallversicherung keine Rentenleistungen. Kann von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung keine erhebliche Besserung des Gesundheitszustandes mehr erwartet werden, fällt die IV
ihren Entscheid über berufliche Eingliederungsmassnahmen aber erst später, bezahlt die Unfallversicherung eine sogenannte Übergangsrente. Sobald die berufliche Massnahme der IV und
das IV-Taggeld beginnen, erlischt die Übergangsrente wieder.
233
Renten und Ergänzungsleistungen
»» Beispiel: Nach einem Sturz von einem Baugerüst ist Herr T in seiner bisherigen Tätigkeit
als Bauleiter nicht mehr einsatzfähig. Seine Firma stellt ihm eine Anstellung im administrativen Bereich in Aussicht. Dafür benötigt Herr T aber noch eine Umschulung. Obwohl die
ärztliche Behandlung in der Zwischenzeit abgeschlossen ist, hat die IV den Entscheid über
die berufliche Massnahme noch nicht endgültig gefällt. Bis zum Beginn der Umschulung
und dem damit zusammenhängenden IV-Taggeld richtet die Unfallversicherung deshalb
eine Übergangsrente aus. Bei der Ermittlung des dafür massgeblichen Invaliditätsgrads
darf die Unfallversicherung nun aber nur von einem Invalideneinkommen einer noch nicht
eingegliederten Person ausgehen.
Wann können Renten gekürzt werden?
Erfolgte der Unfall bei Ausübung eines Verbrechens oder Vergehens (z.B. Fahren in angetrunkenem Zustand) oder im Zusammenhang mit einem Wagnis, kann die Unfallversicherung
die Rente kürzen und in besonders schweren Fällen gar verweigern. Die Rente darf aber nicht
verweigert und höchstens um 50% gekürzt werden, wenn die Person im Zeitpunkt des Unfalls
für Angehörige zu sorgen hat.
Auch wenn die Invalidität nur teilweise auf einen Unfall zurückzuführen ist, kann die Unfallversicherung die Rentenleistungen kürzen. Allerdings darf die Rente nicht gekürzt werden, wenn
die vorbestehende (unfallfremde) gesundheitliche Beeinträchtigung für sich allein keine Verminderung der Erwerbsfähigkeit zur Folge hatte.
»» Beispiel: Frau M fährt mit übersetzter Geschwindigkeit und verursacht einen Autounfall, bei dem sie sich schwere Verletzungen zuzieht und invalid wird. Da der Unfall bei der
Ausübung eines Vergehens (Fahren mit übersetzter Geschwindigkeit) erfolgt ist, kürzt die
Unfallversicherung ihre Rentenleistungen um 20%.
Wann können Renten revidiert werden?
Wie im Bereich der IV können auch die Renten der Unfallversicherung erhöht werden, wenn sich
der Gesundheitszustand der rentenbeziehenden Person für mehr als 3 Monate verschlechtert
und sich der Invaliditätsgrad dadurch massgeblich erhöht hat. Eine solche revisionsweise Erhöhung der Rente ist jedoch nur möglich, wenn die Verschlechterung des Gesundheitszustands
im Sinne von Spätfolgen auf den Unfall zurückzuführen ist.
»» Beispiel: Aufgrund eines Unfalls und eines daraus resultierten Invaliditätsgrades von
50% erhält Herr N seit einigen Jahren eine 50%-Rente ausbezahlt. Nachdem sich sein Gesundheitszustand verschlechtert hat, Herr N zu 100% arbeits- und erwerbsunfähig
234
Renten und Ergänzungsleistungen
geworden ist und diese Verschlechterung auf das Unfallereignis zurückzuführen ist, erhöht
die Unfallversicherung die 50%-Rente auf eine 100%-Rente.
Hat sich der Gesundheitszustand für mehr als 3 Monate verbessert und der Invaliditätsgrad
dadurch massgeblich reduziert, kann die Unfallversicherung die Rente herabsetzen oder aufheben. Eine rückwirkende Herabsetzung oder Aufhebung ist nur dann möglich, wenn der Rentner
oder die Rentnerin die Meldepflicht verletzt hat.
Nach Erreichen des AHV-Alters werden die Renten der Unfallversicherung unabhängig von der
Entwicklung des Gesundheitszustandes nicht mehr revidiert.
Rechtliche Grundlagen
• Rentenanspruch: Art. 18 UVG
• Versicherter Verdienst: Art. 15 UVG, Art. 22 und 24 UVV
• Rentenhöhe: Art. 20 Abs. 1 UVG
• Beginn und Ende Rentenanspruch: Art. 19 UVG
• Komplementärrente: Art. 20 Abs. 2 und 3 UVG, Art. 31-33 UVV
• Übergangsrente: Art. 19 Abs. 3 UVG, Art. 30 UVV
• Rentenkürzung: Art. 36-39 UVG, Art. 47-50 UVV
• Rentenrevision: Art. 17 ATSG; Art. 22 UVG, Art. 34 UVV
235
Renten und Ergänzungsleistungen
Invalidenrenten der beruflichen Vorsorge
Während die AHV und die IV im Sozialversicherungssystem der Schweiz die 1. Säule bilden,
wird die berufliche Vorsorge als 2. Säule bezeichnet. Ihre Aufgabe ist es, im Invaliditätsfall in
Ergänzung zur IV die Fortsetzung der gewohnten Lebensführung zu ermöglichen. Zwar ist die
berufliche Vorsorge durch das Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG) für einen Teil der Bevölkerung obligatorisch erklärt worden, das gesetzgeberische Ziel des Erhalts der gewohnten Lebensführung wird aber nur bedingt erreicht. Dies
liegt einerseits daran, dass das BVG nur gesetzliche Mindestleistungen vorsieht und deshalb
entscheidend ist, ob und in welcher Form die betreffende Pensionskasse Leistungen anbietet,
die über diese Mindestleistungen hinausgehen. Andererseits geschieht es oft, dass eine Person
im massgebenden Zeitpunkt des Beginns einer Arbeitsunfähigkeit nicht versichert ist und deshalb leer ausgeht.
In diesem Kapitel wird vorerst der Unterschied zwischen der obligatorischen und der überobligatorischen beruflichen Vorsorge erklärt und aufgezeigt, welche Personen von wann bis
wann in der 2. Säule versichert sind. Weiter werden die Fragen zum Verhältnis zwischen IV und
beruflicher Vorsorge, zur Zuständigkeit der Pensionskasse, zur Rentenhöhe, zum Beginn und
zum Ende des Rentenanspruchs, zur Möglichkeit der Anpassung der Rentenleistungen sowie
zum Verfahren in der beruflichen Vorsorge beantwortet. Da neben einer Rente der Pensionskasse in der Regel eine Rente der IV bezahlt wird, wird schliesslich erläutert, wann und in welchem
Umfang eine Pensionskasse eine Invalidenrente wegen Überentschädigung kürzen kann.
236
»
Obligatorische und überobligatorische berufliche Vorsorge
»
Beginn, Ende und Umfang des Versicherungsschutzes
»
Invaliditätsbegriff und Invaliditätsbemessung
»
Welche Pensionskasse ist für die Ausrichtung einer Rente zuständig?
»
Rentenhöhe
»
Beginn und Ende des Rentenanspruchs
»
Wann können Renten revidiert werden?
»
Kürzung der Rente bei Überentschädigung
»
Verfahren und Verjährung
»
Freizügigkeitsguthaben
»
Rechtliche Grundlagen
Renten und Ergänzungsleistungen
Obligatorische und überobligatorische berufliche Vorsorge
Der obligatorische Teil der beruflichen Vorsorge ist im BVG geregelt und garantiert sie in ihren
Reglementen oder Statuten umschreiben. Diese zusätzlichen Leistungen stellen den überobligatorischen Teil der beruflichen Vorsorge dar.
Ob eine Person nur obligatorisch oder auch überobligatorisch versichert ist, entscheidet der
Arbeitgeber. Er kann seine Arbeitnehmer bei einer Pensionskasse versichern, die überobligatorische Leistungen gewährt, oder eine Pensionskasse wählen, die nur die gesetzlichen Minimalleistungen vorsieht. Arbeitgeber, die ihre Arbeitnehmer trotz Versicherungspflicht bei gar
keiner Pensionskasse versichern, werden von Gesetzes wegen bei der Auffangeinrichtung angeschlossen. Da die Auffangeinrichtung nur das Minimum abdeckt, führt dies aber dazu, dass
diese Arbeitnehmer nur obligatorisch versichert sind. Ebenfalls nur obligatorisch versichert
sind arbeitslose Personen, denn während des Bezugs von Arbeitslosentaggeldern sind sie von
Gesetzes wegen ebenfalls bei der Auffangeinrichtung angeschlossen.
Obligatorisch versichert sind ab dem 17. Altersjahr alle Arbeitnehmer mit einem Jahreslohn
von mindestens 21‘060 Franken. Ein Jahreseinkommen von mehr als 84‘240 Franken ist nicht
mehr obligatorisch versichert. Arbeitnehmer mit Jahreslöhnen unter 21‘060 Franken und auch
Jahresverdienste über 84‘240 Franken können daher nur aufgrund reglementarischer Bestimmungen versichert werden. Arbeitslose sind ab einem Arbeitslosentaggeld von 80.90 Franken
pro Tag obligatorisch versichert.
Es gibt aber auch Fälle, in denen Arbeitnehmer trotz Erreichen des Mindestjahreslohns von
21‘060 Franken nicht obligatorisch versichert sind. Dies betrifft unter anderem
• Arbeitnehmer, die in einem auf höchstens drei Monate befristeten Arbeitsverhältnis stehen;
• Personen, die zu mindestens 70% invalid sind.
»» Beispiel: Nach ihrer kaufmännischen Lehre hat Frau T eine auf 3 Monate befristete Anstellung in einem Reisebüro gefunden. Sie verdient dabei 3‘000 Franken pro Monat. Zwar
liegt ihr auf ein Jahr umgerechneter Lohn über dem Grenzbetrag von 21‘060 Franken pro
Jahr; da es sich aber um ein auf 3 Monate befristetes Arbeitsverhältnis handelt, ist Frau T
nicht obligatorisch versichert.
Das Reisebüro ist mit der Arbeitsleistung von Frau T ausserordentlich zufrieden und wandelt die befristete Anstellung nach zweieinhalb Monaten in eine unbefristete Festanstellung
um. Ab dem Zeitpunkt der Vereinbarung über die Festanstellung ist Frau T nun obligatorisch versichert.
Teilzeiterwerbstätige, die bei mehreren Arbeitgebern angestellt sind, verdienen in den jeweiligen Arbeitsverhältnissen oft weniger als 21‘060 Franken pro Jahr. Übersteigt das Gesamteinkommen aber diesen Mindestjahreslohn, besteht die Möglichkeit, sich bei der Auffangeinrichtung versichern zu lassen.
237
Renten und Ergänzungsleistungen
Bei teilinvaliden Personen mit einer IV-Rente ist der Mindestjahreslohn tiefer: Eine Person mit
einer Dreiviertelsrente muss bereits ab einem Jahreslohn von 5‘265 Franken versichert werden,
eine Person mit einer halben Rente ab einem Jahreslohn von 10‘530 Franken und eine Person
mit einer Viertelsrente ab einem Jahreslohn von 15‘795 Franken.
Beginn, Ende und Umfang des Versicherungsschutzes
Die obligatorische Vorsorgeversicherung beginnt mit dem Antritt des Arbeitsverhältnisses. Als
Arbeitsantritt gilt der Zeitpunkt, in dem sich eine Person erstmals auf den Weg zur Arbeit begibt oder das Arbeitsverhältnis hätte antreten sollen. Für Arbeitslose beginnt die obligatorische
Versicherung mit dem Tag, an dem erstmals Anspruch auf ein Arbeitslosentaggeld besteht.
Der Versicherungsschutz endet mit dem Erreichen des AHV-Alters, mit der Unterschreitung
des Mindestjahreslohns, mit dem Ende des Anspruchs auf Arbeitslosentaggelder und mit der
Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Nach dem Ende des Vorsorgeverhältnisses besteht der
Versicherungsschutz für die Risiken Tod und Invalidität aber noch während eines Monats weiter
(sog. Nachdeckung), es sei denn, es wird vor Ablauf dieses Monats ein neues Vorsorgeverhältnis begründet (z.B. durch Antritt einer neuen Arbeitsstelle).
»» Beispiel: Frau S tritt am 1. Februar eine Anstellung als Laborchemikerin an und ist deshalb ab dem Zeitpunkt, in dem sie sich am 1. Februar zur Arbeit begibt, obligatorisch versichert. Aus wirtschaftlichen Gründen kündigt der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis bereits
wieder auf Ende Oktober. Frau S findet glücklicherweise wieder eine Anstellung, kann diese
aber erst am 1. Dezember antreten. Aufgrund der Nachdeckung ist Frau S noch bis Ende
November bei der bisherigen Pensionskasse versichert. Für den Fall einer Invalidität besteht
daher ein durchgehender Versicherungsschutz.
Wechselt eine Person, die trotz einer gesundheitlichen Beeinträchtigung eine volle Arbeitsleistung erbringen kann, den Arbeitgeber und somit auch die Pensionskasse, stellt sich die Frage
nach einem gesundheitlichen Vorbehalt. Dabei ist klar zwischen Obligatorium und Überobligatorium zu unterscheiden. Vorbehalte sind nämlich nur im überobligatorischen Bereich
zulässig und auch hier auf maximal fünf Jahre befristet. In der obligatorischen beruflichen
Vorsorge dürfen keine Vorbehalte angebracht werden.
»» Beispiel: Herr M litt vor vier Jahren an Depressionen, ist seit einem damaligen stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik aber wieder voll leistungsfähig. Nun wechselt
er den Arbeitgeber. Die Pensionskasse des neuen Arbeitgebers schickt Herrn M einen
Gesundheitsfragebogen, in dem Herr M die Depressionen und den Klinikaufenthalt angeben
muss. Die Pensionskasse macht daraufhin einen Vorbehalt und erklärt, dass sie bei einer in
den nächsten fünf Jahren eintretenden Invalidität wegen Depressionen keine überobligatorischen Leistungen erbringen wird. Da die Pensionskasse im obligatorischen Bereich keinen
Vorbehalt anbringen darf, ist Herr M im Rahmen der gesetzlichen Minimalleistungen aber
238
Renten und Ergänzungsleistungen
bereits ab Arbeitsbeginn voll versichert. Sobald sein Arbeitsverhältnis länger als fünf Jahre
gedauert hat, fällt der Vorbehalt weg und Herr M ist auch im überobligatorischen Bereich
voll versichert.
Hätte Herr M die Depressionen und den Klinikaufenthalt verschwiegen und den Gesundheitsfragebogen somit falsch ausgefüllt, könnte ihm die Pensionskasse im Falle einer Invalidität aus psychischen Gründen eine Anzeigepflichtverletzung vorwerfen und im überobligatorischen Bereich vom Vorsorgevertrag zurücktreten. Es ist daher wichtig, dass Herr M
den Gesundheitsfragebogen wahrheitsgetreu ausfüllt.
Invaliditätsbegriff und Invaliditätsbemessung
Da die berufliche Vorsorge vom gleichen Invaliditätsbegriff ausgeht wie die IV, gilt der von der
IV ermittelte Invaliditätsgrad auch für die Pensionskassen, es besteht eine sog. Bindungswirkung. Aufgrund der Bindung an den von der IV festgestellten Invaliditätsgrad, steht den Pensionskassen auch das Recht zu, einen Entscheid der IV anzufechten. Die IV ist daher verpflichtet,
ihren Entscheid auch der mutmasslich zuständigen Pensionskasse zuzustellen. Hat die IV dies
unterlassen, entfällt die Bindungswirkung und die Pensionskasse kann den Invaliditätsgrad
selbst ermitteln.
Da die IV nicht nur die Erwerbsunfähigkeit sondern auch die Einschränkung im Haushaltbereich abdeckt, ermittelt sie den Invaliditätsgrad bei Teilerwerbstätigen nach der gemischten
Methode. In der beruflichen Vorsorge ist hingegen nur die Erwerbsfähigkeit versichert. Dies
führt dazu, dass die Pensionskasse bei einer teilerwerbstätigen Person nicht auf den von der IV
ermittelten Gesamtinvaliditätsgrad abstellen, sondern nur den im Erwerbsbereich ermittelten
Invaliditätsgrad übernehmen darf.
»» Beispiel: Herr K hat in einem 50%-Pensum als kaufmännischer Angestellter gearbeitet
und zu 50% die Kinderbetreuung und den Haushalt übernommen, als er an MS erkrankt.
Die IV hat im Erwerbsbereich einen Invaliditätsgrad von 50% und im Haushaltbereich einen
Invaliditätsgrad von 30% ermittelt. Dies ergibt einen Gesamtinvaliditätsgrad von 40% und
einen Anspruch auf eine Viertelsrente der IV. Die Pensionskasse muss nun den Invaliditätsgrad im Erwerbsbereich und somit 50% übernehmen. Gegenüber der Pensionskasse hat
Herr K gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 50% daher Anspruch auf eine halbe Rente.
Hätte es die IV unterlassen, der Pensionskasse von Herrn K auch ein Exemplar des IVEntscheids zu schicken, wäre die Bindungswirkung entfallen. Die Pensionskasse hätte den
Invaliditätsgrad von Herrn K somit selbständig beurteilen dürfen und zum Beispiel ein
neurologisches Gutachten einholen können. Hätte das Gutachten im Erwerbsbereich eine
Einschränkung von nur 40% ergeben, hätte die Pensionskasse Herrn K nur eine Viertelsrente zusprechen können.
239
Renten und Ergänzungsleistungen
Welche Pensionskasse ist für die Ausrichtung einer Rente zuständig?
Für die Ausrichtung einer Invalidenrente ist diejenige Pensionskasse zuständig, bei der die
betroffene Person versichert war, als sie zum ersten Mal wegen einer Krankheit oder wegen
eines Unfalls zu mindestens 20% arbeitsunfähig wurde, und wenn diese Arbeitsunfähigkeit
schliesslich zu einer Invalidität geführt hat.
Für die Leistungspflicht einer Pensionskasse sind dabei sowohl ein sachlicher als auch ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Arbeitsunfähigkeit und Invalidität vorausgesetzt. Ein sachlicher
Zusammenhang besteht, wenn die gleiche Ursache zur Invalidität geführt hat, die auch für die
erstmals aufgetretene Arbeitsunfähigkeit verantwortlich war. Ein zeitlicher Zusammenhang
besteht, wenn es zwischen dem erstmaligen Auftreten der Arbeitsunfähigkeit und dem Eintritt
der Invalidität keinen Unterbruch gab, während dem die Person längere Zeit zu mehr als 80%
arbeitsfähig war.
Insbesondere die Beurteilung des zeitlichen Zusammenhangs gibt oft zu Diskussionen und
Streitigkeiten Anlass und beschäftigt daher nicht selten die Gerichte. Damit die von solchen
Streitigkeiten betroffenen Personen bis zur Klärung der Zuständigkeitsfrage nicht vollends leer
ausgehen, trifft die letzte Pensionskasse eine sog. Vorleistungspflicht. Diese bedeutet, dass
diejenige Pensionskasse, der die betroffene Person zuletzt angehört hat, vorläufig eine Rente
ausbezahlen muss. Da sich die Vorleistungspflicht aber nur auf das Obligatorium bezieht, erhält die betroffene Person zumindest vorerst nur eine Rente im Umfang des BVG-Minimums.
»» Beispiel: Frau H arbeitet in einem 100%-Pensum als Sachbearbeiterin bei einer Krankenkasse, als sie von einer Zecke gebissen wird und an Lyme-Borreliose erkrankt. Aufgrund der Erkrankung muss sie ihr Arbeitspensum dauerhaft auf 80% reduzieren. Eine
Umstrukturierung der Krankenkasse führt dazu, dass Frau H ihre Arbeitsstelle verliert.
Glücklicherweise findet sie bald eine neue 80%-Stelle bei einer Reiseversicherung. Plötzlich
verschlechtert sich der Gesundheitszustand von Frau H, sie muss ihr Pensum dauerhaft auf
50% reduzieren und die IV zahlt ihr nach Ablauf der Wartezeit eine Rente aus. Da Frau H
erstmals und im Umfang von 20% arbeitsunfähig geworden ist, als sie noch bei der Krankenkasse gearbeitet hat, wendet sie sich nicht an die Pensionskasse der Reiseversicherung,
sondern an die Pensionskasse, bei der sie durch das Arbeitsverhältnis bei der Krankenkasse
angeschlossen war. Diese Pensionskasse ist dann auch für die Bezahlung einer Rente der
beruflichen Vorsorge zuständig.
Da sich die Pensionskasse der Krankenkasse aber weigert, eine Rente zu zahlen, muss die
Pensionskasse der Reiseversicherung im Rahmen der Vorleistungspflicht obligatorische
Invalidenleistungen ausbezahlen bis feststeht, welche Pensionskasse tatsächlich zuständig
ist.
Wer von Geburt auf oder seit der Kindheit oder Jugend behindert ist, hat es besonders
schwer, von einer Pensionskasse Leistungen zu erhalten. Die Pensionskasse argumentiert dann
oft damit, dass die Person ja bereits vor der Aufnahme der Erwerbstätigkeit gesundheitlich
240
Renten und Ergänzungsleistungen
eingeschränkt gewesen sei. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass kein Leistungsanspruch
besteht. Personen, die geburtsbehindert sind oder als Minderjährige invalid wurden, haben
Anspruch auf eine Invalidenrente der Pensionskasse, falls ihre Arbeitsunfähigkeit bei Aufnahme
der Erwerbstätigkeit unter 40% lag und während des Arbeitsverhältnisses auf 40% und mehr
gestiegen ist.
»» Beispiel: Herr W leidet seit seiner Geburt an einer Muskelkrankheit und absolviert eine
Anlehre in einer Druckerei. Anschliessend erhält er eine Festanstellung zu 70%. Mit der Zeit
verschlimmert sich die Krankheit und Herr W ist nicht mehr arbeitsfähig. Neben einer Rente der IV erhält er nun auch eine Rente der Pensionskasse, denn bei der Aufnahme seiner
Tätigkeit in der Druckerei bewältigte er ein Arbeitspensum von mehr als 60%.
Rentenhöhe
Die berufliche Vorsorge kennt dieselben Rentenstufen wie die IV:
InvaliditätsgradRentenanspruch
40 - 49%
50 - 59%
60 - 69%
70 - 100%
Viertelsrente
Halbe Rente
Dreiviertelsrente
Ganze Rente
Im überobligatorischen Bereich kann es aber durchaus sein, dass bereits ab einem tieferen
Invaliditätsgrad (z.B. ab 25%) Anspruch auf eine Invalidenrente besteht, wenn das Reglement
dies vorsieht.
Die Höhe der Rente hängt sodann ebenfalls davon ab, ob die rentenbeziehende Person nur
obligatorisch oder auch überobligatorisch versichert ist. Die Pensionskassen verschicken in der
Regel jedes Jahr einen Vorsorgeausweis. Diesem kann entnommen werden, wieviel eine ganze
Rente im Invaliditätsfall beträgt.
Im obligatorischen Bereich sind primär die angesparten Altersgutschriften (inkl. Verzinsung)
ausschlaggebend. Im Invaliditätsfall werden diejenigen Altersgutschriften (ohne Verzinsung)
hinzugerechnet, die die Person bis zum Rentenalter noch erwerben würde. Die Summe dieser
angesparten und hypothetischen Altersgutschriften ergibt das massgebende Altersguthaben.
Aufgrund des derzeitigen Umwandlungssatz von 6,8% resultiert sodann die jährliche Invalidenrente.
Rentnerinnen und Rentner erhalten für jedes ihrer Kinder bis zu deren 18. Altersjahr zusätzlich
zur eigenen Rente eine Kinderrente. Steht das Kind noch in Ausbildung, wird die Kinderrente
bis zum Abschluss der Ausbildung, längstens aber bis zum 25. Altersjahr ausgerichtet. Die
Kinderrente beträgt 20% der eigenen Rente.
241
Renten und Ergänzungsleistungen
»» Beispiel: Bei Frau R wurde ein Invaliditätsgrad von 50% ermittelt. Sie hat daher Anspruch auf eine halbe Invalidenrente. Ihre bisher angesparten Altersgutschriften inkl.
Verzinsung betragen 150’000 Franken. Bis zum Rentenalter 64 wären nochmals 120‘000
Franken hinzugekommen. Das massgebende Altersguthaben beträgt somit 270‘000
Franken und die Jahresrente für eine Vollinvalidität 18‘360 Franken (6,8% von 270‘000
Franken). Die obligatorische halbe Rente von Frau R beläuft sich somit auf 9‘180 Franken
pro Jahr bzw. 765 Franken pro Monat. Für ihre beiden minderjährigen Kinder erhält Frau R
zusätzlich 153 Franken pro Kind.
Bei Pensionskassen mit überobligatorischen Leistungen werden die Invalidenrenten nach
anderen Grundsätzen berechnet. Näheres dazu ist in den jeweiligen Reglementen zu finden.
»» Beispiel: Die Pensionskasse von Frau T sieht im Reglement vor, dass bei einer Vollinvalidität 60% des letzten AHV-Lohns als Invalidenrente ausbezahlt werden. Da der letzte
AHV-Lohn von Frau T jährlich 70‘000 Franken betrug und sie zu 50% invalid geworden ist,
erhält sie eine Rente von 21‘000 Franken pro Jahr bzw. 1‘750 pro Monat ausbezahlt.
Beginn und Ende des Rentenanspruchs
Analog zur IV entsteht der Rentenanspruch, wenn die betroffene Person während eines Jahres
ohne wesentlichen Unterbruch mindestens zu 40% arbeitsunfähig gewesen ist. In ihren Reglementen oder Statuten können die Pensionskassen aber vorsehen, dass der Anspruch auf eine
Invalidenrente aufgeschoben wird, solange die betroffene Person Krankentaggeldleistungen
erhält.
Im Gegensatz zur Rente der IV endet die Rente der obligatorischen beruflichen Vorsorge nicht
mit dem Erreichen des AHV-Alters, sondern wird bis zum Tod der rentenbeziehenden Person
ausgerichtet. Im überobligatorischen Bereich können die Pensionskassen aber vorsehen, dass
eine überobligatorische Invalidenrente mit dem Erreichen des AHV-Alters endet. Je nach Reglement ist sodann eine (allenfalls tiefere) überobligatorische Altersrente geschuldet.
»» Beispiel: Herr S erleidet einen Hirnschlag und ist nicht mehr arbeitsfähig. Glücklicherweise ist sein Lohnausfall vorerst durch die Krankentaggeldversicherung seines Arbeitgebers abgedeckt. Nach Ablauf des Wartejahrs richtet ihm die IV eine ganze Rente aus.
Gemäss dem Reglement seiner Pensionskasse erhält er erst nach Ausschöpfung der Krankentaggeldleistungen und somit zwei Jahre nach dem Hirnschlag auch von der Pensionskasse eine ganze Invalidenrente.
Da das Reglement seiner Pensionskasse vorsieht, dass die überobligatorische Invalidenrente mit dem Erreichen des AHV-Alters endet, muss er im Alter von 65 Jahren mit einer
tieferen Pensionskassenrente rechnen.
242
Renten und Ergänzungsleistungen
Wann können Renten revidiert werden?
Wie im Bereich der IV können auch die Renten der beruflichen Vorsorge erhöht werden, wenn
sich der Gesundheitszustand der rentenbeziehenden Person verschlechtert hat, und sie können herabgesetzt oder aufgehoben werden, wenn sich der Gesundheitszustand verbessert
hat.
Im Fall einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes stellt sich aber oft erneut die Frage
nach der Zuständigkeit der Pensionskasse. Grundsätzlich ist diejenige Pensionskasse, die bereits eine Rente ausrichtet, auch bei der Verschlechterung zuständig, sofern diese Verschlechterung auf dieselbe gesundheitliche Beeinträchtigung zurückgeht. Auch hier ist also wieder der
sachliche Zusammenhang entscheidend. Dieser Grundsatz gilt aber nur für die obligatorischen Leistungen. Im überobligatorischen Bereich sind die Pensionskassen frei, in ihren Reglementen eine Erhöhung aufgrund einer Verschlechterung abzulehnen, wenn die Person nicht
mehr bei der entsprechenden Pensionskasse versichert ist.
»» Beispiel: Als bei Frau N ein Hirntumor festgestellt wurde, war sie in einem 100%-Pensum
angestellt. Aufgrund der Erkrankung gibt sie ihr Arbeitsverhältnis auf und erhält gestützt
auf eine Arbeitsunfähigkeit von 50% sowohl von der IV als auch von ihrer Pensionskasse
eine halbe Rente ausgerichtet. Zwei Jahre später wird sie aufgrund des wiederaufgetretenen Hirntumors vollumfänglich arbeitsunfähig. Nachdem die IV die Rente erhöht hat, muss
auch die Pensionskasse ihre Rente erhöhen. Ob die Pensionskasse nur die obligatorische
oder auch die überobligatorische Rente erhöht, hängt vom Reglement der Pensionskasse
ab.
Kürzung der Rente bei Überentschädigung
Erhält eine Person sowohl von der IV als auch von der Pensionskasse Rentenleistungen, können
diese – insbesondere bei zusätzlich ausgerichteten Kinderrenten oder aufgrund einer hinzutretenden Rente der Unfallversicherung – eine beachtliche Höhe erreichen. Die gesamten Leistungen können durchaus höher liegen als das Einkommen, das aufgrund der gesundheitlichen
Beeinträchtigung verloren ging. Ist dies der Fall, liegt eine Überentschädigung vor.
Die Rente der Pensionskasse wird also gekürzt, wenn sie zusammen mit den Rentenleistungen der IV und der Unfallversicherung und zusammen mit dem tatsächlich noch erzielten oder
theoretisch noch erzielbaren Einkommen 90% des mutmasslich entgangenen Verdienstes
übersteigt. Mit dem mutmasslich entgangenen Verdienst ist dasjenige Einkommen gemeint,
das die betroffene Person ohne gesundheitliche Einschränkung erzielen könnte. Im überobligatorischen Bereich können die Pensionskassen zudem eigene Überentschädigungsregelungen
vorsehen.
243
Renten und Ergänzungsleistungen
»» Beispiel: Frau N aus dem obigen Beispiel erhält nun also eine ganze Rente der IV und
eine ganze Rente der Pensionskasse sowie entsprechende Kinderrenten für ihre beiden
Kinder. Da sie vor Auftreten des Hirntumors einen Jahresverdienst von 80‘000 Franken
erzielt hat, dürfen die Renten zusammen nicht mehr als 72‘000 Franken (90% von 80‘000
Franken) betragen. Neben der Rente der IV von 2‘200 Franken pro Monat für sich und je
880 Franken pro Monat für die beiden Kinder und somit von insgesamt 47‘520 Franken pro
Jahr erhält Frau N von der Pensionskasse somit nur noch eine Rente von insgesamt 2‘040
Franken pro Monat bzw. 24‘480 Franken pro Jahr, dies obwohl die überobligatorische Rente gemäss Reglement der Pensionskasse 50% ihres letzten AHV-Lohnes und somit 40‘000
Franken pro Jahr betragen würde. Die Pensionskasse darf ihre Rentenleistungen also um
insgesamt 15‘520 Franken pro Jahr kürzen.
Verfahren und Verjährung
Wer Leistungen einer Pensionskasse beanspruchen möchte, kann einen formlosen schriftlichen Antrag stellen. Nach Überprüfung des Antrags erlässt die Pensionskasse im Gegensatz
zu den anderen Sozialversicherungen (AHV, IV, Ergänzungsleistungen, Militärversicherung,
Unfallversicherung und Krankenversicherung) keine anfechtbare Verfügung, sondern teilt
der betroffenen Person ihren Entscheid durch einen formlosen Brief mit. Ist die Person mit
dem Inhalt des Entscheids nicht einverstanden oder enthält der Brief keine nachvollziehbare
Begründung, sollte das Gespräch mit der Pensionskasse gesucht oder der eigene Standpunkt
schriftlich begründet werden. Manchmal lässt sich auf diesem Weg eine Lösung finden und die
Pensionskasse geht auf das Anliegen ein. Ist dies nicht der Fall, muss die betroffene Person
gegen die Pensionskasse Klage erheben, wenn sie zu ihrem Recht gelangen will. Die Klage ist
beim kantonalen Gericht (in der Regel beim Versicherungsgericht) am Sitz der Pensionskasse
oder am Ort des Betriebs, bei dem die Person angestellt war, einzureichen.
Wie bei vielen Rechtsverhältnissen stellt sich auch beim Anspruch auf eine Rente der Pensionskasse die Frage nach der Verjährung. Wer gegenüber seiner Pensionskasse eine Rente geltend
machen und durchsetzen möchte, muss eine 5-jährige Verjährungsfrist beachten. Dies
bedeutet, dass höchstens für die letzten fünf Jahre eine Nachzahlung von Rentenleistungen
eingefordert werden kann. Damit bei langwierigen Verfahren keine Rentenleistungen verlustig
gehen, sollte entweder eine Verjährungsverzichtserklärung der Pensionskasse eingeholt oder
rechtzeitig Klage erhoben werden.
»» Beispiel: Herr D erhält eine ganze Rente der IV. Da in Bezug auf den Zeitpunkt des
Eintritts der Arbeitsunfähigkeit, deren Ursache schliesslich zur Invalidität geführt hat,
verschiedene ärztliche Beurteilungen vorliegen, erachtet sich keine der zwei in Frage kommenden Pensionskassen als zuständig. Die Verhandlungen mit den beiden Pensionskassen
ziehen sich daher in die Länge. Damit keine mutmasslichen Rentenleistungen verjähren,
sollte Herr D bei beiden Pensionskassen eine Verjährungsverzichtserklärung einholen oder
rechtzeitig gegen beide Pensionskassen Klage erheben.
244
Renten und Ergänzungsleistungen
Freizügigkeitsguthaben
Es kommt immer wieder vor, dass das bei einer Pensionskasse angesparte Altersguthaben auch
bei einer gesundheitsbedingten Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf ein Freizügigkeitskonto überwiesen wird. Führt die Arbeitsunfähigkeit in der Folge aber zu einer Invalidität und
besteht nicht nur gegenüber der IV, sondern auch gegenüber der letzten Pensionskasse ein
Anspruch auf eine Invalidenrente, muss das Freizügigkeitsguthaben an die leistungspflichtige
Pensionskasse zurückgezahlt werden. Diese hat daraus sodann die Rente zu berechnen und
auszuzahlen.
Es kann vorkommen, dass eine Person zwar unbestrittenermassen invalid ist, dass aber keine
Pensionskasse eine Invalidenrente ausrichten muss. Wer in einem solchen Fall eine ganze Rente
der IV erhält, kann sich immerhin das Freizügigkeitsguthaben auszahlen lassen.
»» Beispiel: Herr D aus dem obigen Beispiel hat schlussendlich gegen beide Pensionskassen
Klage erhoben und das kantonale Versicherungsgericht hat in seinem Urteil eine der Pensionskassen zur Bezahlung einer Rente verpflichtet. Damit diese Pensionskasse die Rente berechnen und auszahlen kann, muss das inzwischen auf einem Freizügigkeitskonto liegende
Freizügigkeitsguthaben an die Pensionskasse zurücküberwiesen werden.
Hätte das kantonale Gericht die Klage von Herrn D vollumfänglich abgewiesen und keine
Pensionskasse zur Bezahlung einer Rente verpflichtet, stünde es Herrn D zumindest frei,
sich das gesamte Freizügigkeitsguthaben auszahlen zu lassen.
245
Renten und Ergänzungsleistungen
Rechtliche Grundlagen
• Zweck der beruflichen Vorsorge: Art. 1 BVG
• Obligatorische Versicherung: Art. 2, 7, 8, 11, 12, 46, 60 BVG; Art. 1j, 1k, 4 BVV2
• Obligatorische Versicherung von Arbeitslosen: Verordnung über die obligatorische berufliche Vorsorge von arbeitslosen Personen
• Gesundheitlicher Vorbehalt: Art. 331c OR
• Beginn und Ende der obligatorischen Versicherung: Art. 10 BVG; Art. 6 BVV2
• Invaliditätsbegriff, Zuständigkeit und Vorleistungspflicht: Art. 23, 26 Abs. 4 BVG
• Rentenhöhe: Art. 24, 25, 14-16 BVG
• Beginn und Ende des Rentenanspruchs: Art. 26 und 49 Abs. 1 BVG
• Überentschädigung: Art. 24 BVV2
• Verfahren: Art. 73 BVG
• Verjährung: Art. 41 BVG
• Auszahlung Freizügigkeitsguthaben: Art. 16 Abs. 2 FZV
246
Renten und Ergänzungsleistungen
247
Renten und Ergänzungsleistungen
Ergänzungsleistungen
Gemäss Bundesverfassung müssten die Renten der AHV und der IV eigentlich den Existenzbedarf der Versicherten angemessen decken. Dieser Auftrag kann schon deshalb nicht erfüllt werden, weil der Existenzbedarf in einem Fall sehr tief, im anderen Fall aber auch sehr hoch sein
kann: Behinderte Menschen, die in einem Heim wohnen und täglich eine Tagestaxe von 160
Franken bezahlen müssen, weisen natürlich einen Existenzbedarf aus, der um ein Vielfaches
über demjenigen anderer Menschen liegt, die beispielsweise in ländlicher Umgebung bei ihren
Eltern leben. Diesen massiven Unterschieden kann mit dem Rentensystem der AHV und IV nicht
begegnet werden.
Damit dennoch keine Härtefälle entstehen, sind als ergänzendes System zu den Renten die
Ergänzungsleistungen geschaffen worden. Sie sind nach dem Bedarfsprinzip aufgebaut und
sollen behinderten Menschen die finanzielle Lücke schliessen, die nach dem Bezug von Invalidenrente und Hilflosenentschädigung verbleibt. Die Ergänzungsleistungen sind jedoch keine
Almosen des Staates, es besteht vielmehr ein klarer Rechtsanspruch auf deren Bezug, sobald
eine bestimmte Einkommensgrenze nicht erreicht wird. Zudem müssen zu Recht bezogene
Ergänzungsleistungen – anders als Sozialhilfeleistungen – auch dann nicht zurückerstattet werden, wenn eine Person später zu Einkommen und Vermögen gelangt.
In diesem Kapitel wird umschrieben, wer grundsätzlich einen Anspruch auf Ergänzungsleistungen erwerben kann, wie die Ergänzungsleistungen bemessen werden, welches die Sonderregeln
für Heimbewohner und Heimbewohnerinnen sind, ab wann ein Anspruch entsteht und unter
welchen Voraussetzungen zusätzlich zur jährlichen Ergänzungsleistung Krankheits- und Behinderungskosten vergütet werden können.
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»
Wer kann Ergänzungsleistungen beanspruchen?
»
Bemessung der jährlichen Ergänzungsleistungen
»
Welche Ausgaben werden berücksichtigt?
»
Welche Einnahmen werden angerechnet?
»
Sonderberechnung für Heimbewohner und Heimbewohnerinnen
»
Beginn des Anspruchs und Anpassung der Ergänzungsleistungen
»
Die Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten
»
Kantonale Zusatzleistungen
»
Rechtliche Grundlagen
Renten und Ergänzungsleistungen
Wer kann Ergänzungsleistungen beanspruchen?
Zum Bezug von Ergänzungsleistungen können sich folgende Personen anmelden, falls sie
Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz haben und mindestens 18-jährig
sind:
• Bezüger und Bezügerinnen einer AHV- oder IV-Rente
• Bezüger und Bezügerinnen einer Hilflosenentschädigung der IV
• Bezüger und Bezügerinnen eines Taggeldes der IV, sofern sie dieses während mindestens 6
Monaten beziehen.
Der „gewöhnliche Aufenthalt“ in der Schweiz wird bei kürzeren Auslandaufenthalten nicht
unterbrochen. Verlässt eine Person die Schweiz jedoch für mehr als 3 Monate pro Kalenderjahr,
erlischt der Anspruch auf Ergänzungsleistungen.
Schweizer Bürger und Bürgerinnen können sich auch dann für eine Ergänzungsleistung
anmelden, wenn sie keine Rente beziehen (z.B. weil sie vor Eintritt des Versicherungsfalls nie
Beiträge entrichtet haben). Es genügt, wenn sie das AHV-Rentenalter erreicht haben, zu mindestens 40% invalid sind oder „Hinterlassene“ im Sinne des Gesetzes sind.
»» Beispiel: Frau S. ist in den USA aufgewachsen und der freiwilligen AHV/IV nie beigetreten. Im Alter von 48 Jahren erkrankt sie schwer, wird erwerbsunfähig und kehrt in die
Schweiz zurück, weil sie hier bei ihren Verwandten leben und von ihnen betreut werden
kann. Frau S. erhält keine Rente der IV, weil sie vor Eintritt der Invalidität keine Beiträge
an die IV bezahlt hat. Sie kann sich nun aber bei der Ausgleichskasse des neuen Wohnortes
zum Bezug von Ergänzungsleistungen anmelden, wenn ihr Einkommen und Vermögen den
Existenzbedarf nicht zu decken vermögen.
Staatsangehörige der EU und der EFTA sind den Schweizer Bürgern und Bürgerinnen gleichgestellt. Alle anderen Ausländer und Ausländerinnen haben jedoch eine weitere strenge
Hürde zu überwinden: Sie erhalten erst nach ununterbrochenem Aufenthalt von 10 Jahren
in der Schweiz Ergänzungsleistungen zugesprochen (Flüchtlinge: 5 Jahre). Zudem müssen sie
zwingend Anspruch auf eine Rente der AHV oder der IV, auf eine Hilflosenentschädigung der IV
oder auf ein IV-Taggeld haben.
»» Beispiel: Der brasilianische Staatsangehörige M ist vor 15 Jahren in die Schweiz eingereist, vor 9 Jahren wieder nach Brasilien zurückgekehrt und schliesslich vor 7 Jahren
erneut in die Schweiz eingereist. Er ist jetzt als Folge eines Verkehrsunfalls zu 65% invalid
geworden und erhält eine Dreiviertels-Teilrente der IV. Weil er sich noch keine 10 Jahre ununterbrochen in der Schweiz aufgehalten hat, kann er sich trotz Invalidenrente noch nicht
für eine Ergänzungsleistung anmelden. Dies wird er frühestens in 3 Jahren tun können.
Auch bei den Ausländern und Ausländerinnen gibt es jedoch eine Ausnahme: Kommen sie aus
einem Staat, mit dem die Schweiz ein bilaterales Sozialversicherungsabkommen geschlossen
249
Renten und Ergänzungsleistungen
hat, welches nach 5-jährigem Aufenthalt in der Schweiz einen Anspruch auf eine ausserordentliche Rente gewährt, wird anstelle dieser Rente eine Ergänzungsleistung bezahlt, die allerdings
maximal dem Betrag der minimalen ordentlichen Rente entspricht.
»» Beispiel: Frau B reist als türkische Staatsangehörige in die Schweiz ein. Bereits 2 Jahre
später meldet sie sich bei der IV an und beantragt die Ausrichtung einer Rente. Die IV-Stelle
gelangt aufgrund ihrer Abklärungen zum Ergebnis, dass ein Invaliditätsgrad von 80%
besteht. Weil die Invalidität von Frau B aber in einem Zeitpunkt eingetreten ist, in welchem
sie die Mindestbeitragspflicht von 3 Jahren noch nicht erfüllt hat, lehnt die IV das Rentengesuch ab. Da die Schweiz und die Türkei ein entsprechendes Sozialversicherungsabkommen
geschlossen haben, kann sich Frau B trotz fehlender Rente 5 Jahre nach der Einreise in
die Schweiz zum Bezug von Ergänzungsleistungen anmelden. Zu Beginn erhält sie nur eine
limitierte Leistung im Umfang der minimalen ordentlichen Rente, nach 10-jährigem Aufenthalt in der Schweiz dann die vollen Ergänzungsleistungen.
Bemessung der jährlichen Ergänzungsleistung
Die jährliche Ergänzungsleistung entspricht dem Betrag, um den die im Gesetz anerkannten
Ausgaben einer Person die anrechenbaren Einnahmen übersteigen. Liegt nur ein geringer
Ausgabenüberschuss vor, entspricht die jährliche Ergänzungsleistung mindestens der Höhe
der Krankenversicherungs-Prämienverbilligung, auf welche im betreffenden Kanton Anspruch
besteht.
Bei Eheleuten werden Ausgaben und Einnahmen der Ehegatten zusammengerechnet. Anders
wird jedoch bei getrennt lebenden Eheleuten vorgegangen: Ist die Ehe gerichtlich getrennt, ist
eine Scheidungsklage eingereicht worden, hat eine tatsächliche Trennung mindestens ein Jahr
lang gedauert oder kann glaubhaft geltend gemacht werden, dass eine tatsächliche Trennung
längere Zeit dauern wird, wird für jeden Ehegatten die Ergänzungsleistung getrennt berechnet,
wobei nur jener Ehegatte einen Anspruch hat, der auch tatsächlich Anspruch auf eine AHV-oder
IV-Rente, eine Hilflosenentschädigung der IV oder ein IV-Taggeld hat.
Auch bei Ehepaaren, von denen mindestens ein Ehegatte für längere Zeit in einem Heim
oder Spital lebt, wird die Ergänzungsleistung für jeden Ehegatten getrennt berechnet. In diesem Fall werden die Einnahmen der Eheleute zusammengerechnet und den Ehegatten je zur
Hälfte angerechnet. Ausgenommen von dieser Regel sind einzig die Leistungen der Krankenund Unfallversicherung an den Heim- oder Spitalaufenthalt, die Hilflosenentschädigung und der
Eigenmietwert der von einem Ehegatten bewohnten Liegenschaft.
Die Ausgaben und Einnahmen der Kinder werden mit jenen der Eltern, mit denen sie zusammenleben, zusammengerechnet. Sind allerdings die eigenen Einnahmen der Kinder höher als
ihre Ausgaben (was z.B. bei Lehrlingen oft der Fall ist), fallen die Kinder für die EL-Berechnung
ausser Betracht.
250
Renten und Ergänzungsleistungen
»» Beispiel: Frau P lebt zusammen mit ihrem 19-jährigen Sohn, der eine Lehre als Schreiner absolviert. Sie bezieht eine Invalidenrente sowie eine Kinderrente für ihren Sohn. Zudem
erhält dieser von seinem Vater einen Unterhaltsbeitrag. Wenn die anrechenbaren Einnahmen des Sohnes (Kinderrente, Unterhaltsbeitrag, Lehrlingslohn) insgesamt höher sind als
dessen anerkannte Ausgaben (Betrag für den allgemeinen Lebensbedarf für ein Kind, Hälfte
des Mietzinses, Krankenkassenbeitrag), wird der Sohn mit seinen Einnahmen und Ausgaben
nicht in die EL-Bemessung von Frau P eingeschlossen.
Welche Ausgaben werden berücksichtigt?
Als Ausgabe wird zunächst eine Pauschale für den allgemeinen Lebensbedarf berücksichtigt. Diese beträgt bei Alleinstehenden 19‘210 Franken im Jahr, bei Ehepaaren 28‘815 Franken.
Dieser Betrag erhöht sich für die beiden ersten Kinder um je 10‘035 Franken, für das 3. und 4.
Kind um je 6‘690 Franken und ab dem 5. Kind um je 3‘345 Franken.
Weiter wird der Bruttomietzins (inkl. Nebenkosten) berücksichtigt, und zwar bis zum Maximum von 13‘200 Franken im Jahr (Alleinstehende) resp. von 15‘000 Franken im Jahr (Ehepaare
und Personen mit Kindern). Ist die Miete einer rollstuhlgängigen Wohnung nötig, so erhöht
sich der Höchstbetrag um 3‘600 Franken im Jahr. Bei Personen, die eine eigene Liegenschaft
bewohnen, wird der Eigenmietwert als „Mietzins“ angerechnet und für die Nebenkosten eine
Pauschale von 1‘680 Franken jährlich berücksichtigt. Bewohnen verschiedene Personen eine
Wohnung, die nicht alle in der EL-Berechnung einbezogen sind, wird ein prozentualer Anteil des
Mietzinses angerechnet.
»» Beispiel: Herr F ist IV-Rentner und lebt mit seiner Freundin in einer Mietwohnung. Der
Bruttomietzins beträgt 18‘000 Franken im Jahr. Für die Bemessung der Ergänzungsleistungen wird die Hälfte des Mietzinses angerechnet, d.h. 9‘000 Franken.
Angerechnet werden weiter die Krankenversicherungsprämien: Berücksichtigt werden nicht
die effektiven Prämien, sondern die Durchschnittsprämie für die obligatorische Krankenpflegeversicherung im betreffenden Kanton oder der betreffenden Region (bei Kantonen mit mehreren Prämienregionen). Der auf diese Prämien anfallende Anteil der Ergänzungsleistungen wird
übrigens nicht der versicherten Person ausgezahlt, sondern direkt der Krankenkasse.
Weiter werden folgende Ausgaben für die EL-Berechnung berücksichtigt:
• Die Beiträge an die Sozialversicherungen des Bundes (z.B. AHV-/IV-Beitrag)
• Die geleisteten familienrechtlichen Unterhaltsbeiträge
• Bei Liegenschaftsbesitzern die Gebäudeunterhaltskosten und Hypothekarzinsen, begrenzt auf die Höhe des Bruttoertrags der Liegenschaft (Mietzinsen oder Eigenmietwert)
251
Renten und Ergänzungsleistungen
Welche Einnahmen werden angerechnet?
Als Einnahmen werden alle Renten, Pensionen, Taggelder und andere wiederkehrende Leistungen angerechnet.
Ebenfalls angerechnet wird das Erwerbseinkommen einer Person. Von diesem Erwerbseinkommen wird allerdings ein Freibetrag von jährlich 1‘000 Franken (Alleinstehende) bzw. 1‘500
Franken (Ehepaare, Personen mit Kindern) abgezogen. Vom Restbetrag werden nur 2/3 angerechnet. Damit wird ein Anreiz geschaffen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.
Jenen Personen, die eine Viertelsrente, halbe Rente oder Dreiviertelsrente der IV beziehen und
das 60. Altersjahr noch nicht erreicht haben, wird ein hypothetisches Erwerbseinkommen angerechnet, und zwar von jährlich 25‘613 Franken (bei einem Invaliditätsgrad von 40% bis 49%),
19‘210 Franken (bei einem Invaliditätsgrad von 50% bis 59%) oder 12‘807 Franken (bei einem
Invaliditätsgrad von 60% bis 69%). Auch nicht invaliden Ehepartnern und Ehepartnerinnen kann
ein hypothetisches Erwerbseinkommen angerechnet werden, wenn ihnen eine Erwerbstätigkeit
zumutbar wäre. Die Anrechnung eines hypothetischen Erwerbseinkommens ist allerdings dann
nicht zulässig, wenn eine Person nachweisen kann, dass sie alles Zumutbare unternommen hat,
um eine Stelle zu finden, jedoch trotz dieser Bemühungen erfolglos geblieben ist. Unzulässig
ist eine Anrechnung auch, wenn die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit wegen Kinderbetreuungspflichten oder Pflegebedürftigkeit des Ehegatten nicht zumutbar ist.
»» Beispiel: Der 57-jährige Herr Z bezieht eine halbe Rente der IV bei einem Invaliditätsgrad von 54%. Rein theoretisch könnte Herr Z gemäss IV-Rentenverfügung noch ein
Invalideneinkommen von 25‘000 Franken erzielen. Herr Z bewirbt sich jedoch seit mehr als
einem Jahr vergeblich um eine Stelle. Wenn er monatlich 5 oder mehr ernsthafte Stellenbemühungen nachweisen kann, darf ihm kein hypothetisches Erwerbseinkommen bei der
Bemessung der Ergänzungsleistungen angerechnet werden. Dasselbe gilt, wenn Herr Z als
Folge der vergeblichen Job-Suche schliesslich eine Tätigkeit in einer geschützten Werkstätte
aufnimmt: Dann darf ihm nur das effektiv erzielte tiefe Erwerbseinkommen angerechnet werden. Würde Herr Z sich nicht um Arbeit bemühen und auch keine Stelle in einer
geschützten Werkstätte annehmen, würde ihm die EL-Stelle ein hypothetisches Erwerbseinkommen von jährlich 19›210 Franken anrechnen.
Angerechnet werden im Weiteren alle Einkünfte aus beweglichem und unbeweglichem Vermögen wie Sparzinsen, Mietzinsen sowie der Eigenmietwert einer Wohnung. Schliesslich wird
auch 1/15 des Vermögens (bei Altersrentnern 1/10), das den Freibetrag von 37‘500 Franken
(60‘000 Franken bei Ehepaaren, zusätzlich 15‘000 Franken pro Kind) übersteigt, als Einnahme
mitberücksichtigt. Man spricht in diesem Zusammenhang vom „Vermögensverzehr“. Bei selbst
bewohnten Liegenschaften wird nur der 112‘500 Franken übersteigende Wert der Liegenschaft
beim Vermögen berücksichtigt. Dieser Freibetrag bei selbst bewohnten Liegenschaften erhöht
sich sogar auf 300‘000 Franken, wenn ein Ehepaar eine Liegenschaft besitzt, welche von einem
Ehegatten bewohnt wird, während der andere in einem Heim oder Spital lebt, oder wenn eine
Person eine Hilflosenentschädigung bezieht und eine Liegenschaft bewohnt, die sie oder ihr
Ehegatte besitzt.
252
Renten und Ergänzungsleistungen
»» Beispiel: Das Ehepaar M wohnt in einem Eigenheim. Der Eigenmietwert beträgt 16‘400
Franken im Jahr, der amtliche Wert der Liegenschaft 400‘000 Franken und die Hypothek
120‘000 Franken. Da Herr M eine Hilflosenentschädigung bezieht, beträgt der Vermögensfreibetrag 300‘000 Franken und ist höher als das Nettovermögen aus der Liegenschaft. Es
wird somit kein Vermögen bei der EL-Berechnung angerechnet, sondern nur der Eigenmietwert von 16‘400 Franken als Vermögensertrag.
Schliesslich werden auch familienrechtliche Unterhaltsbeiträge angerechnet, auf die ein Anspruch besteht. Nur wenn diese trotz Betreibung uneinbringlich bleiben, kann auf die Anrechnung verzichtet werden.
Nicht angerechnet werden demgegenüber die Hilflosenentschädigungen, Stipendien und andere Ausbildungshilfen, Verwandtenunterstützungen und Sozialhilfeleistungen.
Sonderberechnung für Heimbewohner und Heimbewohnerinnen
Die EL-Berechnung bei Heimbewohnern unterscheidet sich von jener der übrigen Personen in
einigen wesentlichen Punkten:
Bei den Einnahmen liegt der Unterschied darin, dass die Kantone den „Vermögensverzehr“ auf
1/5 des den Vermögensfreibetrag übersteigenden Vermögens erhöhen können. Die meisten
Kantone haben (zumindest bei den Altersrentnern) von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, das
Vermögen vermehrt zu berücksichtigen. Zudem wird – anders als bei nicht im Heim lebenden
Personen – eine Hilflosenentschädigung angerechnet, wenn in der Tagestaxe auch die Kosten
für die Pflege enthalten sind.
Bei den anerkannten Ausgaben werden an Stelle des Betrags für den allgemeinen Lebensbedarf
und des Mietzinses die Tagestaxe des Heims oder Spitals sowie ein Betrag für die persönlichen Auslagen berücksichtigt. Bei diesen beiden Ausgabenposten kommt den Kantonen eine
wesentliche Rolle zu: Sie können die maximal anrechenbare Tagestaxe bestimmen und sie
legen fest, welcher Betrag für die persönlichen Ausgaben berücksichtigt wird. Dabei bestehen
von Kanton zu Kanton erhebliche Unterschiede. Einzelne Kantone anerkennen beispielsweise
sehr geringe Beträge für die persönlichen Auslagen, welche immerhin die Kosten für Bekleidung, Körperpflege, Telefon, Transporte, kulturelle Bedürfnisse, Ferien usw. umfassen.
»» Beispiel: Frau G lebt im Kanton Bern in einem Wohnheim für Behinderte und arbeitet
in der dem Heim angeschlossenen geschützten Werkstätte, wo sie jährlich 7‘000 Franken
verdient. Sie bezieht eine Invalidenrente von jährlich 18‘720 Franken. Sie verfügt über kein
Vermögen. Im Kanton Bern wird als Tagestaxe in Behindertenwohnheimen ein Betrag von
maximal 135 Franken anerkannt und für die persönlichen Auslagen ein Betrag von 376
Franken pro Monat berücksichtigt. Daraus ergibt sich folgende Berechnung der Ergänzungsleistungen:
253
Renten und Ergänzungsleistungen
Anrechenbare Auslagen:
•
•
•
•
Tagestaxe (365 x 135.-)
Betrag für persönliche Auslagen (12 x 367.-) Krankenkassenprämie
Total anrechenbare Auslagen
Fr. 49‘275.Fr. 4‘404.-
Fr. 5‘628.Fr. 59‘307.-
Anrechenbare Einnahmen:
• Rente • Erwerbseinkommen (2/3 nach Abzug Freibetrag) • Total anrechenbare Einnahmen
Fr. 18‘720.Fr. 4‘000.Fr. 22‘720.-
Frau G erhält somit Ergänzungsleistungen von jährlich 36‘587 Franken. Die Ergänzungsleistungen sind bei ihr wie bei vielen Heimbewohnern und Heimbewohnerinnen höher als
die Rente.
Probleme ergeben sich immer wieder, wenn eine Person in ein ausserkantonales Heim eintritt.
Weil ein Heimeintritt keinen EL-rechtlichen Wohnsitz begründet, bleibt der frühere Kanton in
solchen Fällen für die Festlegung der Ergänzungsleistungen zuständig. Damit verbunden ist,
dass auch die Tagestaxe nur bis zu den Maximalbeträgen berücksichtigt werden kann, welcher
dieser Kanton kennt. Diese Beträge stimmen nicht unbedingt mit den realen Tagestaxen im
Heimkanton überein. Es ist deshalb wichtig, vor jedem Eintritt in ein ausserkantonales Heim zu
klären, ob die Finanzierung über die Ergänzungsleistungen oder allenfalls über Kostengutsprachen des bisherigen Wohnkantons sichergestellt ist.
Beginn des Anspruchs und Anpassung der Ergänzungsleistungen
Ergänzungsleistungen werden den AHV- und IV-Rentnern und Rentnerinnen nicht einfach von
Amtes wegen berechnet und bezahlt, sondern die Versicherten müssen bei der zuständigen
kantonalen Stelle (in der Regel die Gemeindezweigstelle der kantonalen Ausgleichskasse, in Zürich eine Stelle der Gemeindeverwaltung, in Basel-Stadt das Amt für Sozialbeiträge) ein Gesuch
einreichen. Sie müssen dabei über alle Punkte Auskunft geben, die für die Berechnung des
Anspruchs von Bedeutung sind, und die entsprechenden Belege beibringen.
Der Anspruch auf Ergänzungsleistungen entsteht, falls die Voraussetzungen erfüllt sind, ab
dem Monat, in welchem das Gesuch eingereicht worden ist. Ergänzungsleistungen werden
somit in der Regel nicht rückwirkend bezahlt. Von dieser Regel gibt es zwei Ausnahmen für
eine rückwirkende Auszahlung:
• Wird das Gesuch innert 6 Monaten nach Zustellung der AHV- oder IV-Rentenverfügung
eingereicht, so beginnt der Anspruch auf Ergänzungsleistungen mit dem Monat der Anmeldung für die Rente, frühestens jedoch mit dem Beginn des Rentenanspruchs. Dasselbe gilt
bei einer Anpassung der Rente.
254
Renten und Ergänzungsleistungen
• Wird das Gesuch innert 6 Monaten nach einem Heim- oder Spitaleintritt eingereicht, so
besteht der Anspruch auf Ergänzungsleistungen ab Beginn des Monats des Heim- oder Spitaleintritts, sofern sämtliche Voraussetzungen erfüllt sind.
»» Beispiel: Frau B hat sich vor 3 Jahren zum Bezug einer Invalidenrente angemeldet. Das
Abklärungsverfahren hat sich in die Länge gezogen. Nun erhält Frau B endlich eine Verfügung, mit welcher ihr eine ganze Invalidenrente zugesprochen wird, und zwar rückwirkend
für 30 Monate. Wenn sich Frau B innert 6 Monaten nach Zustellung der Rentenverfügung
für eine Ergänzungsleistung anmeldet, so kann ihr diese ebenfalls rückwirkend für die letzten 30 Monate zugesprochen werden.
Ergänzungsleistungen werden bei jeder wesentlichen Änderung in den persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen angepasst. Wer Ergänzungsleistungen bezieht, muss diese
Veränderungen ohne Verzug melden. Wird die Meldepflicht verletzt, so kann die EL-Stelle die
Ergänzungsleistungen rückwirkend anpassen und allfällig zu viel ausgerichtete Beträge zurückfordern.
»» Beispiel: Herr K bezieht eine Invalidenrente und Ergänzungsleistungen. Er lebt mit
seiner Ehefrau in einer Mietwohnung. Nun kehrt seine 26-jährige Tochter nach 1-jährigem
Auslandaufenthalt in die Schweiz zurück und wohnt bis auf weiteres in der Wohnung ihrer
Eltern. Herr K muss diese Veränderung unverzüglich melden; denn ab dem Einzug der
Tochter darf der Mietzins nur noch zu 2/3 angerechnet werden. Es handelt sich somit um
eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen.
Die Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten
Wenn die kantonale EL-Stelle die jährlichen Ergänzungsleistungen festlegt, kann sie dabei die
regelmässigen Einkommens- und Ausgabenbestandteile wie Rente, Mietzins usw. berücksichtigen, nicht aber die unregelmässig anfallenden Auslagen wie z.B. ungedeckte Krankheitskosten
und behinderungsbedingte Mehrkosten. EL-Bezüger und -Bezügerinnen müssen die entsprechenden Rechnungen deshalb aufbewahren und periodisch (in jedem Fall innert 15 Monaten)
der zuständigen kantonalen Stelle zur Vergütung einreichen.
Vergütet werden allerdings nur die Kosten, welche nicht von Dritten (z.B. Krankenversicherung, Unfallversicherung, IV) aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung zu übernehmen sind.
Ob eine allfällige Hilflosenentschädigung bei Kosten der Pflege und Hilfe angerechnet wird, ist
von Kanton zu Kanton unterschiedlich geregelt.
Es kann vorkommen, dass jemand ein Gesuch um Ergänzungsleistungen gestellt hat, dieses jedoch abgelehnt worden ist, weil die anrechenbaren Einnahmen etwas höher als die anerkannten
Ausgaben sind. Eine solche Person kann dennoch ein Gesuch um Vergütung von Krankheitsund Behinderungskosten stellen. Diese werden ihr allerdings nur so weit vergütet, als sie den
Einnahmenüberschuss übersteigen.
255
Renten und Ergänzungsleistungen
»» Beispiel: Frau T bezieht eine ganze Rente der IV. Sie hat ein Gesuch um Ergänzungsleistungen gestellt. Dieses ist aber abgewiesen worden, weil die anrechenbaren Einnahmen
von Frau T (jährlich 36‘000 Franken) höher sind als die anerkannten Ausgaben (jährlich
34‘500 Franken). Nun muss sich Frau T einer zahnmedizinischen Behandlung unterziehen,
deren Kosten sich auf 3‘500 Franken belaufen. Frau T kann, obschon sie keine jährliche EL
bezieht, die Rechnung bei der Ausgleichskasse einreichen. Sofern diese die Behandlung als
zweckmässig und wirtschaftlich einschätzt, wird sie einen Anteil von 2‘000 Franken (3‘500
Franken abzüglich Einnahmenüberschuss von 1‘500 Franken) vergüten.
Zu Hause wohnenden Personen können pro Kalenderjahr zusätzlich zur jährlichen Ergänzungsleistung (und unabhängig von deren Höhe) Krankheits- und Behinderungskosten in folgendem Umfang maximal vergütet werden:
• 25‘000 Franken bei Alleinstehenden oder bei Ehegatten von im Heim lebenden Personen
• 50‘000 bei Ehepaaren
Ist eine Person Bezügerin einer Hilflosenentschädigung mittleren oder schweren Grades,
können die Kosten der Pflege und Betreuung sogar bis zu 60‘000 Franken jährlich (bei mittelschwerer Hilflosigkeit) resp. 90‘000 Franken jährlich (schwere Hilflosigkeit) vergütet werden. In
diesen Fällen wird die Hilflosenentschädigung aber immer angerechnet.
Im Heim lebenden Personen können im Kalenderjahr zusätzlich zur jährlichen EL maximal
6‘000 Franken als Krankheits- und Behinderungskosten vergütet werden.
Als zu vergütende Krankheits- und Behinderungskosten gelten:
•
•
•
•
•
•
•
Die Kosten einer zahnärztlichen Behandlung
Die Kosten für Pflege, Hilfe und Betreuung zu Hause sowie in Tagesstrukturen
Ärztlich angeordnete Bade- und Erholungskuren
Diätkosten
Kosten von Transporten zur nächstgelegenen Behandlungsstelle
Kosten von Hilfsmitteln
Die Kostenbeteiligung (Franchise, Selbstbehalte) im Sinne des Krankenversicherungsgesetzes
Unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang die oben genannten Kosten im Einzelnen vergütet werden müssen, bestimmen heute die Kantone. Wer sich darüber informieren
will, muss die entsprechenden kantonalen Verordnungen konsultieren. Die Kantone können die
Vergütung an die Bedingung knüpfen, dass die entsprechenden Behandlungen dem Gebot der
Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit entsprechen. An dieser Stelle ist es nicht möglich,
die unterschiedlichen kantonalen Bedingungen im Einzelnen darzulegen.
Was die Kosten der Pflege, Hilfe und Betreuung zu Hause betrifft, so kann auf das entsprechende Kapitel in diesem Ratgeber („Vergütung von Kosten der Pflege, Hilfe und Betreuung
durch die Ergänzungsleistungen“) hingewiesen werden.
256
Renten und Ergänzungsleistungen
Kantonale Zusatzleistungen
Einzelne Kantone gewähren zusätzliche Leistungen und erhöhen damit die bundesrechtlichen
Ergänzungsleistungen. Von Bedeutung sind nebst den Zusatzleistungen von Stadt und Kanton
Zürich jene der Kantone Basel-Stadt und Genf. Auch der Kanton Bern gewährt noch gewisse Zuschüsse zur Deckung besonderer Kosten. Es ist nicht möglich, auf die verschiedenen kantonalen Regelungen im Rahmen dieses Ratgebers einzugehen. Rechtliche Grundlagen
• Anspruch auf Ergänzungsleistungen im Allgemeinen: Art. 4 und 6 ELG
• Zusätzliche Anspruchsvoraussetzungen bei Ausländern und Ausländerinnen: Art. 5 ELG
• Berechnung der jährlichen Ergänzungsleistungen: Art. 9 und 26 ELG; Art. 1-1c, 7, 8 ELV
• Anerkannte Ausgaben: Art. 10 Abs. 1 und 3 ELG; Art. 16-16c ELV
• Anrechenbare Einnahmen: Art. 11 Abs. 1, 1bis und 3 ELG; Art. 11-15d, 17-18 ELV
• Sonderberechnung bei Heimbewohnern und Heimbewohnerinnen: Art. 10 Abs. 2 und Art.
11 Abs. 2 ELG; Art. 15b ELV
• Beginn des Anspruchs: Art. 12 ELG, Art. 22 ELV
• Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten: Art. 14 und 15 ELG; Art. 19b ELV
• Weisungen der Verwaltung: Wegleitung über die Ergänzungsleistungen WEL
257
Renten und Ergänzungsleistungen
258
Wohnen
• Wohnungsmiete
• Hilfsmittel und bauliche
Anpassungen im Wohnbereich
• Wohnen im Heim
Wohnen
Wohnungsmiete
In diesem Kapitel gehen wir auf zwei Fragen ein, die behinderte Menschen als Wohnungsmieter und -mieterinnen besonders betreffen. Es geht dabei um die Änderungen an der Wohnung durch den Mieter und um das Vorgehen bei einer Kündigung der Wohnung durch den
Vermieter. Für die Beantwortung anderer mietrechtlicher Fragen wird auf die Fachliteratur zum
Mietrecht verwiesen.
»
Änderungen an der Wohnung durch den Mieter
»
Was tun bei einer Kündigung durch den Vermieter?
»
Rechtliche Grundlagen
Änderungen an der Wohnung durch den Mieter
Eine behindertengerechte Wohnung zu finden, ist oft schwierig. Es stellt sich deshalb die Frage,
ob eine „gewöhnliche“ Mietwohnung nicht derart aus- und umgebaut werden darf, dass sie den
Bedürfnissen der behinderten Person entspricht. Das Mietrecht erlaubt Erneuerungen und Änderungen nur dann, wenn die schriftliche Zustimmung des Vermieters vorliegt. Stimmt der
Vermieter zu, kann der Aus- und Umbau vorgenommen werden. Möchte der Vermieter, dass bei
einem späteren Auszug aus der Wohnung der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt wird,
dann muss dies anlässlich der Zustimmung schriftlich vereinbart werden. Ohne entsprechende
Vereinbarung kann der Mieter beim Auszug aus der Wohnung nicht zur Wiederherstellung des
ursprünglichen Zustandes angehalten werden.
Möchte eine behinderte Person also beispielsweise eine Türe verbreitern, Türschwellen entfernen, die Küchenkombination ersetzen oder die Toilette umbauen, muss sie vorher das
schriftliche Einverständnis des Vermieters einholen. Die Zustimmung hängt erfahrungsgemäss
oft davon ab, ob ohnehin Renovationsarbeiten anstehen. Ist dies der Fall, kann es durchaus
sein, dass der Vermieter sogar die dadurch entstehenden Mehrkosten trägt. Meist stimmt
der Vermieter einem Aus- und Umbau aber nur dann zu, wenn der Mieter die entsprechenden
Kosten übernimmt. Unter Umständen hängt die Zustimmung gar davon ab, dass sich der Mieter
verpflichtet, bei einem späteren Auszug den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Wer
in solchen Fällen nicht ein allzu grosses finanzielles Risiko eingehen will, sollte sich um eine
mehrjährige Mindestvertragsdauer bemühen.
»» Beispiel: Herr B ist querschnittgelähmt und deshalb auf eine rollstuhlgängige Wohnung
angewiesen. Nach längerer Suche kann er im Erdgeschoss eines Neubaus eine beinahe
ideale Wohnung mieten. Einzig die Toilette müsste noch umgebaut werden. Der Vermieter
260
Wohnen
erteilt zwar seine Zustimmung zum Umbau der Toilette, möchte sich aber nicht an den Kosten beteiligen, da es sich um einen Neubau handelt. Zudem besteht er darauf, dass Herr B
bei einem späteren Auszug aus der Wohnung den ursprünglichen Zustand wiederherstellt.
Herr B ist damit einverstanden und kann nach entsprechenden Verhandlungen mit dem
Vermieter eine Mindestvertragsdauer von 5 Jahren vereinbaren.
Für seine baulichen Investitionen kann der Mieter bei Beendigung des Mietverhältnisses nur
dann eine Entschädigung verlangen, wenn die Wohnung dadurch einen erheblichen Mehrwert
erhalten hat, wenn der Vermieter der Änderung schriftlich zugestimmt hat und wenn er von
Anfang an auf die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes verzichtet hat.
Sofern die IV für die invaliditätsbedingten baulichen Änderungen aufgekommen ist, muss sie
unter gewissen Umständen auch die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes finanzieren. Näheres zur Finanzierung der baulichen Änderungen durch die IV findet sich im nachfolgenden Kapitel „Hilfsmittel und bauliche Anpassungen im Wohnbereich“.
»» Beispiel: Nach 8 Jahren kündigt Herr B das Mietverhältnis, weil sein Arbeitsort vom
Arbeitgeber verlegt worden ist. Wie vom Vermieter vor der Änderung verlangt, lässt er den
ursprünglichen Zustand wiederherstellen. Da die IV für den Umbau der Toilette aufgekommen ist, und Herr B aufgrund seines Arbeitsortwechsels umziehen muss, finanziert die IV
im konkreten Fall auch die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes.
Was tun bei einer Kündigung durch den Vermieter?
Mietverträge über Wohnräume werden in der Regel für eine unbestimmte Dauer abgeschlossen.
Sie gelten deshalb als unbefristete Mietverhältnisse und können unter Einhaltung der geltenden
Kündigungsfristen und Kündigungstermine sowohl vom Mieter als auch vom Vermieter einseitig beendet werden. Damit eine solche Kündigung gültig ist, muss sie schriftlich erfolgen.
Die Kündigung des Vermieters ist darüber hinaus nur gültig, wenn er dafür ein vom Kanton
genehmigtes Formular verwendet, woraus ersichtlich ist, wie Mieter vorgehen müssen, wenn
sie die Kündigung anfechten oder eine Erstreckung des Mietverhältnisses beantragen möchten.
Bei einem Mietobjekt, das als Wohnung der Familie dient, muss die Kündigung des Mieters mit
der ausdrücklichen Zustimmung des Ehegatten erfolgen und der Vermieter muss die Kündigung separat an den Mieter und an den Ehegatten richten. Nach Erhalt der Kündigung kann
jede Vertragspartei eine Begründung verlangen.
»» Beispiel: Herr B findet an seinem neuen Arbeitsort eine neue, vollkommen rollstuhlgängige Wohnung und auch eine neue Liebe. Kurz darauf heiratet Herr B und seine Ehefrau
zieht zu ihm. Nach 12 Jahren erhält er vom Vermieter die Kündigung auf einem vom Kanton genehmigten Formular. Obwohl der Vermieter den Mietvertrag nur mit Herrn B allein
abgeschlossen hatte, muss er die Kündigung auch noch separat der Ehefrau von Herrn B
zustellen.
261
Wohnen
Wie kann sich der Mieter gegen eine formell korrekte Kündigung durch den Vermieter rechtlich
wehren? Hierzu bestehen grundsätzlich folgende zwei Möglichkeiten:
• Anfechtung: Der Mieter kann die Kündigung innert 30 Tagen nach Empfang bei der örtlich
zuständigen Schlichtungsbehörde anfechten und die Aufhebung der Kündigung beantragen. Eine solche Anfechtung ist insbesondere dann möglich, wenn der Vermieter die
Kündigung ausgesprochen hat, weil der Mieter nach Treu und Glauben Ansprüche aus dem
Mietverhältnis geltend gemacht hat, oder weil der Vermieter eine einseitige Vertragsänderung zulasten des Mieters oder eine Mietzinsanpassung durchsetzen will.
• Erstreckung: Der Mieter kann aber auch eine Erstreckung des Mietverhältnisses beantragen. Diesen Antrag muss er ebenfalls innert 30 Tagen nach Empfang der Kündigung
bei der örtlich zuständigen Schlichtungsbehörde einreichen. Auch bei einem befristeten
Mietverhältnis kann ein Erstreckungsbegehren gestellt werden. Dieses muss aber spätestens 60 Tage vor Ablauf des Mietverhältnisses bei der örtlich zuständigen Schlichtungsbehörde eingereicht werden. Bei Wohnräumen kann das Mietverhältnis um maximal 4 Jahre
erstreckt werden. Die Erstreckung setzt voraus, dass die Beendigung des Mietverhältnisses
für den Mieter oder seine Familie eine Härte zur Folge hätte, die durch die Interessen des
Vermieters nicht gerechtfertigt wäre. Bei dieser Interessenabwägung werden insbesondere
folgende Kriterien berücksichtigt: • die Umstände des Vertragsabschlusses und dessen Inhalt
• die Vertragsdauer
• die persönlichen, familiären und wirtschaftlichen Verhältnisse der Vertragsparteien so
wie deren Verhalten
• ein allfälliger Eigenbedarf des Vermieters
• die örtlichen Marktverhältnisse für Wohnräume
Es gibt aber auch Gründe, die eine Erstreckung des Mietverhältnisses ausschliessen. Dies
ist der Fall wenn die Kündigung beispielsweise wegen Zahlungsrückstand des Mieters erfolgt ist, oder weil der Mieter seine Pflicht zu Sorgfalt und Rücksichtnahme schwer verletzt
hat. In der Regel ist eine Erstreckung ausgeschlossen, wenn der Vermieter dem Mieter ein
gleichwertiges Ersatzobjekt anbietet.
»»
» Beispiel: Herr B und seine Ehefrau möchten grundsätzlich in der Wohnung bleiben.
Aufgrund der konkreten Umstände ist eine Anfechtung der Kündigung ausgeschlossen. Das
Ehepaar hat aber die Möglichkeit, bei der örtlich zuständigen Schlichtungsbehörde eine
Erstreckung des Mietverhältnisses zu beantragen. Diesen Antrag hat das Ehepaar innert
30 Tagen nach Empfang der Kündigung einzureichen. Da das Mietverhältnis 12 Jahre gedauert hat und Herr B auf eine rollstuhlgängige Wohnung in der Nähe seines Arbeitsortes
angewiesen ist, stehen die Chancen für eine Erstreckung des Mietverhältnisses gut.
262
Wohnen
Rechtliche Grundlagen
• Mietrecht: Art. 253 – 274g OR
• Erneuerungen und Änderungen durch den Mieter: Art. 260a OR
• Beendigung des Mietverhältnisses: 266 - 266o OR
• Anfechtbarkeit der Kündigung: Art. 271 - 271a, 273 OR
• Erstreckung des Mietverhältnisses: Art. 272 - 273 OR
263
Wohnen
Hilfsmittel und bauliche Anpassungen im Wohnbereich
Körperlich oder sensorisch behinderte Menschen benötigen häufig Hilfsmittel oder sind auf
bauliche Anpassungen angewiesen, um selbständig in einer eigenen Wohnung leben und
einen Haushalt führen zu können. In der Schweiz übernimmt die Invalidenversicherung unter
bestimmten Voraussetzungen die Kosten einer ganzen Reihe von Hilfsmitteln und Anpassungen und kommt auch für das Gebrauchstraining, die Reparaturen und Unterhaltskosten auf. Die
folgenden Ausführungen geben einen Überblick, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Hilfsmittel und Anpassungen werden von der IV finanziert, wenn eine versicherte Person im
Zeitpunkt, in welchem das Hilfsmittel oder die Anpassung erstmals notwendig geworden ist,
das AHV-Rentenalter noch nicht erreicht hat. Ist im „IV-Alter“ ein Anspruch erworben worden, so
bleibt dieser auch nach Erreichen des AHV-Alters im Sinn einer Besitzstandsgarantie erhalten.
Anders sieht es bei Menschen aus, die ein Hilfsmittel erstmals im AHV-Alter benötigen: Sie haben praktisch keinen Anspruch auf Finanzierung von Hilfsmitteln und baulichen Anpassungen
im Wohnbereich durch die AHV. Je nach Wohnkanton können gewisse Hilfsmittel und PflegeHilfsgeräte über die Ergänzungsleistungen finanziert werden.
»
Welche baulichen Anpassungen kann die IV übernehmen?
»
Treppenlifte, Treppensteighilfen und Rampen
»
Hilfsmittel zur Erleichterung der Haushaltführung
»
Hilfsmittel zur Erleichterung der Selbstsorge
»
Hilfsmittel zur Ermöglichung des Kontakts mit der Umwelt
»
Rechtliche Grundlagen
Welche baulichen Anpassungen kann die IV übernehmen?
Die IV übernimmt die Kosten einer Reihe von baulichen Anpassungen im Wohnbereich, die besonders für Rollstuhlfahrer von erheblicher Bedeutung sind:
•
•
•
•
•
264
Die Anpassung von Bade-, Dusch- und WC-Räumen an die Invalidität
Das Versetzen und Entfernen von Trennwänden
Das Verbreitern und Auswechseln von Türen
Das Anbringen von Haltestangen, Handläufen und Zusatzgriffen
Das Entfernen von Türschwellen und Erstellen von Schwellenrampen
Wohnen
• Die Installation von Signalanlagen für hochgradig schwerhörige, gehörlose oder taubblinde
Menschen (Höchstbeitrag: 1‘300 Franken)
Bauliche Anpassungen werden sowohl in Eigenheimen und Eigentumswohnungen wie auch
in Mietwohnungen finanziert. Bei Eigenheimen, die von der versicherten Person neu erstellt
werden, gilt allerdings der Grundsatz, dass mit entsprechenden planerischen Massnahmen die
Notwendigkeit einer Anpassung verhindert werden kann. Deshalb werden bei solchen Eigenheimen nur Haltestangen, Handläufe, Zusatzgriffe sowie Signalanlagen von der IV bezahlt.
Bei Mietwohnungen werden Anpassungen von der IV wiederum nur bezahlt, wenn eine gewisse Stabilität des Mietverhältnisses garantiert ist. Ist ein Mieter gezwungen, seine Mietwohnung
aufzugeben, so kann ihm für seine neue Mietwohnung wieder ein Beitrag gewährt werden.
Bei häufigen Wohnungswechseln wird die IV allerdings Anpassungen nur noch mit grosser
Zurückhaltung bezahlen. Wenn der Vermieter nach Beendigung des Mietverhältnisses die Wiederherstellung des früheren Zustands verlangt und dies bereits bei der Anpassung schriftlich
vereinbart worden ist, gehen auch die Kosten der Wiederherstellung zu Lasten der IV.
»» Beispiel: Herr M. bewohnt seit längerer Zeit eine Mietwohnung. Wegen einer fortschreitenden Muskelerkrankung ist er für die Fortbewegung innerhalb der Wohnung neu auf einen Rollstuhl angewiesen. Um die verschiedenen Zimmer problemlos zu erreichen, müssen
zwei Türen verbreitert, eine Trennwand zur Küche entfernt und im Badezimmer verschiedene Anpassungen vorgenommen werden. Herr M beauftragt einen befreundeten Architekten
mit der Planung.
Herr M wird als erstes seinen Vermieter fragen müssen, ob dieser mit den Anpassungen
einverstanden ist. Die Zustimmung des Vermieters muss schriftlich vorliegen und es muss
geregelt sein, wer die Kosten der Anpassungen übernimmt, ob der Vermieter auf einem
Rückbau bei Beendigung des Mietvertrags besteht und zu wessen Lasten ein allfälliger
Rückbau geht.
Liegt die Zustimmung des Vermieters vor, so wird die IV-Stelle das Umbauvorhaben einer
Abklärungsstelle (meist die SAHB) unterbreiten. Diese muss beurteilen, ob die Kosten des
Umbaus verhältnismässig sind und ob das Projekt in der gewünschten Form wirklich nötig
ist. Erst dann wird die IV einen entsprechenden Entscheid fällen.
Treppenlifte, Treppensteighilfen und Rampen
Die IV finanziert die Kosten von Rampen und Treppensteighilfen, wenn eine Person auf diese
angewiesen ist, um ihre Wohnung selbständig zu verlassen.
Die Kosten der Einrichtung von Treppenliften und Hebebühnen sowie der Änderung von
baulichen Hindernissen um den Wohnungsbereich werden demgegenüber von der IV nur
finanziert, wenn eine Person erwerbstätig ist und auf diese Anpassungen und Hilfsmittel angewiesen ist, um den Weg zu ihrem Arbeitsplatz selbständig zu überwinden. 265
Wohnen
Das Erwerbseinkommen muss nicht existenzsichernd sein. Es genügt, wenn ein jährlicher
Verdienst von rund 5‘000 Franken im Jahr erzielt wird und das Arbeitsverhältnis nicht bloss
vorübergehender Natur ist.
Auch Haushaltführende haben Anspruch auf die Finanzierung von Treppenliften, Hebebühnen und bauliche Anpassungen. Allerdings wird in Anbetracht der hohen Kosten von solchen
Hilfsmitteln praxisgemäss verlangt, dass die Arbeitsfähigkeit im Bereich des Haushalts und der
Kinderbetreuung erheblich (in der Regel um mindestens 10%) gesteigert werden kann.
»» Beispiel: Frau W, Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern im Alter von 7 und 9 Jahren,
ist an MS erkrankt und neu auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie kann ihre Terrassenwohnung nicht mehr selbständig verlassen. Frau W hat ihre 50%-Erwerbstätigkeit aufgegeben
und besorgt nun, so gut es geht, den Haushalt. Sie stellt bei der IV-Stelle das Gesuch um
Finanzierung eines Treppenlifts.
Die IV wird bei der Prüfung des Gesuchs klären, ob Frau W ihre Arbeitsfähigkeit als Haushaltführende um rund 10% steigern kann. Weil es Frau W dank des Treppenlifts möglich
ist, die Garage zu erreichen und das Auto zu benützen, und weil sie dadurch die Einkäufe
erledigen und die Kinder ausser Haus begleiten kann, erfüllt sie das Kriterium.
Schliesslich haben auch jene Personen Anspruch auf Finanzierung von Treppenliften und Hebebühnen durch die IV, die auf diese Hilfsmittel angewiesen sind, um den Weg zu einer Ausbildungs- und Schulungsstätte zu überwinden. Das ist selbst dann der Fall, wenn die Schulung
oder Ausbildung in einem Internat stattfindet, die Wochenenden und Ferien aber regelmässig
zu Hause verbracht werden.
Lässt sich eine Person einen Treppenlift einbauen, welche die oben genannten Kriterien nicht
erfüllt, hätte sie aber Anspruch auf die Übernahme der Kosten einer Rampe oder einer Treppensteighilfe, so bezahlt die IV einen Beitrag von 8‘000 Franken an den Treppenlift. Allfällige
Reparaturkosten müssen in diesem Fall aber von der betroffenen Person selber bezahlt werden.
Hilfsmittel zur Erleichterung der Haushaltführung
Wie bereits weiter oben erwähnt, bezahlt die IV auch Haushaltführenden unter gewissen Bedingungen einen Treppenlift oder eine Hebebühne. Aber auch innerhalb der Wohnung müssen
unter Umständen bauliche Anpassungen vorgenommen werden oder spezielle Arbeitsgeräte
angeschafft werden, um die Haushaltführung zu ermöglichen. Zu denken ist etwa an Anpassungen der Küchenmöbel für eine Person, die im Rollstuhl sitzt (unterfahrbare Arbeitsflächen,
Schränke in erreichbarer Höhe), an die Anschaffung einer Waschmaschine in der Wohnung (weil
die Waschmaschine im Keller nicht erreicht werden kann) oder an die Anschaffung spezieller
Küchengeräte für Blinde (z.B. Waage mit Sprachausgabe).
266
Wohnen
Haushaltführende haben Anspruch auf die Finanzierung von solchen baulichen Anpassungen
und Hilfsmitteln, wenn Ihnen dadurch eine beachtliche Steigerung der Arbeitsfähigkeit in ihrem
Aufgabenbereich ermöglicht wird. Bei kostspieligen Hilfsmitteln und Anpassungen wird im Sinn
des Verhältnismässigkeitsprinzips eine Steigerung der Arbeitsfähigkeit um 10% verlangt.
Hilfsmittel zur Erleichterung der Selbstsorge
Zur Erleichterung der Selbstsorge finanziert die IV im Wohnbereich eine Reihe von Hilfsmitteln:
• WC-Dusch- und-Trockenanlagen sowie Zusätze zu bestehenden Sanitäreinrichtungen
wie Toilettenstühle, Badewannensitze, Badelifter oder WC-Sitzerhöhungen: Voraussetzung für die Finanzierung dieser Hilfsmittel ist, dass eine gesundheitlich beeinträchtigte
Person ohne diese Behelfe nicht zur Durchführung der betreffenden Körperhygiene fähig
ist. Schafft sich jemand eine vollständige WC-Dusch- und –Trockenanlage (Closomat) an,
obschon ein Zusatzgerät zum bestehenden Klosett genügen würde, so kann sich die IV auf
die Übernahme eines Kostenanteils beschränken.
• Krankenheber oder Deckenliftanlagen: Diese werden auch dann von der IV finanziert,
wenn eine Person nur unwesentlich zur eigenen Körperhygiene beitragen kann. Wird ein
Krankenheber auch benötigt, um ins Bett zu gehen und aufzustehen, besteht kein zusätzlicher Anspruch auf Finanzierung eines Elektrobettes.
• Elektrobetten (mit Aufziehbügel, jedoch ohne Matratze und sonstiges Zubehör): Anspruch
darauf haben Personen, die ein Elektrobett benötigen, um zu Bett zu gehen oder aufzustehen. Dauernd Bettlägerige sind vom Anspruch ausgeschlossen. Die IV vergütet den
Kaufpreis eines Elektrobettes bis zum Höchstbetrag von 2‘500 Franken. Hinzu kommt ein
Beitrag an die Auslieferungskosten von 250 Franken.
• Assistenzhunde: Die IV leistet seit kurzem bei schwer körperbehinderten Erwachsenen,
die eine Hilflosenentschädigung mittleren oder schweren Grades beziehen und zu Hause
wohnen, einen Kostenbeitrag von 15‘500 Franken (12‘500 für die Anschaffung des Hundes,
3‘000 für Futter- und Tierarztkosten), welcher im Zeitpunkt der Abgabe des Hundes bezahlt
wird. Vorausgesetzt wird, dass eine Person als Hundehalterin geeignet ist und dass ihr der
Assistenzhund ermöglicht, besser eigenständig zu Hause zu wohnen. Die Vergütung kann
höchstens alle 8 Jahre geltend gemacht werden.
267
Wohnen
Hilfsmittel zur Ermöglichung des Kontakts mit der Umwelt
Die IV finanziert eine ganze Reihe von Hilfsmitteln, welche dazu bestimmt sind, Menschen mit
einer erheblichen Behinderung den Kontakt mit der Umwelt zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Diese Hilfsmittel werden unabhängig davon bezahlt, ob eine Person erwerbstätig ist oder
einen eigenen Haushalt führt:
• Elektrische und elektronische Kommunikationsgeräte: Sie werden von der IV an schwer
sprech- und schreibbehinderte Personen abgegeben, die zur Pflege des täglichen Kontakts
mit der Umwelt auf ein solches Gerät angewiesen sind und über die notwendigen intellektuellen und motorischen Fähigkeiten zur Bedienung desselben verfügen. Auch Schüler
erhalten ein Kommunikationsgerät von der IV bezahlt, sofern dieses nicht primär therapeutischen Zwecken dient.
• Seitenwendegeräte: Wer aus physischen Gründen nicht in der Lage ist, selbständig Bücher
zu lesen, erhält auf Wunsch ein Seitenwendegerät bezahlt.
• Umweltkontrollgeräte: Anspruch auf solche Geräte haben schwerstgelähmte Personen, die
nicht in einem Spital oder einer spezialisierten Institution für Chronischkranke untergebracht sind und auf solche Geräte angewiesen sind, um mit der Umwelt in Kontakt zu treten
oder sich selbständig mit einem Elektrorollstuhl innerhalb der Wohnung fortzubewegen.
Der Anspruch umfasst ein der Behinderung angepasstes Sendegerät sowie die notwendigen
Empfangs- und Steuergeräte zur Bedienung des Elektrorollstuhls oder eines Telefons, zur
Öffnung von Türen und Fenster sowie zur Bedienung des Liftes und von Lichtschaltern.
• SIP-Videophone: Diese Geräte werden von der IV an gehörlose und hochgradig schwerhörige Personen abgegeben, die in Gebärdensprache kommunizieren. Voraussetzung ist,
dass es diesen Personen nicht möglich und zumutbar ist, die notwendigen Kontakte mit
der Umwelt auf andere Weise herzustellen. Der Höchstbeitrag der IV beträgt 1‘700 Franken.
Zwei Geräte werden nur an Erwerbstätige abgegeben, die das zweite Gerät am Arbeitsplatz
einsetzen.
• Weisse Stöcke: Blinde und hochgradig sehbehinderte Personen erhalten von der IV einen
weissen Stock und bei Bedarf zusätzlich ein Fussgängernavigationsgerät. Bei der erstmaligen Abgabe übernimmt die IV zudem ein Orientierungs- und Mobilitätstraining von maximal 50 Stunden. Braucht es später zusätzliche Trainings, so werden diese ebenfalls bezahlt,
wenn eine Fachperson die Notwendigkeit begründet.
• Blindenführhunde: Ist die Eignung einer Person als Hundehalterin erwiesen und ermöglicht ihr ein Blindenführhund die selbständige Fortbewegung ausserhalb des Hauses, so
übernimmt die IV die Kosten eines solchen Hundes, falls er von einer Schule abgegeben
wird, mit welcher das Bundesamt für Sozialversicherung einen Tarifvertrag abgeschlossen
hat. Die IV leistet zudem einen monatlichen Beitrag von 110 Franken an die Futter- und
Tierarztkosten.
268
Wohnen
• Lese- und Schreibsysteme für blinde und hochgradig sehbehinderte Personen: Unter
diesen Titel fallen Lesegeräte und Punktschriftschreibmaschinen sowie computergestützte
Lese- und Schreibsysteme inkl. entsprechender Software. Anspruch auf solche Geräte haben
Betroffene ausserhalb des Arbeitsplatzes immer dann, wenn sie nicht in der Lage sind, mit
einer Lupenbrille von 8-facher Vergrösserung normale Texte zu lesen oder wenn sie über
eine extrem reduzierte Kontrastwahrnehmung oder eine signifikante Gesichtsfeldeinschränkung verfügen.
»» Beispiel: Frau D ist hochgradig sehbehindert. Um Texte lesen und schreiben und per EMail mit der Umwelt in Kontakt treten zu können, lässt sie sich bei einer Fachstelle beraten,
welche nach erfolgter Eignungsabklärung bei der IV-Stelle einen Antrag stellt. Die IV wird
die Kosten von PC und Drucker nicht bezahlen, weil diese heute als Grundausstattung eines
Haushaltes gelten. Hingegen werden die Kosten der behinderungsspezifischen Anpassungen sowie der Vergrösserungs-Software übernommen. Zudem bezahlt die IV die Kosten der
Einrichtung sowie eines Gebrauchstrainings für die sehbehindertentechnische Programmbedienung von bis zu 30 Stunden.
Rechtliche Grundlagen
• Allgemeine Voraussetzungen für die Übernahme von Hilfsmitteln: Art. 21 IVG, Art.2, 7 und
8 HVI
• Bauliche Anpassungen im Wohnbereich: Anhang zur HVI, Ziffer 14.04
• Treppenlifte und Hebebühnen: Anhang zur HVI, Ziffer 13.05
• Treppensteighilfen und Rampen: Anhang zur HVI, Ziffer 14.05
• Hilfsmittel zur Erleichterung der Haushaltführung: Anhang zur HVI, Ziffern 13.01-13.04
• Hilfsmittel zur Erleichterung der Selbstsorge: Anhang zur HVI, Ziffern 14.01-14.03, 14.06
• Hilfsmittel für den Kontakt mit der Umwelt: Anhang zur HVI, Ziffern 11.01-11.07, 15.02,
15.04-15.06
269
Wohnen
Wohnen im Heim
Wer trotz des Einsatzes von Hilfsmitteln und trotz Assistenz bei der Pflege und der Betreuung
nicht selbständig wohnen kann oder will, ist darauf angewiesen, in einer Wohn- oder Pflegeeinrichtung zu leben. Der Aufenthalt in einer entsprechenden Institution wirft eine Reihe von
rechtlichen Fragen auf. Einige davon sollen hier beantwortet werden.
»
Besonderer gesetzlicher Schutz von Urteilsunfähigen
»
Abschluss eines Wohn- oder Betreuungsvertrags
»
Wann darf ein Heim die Bewegungsfreiheit einschränken?
»
Sind medikamentöse Zwangsbehandlungen zulässig?
»
Weitere Bestimmungen zum Schutz der Persönlichkeit
»
Rechtsschutz und Rechtsmittel von Heimbewohnern und -bewohnerinnen
»
Rechtliche Grundlagen
Besonderer gesetzlicher Schutz von Urteilsunfähigen
Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Personen in Wohn- und Pflegeeinrichtungen nicht immer
den nötigen Schutz geniessen. Selbst wenn sie freiwillig und urteilsfähig in ein Heim eintreten, ist es für sie schwierig, ihre Interessen gegenüber dem Heim ausreichend wahrzunehmen. Zudem kann die Urteilsfähigkeit mit der Zeit entfallen, so dass die Wahrung der eigenen
Interessen beinahe unmöglich wird. Auch für Heime ist es angesichts bestehender Interessenkonflikte nicht immer einfach, die Interessen ihrer Bewohner zu wahren, besonders wenn diese
urteilsunfähig sind.
Um den spezifischen Bedürfnissen urteilsunfähiger Personen gerecht zu werden, sind anlässlich
der im Jahr 2013 in Kraft getretenen Totalrevision des Erwachsenenschutzrechts eine Reihe
von Bestimmungen für den verbesserten Schutz urteilsunfähiger Heimbewohner ins Gesetz
aufgenommen worden. Darauf wird in den folgenden Abschnitten eingegangen. Näheres zum
Begriff der Urteilsfähigkeit und zu den anderen Bereichen des Erwachsenenschutzrechts (wie
z.B. Vorsorgeauftrag, Patientenverfügung, Urteilsfähigkeit, Beistandschaften) findet sich in den
Kapiteln zum Erwachsenenschutz.
270
Wohnen
Abschluss eines Wohn- oder Betreuungsvertrags
Der Wohn- oder Betreuungsvertrag stellt die rechtliche Grundlage für den Aufenthalt in einer
Wohn- oder Pflegeeinrichtung dar. Zentrale Inhalte des Vertrags sind das Überlassen von Wohnraum, die Gewährung von Verpflegung und die Sicherstellung von Betreuung und/oder Pflege.
Während in Wohneinrichtungen, besonders für jüngere Menschen mit einer Behinderung, die
Betreuung im Vordergrund steht, ist dies in den Pflegeeinrichtungen die pflegerische Leistung.
Ein Wohn- oder Betreuungsvertrag sollte schriftlich abgeschlossen werden. Die Schriftlichkeit
des Vertrags ist zwar nicht Gültigkeitserfordernis, dient aber der Sicherheit über die vereinbarten Leistungen und der Transparenz gegenüber den Angehörigen, den gesetzlichen Vertretern
und den Behörden.
»» Beispiel: Herr M leidet unter Depressionen. Mit Hilfe der psychiatrischen Spitex gelingt
es ihm, über Jahre selbständig zu wohnen. Nachdem die Depressionen aber dauerhaft
stärker geworden sind, entscheidet er sich für eine betreute Wohnform. Vor dem Eintritt
schliesst Herr M mit dem Wohnheim einen Pensionsvertrag ab, der Auskunft über die Leistungen für Unterkunft, allfällige Verpflegung und Betreuung gibt. Zusätzlich erhält er eine
Hausordnung, die einen Bestandteil des Vertrags bildet.
Im Vertrag wird in der Regel eine Kündigungsfrist von 3 Monaten vereinbart. Diese gilt sowohl
für die Institution als auch für die behinderte Person und ist insbesondere auch bei Vertragsänderungen zu beachten. Das bedeutet, dass Vertragsänderungen wie z.B. Preiserhöhungen, der
Abbau von Dienstleistungen oder ein vom Heim verlangter Zimmerwechsel nur unter Einhaltung der Kündigungsfristen sowie allfällig vereinbarter Kündigungstermine verlangt werden
können.
Bei urteilsunfähigen Personen schreibt das Erwachsenenschutzrecht vor, dass der Wohn- oder
Betreuungsvertrag schriftlich abzuschliessen ist. Aus dem Vertrag soll hervorgehen, welche
Leistungen zu welchem Preis erbracht werden. Auch hier ist die Schriftlichkeit nicht Gültigkeitserfordernis, sondern dient primär der Transparenz. Ist eine Person urteilsunfähig, so ist der
Wohn- oder Betreuungsvertrag durch eine Vertretung abzuschliessen.
Die Zuständigkeit für die Vertretung bestimmt sich analog zur Vertretung bei medizinischen
Massnahmen. Primär ist also die in einer Patientenverfügung oder in einem Vorsorgeauftrag
zur Vertreterin ernannte Person zuständig. Liegt keine entsprechende Regelung vor, haben der
Reihe nach folgende Personen ein gesetzliches Vertretungsrecht:
• der Beistand oder die Beiständin mit einem Vertretungsrecht bei medizinischen Massnahmen,
• der Ehegatte oder der eingetragene Partner resp. die eingetragene Partnerin, sofern diese
mit der urteilsunfähigen Person einen gemeinsamen Haushalt geführt haben oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leisten,
• diejenige Person, die mit der urteilsunfähigen Person einen gemeinsamen Haushalt geführt
271
Wohnen
hat (Wohnpartner, Wohnpartnerin) und ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet,
• die Nachkommen, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten,
• die Eltern, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten,
• die Geschwister, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand
leisten.
»» Beispiel: Frau F ist geistig behindert. Als ihre Eltern die notwendige engmaschige Betreuung nicht mehr gewährleisten können, ist der Eintritt in ein Behindertenwohnheim angezeigt. Frau F ist mit dem Eintritt in das Heim einverstanden, kann aber die Bestimmungen
des Wohnvertrages nur teilweise verstehen. Der schriftliche Wohn- und Betreuungsvertrag
wird deshalb durch ihre Eltern, die gemeinsam als Beistände ernannt sind, unterzeichnet.
Wichtig ist, dass nicht der Vertreter für die finanziellen Verpflichtungen der Einrichtung gegenüber einstehen muss, sondern einzig das Einkommen und Vermögen der urteilsunfähigen
Person.
Wann darf ein Heim die Bewegungsfreiheit einschränken?
Als die Bewegungsfreiheit einschränkende Massnahmen kommen insbesondere mechanische
Mittel wie Anbringen von Bettgittern, Abschliessen von Türen, Fixationsmassnahmen und Isolierung in Frage. Aber auch elektronische Massnahmen wie mit einem Code gesicherte Türen,
Fussfesseln und dergleichen gehören dazu.
Urteilsfähige Personen können nur mit ihrer Zustimmung in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. Die Wohn- oder Pflegeeinrichtung darf also beispielsweise die Zimmertüre
einer urteilsfähigen Person nicht gegen deren Willen abschliessen. In der Praxis wird sich allenfalls die Frage stellen, ob eine Person in einer konkreten Situation urteilsfähig oder vorübergehend urteilsunfähig ist.
Für urteilsunfähige Personen sind die Voraussetzungen für eine Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit im Erwachsenenschutzrecht umschrieben: Die Wohn- oder Pflegeeinrichtung darf
diese nur dann einschränken, wenn weniger einschneidende Massnahmen nicht ausreichen
oder von vornherein als ungenügend erscheinen, und wenn die Massnahme dazu dient:
• eine ernsthafte Gefahr für das Leben oder die körperliche Integrität der Person oder
Dritter abzuwenden; oder
• eine schwerwiegende Störung des Gemeinschaftslebens zu beseitigen.
Es liegt im Ermessen der Einrichtung zu entscheiden, wann eine dieser Voraussetzungen als
erfüllt betrachtet werden darf. Bei der Beurteilung, ob eine ernsthafte Gefahr für die Person
selbst oder von Dritten vorliegt, dürfte der gesunde Menschenverstand wohl als Massstab dienen.
272
Wohnen
Wesentlich schwieriger wird der Entscheid sein, wann eine schwerwiegende Störung des Gemeinschaftslebens vorliegt. Zu dieser Frage fehlt zurzeit noch eine Praxis.
»» Beispiel: Herr K ist geistig behindert und urteilsunfähig. Er lebt zusammen mit drei anderen Personen in der Wohngruppe einer Behinderteneinrichtung. In den letzten Tagen war
er zunehmend unruhig, bis er eines Abends während des Nachtessens regelrecht ausrastet.
Er bewirft die Mitbewohnenden mit Geschirr und Besteck und lässt sich nicht mehr beruhigen. In einer solchen Situation kann die Wohngruppenleiterin eingreifen und Herrn K in sein
Zimmer einschliessen.
Das Gesetz verlangt, dass der betroffenen Person erklärt wird, welche Massnahme angeordnet
wird und warum dies geschieht, wie lange die Massnahme voraussichtlich dauert und wer sich
während dieser Zeit um die Person kümmert. Vorbehalten bleiben natürlich auch hier Notfallsituationen. Auch muss die zur Vertretung bei medizinischen Massnahmen berechtigte Person
informiert werden. Zudem muss über jede Massnahme ein Protokoll geführt werden, aus welchem sowohl der Name der anordnenden Person als auch Zweck, Art und Dauer der Massnahme hervorgehen.
Sind medikamentöse Zwangsbehandlungen zulässig?
Unter Umständen kann es für die Wohn- oder Pflegeeinrichtung insbesondere bei verhaltensauffälligen oder psychisch beeinträchtigten Personen wichtig sein, auf medikamentöse – statt
mechanische und elektronische – Massnahmen zurückgreifen.
Urteilsfähige Personen können auch hier nur mit ihrer Zustimmung medizinisch behandelt
werden. Die Wohn- oder Pflegeeinrichtung darf der Person beispielsweise nicht gegen deren
Willen ein Beruhigungsmittel verabreichen. In der Praxis wird sich auch in Bezug auf die medikamentöse Zwangsbehandlung hin und wieder die Frage stellen, ob die Person im konkreten
Augenblick noch urteilsfähig oder vorübergehend urteilsunfähig ist.
Da eine Medikamentenabgabe eine medizinische Massnahme darstellt und ärztlicher Verantwortung untersteht, kommen bei urteilsunfähigen Personen die Bestimmungen des Erwachsenenschutzrechts zu den medizinischen Massnahmen zur Anwendung. Für eine medikamentöse
Zwangsbehandlung ist also – eine Notfallsituation vorbehalten – die Zustimmung der vertretungsberechtigten Person notwendig. Primär ist also auch hier die in einer Patientenverfügung
oder in einem Vorsorgeauftrag zur Vertreterin ernannte Person zuständig. Liegt keine entsprechende Regelung vor, haben der Reihe nach folgende Personen ein gesetzliches Vertretungsrecht:
• der Beistand oder die Beiständin mit einem Vertretungsrecht bei medizinischen Massnahmen,
• der Ehegatte oder der eingetragene Partner bzw. die eingetragene Partnerin, sofern diese
mit der urteilsunfähigen Person einen gemeinsamen Haushalt geführt haben oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leisten,
273
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• diejenige Person, die mit der urteilsunfähigen Person einen gemeinsamen Haushalt geführt
hat (Wohnpartner, Wohnpartnerin) und ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet,
• die Nachkommen, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten,
• die Eltern, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten,
• die Geschwister, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand
leisten.
»» Beispiel: Da sich Herr K auch in seinem Zimmer nicht beruhigt, informiert die Wohngruppenleiterin den Heimarzt. Im Notfall wird der Heimarzt Herrn K ein Beruhigungsmittel
verabreichen. Bei einer andauernden Medikation muss die Einrichtung die Beiständin von
Herrn K kontaktieren und deren Zustimmung einholen.
Bei der medikamentösen (Zwangs-) Behandlung einer psychischen Störung kommen gegebenenfalls sogar die Regeln über die fürsorgerische Unterbringung zur Anwendung (vgl. hierzu
das Kapitel „Fürsorgerische Unterbringung“).
Weitere Bestimmungen zum Schutz der Persönlichkeit
Wer für längere Zeit und vielleicht sogar für den Rest seines Lebens in eine Wohn- oder Pflegeeinrichtung eintritt, muss sich einer gewissen Ordnung anpassen, welche die ausserhalb der
Einrichtung selbstverständlichen Freiheiten bis zu einem gewissen Grad einschränkt. Trotzdem
gelten aber auch in Heimen Grundsätze zum Schutze der persönlichen Freiheit.
Urteilsfähige Personen in einer Wohn- oder Pflegeeinrichtung haben ein Recht auf die eigene
Privatsphäre. Dazu gehören neben der Möglichkeit, das eigene Zimmer nach Belieben abschliessen und darin Besuch empfangen zu können, auch der Anspruch auf ungestörten Brief- und
Telefonverkehr und die Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel. Auch die persönliche
Freiheit und damit die Möglichkeit, das Wohnheim jederzeit verlassen und wieder betreten zu
können, muss gewährleistet bleiben.
Der Schutz der Persönlichkeit von urteilsunfähigen Personen in Wohn- oder Pflegeeinrichtungen ist im Erwachsenenschutzrecht besonders geregelt:
Die Institutionen sind verpflichtet,
• den Schutz der Persönlichkeit zu wahren und insbesondere die Kontakte zu Personen ausserhalb der Einrichtung zu fördern;
• die Erwachsenenschutzbehörde zu benachrichtigen, wenn sich niemand ausserhalb der Einrichtung um die betroffene Person kümmert, damit die Behörde Massnahmen zur Verbesserung der Situation ergreifen kann (z.B. Anordnung einer Begleitbeistandschaft);
• grundsätzlich die freie Arztwahl zu gewährleisten.
274
Wohnen
Rechtsschutz und Rechtsmittel von Heimbewohnern und -bewohnerinnen
Bei Konflikten mit einer Betreuungsperson sollte immer zuerst das Gespräch mit dem oder der
Vorgesetzten gesucht werden. Führt dieses nicht zu einer Klärung, kann sich der Heimbewohner an die Heimleitung und danach an die letzte heiminterne Instanz (z.B. Stiftungsrat, Vereinsvorstand) wenden. Zu guter Letzt besteht die Möglichkeit, die kantonale Aufsichtsbehörde
anzurufen.
Urteilsunfähige Personen sowie diesen nahestehende Personen können bei bewegungseinschränkenden Massnahmen oder medikamentöser Zwangsbehandlung durch die Wohn- oder
Pflegeeinrichtung schriftlich an die Erwachsenenschutzbehörde am Sitz der Einrichtung gelangen. Daraufhin prüft die Behörde, ob die Massnahme den gesetzlichen Vorgaben entspricht,
und fällt einen Entscheid. Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen beim Gericht Beschwerde erhoben werden.
»» Beispiel: Als die Schwester von Herrn K von der Verabreichung des Beruhigungsmittels
hört, ist sie nicht damit einverstanden. Sie wendet sich schriftlich an die Erwachsenenschutzbehörde und beanstandet das Vorgehen der Wohngruppenleiterin und des Heimarztes. Die Erwachsenenschutzbehörde führt klärende Gespräche und kommt zum Schluss,
dass die Massnahme den gesetzlichen Vorgaben entsprochen hat. Ist die Schwester von
Herrn K mit diesem Entscheid nicht einverstanden, kann sie beim Gericht eine Beschwerde
einreichen.
Rechtliche Grundlagen
• Urteils- / Handlungsfähigkeit: Art. 13 – 19d ZGB
• Wohn- oder Betreuungsvertrag bei urteilsunfähigen Personen: Art. 382 ZGB
• Einschränkung der Bewegungsfreiheit bei urteilsunfähigen Personen:
Art. 383 - 385 ZGB
• Vertretung bei medizinischen (Zwangs-)Massnahmen bei urteilsunfähigen Personen: Art.
377 - 381 ZGB
• Schutz der Persönlichkeit: Art. 5 Abs. 1 lit. e IFEG / bei urteilsunfähigen Personen: Art. 386
ZGB
• Rechtsschutz – Anrufung der Erwachsenenschutzbehörde bei urteilsunfähigen Personen:
Art. 385 und 450 ZGB
275
Wohnen
276
Behindertengleichstellung
•
•
•
•
•
•
•
Ziel des Behinderten-
gleichstellungsrechts
Öffentlicher Verkehr
Gebäude und Anlagen
Dienstleistungen
Grundschule
Aus- und Weiterbildung
Arbeitsverhältnisse
Behindertengleichstellung
Ziel des Behindertengleichstellungsrechts
Ziel des Behindertengleichstellungsrechts ist der Schutz behinderter Menschen vor Benachteiligungen und die Förderung ihrer autonomen Teilhabe an der Gesellschaft. Dies umfasst vor
allem, aber nicht ausschliesslich, die Zugänglichkeit von Gebäuden und Anlagen, die Benutzbarkeit des öffentlichen Verkehrs, den Zugang zu Bildung auf sämtlichen Bildungsstufen, die
Nutzung von Dienstleistungen und die Möglichkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die
Bestimmungen des Behindertengleichstellungsrechts sollen Benachteiligungen und Diskriminierungen von behinderten Menschen verhindern, beseitigen oder verringern. Insbesondere
das Gemeinwesen, also Bund, Kantone und Gemeinden werden dafür von Amtes wegen in die
Pflicht genommen. In einigen Bereichen treffen die Pflichten auch Private.
Das Behindertengleichstellungsrecht kann gemeinsam mit den Bestimmungen des Sozialversicherungsrechts zum Ziel einer inklusiven Gesellschaft und der selbstbestimmten Teilhabe von
behinderten Menschen beitragen, so wie dies in der UNO-Behindertenrechtskonvention verankert ist.
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Wer gilt als behinderter Mensch im Behindertengleichstellungsrecht?
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Was sind die wichtigsten Bestimmungen des Behindertengleichstellungsrechts?
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Wie und wo kann man sich gegen Diskriminierungen wehren?
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Rechtliche Grundlagen
Wer gilt als behinderter Mensch im Behindertengleichstellungsrecht?
Das Behindertengleichstellungsrecht definiert einen behinderten Menschen anders als das
IV-Recht. Während das IV-Recht auf die Frage der Erwerbsfähigkeit abstellt, fokussiert das
Behindertengleichstellungsrecht auf die Teilnahmemöglichkeit am gesellschaftlichen Leben.
Daher gilt jemand als behindert, wenn er in seinen körperlichen, geistigen oder psychischen
Fähigkeiten auf Dauer beeinträchtigt ist und die Beeinträchtigung je nach ihrer Form schwerwiegende Auswirkungen auf elementare Aspekte der Lebensführung hat. Treffen diese
Voraussetzungen auf einen Menschen zu, so stehen ihm Rechtsansprüche aus dem Behindertengleichstellungsrecht zu.
278
Behindertengleichstellung
Was sind die wichtigsten Bestimmungen des Behindertengleichstellungsrechts?
Die zentrale und für alle staatlichen Behörden verbindliche Bestimmung ist das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung. Dieses verbietet es allen Behörden des Bundes, der
Kantone und der Gemeinden, Menschen aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung zu diskriminieren. Weiter müssen beim Erlass von Gesetzen aktiv Benachteiligungen von behinderten Menschen verhindert werden, das heisst, dass jedes Gesetz darauf
überprüft werden muss, ob es behinderte Menschen benachteiligen könnte.
»» Beispiel: Der Kanton B erneuert sein Schulgesetz. Bei der Ausarbeitung des neuen Gesetzes und der dazugehörigen Verordnungen muss der Kanton darauf achten, dass behinderte Menschen nicht benachteiligt werden. Ebenso dürfen die Schulbehörden des Kantons
B bei der Umsetzung des Schulgesetzes behinderte Menschen nicht diskriminieren. Sie
müssen also z.B. bei allen Entscheiden, welche die Schulung von Kindern und Jugendlichen
betreffen, aktiv Diskriminierungen verhindern.
Verboten sind direkte und indirekte Diskriminierungen. Ein behinderter Mensch wird indirekt
diskriminiert, wenn eine Regelung, die für alle gilt, ihn besonders hart trifft. Bei jeder Art der
Diskriminierung ist es nicht wichtig, ob eine Diskriminierung beabsichtigt ist oder nicht. Auch
wenn ein behinderter Mensch „unabsichtlich“ diskriminiert wird, ist dies verboten.
Beispiel: Die Gemeinde S verbietet ihren Mitarbeitenden die Mitnahme von Hunden. Dies gilt
für alle Mitarbeitenden der Gemeinde gleichermassen. Allerdings kann diese Bestimmung dazu
führen, dass sehbehinderte Mitarbeitende indirekt diskriminiert werden, da sie, im Gegensatz
zu ihren nichtbehinderten Kollegen, auf die Begleitung ihres BIindenführhundes angewiesen
sind.
Allerdings ist nicht jede Benachteiligung eines behinderten Menschen automatisch eine verbotene Diskriminierung. Kann eine benachteiligende Handlung ausreichend sachlich gerechtfertigt werden, handelt es sich nicht um eine verbotene Diskriminierung. Folglich kann nicht
jede Handlung einer staatlichen Behörde erfolgreich angefochten werden, auch wenn sie dem
allgemeinen Verständnis von Gerechtigkeit widerspricht. Eine Diskriminierung liegt jedenfalls
immer dann vor, wenn eine Entscheidung allein auf Vorurteilen oder stereotypen Vorstellungen
gegenüber behinderten Menschen beruht.
»» Beispiel: Das Schulhaus in der Gemeinde R ist nicht hindernisfrei zugänglich. Die Eltern
eines körperbehinderten Schülers beantragen daher den Einbau eines Lifts. Da es ich um
ein historisch wertvolles Gebäude handelt, verbietet der Denkmalschutz den Lifteinbau, weil
sonst die historische Substanz gefährdet wäre. Als Ersatz wird der Einbau eines Treppenlifts angeboten. Auch wenn diese Lösung dem Gerechtigkeitsgedanken der Eltern widerspricht und sie ihren Sohn diskriminiert sehen, weil dieser sich mit dem Treppenlift wesentlich schlechter und langsamer im Gebäude bewegen kann als mit einem normalen Lift,
könnten sie sich wohl nicht erfolgreich gegen diese Lösung wehren. Der Schutz wertvoller
historischer Gebäude kann ein ausreichender sachlicher Grund sein, um eine Benachteiligung von behinderten Menschen zu rechtfertigen.
279
Behindertengleichstellung
Wie und wo kann man sich gegen Diskriminierungen wehren?
Der Schutz gegen Benachteiligungen bzw. Diskriminierungen ist je nach dem betroffenen
Bereich sehr unterschiedlich. Häufig kann man sich an ein Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde wenden, in einigen Fällen gibt es kaum wirksamen Schutz. Zudem müssen
viele Bestimmungen des Behindertengleichstellungsrechts von den Kantonen umgesetzt oder
gar erst erlassen werden, was teilweise zu sehr unterschiedlichen Resultaten führen kann. Dies
betrifft insbesondere die Bereiche Bau, Bildung und Dienstleistungen.
Daher empfiehlt es sich, bei einer vermuteten Diskriminierung die Beratung einer Fachstelle für
die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung zu suchen. Dort kann in Erfahrung gebracht
werden, ob es im konkreten Fall die Möglichkeit gibt, sich gegen die Diskriminierung zur Wehr
zu setzen.
Rechtliche Grundlagen
• UNO-Behindertenrechtskonvention
• Verfassungsrechtliches Diskriminierungsverbot: Art. 8 Abs. 2 BV
• Gesetzgebungsauftrag zur Beseitigung von Benachteiligungen: Art. 8 Abs. 4 BV
• Behindertengleichstellungsgesetz
• Behindertengleichstellungsverordnung
280
Behindertengleichstellung
281
Behindertengleichstellung
Öffentlicher Verkehr
Eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben umfasst auch die Mobilität. Nur
wenn sich behinderte Menschen autonom im öffentlichen Raum bewegen können, können
sie soziale Kontakte wahrnehmen, einer Erwerbstätigkeit nachgehen oder eine Ausbildung
absolvieren. Viele behinderte Menschen sind aufgrund ihrer Behinderung nicht in der Lage, den
Individualverkehr zu nutzen und daher in höherem Mass als nichtbehinderte Menschen auf den
öffentlichen Verkehr angewiesen.
Ziel eines behindertengerechten öffentlichen Verkehrs ist es, dass behinderte Menschen diesen
grundsätzlich in der gleichen Art und Weise nutzen können wie nichtbehinderte. Das Behindertengleichstellungsrecht verpflichtet die Verkehrsbetriebe daher zur Schaffung eines umfassend
behindertengerechten öffentlichen Verkehrssystems.
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Was ist eine Benachteiligung in der Nutzung des öffentlichen Verkehrs?
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Was sind Fahrzeuge, Bauten, Anlagen, Einrichtungen und Dienstleistungen des öffentli-
chen Verkehrs?
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Verhältnismässigkeit und Übergangsfristen
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Wie und wo kann man sich gegen eine Benachteiligung im öffentlichen Verkehr wehren?
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Rechtliche Grundlagen
Was ist eine Benachteiligung in der Nutzung des öffentlichen Verkehrs?
Eine Benachteiligung von behinderten Menschen liegt vor, wenn diese den öffentlichen Verkehr
nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen nutzen können. Um dies zu verhindern,
müssen Anbieter des öffentlichen Verkehrs behinderte Menschen transportieren und sind
verpflichtet, ihre öffentlich zugängliche Infrastruktur an die Bedürfnisse von Personen aller Behinderungsarten anzupassen. Fahrzeuge, Haltestellen, Bahnhöfe, Dienstleistungen und andere
Bereiche müssen daher für Körperbehinderte ebenso autonom nutzbar sein, wie für Seh- und
Hörbehinderte, psychisch behinderte oder auch geistig behinderte Menschen.
Unter dem Begriff „öffentlicher Verkehr“ werden dabei nicht nur die Fahrzeuge, also Zug,
Strassenbahn, Bus, Seilbahn, Schiff oder Flugzeug verstanden, sondern auch Bauten, Anlagen,
Einrichtungen und Dienstleistungen im Zusammenhang mit dem öffentlichen Verkehr. Auch
diese müssen, wenn sie öffentlich zugänglich sind, für behinderte Menschen so autonom wie
möglich nutzbar sein.
282
Behindertengleichstellung
Autonome Nutzung umfasst die Auffindbarkeit, Erreichbarkeit und Nutzbarkeit der gesamten mobilen und stationären Infrastruktur eines Verkehrsbetriebs.
Autonom bedeutet weiter, dass der öffentliche Verkehr grundsätzlich ohne Hilfe Dritter
genutzt werden kann. Behinderte Menschen sollen das Angebot des öffentlichen Verkehrs in
Anspruch nehmen können, ohne auf Grosszügigkeit, Mitleid oder Empathie anderer angewiesen zu sein. Sie sollen den öffentlichen Verkehr jederzeit selbständig und möglichst spontan
nutzen können, so wie nichtbehinderte Menschen auch.
»» Beispiel: Kommt es auf einem Bahnhof durch technische Probleme zu einem Gleiswechsel, muss dies nicht nur auf der Anzeigetafel erkennbar sein, sondern auch mittels
Lautsprecherdurchsage mitgeteilt werden, damit auch Sehbehinderte diese Information
erhalten. Andernfalls müssten sie sich hilfesuchend an andere Personen wenden, die ihnen
diese Information, hoffentlich richtig, mitteilen.
Dies bedeutet nicht, dass Hilfestellungen absolut verboten sind. Sie dürfen allerdings nur das
letzte mögliche Mittel sein bzw. sind sie dort erlaubt, wo auch nichtbehinderte Menschen im
gleichen Rahmen eine Hilfestellung erhalten würden.
»» Beispiel: Kann an einem Bahnhof ein Billett nur beim Schalterbeamten gekauft werden
und nicht über einen Automaten, so sind behinderte und nichtbehinderte Menschen darauf
angewiesen, dass der Schalterbeamte ihnen das Billett verkauft. Nur wenn der Schalterbeamte Hörbehinderten kein Billett verkaufen kann, liegt eine Benachteiligung dieser Menschen vor.
Jedenfalls darf die Hilfestellung keinesfalls dazu führen, dass behinderte Menschen stigmatisiert oder ausgegrenzt werden. Ist die Hilfestellung umständlich oder nicht in den üblichen
Ablauf integriert, kann es schnell zur Folge haben, dass behinderte Menschen als lästig empfunden werden. Ebenso kann ein kompliziertes Prozedere zu einem Gefühl der Hilflosigkeit
führen. Unbedingt zu vermeiden sind Hilfestellungen, die mit einem intensiven Körperkontakt
verbunden sind.
»» Beispiel: Es ist nicht erlaubt, dass ein Strassenbahnfahrer einen Körperbehinderten in
die Strassenbahn tragen muss. Hier muss zumindest eine Rampe vorhanden sein.
Was sind Fahrzeuge, Bauten, Anlagen, Einrichtungen und Dienstleistungen des öffentlichen Verkehrs?
Sämtliche öffentlich zugänglichen Fahrzeuge, Bauten, Anlagen, Einrichtungen und Dienstleistungen des öffentlichen Verkehrs müssen grundsätzlich für behinderte Menschen so autonom wie möglich zugänglich sein. Dabei ist es unwichtig, ob ein privates oder ein öffentliches
Unternehmen das Angebot des öffentlichen Verkehrs bereitstellt.
283
Behindertengleichstellung
»» Beispiel: Ein Restaurant am Bahnhof Zürich muss für behinderte Menschen zugänglich
sein. Gibt es im Restaurant ein WC für nichtbehinderte Menschen, so muss es auch für
behinderte Menschen eines geben. Es ist nicht relevant, ob der Eigentümer des Restaurants
eine Privatperson ist oder beispielsweise der Kanton.
Die folgende nicht abschliessende Liste zählt die wichtigsten Bereiche der mobilen und stationären Infrastruktur des öffentlichen Verkehrs auf.
Bauten: Zugänge zum Bahnhof inkl. Unterführungen, (temporäre) Haltestellen, Perrons, Kundenschalter, Toiletten, Parkplätze, Gestaltung des Ein- und Aussteigens, Wartesaal, Hafenanlage
für öffentlichen Schiffsverkehr, Infrastruktur einer Seilbahnanlage.
Anlagen: Publikumsanlagen, Verkaufsanlagen im Rahmen des normalen täglichen Gebrauchs,
also Lebensmittel, Buchhandlung, Geschenkartikel, Coiffeur, Restaurants, Take-Aways, Apotheken.
Fahrzeuge: Busse, Züge inkl. Bistro, Speisewagen und WC, Schiffe, Seilbahnen ab einer gewissen Grösse, Flugzeuge.
Einrichtungen: Anzeigetafeln, Haltestelleninformation, Fahrplanänderungen, Durchsagen,
Notrufsysteme, Billettbezug am Automaten und über das Internet inkl. Benutzerführung der
Billettautomaten, Internetseiten.
Weitere Bereiche: Auch die Tarifgestaltung darf behinderte Menschen nicht benachteiligen. Als
Folge können Begleitpersonen aber auch Blindenführ- oder Assistenzhunde kostenlos mitfahren. Die Mitnahme eines Blindenführ- oder Assistenzhundes muss in allen öffentlich zugänglichen Bereichen erlaubt sein.
Sonderfall Taxi: Ein Taxi ist kein Verkehrsmittel des öffentlichen Verkehrs. Da Taxis allerdings
je nach Kanton einer Konzessions- oder Bewilligungspflicht unterstehen, dürfen auch sie behinderte Menschen nicht benachteiligen. Dies umfasst insbesondere die grundsätzliche Pflicht,
auch einen Blindenführ- oder Assistenzhund zu befördern.
Verhältnismässigkeit und Übergangsfristen
Liegt eine Benachteiligung im öffentlichen Verkehr vor, so muss diese beseitigt werden. Allerdings gilt diese Verpflichtung nicht ohne Einschränkungen. So muss die Anpassung verhältnismässig sein, das heisst, dass die verschiedenen vorhandenen Interessen gegeneinander
abgewogen werden müssen. Meistens stehen sich folgende Interessen gegenüber:
Auf der Seite behinderter Menschen: Interesse an Gleichstellung und autonomer Nutzung
durch den Einzelnen, gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Massnahme im Hinblick auf 284
Behindertengleichstellung
behinderte Menschen, Zahl der Benützer der Haltestelle, Bedeutung der Haltestelle für behinderte Menschen, allgemeine Wichtigkeit beim Umsteigen.
Auf der Seite der Anbieter: Kosten, technische Machbarkeit, Verkehrs- und Betriebssicherheit,
Anpassungsfristen.
Nur wenn der Aufwand für die Beseitigung der Benachteiligung unverhältnismässig ist, kann
ein Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die Durchführung einer angemessenen
Ersatzmassnahme vorschreiben.
Die Übergangsfristen für Fahrzeuge, Bauten und Anlagen von 20 Jahren (Ablauf 2024) und
von 10 Jahren für Kommunikationssysteme (Ablauf 2014) bedeuten nicht, dass die Verpflichtung zur Beseitigung von Benachteiligungen behinderter Menschen erst nach Ablauf dieser Fristen besteht. Diese Pflicht haben die Anbieter im öffentlichen Verkehr bereits seit Inkrafttreten
des Behindertengleichstellungsrechts im Jahr 2004. Die Übergangsfristen werden lediglich für
die Beurteilung der Verhältnismässigkeit bei bestehenden Bauten, Anlagen oder Fahrzeugen
berücksichtigt, die angepasst werden müssen, um die Benachteiligung behinderter Menschen
zu beseitigen.
Werden aber beispielsweise neue Fahrzeuge bestellt oder ein neuer Wartesaal gebaut, so müssen diese sofort sämtlichen Vorgaben des Behindertengleichstellungsrechts entsprechen.
»» Beispiel: Die SBB hat bis zum 1.1.2024 Zeit, ihre Fahrzeuge an die Bedürfnisse behinderter Menschen anzupassen. Bereits im Einsatz stehende Fahrzeuge müssen vor Ablauf
der Übergangsfrist nur dann an die Bedürfnisse behinderter Menschen angepasst werden,
wenn dies mittels geringfügiger bzw. nicht kostenintensiver Massnahmen möglich ist.
Andernfalls muss die SBB lediglich eine angemessene Ersatzlösung zur Verfügung stellen.
Bestellt die SBB allerdings neue Fahrzeuge, so müssen diese so gebaut werden, dass sie
im Rahmen der Verhältnismässigkeit die autonome Nutzung durch behinderte Menschen
ermöglichen – diese Pflicht gilt auch vor Ablauf der Übergangsfrist.
Wie und wo kann man sich gegen eine Benachteiligung im öffentlichen
Verkehr wehren?
Gegen eine Benachteiligung im öffentlichen Verkehr kann bei einem Gericht oder der zuständigen Verwaltungsbehörde Klage bzw. Beschwerde eingebracht werden und die Beseitigung
der Benachteiligung verlangt werden. Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde ordnet die
Beseitigung an, wenn diese verhältnismässig ist. Ist sie es nicht, verpflichtet sie den Anbieter zu
einer angemessenen Ersatzlösung.
Fachstellen im Behindertenwesen geben Auskunft über die Möglichkeiten, sich gegen Benachteiligungen im öffentlichen Verkehr zur Wehr zu setzen.
285
Behindertengleichstellung
Rechtliche Grundlagen
• Recht auf Zugänglichkeit in der UNO-Behindertenrechtskonvention: Art. 9 BRK
• Recht auf Mobilität in der UNO-Behindertenrechtskonvention: Art. 20 BRK
• Benachteiligung beim Zugang zu Bauten, Anlangen, Einrichtungen oder einem Fahrzeug des
öffentlichen Verkehrs: Art. 2 Abs. 3, 3 lit. a und b BehiG
• Benachteiligung bei Dienstleistungen im öffentlichen Verkehr: Art. 2 Abs. 4, 3 lit. e BehiG • Rechtsansprüche bei Bauten, Fahrzeugen oder Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs: Art.
7 BehiG
• Rechtsansprüche bei Dienstleistungen des öffentlichen Verkehrs: Art. 8 Abs. 1 BehiG
• Verhältnismässigkeit und Übergangsfristen: Art. 11 Abs. 1, 12 Abs. 2 und 3 BehiG
• Abwägung der Interessen: Art. 6 BehiV
• Bestimmungen zu Einrichtungen, Fahrzeugen und Dienstleistungen: Verordnung über die
behindertengerechte Gestaltung des öffentlichen Verkehrs (VböV)
• Technische Anforderungen an die behindertengerechte Gestaltung des öffentlichen Verkehrs: Verordnung des UVEK über die technischen Anforderungen an die behindertengerechte Gestaltung des öffentlichen Verkehrs (VaböV)
286
Behindertengleichstellung
287
Behindertengleichstellung
Gebäude und Anlagen
Nur wenn der Zugang zu Bauten und Anlagen auch für behinderte Menschen ohne fremde Hilfe
möglich ist, können sie autonom und gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Gewisse Kategorien von Gebäuden und Anlagen, so insbesondere diejenigen, die der
Öffentlichkeit zugänglich sind, müssen daher so gestaltet werden, dass keine Hindernisse die
Nutzung für Menschen unterschiedlicher Behinderungsarten einschränken. Massnahmen des
hindernisfreien Bauens kommen zudem in grossem Mass auch nicht behinderten Menschen
zugute.
Da die Kantone für die Baugesetzgebung zuständig sind, gibt es teilweise grosse kantonale
Unterschiede. Die im Folgenden dargestellten Anforderungen an hindernisfreies Bauen sind als
Mindestvorgaben von allen Kantonen zu befolgen. Einige Kantone gehen über diese Minimalanforderungen hinaus und unternehmen noch mehr für die Zugänglichkeit von Gebäuden und
Anlagen.
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Welche Gebäude und Anlagen müssen zugänglich sein?
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Was bedeutet zugänglich?
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Wo gehen kantonale Regelungen über die Mindestvorgaben hinaus?
»
Gibt es Grenzen für die Anpassungspflicht?
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Wer ist für die Einhaltung der rechtlichen Vorgaben zuständig?
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Ein Gebäude ist nicht zugänglich – was tun?
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Beratung und Unterstützung zum hindernisfreien Bauen
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Rechtliche Grundlagen
Welche Gebäude und Anlagen müssen zugänglich sein?
Grundsätzlich müssen alle Gebäude und Anlangen, die der Öffentlichkeit zugänglich sind, so
gestaltet sein, dass behinderten Menschen der Zugang nicht aus baulichen Gründen verwehrt
oder erschwert wird. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Gebäude in staatlichem oder privatem
Eigentum steht. Wesentlich ist nur, dass grundsätzlich jede Person Zugang zu dem Gebäude
hätte.
288
Behindertengleichstellung
»» Beispiel: Das Stadion eines Fussballvereins, für das jedermann Tickets kaufen kann,
muss grundsätzlich hindernisfrei sein. Das Klubhaus eines Golfvereins, das nur ausgewählte Mitglieder nutzen dürfen, gilt dagegen nicht als öffentlich zugänglich und muss nicht
hindernisfrei gestaltet sein.
Neben Gebäuden müssen auch Parkanlagen und Aussenbereiche für behinderte Menschen
zugänglich sein. Zudem ist es nicht relevant, ob die Baute oder Anlage auf Dauer angelegt ist
oder nicht.
»» Beispiel: Die Stadt S baut eine ihrer Parkanlagen um. Dabei müssen die Vorgaben zum
hindernisfreien Bauen eingehalten werden. Ein Open-Air-Konzert muss über ein behindertengerechtes WC verfügen.
Wohngebäude müssen generell erst ab einer Anzahl von 9 Wohnungen und Gebäude mit Arbeitsplätzen erst ab 50 Arbeitsplätzen angepasst werden.
Was bedeutet zugänglich?
Damit ein Gebäude als zugänglich gilt, reicht es nicht, dass behinderte Menschen nur in das
Gebäude hinein kommen. Vielmehr muss es ihnen auch möglich sein, dieses selbständig nutzen zu können. Sie müssen sich also im Gebäude bewegen können. Dies umfasst den Zugang
zu den unterschiedlichen Stockwerken, sofern diese öffentlich zugänglich sind, sowie das Vorhandensein eines behindertengerechten WCs.
»» Beispiel: Ein Shoppingcenter muss auch von der Parkgarage aus über einen rollstuhlgängigen Zugang zugänglich sein. Ebenso muss es behinderten Menschen möglich sein,
selbständig in alle Stockwerke des Shoppingcenters und in die Geschäfte zu gelangen. Ein
behindertengerechtes WC muss vorhanden sein.
Wo gehen kantonale Regelungen über die Mindestvorgaben hinaus?
Das Baurecht ist eine kantonale Kompetenz. Daher gibt es, über die Minimalanforderungen
hinaus, teilweise sehr grosse Unterschiede im hindernisfreien Bauen zwischen den Kantonen.
Einige Kantone beschreiben die Gebäude und Anlagen, die für behinderte Menschen zugänglich
gemacht werden müssen, genau und beziehen ausdrücklich auch Verbindungswege zwischen
Häusern einer Wohnanlage oder den Zugang zu Sandkästen und Grillstellen mit ein. Ebenso
kann der Zugang zu einem Gebäude auch den Weg von der öffentlichen Strasse bis ins Innere
289
Behindertengleichstellung
des Gebäudes umfassen. Häufig sind neben der Zugänglichkeit des Gebäudes an sich auch eine
gewisse Anzahl von Parkfeldern für behinderte Menschen vorgeschrieben, beispielsweise bei
Mehrfamilienhäusern oder öffentlichen Parkplätzen.
Einige Kantone schreiben auch vor, welche Baumaterialien verwendet werden müssen, um die
Zugänglichkeit eines Gebäudes zu gewährleisten. Dies betrifft beispielsweise die Wahl von Türfallen oder das Anbringen elektrischer Bedienelemente.
Für eine genaue Abklärung, welche Vorschriften in einem Kanton gelten, empfiehlt es sich, die
kantonale Beratungsstelle für hindernisfreies Bauen zu kontaktieren.
Gibt es Grenzen für die Anpassungspflicht?
Die Verpflichtung zu hindernisfreiem Bauen hat vor allem eine grosse Einschränkung: Nur
Gebäude und Anlagen, die im Rahmen eines Baubewilligungsverfahrens neu gebaut oder
renoviert werden, müssen an die Bedürfnisse behinderter Menschen angepasst werden. Das
bedeutet, dass bestehende Gebäude und Anlangen in der Regel nicht hindernisfrei zugänglich
sein müssen, solange sie nicht umgebaut werden. Nur wenige Kantone haben auch Vorschriften für bestehende Gebäude.
Zudem gibt es Grenzen in der Anpassungspflicht im Rahmen der Verhältnismässigkeit.
Werden diese überschritten, müssen die Gebäude und Anlagen nicht angepasst werden. Dies
betrifft vor allem die Kosten, sowie Fragen des Denkmalschutzes. So dürfen die Anpassungskosten 5% des Gebäudeversicherungswertes beziehungsweise des Neuwertes oder 20% der
Erneuerungskosten nicht übersteigen. Bei Gebäuden und Anlagen des Gemeinwesens kann sich
allerdings auch bei Überschreiten dieser Grenzen die Pflicht zu einer Ersatzlösung ergeben.
Wer ist für die Einhaltung der rechtlichen Vorgaben zuständig?
Für die Einhaltung der Vorschriften zum hindernisfreien Bauen sind die zuständigen Baubehörden von Amtes wegen verantwortlich. Gesetzlich vorgeschriebene Anpassungen an die Zugänglichkeit eines Gebäudes oder einer Anlage müssen in gleichem Ausmass eingehalten werden,
wie beispielweise feuerpolizeiliche Vorschriften.
290
Behindertengleichstellung
Ein Gebäude ist nicht zugänglich – was tun?
Ist ein öffentlich zugängliches Gebäude oder eine Anlage nicht hindernisfrei, so ist es ratsam, in einem ersten Schritt abzuklären, ob das Gebäude oder die Anlage seit Inkrafttreten des
Behindertengleichstellungsgesetzes, also seit 2004, neu gebaut oder renoviert wurde. Nur
in diesen Fällen gibt es grundsätzlich die Verpflichtung zu Anpassungen. In einigen Kantonen
kann es unter Umständen auch bei bestehenden Gebäuden eine Anpassungspflicht geben.
Daher ist es in jedem Fall ratsam, sich an die kantonale Beratungsstelle für hindernisfreies
Bauen zu wenden.
Bei Verletzung der Vorgaben zum hindernisfreien Bauen kann während des Baubewilligungsverfahrens von behinderten Einzelpersonen Einsprache erhoben werden, wenn die geplante
Ausführung des Bauvorhabens dazu führen würde, dass ihnen der Zugang erschwert oder
verunmöglicht würde. Nicht notwendig ist es, in der Nähe des Gebäudes zu wohnen. Allerdings
muss die Benachteiligung im Zusammenhang mit der Behinderung stehen.
»» Beispiel: Wird in einem Baubewilligungsverfahren zwar die Zugänglichkeit einer Anlage
für Sehbehinderte berücksichtigt, aber nicht jene für Körperbehinderte, so kann nur eine
körperbehinderte Person einen Einspruch einreichen, nicht jedoch eine blinde.
Auch Behindertenorganisationen können unter gewissen Umständen Beschwerde einreichen,
sofern sich die Benachteiligung auf eine grosse Zahl behinderter Menschen auswirken würde.
Nach Abschluss des Baubewilligungsverfahrens ist es schwieriger gegen fehlende oder mangelnde Anpassungen rechtlich vorzugehen. Hier muss der normale Zivilrechtsweg beschritten
werden. Dieser Weg ist möglich, wenn im Baubewilligungsverfahren relevante Aspekte des hindernisfreien Bauens gar nicht thematisiert wurden, obwohl dies erforderlich gewesen wäre.
Allerdings muss die Baubehörde von Amtes wegen eingreifen, wenn in der Baubewilligung
enthaltene Vorgaben zum hindernisfreien Bauen nicht eingehalten wurden. Wurde trotz Bewilligungspflicht kein Baubewilligungsverfahren durchgeführt und daher die Vorgaben zum behindertengerechten Bauen nicht berücksichtigt, so muss das Bewilligungsverfahren nachgeholt
werden.
Beratung und Unterstützung zum hindernisfreien Bauen
Bei Fragen rund um das hindernisfreie Bauen bieten die Beratungsstellen für hindernisfreies
Bauen Beratung und Unterstützung. Sowohl für behinderte Menschen und Behindertenorganisationen, als auch für alle Fachpersonen, die in ein Bauprojekt involviert sind, wie Bauherren,
Eigentümer, Baudepartemente und Architekten.
291
Behindertengleichstellung
Rechtliche Grundlagen
• Recht auf Zugänglichkeit in der UNO-Behindertenrechtskonvention: Art. 9 BRK
• Benachteiligung bei Zugang zu einem Gebäude: Art. 2 Abs. 3 BehiG
• Erfasste öffentliche Gebäude, Wohngebäude und Gebäude mit Arbeitsplätzen: Art. 3 lit. a, c
und d BehiG
• Definition der Begriffe „Bau und Erneuerung“, „Bauten und Anlagen“, „öffentlich zugängliche
Bauten und Anlagen“: Art. 2 lit. a, b und c BehiV
• Rechtsansprüche: Art. 7 Abs. 1 BehiG
• Verhältnismässigkeit: Art. 11 Abs. 1, 12 Abs. 1 BehiG
• Abwägung der Interessen: Art. 6 BehiV
• Massgebliche Kosten: Art. 7 BehiV
• Bauvorschriften des Bundes: Art. 8 BehiV
• Norm SIA 500 „Hindernisfreie Bauten“ kann kostenpflichtig beim Schweizerischen Ingenieurund Architektenverein bezogen werden: SIA 500
• Kantonale Baugesetze
• Beratungsstellen für hindernisfreies Bauen
292
Behindertengleichstellung
293
Behindertengleichstellung
Dienstleistungen
Eine autonome Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist für behinderte Menschen nicht möglich, wenn sie einen erschwerten oder sogar keinen Zugang zu Dienstleistungen haben. Dies
betrifft sowohl Dienstleistungen des Staates wie auch Dienstleistungen, die Privatpersonen
anbieten. Die Bandbreite der in Frage stehenden Leistungen reicht vom Verkehr mit Behörden,
wie Gemeindeämtern oder Gerichten, bis zum Restaurant, dem Kino oder dem Lebensmittelgeschäft um die Ecke. Auch Internetdienstleistungen fallen in diesen Bereich. Die Vorgaben zur
Zugänglichkeit für behinderte Menschen sind allerdings je nach Anbieter sehr unterschiedlich.
»
Dienstleistungen staatlicher Stellen und monopolisierter Unternehmen
»
Internetangebote des Gemeinwesens
»
Wer zahlt die Gebärdensprachdolmetsch-Kosten im Kontakt mit Gemeinwesen?
»
Private Dienstleistungen: Restaurant, Kino, Geschäfte, Bäder etc.
»
Unterstützung bei einer diskriminierenden Behandlung
»
Rechtliche Grundlagen
Dienstleistungen staatlicher Stellen und monopolisierter Unternehmen
Alle staatlichen Behörden des Bundes, der Kantone und der Gemeinden müssen sicherstellen, dass ihre Dienstleistungen von behinderten Menschen ohne Benachteiligung in Anspruch
genommen werden können. Dies gilt auch für Unternehmen, die aufgrund eines bundes- oder
kantonalrechtlichen Monopols tätig sind, wie Verkehrsbetriebe, Radio und Fernsehen oder Post
und Telefonanbieter im Rahmen der Grundversorgung.
Diese Behörden und Unternehmen müssen von Amtes wegen neue Dienstleistungen an die
Bedürfnisse von behinderten Menschen anpassen, um einen Benachteiligung zu verhindern. Sie
müssen aber auch bei bestehenden Dienstleistungen Benachteiligungen beseitigen. Nur wenn
dies zu aufwendig wäre, reicht es, wenn die Benachteiligung zumindest verringert wird.
»» Beispiel: Die Eidgenössische Steuerverwaltung stellt auf ihrer Internetseite zahlreiche
Merkblätter zur Verfügung. Diese sind sowohl für Privatpersonen wie auch für Unternehmer eine wichtige Informationsquelle für Fragen zum Steuerrecht. Alle Merkblätter sind
im PDF-Format in nicht zugänglicher Form. Seit Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetztes im Jahr 2004 ist die Eidgenössische Steuerverwaltung als staatliche Behörde
294
Behindertengleichstellung
dazu verpflichtet, neue Merkblätter in zugänglicher Form zur Verfügung zu stellen. Da der
Aufwand, alle alten Merkblätter barrierefrei umzugestalten zu aufwendig wäre, reicht es,
wenn diese auf Anfrage im Word-Format zur Verfügung gestellt werden.
Konkret müssen staatliche Behörden und die erwähnten Unternehmen vorhandene Hindernisse abbauen, aber auch aktiv weitere Massnahmen durchführen. Zentraler Gedanke muss dabei immer die autonome Inanspruchnahme der Dienstleistung durch behinderte Menschen
sein.
»» Beispiel: In einer Gemeinde ist der Zutritt zum Gemeindehaus für Hunde verboten.
Dies darf nicht für Blindenführ- und Assistenzhunde gelten, da sonst behinderte Menschen benachteiligt würden. Sie sind auf die Begleitung ihrer Hunde angewiesen, um sich
selbständig in der Gesellschaft bewegen zu können. Bei einer Verhandlung am Gericht mit
Hörbehinderten muss das Gericht dafür sorgen, dass ein Gebärdensprachdolmetscher anwesend ist. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Hörbehinderten alle Informationen
verstehen und entsprechend entscheiden können.
Internetangebote des Gemeinwesens
Immer wichtiger werden jene Dienstleistungen, die Gemeinwesen über das Internet anbieten: Informationen über Veranstaltungen in der Gemeinde oder Baueingaben werden auf der
Internetseite publiziert, die Steuererklärung kann online ausgefüllt werden, der Kontakt mit
einzelnen Stellen ist zum Teil nur noch via Internet-Kontaktformular möglich. Auch für diese
Dienstleistungen gilt, dass sie für behinderte Menschen zugänglich sein müssen.
»» Beispiel: Eine Gemeinde beschliesst, den Strafregisterauszug nur noch auszustellen,
wenn dieser über die Internetseite der Gemeinde angefordert wird. Damit will die Gemeinde
schneller auf die Anfragen der Bürger reagieren und der Umwelt zuliebe Papier sparen. Leider hat die Gemeinde die entsprechende Seite nicht barrierefrei gestaltet. Damit benachteiligt sie sehbehinderte Menschen in der Inanspruchnahme dieser Dienstleistung und ist dazu
verpflichtet, diesen Missstand aufzuheben. Entweder passt sie ihre Internetseite an oder sie
führt wieder Möglichkeiten ein, den Strafregisterauszug auf andere Weise anzufordern.
Wer zahlt die Gebärdensprachdolmetsch-Kosten im Kontakt mit
Gemeinwesen?
In der Kommunikation mit staatlichen Stellen werden regelmässig Gebärdensprachdolmetscher eingesetzt. Hier stellt sich oft die Frage nach der Kostenübernahme. Grundsätzlich gilt:
Wurde die Notwendigkeit eines Gebärdensprachdolmetschers rechtzeitig beim Gemeinwesen
295
Behindertengleichstellung
angemeldet und hat dieses selbst keine geeignete Person gefunden, so darf der Hörbehinderte
selbst einen Gebärdensprachdolmetscher organisieren und die Behörde muss diesen bezahlen.
Dies gilt für die Kommunikation mit allen Behörden, egal ob beim Bund, den Kantonen oder
den Gemeinden.
»» Beispiel: Frau Z ist hörbehindert und hat einen Termin beim Arbeitsamt. Sobald sie das
Datum des Termins erfährt, gibt sie bekannt, dass sie einen Gebärdensprachdolmetscher
benötigt. Sie erhält die Antwort, dass das Arbeitsamt das noch nie gemacht habe und sie
sich selbst darum kümmern müsse. Frau Z organisiert daraufhin einen Gebärdensprachdolmetscher und darf die Rechnung dann an das Arbeitsamt weiterleiten. Dieses ist dazu
verpflichtet, die Rechnung zu bezahlen.
Neben Hörbehinderten gibt es auch noch andere behinderte Menschen, die aufgrund ihrer
Behinderung eine Unterstützung in der Kommunikation benötigen. In diesen Fällen kann eine
sogenannte Kommunikationsassistenz eingesetzt werden. Diese unterstützt beispielsweise
behinderte Menschen, die aufgrund einer geistigen oder psychischen Behinderung oder auch
nach einem schweren Schädel-Hirn-Trauma nicht in der Lage sind, alleine komplexe Angelegenheiten zu besprechen. Die Assistenzpersonen helfen den behinderten Menschen dabei,
sich verständlich zu machen oder sie erklären ihnen komplizierte Dinge in leicht verständlicher
Weise. Diese Form der Assistenz muss ebenso von den staatlichen Behörden zugelassen und
grundsätzlich bezahlt werden, wie ein Gebärdensprachdolmetscher. Die Kosten müssen jedenfalls übernommen werden, wenn der behinderte Mensch ohne Assistenz zentrale Informationen
nicht verstehen würde und die Kosten nicht von einer anderen Stelle, wie beispielsweise der IV,
gedeckt werden.
»» Beispiel: Herr S hat in Folge einer psychischen Erkrankung grosse Schwierigkeiten in der
Kommunikation mit fremden Menschen. Für komplizierte Termine ist er auf die Begleitung
eines Kommunikationsassistenten angewiesen, der ihm schwierige Dinge in leicht verständlicher Form erklärt. Nun steht das Scheidungsverfahren bevor und Herr S möchte, dass
ihn sein Assistent begleitet. Der Richter ist dazu verpflichtet, den Assistenten zuzulassen,
obwohl es bei Scheidungsverfahren eigentlich nicht üblich ist, dass ausser den beteiligten
Personen und den Anwälten noch andere Personen anwesend sind. Nur so kann sichergestellt werden, dass Herr S ohne Benachteiligung aufgrund seiner Behinderung vor Gericht
erscheinen und angehört werden kann.
Private Dienstleistungen: Restaurant, Kino, Geschäfte, Bäder etc.
Jede Privatperson oder jedes private Unternehmen, das Dienstleistungen anbietet, die allgemein zugänglich sind, darf behinderte Menschen nicht diskriminieren. Allerdings sind private
Dienstleistungsanbieter nicht dazu verpflichtet ihre Dienstleistungen an die Bedürfnisse
behinderter Menschen anzupassen. Sie dürfen diese lediglich nicht in ihrer Würde verletzen
oder behinderte Menschen schlechter als nichtbehinderte behandeln ohne dies mit gewichtigen
296
Behindertengleichstellung
Gründen rechtfertigen zu können. Diese Gründe dürfen allerdings nicht auf Vorurteilen behinderten Menschen gegenüber beruhen.
»» Beispiele: Ein Restaurant ist nicht dazu verpflichtet, die Speisekarte in Braille-Schrift zur
Verfügung zu stellen. Die Internetseite eines Onlinegeschäfts muss nicht für behinderte
Menschen zugänglich sein. Ein Schwimmbad darf aber einer Gruppe behinderter Kinder
nicht den Zutritt verweigern, nur weil es befürchtet, dass die anderen Gäste sich gestört
fühlen könnten. Auch darf ein Taxifahrer die Mitnahme eines Blindenführhundes nicht ablehnen, ausser der Hund wäre ihm gegenüber aggressiv.
Unterstützung bei einer diskriminierenden Behandlung
Benachteiligungen durch das Gemeinwesen bzw. die oben erwähnten Unternehmen können
bei einem Gericht oder bei der zuständigen Verwaltungsbehörde einklagt werden. Als Folge
kann die Behörde oder das Unternehmen dazu verpflichtet werden, die in Frage stehende
Dienstleistung anzupassen. Wäre eine Anpassung der Dienstleistung nicht verhältnismässig,
wäre sie also beispielsweise zu teuer, so muss das Gericht eine Ersatzlösung anordnen.
Anders ist dies bei privaten Dienstleitungen: Gegen Benachteiligungen von privaten Anbietern
kann vor Gericht lediglich die Feststellung der Diskriminierung und eine Entschädigung in
Höhe von maximal Fr. 5‘000.- eingeklagt werden. Private können also nicht dazu gezwungen
werden, ihre Dienstleistungen anzupassen.
Unterstützung bei einer Benachteiligung oder Diskriminierung bei einer Dienstleistung bieten
spezialisierte Fachstellen für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung.
297
Behindertengleichstellung
Rechtliche Grundlagen
• Recht auf Zugänglichkeit in der UNO-Behindertenrechtskonvention: Art. 9 BRK
• Recht auf Zugang zu Information in der UNO-Behindertenrechtskonvention: Art. 21 lit. c
und d BRK
• Verbot der Diskriminierung in der Kranken- und Lebensversicherung in der UNO-Behindertenrechtskonvention: Art. 25 lit. e BRK
• Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben, sowie an Erholung, Freizeit und Sport in der UNOBehindertenrechtskonvention: Art. 30 BRK
• Verbot der Benachteiligung bei der Inanspruchnahme einer staatlichen Dienstleistung bzw.
von im Monopol des Bundes stehenden Unternehmen: Art. 2 Abs. 4, 3 lit. e BehiG
• Verbot der Diskriminierung bei der Inanspruchnahme einer privaten Dienstleistung: Art. 6
BehiG
• Rechtsanspruch bei Benachteiligung bzw. Diskriminierung: Art. 8 Abs. 1 und 3 BehiG
• Verhältnismässigkeit: Art. 11, 12 Abs. 3 BehiG
298
Behindertengleichstellung
299
Behindertengleichstellung
Grundschule
Kinder und Jugendliche haben einen verfassungsmässig garantierten Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht. Der Grundschulunterricht soll die Kinder und Jugendlichen auf ein selbstverantwortliches Leben in der Gesellschaft vorbereiten und sich dabei
an ihren individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten ausrichten. Dieser Anspruch gilt auch für
behinderte Kinder und Jugendliche.
Die Verantwortung für den Grundschulunterricht tragen die Kantone. Sie haben dabei ein grosses Ermessen bei der Umsetzung. Allerdings müssen sie die Vorgaben der Bundesverfassung,
insbesondere des Diskriminierungsverbotes, beachten.
»
Kinder und Jugendliche mit Behinderung
»
Dauer des Anspruchs
»
Öffentliche und private Grundschulen
»
Ausreichend ist nicht gleich optimal
»
Integration vor Separation
»
Kein Einverständnis mit der Entscheidung der Schulbehörde – was tun?
»
Kostenübernahme bei Privatschulung?
»
Rechtliche Grundlagen
Kinder und Jugendliche mit Behinderung
Eine Person gilt als behindert im Sinne des Behindertengleichstellungsrechts, wenn sie in ihren
körperlichen, geistigen oder psychischen Fähigkeiten auf Dauer beeinträchtigt ist und die
Beeinträchtigung je nach ihrer Form schwerwiegende Auswirkungen auf elementare Aspekte der Lebensführung hat. Für Kinder und Jugendliche während der Schulzeit bedeutete dies,
dass sowohl schwerwiegende Einschränkungen im schulischen Können wie auch in den Sozialbeziehungen als Behinderung gelten. Die körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigung muss voraussichtlich von einer gewissen Dauer sein. Im Bereich der Schule kann davon
ausgegangen werden, dass sich die Beeinträchtigung zumindest über ein Schuljahr erstrecken
sollte.
300
Behindertengleichstellung
»» Beispiel: Die 7-jährige Schülerin S hat eine schwere Hautkrankheit. Schon bei leichten
körperlichen Kontakten springt ihre Haut auf. Die Behinderung von S wirkt sich nur auf
ihre Sozialbeziehungen aus, ihr schulisches Können ist nicht betroffen. In der Schule muss
S vor allem in den Pausen von einer Assistenzperson begleitet werden, damit die anderen
Kinder sie beim Spielen nicht unabsichtlich verletzen. Nur mit Unterstützung dieser Person
kann S in die Regelschule gehen. Zur Verwirklichung ihres Anspruchs auf ausreichenden
Grundschulunterricht muss die Schulbehörde daher eine Assistenzperson für S organisieren
und finanzieren.
Dauer des Anspruchs
Der Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht gilt für die Dauer
der obligatorischen Schulzeit. Diese umfasst die Primarschule und die Sekundarstufe I. Behinderte Kinder und Jugendliche haben darüber hinaus einen Anspruch auf Sonderschulunterricht bis längstens zum 20. Lebensjahr.
Öffentliche und private Grundschulen
Gemäss Bundesverfassung fällt die Regelung der Grundschule in die Kompetenz der Kantone.
Öffentliche Grundschulen unterstehen der Leitung des Kantons und sind unentgeltlich, private
Grundschulen werden vom Kanton beaufsichtigt und müssen in der Regel von den Eltern selbst
bezahlt werden. Sowohl öffentliche als auch private Grundschulen müssen behinderten Kindern und Jugendlichen einen Grundschulunterricht bieten, der diskriminierungsfrei ist.
Ausreichend ist nicht gleich optimal
Der Anspruch auf ausreichenden Grundschulunterricht gewährleistet auch behinderten Kindern
und Jugendlichen einen Anspruch auf einen ihren individuellen Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten angepassten Unterricht, der sie – soweit es ihre Fähigkeiten ermöglichen
– auf ein selbstverantwortliches und selbständiges Leben in der Gesellschaft vorbereiten soll.
Dies bedeutet allerdings nicht, dass ein Anspruch auf die bestmögliche oder optimale Schulung
besteht.
In der Praxis müssen Schulbehörden bei ihren Entscheiden in erster Linie den Anspruch des
Kindes auf ausreichenden Grundschulunterricht berücksichtigen. Ist dieser nur mit hohen
Kosten zu erreichen, müssen die Schulbehörden ihn finanzieren. Stehen allerdings zwei
301
Behindertengleichstellung
gleichwertige Varianten zur Verfügung, die beide dem Anspruch auf ausreichenden Grundschulunterricht gerecht werden, darf die Schulbehörde die günstigere Variante wählen.
Auch die schulischen Abläufe dürfen berücksichtigt werden, wenn es beispielsweise um die
Frage des Grads der Integration geht. Allerdings dürfen organisatorische Fragen allein nicht
ausschlaggebend sein, um eine integrative Schulung eines behinderten Kindes abzulehnen.
Primär sind immer das Wohl des Kindes und sein Anspruch auf ausreichenden Grundschulunterricht zu beachten.
»» Beispiel: Der Jugendliche M hat eine Autismus-Spektrum-Störung, die ihn in seinen Sozialbeziehungen schwer beeinträchtigt. Er besucht die öffentliche Regelschule in seiner Wohngemeinde und wurde dort bisher stundenweise von einer Fachperson unterstützt, die eine
spezielle Ausbildung für den Bereich der Autismus-Spektrum-Störung hat. Diese hat aus
privaten Gründen auf das kommende Schuljahr gekündigt. Die Schulleitung teilt den Eltern
von M nun mit, dass dieser ab dem kommenden Schuljahr in eine Sonderschule wechseln
müsse, da es für die Schule organisatorisch zu aufwendig sei, eine Ersatzperson zu finden.
Die Eltern wehren sich erfolgreich gegen diesen Entscheid der Schule, da es dem Anspruch
von M auf ausreichenden Grundschulunterricht widerspricht, ihn nur aufgrund organisatorischer Schwierigkeiten in eine Sonderschule zu schicken. Es liegt in der Verantwortung der
Schulbehörde, eine geeignete Ersatzperson zu organisieren und zu finanzieren.
Integration vor Separation
In der Schweiz besteht grundsätzlich ein Vorrang der integrativen Schulung vor der separativen. Dies bedeutet, dass unter Beachtung des Wohls des Kindes und der Verhältnismässigkeit primär eine Schulung von behinderten Kindern und Jugendlichen in der Regelschule
erfolgen soll.
Entspricht ausschliesslich die integrative Schulung den Anforderungen des ausreichenden
Grundschulunterrichts, so ist diese durchzuführen. Nur wenn diese dem Wohl des behinderten
Kindes widerspricht oder wegen zu grossem Aufwand an Unterstützung unverhältnismässig
wird, kann eine separative Schulung in Betracht gezogen werden.
Nicht relevant ist es, aus welchem Topf notwendige Unterstützungsmassnahmen wie heilpädagogische Unterstützung, Assistenz etc. bezahlt werden. Daher kann es sein, dass ein behindertes Kind mit heilpädagogischer Unterstützung in der Regelschule geschult wird, aber dennoch
in der Finanzierung als Sonderschüler gilt. Relevant ist, dass das behinderte Kind gemeinsam
mit Kindern ohne Behinderung in einer Regelschule in einer Regelklasse geschult wird.
»» Beispiel: Der Schüler P hat eine leichte geistige Behinderung und hat bisher den Regelkindergarten besucht. Aufgrund seiner Behinderung hat er vier Stunden pro Woche
Unterstützung durch eine Fachperson erhalten. Diese wurde vom Kanton über das System
302
Behindertengleichstellung
der Regelschule finanziert. Mit dem Wechsel in die Primarschule benötigt P mehr Unterstützungsstunden. Diese will der Kanton nun aus dem Topf der Sonderschulen finanzieren und
P soll daher finanztechnisch dem System der Sonderschule zugeordnet werden. Da P weiterhin integriert in einer Regelschule und einer Regelklasse geschult wird, ist es für seinen
Anspruch auf ausreichenden Grundschulunterricht nicht relevant, aus welchem Topf der
Kanton die Unterstützungsstunden finanziert.
Kein Einverständnis mit der Entscheidung der Schulbehörde – was tun?
Entscheide von Schulbehörden für oder gegen eine integrative Schulung, über die Anzahl von
heilpädagogischen Unterstützungsstunden, die Wahl einer Schule oder ähnliche wichtige Fragen stehen manchmal nicht im Einklang mit den Vorstellungen oder Wünschen von Eltern von
behinderten Kindern.
Entscheidungen von Schulbehörden über wichtige Fragen müssen grundsätzlich in Form
einer anfechtungsfähigen Verfügung mitgeteilt werden. Gegen diese können Eltern eine Beschwerde an die nächst höhere Instanz einreichen. Wird ein Entscheid nicht in Form einer Verfügung mitgeteilt, können die Eltern den Erlass einer Verfügung verlangen. Dies ist notwendig, da
nur gegen einen schriftlichen Entscheid Beschwerde geführt werden kann.
»» Beispiel: Die Eltern von M erfahren bei einem Standortgespräch, dass die Schulleitung M
ab dem kommenden Schuljahr nicht mehr in der Regelschule unterrichten will. Die Direktorin hat sich bereits um eine Anmeldung in einer heilpädagogischen Schule gekümmert und
den Eltern wird eine diesbezügliche Vereinbarung vorgelegt, welche sie sofort unterschreiben sollen. Die Eltern von M sind mit dem Entscheid nicht einverstanden und unterschreiben nicht. Im Gegenteil verlangen sie von der Schule einen schriftlichen Entscheid über die
geplante separative Schulung, gegen den sie sich zur Wehr setzen werden.
Beschwerden gegen Verfügungen müssen eine Begründung enthalten und sind an Fristen
gebunden, welche unbedingt zu beachten sind. Die Dauer der Frist, der notwendige Inhalt der
Beschwerde und die Stelle, an welche die Beschwerde zu richten ist, sind in der Rechtsmittelbelehrung enthalten, die jeweils am Ende einer Verfügung steht.
Häufig ist es notwendig, die Beschwerde mit Zeugnissen oder Gutachten von Fachpersonen
(Ärzten, Psychologen, Logopäden etc.) zu ergänzen, da „nur“ die Meinung der Eltern nicht
ausreicht, um den Entscheid einer Behörde anzufechten, der sich meistens auf Berichte der
schulpsychologischen Dienste stützt.
Da die Verfahren je nach Kanton sehr unterschiedlich sind, empfiehlt es sich, rechtzeitig –
das heisst wenn möglich schon vor Erhalt einer negativen Verfügung – den Rat einer auf das jeweilige kantonale Schulrecht spezialisierten Anwaltskanzlei oder einer kompetenten Fachstelle
einzuholen.
303
Behindertengleichstellung
Kostenübernahme bei Privatschulung?
Häufig kommt es vor, dass es kein ausreichendes öffentliches Schulangebot für behinderte
Kinder in der Wohngemeinde gibt. In diesen Fällen werden behinderte Kinder von den Schulbehörden zum Teil in weiter entfernte öffentliche Schulen geschickt, welche ein der Behinderung angemessenes Bildungsangebot haben. Oft sind Eltern mit dieser Entscheidung nicht einverstanden und schicken ihr Kind dann von sich aus in eine Privatschule mit entsprechendem
Angebot, die näher beim Wohnort liegt.
Grundsätzlich sind die Schulbehörden in diesen Fällen nicht verpflichtet, die Kosten der Privatschule zu übernehmen. Nur in speziellen Ausnahmefällen kann es zu einer Kostenübernahme
durch den Kanton kommen. Daher sollte vor der Wahl einer Privatschule genau abgeklärt werden, wer für die Kosten aufkommt.
»» Beispiel: Die Schülerin J hat eine schwere psychische Behinderung, die dazu führt, dass
sie bei Lärm und zu vielen Kindern in ihrer Nähe panisch reagiert. Sie benötigt daher eine
spezielle Förderung, die sie langsam an andere Kinder heranführt, damit sie ein Mindestmass an sozialer Integration erfährt. Bisher hat J einen Sonderkindergarten in der Nähe
ihres Wohnortes besucht. Die Eltern haben J mit dem Privatauto in den Kindergarten gefahren, da sie aufgrund ihrer Behinderung ärztlich nachgewiesen nicht mit anderen Kindern in
einem Schultransport fahren kann. Mit dem Wechsel in die Primarschule hat die kantonale Schulbehörde beschlossen, J ab dem kommenden Schuljahr in eine Sonderschule zu
schicken, die gut auf ihre Behinderung eingehen und sie entsprechend fördern kann. Diese
Schule ist allerdings 45 Minuten Fahrzeit von ihrem Wohnort entfernt. Die Eltern könnten
J daher nicht dorthin fahren. Da J aber nicht 45 Minuten mit anderen Kindern in einem
Schultransport fahren könnte, wäre ihr der Schulweg nicht zumutbar. Folglich entschliessen sich ihre Eltern, sie in eine näher gelegene Privatschule zu schicken, die ebenfalls gut
auf ihre behinderungsbedingte Bedürfnisse eingehen kann. Da auch der Schulweg Teil des
Anspruchs auf ausreichenden Grundschulunterricht ist und nicht unzumutbar sein darf,
stehen die Chancen gut, dass der Kanton die Privatschulung in diesem speziellen Fall übernehmen muss.
304
Behindertengleichstellung
Rechtliche Grundlagen
• Recht auf Bildung in der UNO-Behindertenrechtskonvention: Art. 24 BRK
• Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht: Art. 19 BV
• Regelung der Grundschule als kantonale Kompetenz: Art. 62 Abs. 2 BV
• Anspruch auf Sonderschulunterricht für Kinder und Jugendliche mit Behinderung bis längstens zum 20.Lebensjahr: Art. 62 Abs. 3 BV
• Interkantonale Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik
vom 25. Oktober 2007 (Sonderpädagogik-Konkordat)
• Schulgesetze der Kantone
305
Behindertengleichstellung
Aus- und Weiterbildung
Im Bereich der Bildung scheitert die Gleichstellung von behinderten Menschen häufig an nicht
zugänglichen Bildungsangeboten: Vorlesungen sind nicht für Hörbehinderte aufbereitet, Gebäude sind nicht zugänglich für Menschen im Rollstuhl oder Lernbehinderte können Prüfungen
nicht angepasst absolvieren. Daher sieht das Behindertengleichstellungsrecht vor, dass Angebote der Aus- und Weiterbildung für behinderte Menschen – je nach Anbieter in unterschiedlichem Ausmass – ohne Benachteiligung zugänglich sein müssen. Dies umfasst grundsätzlich
alle Aus- und Weiterbildungsangebote, von der Primarschule über die weiterführenden Schulen,
die Berufsbildung, die Universitäten bis zu weiteren Bildungsangeboten. Prüfungen und Bildungsangebot (Unterricht, Dauer der Ausbildung etc.) müssen im Rahmen der Verhältnismässigkeit an die Bedürfnisse von behinderten Menschen angepasst werden.
»
Unterschiede zwischen staatlichen und privaten Bildungsanbietern
»
Anpassungen des Bildungsangebots und der Prüfungen
»
Wie und wo wird ein Gesuch um Nachteilsausgleich eingereicht?
»
Wie und wo kann man sich gegen eine Benachteiligung wehren?
»
Rechtliche Grundlagen
Unterschiede zwischen staatlichen und privaten Bildungsanbietern
Behinderte Menschen haben einen Rechtsanspruch auf verhältnismässige Anpassungen der
Prüfungen und des Bildungsangebots staatlicher Bildungsinstitutionen des Bundes und der
Kantone bzw. Gemeinden auf allen Bildungsstufen. Wird ein behinderter Mensch durch das
Gemeinwesen im Bereich der Aus- und Weiterbildung benachteiligt, kann er beim Gericht oder
bei der Verwaltungsbehörde verlangen, dass das Gemeinwesen die Benachteiligung beseitigt
oder unterlässt.
Private Bildungsinstitutionen sind, abgesehen vom Bereich der Primarschule, wesentlich
schwächer dazu angehalten, Benachteiligungen von behinderten Menschen zu verhindern. So
können private Anbieter im Allgemeinen nicht dazu gezwungen werden, ihr Angebot an die
Bedürfnisse von behinderten Menschen anzupassen.
306
Behindertengleichstellung
Anpassungen des Bildungsangebots und der Prüfungen
Formelle Anpassungen:
Formelle Anpassungen, auch „Nachteilsausgleich“ genannt, sollen diejenigen Benachteiligungen ausgleichen, welche durch die jeweilige Behinderung entstehen. Dabei geht es im Kern vor
allem um die Möglichkeit, behindertenspezifische Hilfsmittel im Unterricht oder bei Prüfungen
verwenden zu können oder persönliche Assistenz beizuziehen, wenn es notwendig ist. Folglich
müssen das Bildungsangebot in seiner gesamten Breite und Umsetzung ebenso wie Prüfungen
den spezifischen Bedürfnissen der jeweiligen Person im Rahmen der Verhältnismässigkeit angepasst werden. Damit soll Chancengleichheit in der Bildung geschaffen werden.
Bei der Wahl der Anpassungen muss immer berücksichtigt werden, dass das Ziel der Anpassungen der Ausgleich der aus der Behinderung resultierenden Schlechterstellung ist, nicht jedoch
eine Besserstellung gegenüber den übrigen Schüler. Grundsätzlich gilt, dass der Nachteilsausgleich dort endet, wo zentrale Fähigkeiten nicht mehr geprüft werden können. Was dies
konkret bedeutet, muss in jedem Einzelfall je nach Fach, Bildungsstufe und Ziel der Ausbildung
genau geprüft werden. Werden Massnahmen im Rahmen formeller Anpassungen gewährt, so
dürfen diese nicht im Zeugnis vermerkt werden.
»» Beispiel: Herr M hat bei einem Autounfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten.
Nach Abschluss der Rehabilitation möchte er sein Studium der Geschichte wieder aufnehmen. Als Folge der Verletzungen nach dem Unfall ermüdet Herr M stark und hat Konzentrationsprobleme. Prüfungen fallen ihm schwer, da er behinderungsbedingt länger braucht,
bis er Antworten formulieren kann. Herr M hat Anpassungen der Lehrveranstaltungen und
der Prüfungen bei seiner Universität beantragt. Nun darf er Prüfungen mit einer Zeitverlängerung und mehr bzw. längeren Pausen absolvieren. Ebenso kann er bei schriftlichen
Prüfungen einen Computer verwenden, da er damit leichter schreiben kann als mit der
Hand. Lehrunterlagen werden Herrn M von den Dozenten vor den Lehrveranstaltungen
zugeschickt, damit er sich besser vorbereiten kann.
Materielle Anpassungen:
Im Gegensatz zum Nachteilsausgleich werden bei materiellen Anpassungen die inhaltlichen
Anforderungen eines Fachs an die Fähigkeiten des behinderten Menschen angepasst und
entsprechend reduziert. Folglich können in diesen Fällen die inhaltlichen Anforderungen der
Prüfung oder des Fachs nicht mehr vollumfänglich erfüllt werden. Daher kann hier auch nicht
mehr von einem Nachteilsausgleich gesprochen werden.
Rechtlich gesehen sind materielle Anpassungen eine Privilegierungsmassnahme. Sie bedürfen
daher einer gesetzlichen Grundlage und sind nur im Rahmen der Verhältnismässigkeit zulässig.
Ebenso dürfen die dadurch Schlechtergestellten (also nichtbehinderte Menschen) nicht in unzumutbarer Weise benachteiligt werden. Materielle Anpassungsmassnahmen müssen im Zeugnis
eingetragen werden. Da dies unter Umständen die weitere Bildungslaufbahn behinderter
307
Behindertengleichstellung
Menschen negativ beeinflussen könnte, empfiehlt es sich, materielle Anpassungen erst dann
vorzunehmen, wenn die behinderungsbedingten Nachteile nicht mehr mit formellen Massnahmen ausgeglichen werden können.
»» Beispiel: Die Schülerin S hat eine leichte Hörbehinderung. Im Fach Deutsch führt dies
dazu, dass sie bei Diktaten kaum etwas versteht und daher immer sehr schlecht abschneidet. Die Lehrperson empfiehlt den Eltern daher, ihre Tochter von den Diktaten zu befreien
und den Teilbereich „Hörverstehen“ nicht zu beurteilen. Leider wurde bis zum diesem Zeitpunkt noch nicht versucht, die behinderungsbedingten Nachteile bei den Diktaten mit formellen Massnahmen auszugleichen, z.B. durch einen Sitzplatz ganz in der Nähe der Lehrperson, besonders deutliches Sprechen der Lehrperson, oder die Möglichkeit den Diktattext
wiederholt zu hören. Zuerst sollten Massnahmen dieser Art durchgeführt werden, bevor
über eine Nichtbewertung von Teilleistungen nachgedacht wird. Andernfalls könnte dies
später zu Nachteilen in der Bildungslaufbahn der Schülerin S führen.
Beispiele für Anpassungsmassnahmen:
Massnahmen zum Nachteilsausgleich sind so individuell wie behinderte Menschen. Es gibt
keine abschliessende Liste möglicher Massnahmen, jede Massnahme muss individuell an die
Bedürfnisse der jeweiligen Person angepasst werden.
Als zulässige formelle Massnahmen des Nachteilsausgleichs sind unter anderem anerkannt:
Prüfungszeitverlängerung; mehr oder längere Pausen; stärkere Gliederung oder Aufteilung von
Prüfungen; Wechsel im Prüfungsmodus, wie beispielsweise von schriftlich zu mündlich und umgekehrt; theoretische statt praktische Prüfungen, oder umgekehrt; Beizug von Assistenz, einer
Schreibhilfe oder eines Sprachnotizgeräts; Anpassungen des Raumes oder der Arbeitsmöbel;
Verwendung eines Computers; Anpassungen der Lern- oder Prüfungsunterlagen; Verwendung
von Hilfsmitteln.
Als materielle Anpassungen gelten sämtliche Massnahmen, welche die inhaltlichen Anforderungen senken, also z.B. der Dispens oder Teildispens von gewissen Fächern oder die NichtBewertung von Prüfungsteilen. Ebenso können formelle Anpassungen zu materiellen werden,
wenn als Folge die zentralen Prüfungs- bzw. Ausbildungsziele nicht mehr überprüft werden
können.
Abgrenzungsprobleme:
Insbesondere bei behinderungsbedingter Nichtbewertung von Teilleistungen bei Lernbehinderungen wie Legasthenie und Dyskalkulie kann es Abgrenzungsprobleme zwischen rein
formellen und bereits materiellen Anpassungen geben. Auch hier gilt, dass der zentrale Prüfungszweck bzw. das Lernziel erreicht werden müssen, um noch von einem Nachteilsausgleich
zu sprechen. So erscheint für Personen mit Legasthenie die (teilweise) Nichtbewertung der
Rechtschreibung bzw. schriftlichen Ausdrucksfähigkeit im Fach Deutsch als zu weit gehende
Massnahme; eine (teilweise) Nichtbewertung der Rechtschreibung bzw. schriftlichen Ausdrucksfähigkeit im Fach Geschichte kann sich jedoch noch im Rahmen eines verhältnismässigen 308
Behindertengleichstellung
Nachteilsausgleichs bewegen, da der zentrale Prüfungszweck des Fachs nicht die korrekte Verwendung der deutschen Sprache, sondern das Wissen über historische Zusammenhänge ist.
Wie und wo wird ein Gesuch um Nachteilsausgleich eingereicht?
Ein Gesuch um Nachteilsausgleich sollte bei der Bildungsinstitution eingereicht werden. Dem
Gesuch muss in jedem Fall ein Bericht einer Fachperson (Arzt, Psychologe, Logopäde etc.)
beigelegt werden. Dieser muss medizinisch bzw. psychologisch begründete Massnahmen für
den Nachteilsausgleich anführen. Neben der genauen Diagnose und den Auswirkungen auf den
Unterricht bzw. die Prüfungen sollten je nach Behinderungsart auch möglichst detailliert die
erforderlichen Massnahmen einzeln aufgelistet werden. Dies kann ein Zeitzuschlag sein, der
Gebrauch von Hilfsmitteln (Computer, Sprachprogramme, Rechner etc.), angepasste Beachtung
der Grammatik bzw. Rechtschreibung, längere Pausen, stärkere Gewichtung der mündlichen
oder schriftlichen Leistung oder andere Massnahmen. Generell bedarf ein Gesuch um Nachteilsausgleich keiner besonderen Form, jedoch führen immer mehr Bildungsinstitutionen Merkblätter und Vorlagen zum Nachteilsausgleich ein. Daher sollte bei der Bildungsinstitution nachgefragt werden, ob es entsprechende Vorgaben gibt.
Eine Vereinbarung über einen Nachteilsausgleich sollte ebenfalls schriftlich erfolgen, dies
erhöht die Rechtssicherheit und Verbindlichkeit für alle Beteiligten. Darin sollten neben den
Angaben zu den Personalien, der Behinderung und ihren Auswirkungen, vor allem die für jedes
Fach vereinbarten Massnahmen enthalten sein. Ebenso sollte Bestandteil der Vereinbarung sein:
die regelmässige Überprüfung der Massnahmen und die Möglichkeit diese anzupassen, wenn
sie sich als nicht zielführend, zu wenig oder zu weit gefasst erweisen bzw. wenn sich die Auswirkungen der Behinderung ändern.
Wie und wo kann man sich gegen eine Benachteiligung wehren?
Ab Kenntnis der Benachteiligung durch die Bildungsinstitution sollte so rasch wie möglich der
Kontakt mit der Bildungsinstitution gesucht werden, z.B. mit Lehrpersonen, Beratungsstellen
der Institution oder anderen Verantwortlichen. Mögliche Massnahmen zur Beseitigung der
Benachteiligung sollten, wenn möglich, gemeinsam und im gegenseitigen Einverständnis der
betroffenen Person (bzw. deren Eltern) und den Verantwortlichen der Bildungsinstitution definiert werden.
Grundsätzlich gilt, dass Entscheidungen von Bildungsinstitutionen, welche den Anspruch auf
benachteiligungsfreien Zugang zu Aus- und Weiterbildung betreffen, schriftlich mitgeteilt
werden sollten. Staatliche Bildungsinstitutionen müssen auf Verlangen eine anfechtungsfähige
Verfügung ausstellen, welche bei der nächsthöheren Instanz mittels Beschwerde angefochten
309
Behindertengleichstellung
werden kann. Bei erfolgreicher Beschwerde kann die staatliche Bildungsinstitution zur Beseitigung der Benachteiligung und zum Ergreifen positiver Massnahmen gezwungen werden. Gegen
Benachteiligungen von privaten Bildungsinstitutionen kann dagegen bei Gericht lediglich die
Feststellung der Diskriminierung und eine Entschädigung in Höhe von maximal Fr. 5‘000.- eingeklagt werden.
»» Beispiel: Der Jugendliche A möchte eine Berufslehre machen. Für die Aufnahme in die
Berufsschule muss er eine Aufnahmeprüfung ablegen. Da er Legastheniker ist, beantragt
er bei der Berufsschule einen Nachteilsausgleich für die Aufnahmeprüfung. Der Leiter der
Schule teilt ihm telefonisch mit, dass er diesen Antrag nicht genehmigt. Da A mit diesem
Entscheid nicht einverstanden ist, hat er das Recht, eine schriftliche Verfügung zu verlangen, die er bei der nächst höheren Instanz anfechten kann.
Da die Verfahren je nach Kanton sehr unterschiedlich sind, empfiehlt es sich, rechtzeitig den
Rat einer auf das jeweilige kantonale Recht spezialisierten Anwaltskanzlei oder einer kompetenten Fachstelle einzuholen.
310
Behindertengleichstellung
Rechtliche Grundlagen
• Recht auf Bildung in der UNO-Behindertenrechtskonvention: Art. 24 BRK
• Verbot der Benachteiligung bei der Inanspruchnahme von Aus- und Weiterbildung: Art. 2
Abs. 5 iVm Art. 3 lit. f BehiG
• Verbot der Diskriminierung durch private Dienstleistungsanbieter: Art. 6 BehiG
• Rechtsanspruch bei staatlichen Angeboten: Art. 8 Abs. 2 BehiG
• Rechtsanspruch bei privaten Angeboten: Art. 8 Abs. 3 BehiG
• Verhältnismässigkeit: Art. 11 BehiG
• Bestimmungen für die Berufsbildung im Berufsbildungsgesetz: Art. 3 lit. c, 17, 18, 21 Abs.
2, 22 BBG • Bestimmungen für die Berufsbildung in der Berufsbildungsverordnung: Art. 10, 35 Abs. 3,
57 Abs. 2 BBV
• Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik: Merkblatt „Nachteilsausgleich“
• Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI: Merkblatt „Nachteilsgleich für
Menschen mit Behinderungen bei Berufsprüfungen und höheren Fachprüfungen“
• Homepage „Hindernisfreie Hochschule“
• Weitere Merkblätter auf den Internetseiten der kantonalen Schulbehörden, Universitäten etc.
311
Behindertengleichstellung
Arbeitsverhältnisse
Eine Arbeit, die ein autonomes Leben ermöglicht, ist auch für behinderte Menschen sehr wichtig. Immer noch sind sie aus weiten Teilen des Erwerbslebens ausgeschlossen und werden häufig nicht als vollwertige Arbeitskräfte angesehen. Das Motto der IV „Eingliederung vor Rente“
ist gut gemeint, doch leider ist das schweizerische Behindertengleichstellungsrecht in diesem
Bereich zu schwach, um das Ziel der Integration von behinderten Menschen in die Arbeitswelt
fördern zu können.
Ein wirksamer Schutz vor Diskriminierung müsste alle Phasen eines Arbeitsverhältnisses
umfassen: von der Bewerbung über das Auswahlverfahren, die Anstellungsbedingungen, die
Weiterbildungsmöglichkeiten, die Aufstiegschancen, bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Dass dieser Schutz in der Schweiz erst in wenigen Bereichen vorhanden ist, wird nachfolgend dargestellt, wobei zwischen öffentlichen und privaten Arbeitgebern unterschieden werden
muss.
»
Arbeitgeber: Bund
»
Arbeitgeber: Kanton oder Gemeinde
»
Arbeitgeber: Private
»
Rechtliche Grundlagen
Arbeitgeber: Bund
Der Bund darf behinderte Menschen im Bereich des Erwerbs nicht aufgrund ihrer Behinderung
diskriminieren. Gerichtlich durchsetzbar ist dies allerdings nicht in allen Phasen eines Anstellungsverhältnisses.
Werden behinderte Menschen, die sich für eine Stelle beim Bund bewerben aufgrund ihrer
Behinderung nicht eingestellt, so haben sie keinen Anspruch auf gerichtliche Überprüfung
der Nicht-Einstellung. Sie können lediglich eine schriftliche Begründung der Nicht-Einstellung
verlangen.
Während eines Arbeitsverhältnisses beim Bund besteht für diesen eine erhöhte Fürsorgepflicht gegenüber seinen behinderten Mitarbeitenden. Daraus folgt ein erhöhter Schutz für
behinderte Angestellte und der Bund muss bei Personalentscheidungen (z.B. Versetzung, Kündigung) die gesamte Arbeits- und Lebenssituation der betroffenen Person berücksichtigen. Die
Einhaltung dieser erhöhten Fürsorgepflicht ist das einzig einklagbare Recht im Zusammenhang
mit einer Anstellung beim Bund.
312
Behindertengleichstellung
»» Beispiel: Frau M arbeitet als Reinigungskraft bei einem Bundesamt. Aufgrund einer
leichten geistigen Behinderung versteht sie Anweisungen nicht immer sofort und ihre
Aufgaben müssen ihr vor allem zu Beginn immer wieder erklärt werden. Im Zug einer Umstrukturierung wird Frau M an einen anderen Arbeitsplatz versetzt, an dem sie neue Aufgaben erfüllen soll. Da sie diese nicht sofort und ohne weitere Erklärung auch nicht einwandfrei erfüllen kann, wird ihr nach einigen Verwarnungen gekündigt. Diese Kündigung kann
angefochten werden: Der Bund muss im Rahmen seiner erhöhten Fürsorgepflicht zuerst
mildere Massnahmen als die Kündigung ergreifen. So könnte er die Arbeitnehmerin z.B. an
einen Arbeitsplatz versetzen, der ihren Fähigkeiten besser entspricht, oder dafür sorgen,
dass ihr die neuen Aufgaben öfter und regelmässiger als ihren nichtbehinderten Kollegen
erklärt werden.
Der Bund ist als Arbeitgeber auch dazu verpflichtet, das berufliche Umfeld entsprechend den
Bedürfnissen seiner behinderten Mitarbeitenden zu gestalten. Dies umfasst z.B. Anpassungen
der Arbeitsräume, Arbeitsplätze, Arbeitszeiten, Möglichkeiten der beruflichen Weiterbildung
oder der Karriereplanung. Ebenso müssen die Informatikdienste für behinderte Mitarbeitende
barrierefrei zugänglich sein.
Für Unterstützung bei einem Verdacht auf Diskriminierung im Rahmen einer Anstellung beim
Bund ist die Stelle eines Integrationsbeauftragten gesetzlich vorgesehen. Der Integrationsbeauftragte ist allerdings nur als Anlaufstelle konzipiert, welche zwischen den Streitparteien vermitteln soll, da diese Stelle keine Entscheidungskompetenzen hat. In einem Streitfall empfiehlt
es sich daher mit einer Gewerkschaft, einer spezialisierten Anwaltskanzlei oder einer Fachstelle
für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung Kontakt aufzunehmen.
Arbeitgeber: Kanton oder Gemeinde
Die Rechte von Mitarbeitenden von Kantonen oder Gemeinden sind je nach Kanton sehr unterschiedlich. Allerdings gilt für alle diese Arbeitsverhältnisse auch die erhöhte Fürsorgepflicht
für behinderte Angestellte (siehe oben „Arbeitgeber Bund“).
Ob es weitergehende Ansprüche gibt, muss im Einzelfall jeweils anhand des kantonalen bzw.
kommunalen Personalrechts geklärt werden. Daher empfiehlt es sich im Streitfall eine spezialisierte Anwaltskanzlei oder Fachstelle für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung
zu kontaktieren, welche die jeweiligen kantonalen bzw. kommunalen Besonderheiten kennt. Oft
gibt es bei kantonalen und kommunalen Arbeitgebern auch Ombudsstellen für Probleme am
Arbeitsplatz.
313
Behindertengleichstellung
Arbeitgeber: Private
Im Gegensatz zum Schutz vor Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gibt es in der Schweiz
keinen spezifischen Schutz vor Diskriminierung aufgrund einer Behinderung bei privaten Arbeitsverhältnissen. Das heisst, dass sich Menschen mit Behinderung bei einer Diskriminierung
nur mit den „gewöhnlichen“ Mitteln des Arbeitsrechts zur Wehr setzen können. Diese enthalten
allerdings keine besonderen Bestimmungen zum Schutz von behinderten Mitarbeitenden. Private Arbeitgeber müssen lediglich im Rahmen der allgemeinen Bestimmungen zur Fürsorgepflicht
Verhaltensweisen ihrer Mitarbeitenden und auch ihrer Kunden entgegenwirken, welche Menschen mit Behinderung verletzen, abwerten oder ausgrenzen könnten. Die praktische Durchsetzbarkeit dieser Verpflichtung ist allerdings sehr schwach. Ebenso gelten auch für behinderte
Mitarbeitende lediglich die allgemeinen Bestimmungen zum Arbeitnehmerschutz.
»» Beispiel: Herr P arbeitet in einem Lebensmittelgeschäft im Lagerraum. Aufgrund des
Tourette-Syndroms hat er einige Ticks, so schneidet er immer wieder unkontrolliert Grimassen oder muss in regelmässigen Abständen husten. Seine Kollegen haben sich daran
gewöhnt und akzeptieren ihn als vollwertigen Mitarbeitenden. Ein neuer Kollege macht sich
allerdings ständig über Herrn P lustig. Dies führt dazu, dass Herr P nervös wird und seine
Ticks sich noch verstärken. Sein Arbeitgeber hat nun die Pflicht, mit dem neuen Kollegen zu
sprechen und dafür zu sorgen, dass dieser sein Verhalten ändert und Herrn P nicht weiterhin wegen seiner Behinderung belästigt.
Zusammenfassend muss festgehalten werden, dass es in der Schweiz keinen wirksamen
Schutz vor Diskriminierung aufgrund der Behinderung bei privaten Arbeitsverhältnissen
gibt.
Unterstützung gegen Diskriminierung durch einen privaten Arbeitgeber erhält man am besten
bei einer auf Arbeitsrecht spezialisierten Anwaltskanzlei oder bei Mediationsstellen.
Rechtliche Grundlagen
• Recht auf Arbeit und Beschäftigung in der UNO-Behindertenrechtskonvention: Art. 27 BRK
• Verpflichtung zu Chancengleichheit und Eingliederung: Art. 13 Abs. 1 BehiG und Art. 4 Abs.
2 lit. f BPG und Art. 8 Abs. 1 BPV
• Pflicht zu Anpassung des beruflichen Umfelds: Art. 12 BehiV
• Fürsorgepflicht des Arbeitgebers: Art. 6 Abs. 2 BPG und Art. 328 OR
• Arbeitsgesetz und Verordnung 3 zum Arbeitsgesetz
• Kantonales und kommunales Personalrecht
314
Weitere
Rechts­
fragen
• Patientenrecht
• Datenschutz
Weitere Rechtsfragen
Patientenrechte
In aller Regel ist eine medizinische Behandlung von einem Vertrauensverhältnis zwischen
Ärzten und anderen Medizinalpersonen auf der einen Seite und den Patienten auf der anderen
Seite geprägt. Dennoch können sich rechtliche Fragen ergeben, insbesondere wenn eine Behandlung nicht zum gewünschten Erfolg führt.
In diesem Kapitel soll aufgezeigt werden, welchen rechtlichen Bestimmungen das Arzt-PatientVerhältnis untersteht. Zudem sollen einzelne Fragen im Zusammenhang mit dem Anspruch auf
Akteneinsicht und dem Selbstbestimmungsrecht beantwortet werden. Schliesslich werden Hinweise zur ärztlichen Haftpflicht gegeben. Auf eine umfassende Darstellung des Patientenrechts
muss allerdings verzichtet werden.
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Das Arzt-Patienten-Verhältnis
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Das Spital-Patienten-Verhältnis
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Recht auf Behandlung?
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Aufklärungspflicht
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Selbstbestimmungsrecht der Patienten
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Sterbehilfe
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Recht auf Einsicht in die Krankengeschichte
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Die Bedeutung des Arztgeheimnisses
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Haftung der Ärzte und Spitäler
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Rechtliche Grundlagen
Das Arzt-Patienten-Verhältnis
Rechtlich handelt es sich beim Arzt-Patienten-Verhältnis um einen Auftrag, der den entsprechenden Bestimmungen des OR untersteht. Dieser Vertrag wird nicht schriftlich, sondern
mündlich durch konkludentes Verhalten abgeschlossen. Der Inhalt des Vertrags ergibt sich aus
dem Gespräch zwischen Arzt und Patient.
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Weitere Rechtsfragen
Der Arzt verpflichtet sich im Rahmen eines solchen Auftrags, den Patienten aufgrund seiner
Schilderungen nach den Regeln der medizinischen Kunst zu untersuchen, Heilbehandlungen
vorzunehmen, Medikamente abzugeben und Therapien zu verordnen. Dabei ist der Arzt nicht
frei: Er muss seine Befunde offen mitteilen, diese mit seinen Patienten besprechen, mögliche
Behandlungen und Alternativen aufzeigen und die Patienten über das weitere Vorgehen mitentscheiden lassen.
Ein Arzt wird in aller Regel vom Patienten persönlich ausgesucht. Er hat deshalb auch Anspruch
darauf, von ihm persönlich behandelt zu werden, ausser er stimmt einer Übertragung an eine
Drittperson zu. Dieses Prinzip leitet sich auch aus dem besonderen Vertrauensverhältnis ab,
welches der Arzt-Patienten-Beziehung eigen ist. Ein Vertretungsverhältnis kann jedoch bei Ferienabwesenheiten des Arztes oder in Notfallsituationen zulässig sein.
Der Patient hat im Rahmen eines solchen Vertrags aber nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Dazu gehört nicht nur die Pflicht, das Honorar zu bezahlen. Der Patient muss im Rahmen
der Behandlung ebenfalls einen Beitrag leisten: Er muss den Arzt über alle wichtigen Tatsachen,
die für die Stellung der Diagnose und die Festlegung der Behandlung von Bedeutung sind, informieren. Frühere Krankheiten und Medikamentenunverträglichkeiten, deren Kenntnis für die
Behandlung nötig ist, dürfen nicht verschwiegen werden. Auch muss der Patient die Behandlungsmassnahmen des Arztes unterstützen, seine Empfehlungen befolgen und die verschriebenen Medikamente einnehmen.
Das Spital-Patienten-Verhältnis
Bei den Spitälern muss zwischen Privatspitälern und öffentlichen Spitälern unterschieden werden. Entsprechend sind die rechtlichen Beziehungen unterschiedlich geregelt.
Wer in ein Privatspital eintritt, schliesst mit diesem einen Spitalvertrag ab, der wiederum im
Wesentlichen den Bestimmungen des OR über den Auftrag untersteht. Das Spital verpflichtet
sich in diesem Fall, nebst der medizinischen Behandlung auch die nötige Pflege und Betreuung
sowie Unterkunft und Verpflegung sicherzustellen. Es haftet für die sorgfältige Erfüllung des
Auftrags nach den Regeln der medizinischen Kunst.
Ein besonderer Typ von Privatspitälern sind die Belegspitäler, in welchen „externe“ Ärzte mit
eigener Praxis die medizinische Behandlung übernehmen. Hier bestehen im Grunde zwei parallele Verträge, jener mit dem Belegarzt und jener mit dem Privatspital. Die Abgrenzung der
Verantwortlichkeiten ist in solchen Spitälern oft komplex. Massgebend sind die jeweiligen Regelungen in den Verträgen, welche zwischen dem Privatspital und den Belegärzten abgeschlossen
worden sind.
Bei öffentlichen Spitälern (Kantonsspitäler, Regionalspitäler, Bezirksspitäler und Stadtspitäler) wird das Rechtsverhältnis zwischen Spital und Patient nicht durch einen privatrechtlichen
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Weitere Rechtsfragen
Vertrag bestimmt, sondern durch die öffentlich-rechtlichen Bestimmungen des jeweiligen Kantons. Die Rechte der Patienten auf Information und das Selbstbestimmungsrecht gelten jedoch
grundsätzlich auch in diesem Verhältnis. Zumindest in den allgemeinen Abteilungen besteht
demgegenüber kein Anspruch auf Behandlung durch einen persönlich ausgewählten Arzt.
Schliesslich sind nicht die Haftungsbestimmungen des Privatrechts, sondern jene des öffentlichen Rechts massgebend.
Recht auf Behandlung
Weil die Arzt-Patienten-Beziehung einen privatrechtlichen Vertrag darstellt, gilt auch der Grundsatz der Vertragsfreiheit: Kein Arzt und keine Ärztin ist verpflichtet, jeden Patienten anzunehmen. Ablehnungen wegen Überlastung oder mangelnder fachlicher Qualifikation bezüglich
eines besonderen Leidens sind also durchaus zulässig. Ebenfalls gestattet ist es einem Arzt,
einen Patienten abzulehnen, von welchem bekannt ist, dass er die Rechnungen nicht bezahlt,
und der z.B. auf einer vom Kanton im Zusammenhang mit der Nichtbezahlung von Krankenversicherungsprämien erstellten „schwarzen Liste“ figuriert.
Eine Ausnahme vom Grundsatz der Vertragsfreiheit besteht in Notfällen: Alle kantonalen Gesundheitsgesetze verpflichten die Medizinalpersonen, in Notfällen Beistand zu leisten. In der
Regel wird der Notfalldienst durch die Berufsorganisationen selber geregelt. Wer einen solchen
Notfalldienst leistet, muss die entsprechenden Personen behandeln, nötigenfalls auch zu Hause
besuchen und bei Bedarf in ein Spital einweisen. Was allerdings als Notfall gilt, wird nirgends
genau definiert und muss im konkreten Fall von den Ärzten selber beurteilt werden. Letztlich
liegt ein Notfall immer dann vor, wenn eine ärztliche Behandlung keinen Aufschub duldet, weil
ansonsten mit einer bedrohlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands zu rechnen ist.
Hat ein Arzt einen Patienten einmal aufgenommen, so ist er auch vertraglich verpflichtet, ihm
die nötige Behandlung tatsächlich zukommen zu lassen. Es besteht dann also eine Behandlungspflicht.
Ein Arzt kann seinen Auftrag theoretisch jederzeit wieder kündigen, allerdings mit einer Einschränkung: Die Kündigung darf nicht „zur Unzeit“ geschehen. Eine ärztliche Behandlung sollte
nach allgemeiner Auffassung nicht unbegründet und leichtfertig abgebrochen werden. Ein
Abbruch darf jedoch vorgenommen werden, wenn das Vertrauensverhältnis gestört ist oder ein
Patient sich trotz wiederholten Mahnungen nicht an therapeutische Weisungen hält oder eine
empfohlene Behandlung ablehnt. Der Arzt muss allerdings in jedem Fall dafür sorgen, dass der
Patient genügend Zeit hat, einen neuen Arzt zu suchen, damit die nötige Behandlung sichergestellt bleibt.
»» Beispiel: Herr T hat bereits zweimal einen Arzttermin verpasst und er nimmt offensichtlich die vom Arzt verordneten Medikamente nur sehr unregelmässig ein. Unter diesen
Umständen könnte sein Arzt wegen fehlender Mitwirkung seinen Auftrag kündigen.
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Weitere Rechtsfragen
Weil sich aber der Gesundheitszustand von Herrn T in letzter Zeit bedrohlich verschlechtert
hat und wegen zusätzlichen Komplikationen eine Spitaleinweisung wahrscheinlich ist, wäre
eine kurzfristige Kündigung des Auftrags nicht zulässig.
Aufklärungspflicht
Damit Patienten ihr Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen können, müssen sie über die für einen Entscheid nötigen Informationen verfügen. Die Aufklärungspflicht gehört zu den allgemeinen Berufspflichten eines jeden Arztes, unabhängig davon, ob dieser im Rahmen eines privaten
Auftragsverhältnisses oder als Angestellter eines Spitals arbeitet. Die Aufklärung hat durch den
Arzt persönlich in mündlicher Form und auf verständliche Art und Weise zu erfolgen. Bei
sprachunkundigen Patienten muss der Arzt nach Möglichkeit Übersetzer beiziehen, oder er
muss seine Patienten auffordern, selber jemanden mitzubringen, der die Übersetzung vornehmen kann.
Worüber muss der Patient genau aufgeklärt werden?
• Gesundheitszustand und Diagnose: Der Arzt hat den Patienten darüber aufzuklären, an
welcher Krankheit er leidet und wie schwer er von dieser betroffen ist. Er hat ihn über die
möglichen Entwicklungen und Gefahren seiner Krankheit ins Bild zu setzen. Bei Unsicherheiten hat er ihn auch auf Verdachtsdiagnosen hinzuweisen, aber nur wenn mit diesen
ernsthaft zu rechnen ist.
• Untersuchungen und Behandlungen: Der Arzt muss seinen Patienten auf anschauliche
und verständliche Art über die von ihm vorgesehenen Untersuchungen und Behandlungen
aufklären, und zwar – soweit es die Umstände erlauben – rechtzeitig vor einem Eingriff. Er
muss auf die Erfolgschancen, Risiken von Komplikationen und Nebenwirkungen hinweisen,
auch wenn diese als relativ gering einzustufen sind.
• Behandlungsalternativen: Der Arzt muss aufzeigen, welches die möglichen Konsequenzen bei einem Verzicht auf die vorgeschlagene Behandlung sind, und welche alternativen
Behandlungsmöglichkeiten in Frage kämen. Er hat dabei über Vor- und Nachteile dieser
Alternativen aus seiner Sicht zu informieren.
• Kosten: Empfiehlt ein Arzt eine Behandlung oder Arzneimittel, deren Kosten von der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung nicht oder nur auf besonderes Gesuch hin übernommen werde, so hat er seinen Patienten hierüber genau zu informieren.
»» Beispiel: Frau H leidet seit Geburt an Skelettdeformationen. Wegen einer Beinlängendifferenz und der dadurch entstehenden Fehlhaltung haben sich in den letzten Jahren erhebliche Rückenbeschwerden ergeben. Der Arzt empfiehlt Frau H eine Beinlängenkorrektur,
wofür relativ komplexe orthopädische Eingriffe nötig sind.
Frau H hat Anspruch darauf zu erfahren, wie gross die Chancen sind, dass die Rückenbeschwerden nach einer solchen Operation abnehmen und mit welchen Risiken eine solche
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Weitere Rechtsfragen
Operation verbunden ist. Der Arzt wird sie hierüber gewissenhaft und sachlich informieren
müssen und ihr aufzuzeigen haben, welches die Alternativen (z.B. Anfertigung von Spezialschuhen) sind und wie gross die Chancen und Risiken bei dieser Variante sind. Er sollte
Frau H auch darauf hinweisen, dass sie bei Bedarf bei einem anderen Arzt eine Zweitmeinung einholen kann.
Vor komplexen Operationen werden die Patienten oft aufgefordert, ein schriftliches Dokument zu unterzeichnen, in welchem sie bestätigen, dass sie über die Art des Eingriffs und die
möglichen Risiken informiert worden sind. Solche Dokumente sollten nur unterzeichnet werden, wenn zuvor tatsächlich eine genügende mündliche Information stattgefunden hat.
Früher ist bisweilen die Auffassung vertreten worden, der Arzt dürfe dann die richtige Diagnose
verschweigen, wenn befürchtet werden müsse, dass bei einer wahrheitsgetreuen Information
die Heilung erschwert werden könnte. Heute wird diese Auffassung abgelehnt: Der Arzt muss
sich die Mühe nehmen, auch in „schwierigen“ Situationen mit dem nötigen Einfühlungsvermögen die Wahrheit zu vermitteln und Angst- und Schockreaktionen aufzufangen. Ein mündiger
Patient hat Anspruch darauf zu erfahren, wie sein Gesundheitszustand ist.
Selbstbestimmungsrecht der Patienten
Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist das Recht, frei über seinen Körper zu entscheiden. Es ist Ausdruck des verfassungsmässigen Grundrechts der persönlichen Freiheit und des
im Zivilrecht ebenfalls verankerten Persönlichkeitsrechts. Ein Eingriff in dieses Persönlichkeitsrecht ist nur mit Zustimmung der betroffenen Person zulässig. Oder anders ausgedrückt: Ein
Eingriff ohne die Zustimmung ist widerrechtlich und kann Schadenersatzansprüche auslösen.
Das gilt sowohl für die privat tätigen Ärzte und Spitäler wie auch für die öffentlichen Spitäler.
Damit das Selbstbestimmungsrecht ausgeübt werden kann, bedarf es zweier Voraussetzungen:
Einerseits muss eine Person umfassend aufgeklärt worden sein, um eine Einwilligung in eine
bestimmte Massnahme erteilen zu können, andererseits muss sie selber urteilsfähig sein, das
heisst die Tragweite des Eingriffs verstehen und gestützt auf dieses Verständnis eine Entscheidung fällen können. Sind diese beiden Voraussetzungen erfüllt, so gilt das Selbstbestimmungsrecht uneingeschränkt: Der Patient darf auch einen Eingriff ablehnen, der aus der Sicht der
Ärzte lebensnotwendig ist.
»» Beispiel: Herr S hat sich einer komplexen Operation unterzogen. Nachdem er sich bereits 5 Tage im Spital augehalten hat, wünscht er heimzukehren. Die Ärzte erachten einen
solchen Schritt als verfrüht, da mit Komplikationen zu rechnen ist und eine engmaschige
Überwachung aus ihrer Sicht nötig erscheint. Herr S ist sich dieser Risiken bewusst, hält
aber an seinem Wunsch fest.
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Weitere Rechtsfragen
Das Spital wird den Wunsch von Herrn S aufgrund des Selbstbestimmungsrechts respektieren müssen, falls Herr S urteilsfähig ist. Es wird Herrn S aber bitten, eine Erklärung zu
unterzeichnen, in welcher er bestätigt, über die Risiken eines vorzeitigen Spitalaustritts
vollumfänglich informiert worden zu sein. Dies verlangt das Spital aus haftungsrechtlichen
Gründen.
Es kann vorkommen, dass ein Patient einer Operation nach vorgängiger Aufklärung zugestimmt hat, dass aber während der Operation nicht erwartete erhebliche Komplikationen auftauchen. In diesem Fall dürfen die Ärzte nicht ohne weiteres eine Operationserweiterung ohne
neue Zustimmung des Patienten vornehmen. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn diese
Erweiterung zur Abwendung einer akuten Lebensgefahr unumgänglich ist, eine Unterbrechung
der Operation neue gefährliche Komplikationen verursachen würde oder wenn nicht ernsthaft
zu erwarten ist, dass sich der Patient dieser Erweiterung entgegenstellen würde. Die mutmassliche Zustimmung des Patienten darf aber nicht ohne weiteres angenommen werden.
Ist eine Person nicht urteilsfähig, so kann sie selber einer medizinischen Behandlung nicht
zustimmen. In diesem Fall müssen andere Personen an ihrer Stelle die nötige Einwilligung erteilen. Wer diese Personen sind, ist neu im Erwachsenenschutzrecht geregelt. Es kann in diesem
Zusammenhang auf die Ausführungen im Kapitel „Vorsorgeauftrag und Patientenverfügung“
hingewiesen werden.
Sonderbestimmungen gelten unter anderem auch für den schwerwiegenden Entscheid über
die Sterilisation einer urteilsunfähigen Person. Die restriktiven Voraussetzungen für einen
solchen Eingriff sind in einem eigenen Gesetz (Sterilisationsgesetz) geregelt.
Sterbehilfe
Fragen rund um die Sterbehilfe werden heute kontrovers diskutiert. Während viele Menschen
die Meinung vertreten, dass aus dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen auch das Recht
abgeleitet werden muss, über den Zeitpunkt des Todes entscheiden zu dürfen, sehen andere
in einer Liberalisierung auch eine problematische ethische Entwicklung, weil eine solche den
Druck auf schwerkranke und behinderte Menschen erhöhen könnte, aus dem Leben zu scheiden, um der Gesellschaft nicht mehr zur Last zu fallen.
Welche rechtliche Regelung gilt nun aber in der Schweiz? Hier ist die aktive Sterbehilfe nicht
erlaubt, und zwar selbst dann nicht, wenn sie auf ernsthaftes und eindringliches Verlangen
einer urteilsfähigen Person erfolgt.
Die passive Sterbehilfe wird demgegenüber in der Schweiz nicht bestraft. Sie besteht darin,
dass auf lebensverlängernde Massnahmen bei Schwerstkranken verzichtet wird und dadurch
der Todeszeitpunkt früher eintritt. Der Einsatz von palliativ-medizinischen Techniken zur
Schmerzbekämpfung ist gestattet, auch wenn er mit dem Risiko einer Lebensverkürzung verbunden ist.
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Weitere Rechtsfragen
Viele Menschen füllen heute Patientenverfügungs-Formulare aus, in welchen sie erklären, auf
lebensverlängernde Massnahmen in gewissen Situationen verzichten zu wollen. Im Rahmen des
Erwachsenenschutzrechts sind Form und Wirkungen dieser Patientenverfügungen sogar gesetzlich geregelt worden (vgl. hierzu die Ausführungen im Kapitel „Vorsorgeauftrag und Patientenverfügung“).
Zunehmend in Anspruch genommen wird die Hilfe zum Suizid, wie sie beispielsweise von der
Organisation Exit angeboten wird. Sie steht in der Schweiz nur dann unter Strafe, wenn sie „aus
selbstsüchtigen Gründen“ geschieht; wenn ein Arzt demgegenüber einem urteilsfähigen Menschen gestützt auf dessen eindeutige Willensäusserung zu Medikamenten verhilft, die ihm eine
Selbsttötung erlauben, macht er sich nicht strafbar.
Recht auf Einsicht in die Krankengeschichte
Die Krankengeschichte ist die Dokumentation des Arztes über den Krankheits- und Behandlungsverlauf. Sie enthält die Aufzeichnungen über die Vorgeschichte, die Angaben des Patienten über seine Beschwerden, die Beobachtungen des Arztes und die von ihm erhobenen Befunde sowie die angeordneten therapeutischen Massnahmen, alles in zeitlicher Reihenfolge. Dazu
zählen auch die medizinisch-technischen Aufnahmen, die verschickten Berichte an Arztkollegen
sowie die eingegangenen Berichte von Spitälern und von anderen Ärzten.
Alle Ärzte und Spitäler sind gesetzlich zur Führung einer solchen Dokumentation verpflichtet,
um auch dem Patienten gegenüber Rechenschaft ablegen zu können. Der Inhalt der Krankengeschichte muss wahr sein, die nachträgliche Abänderung und das Entfernen von Dokumenten
sind selbstverständlich unzulässig.
Patienten haben ein Recht auf Einsicht in die Krankengeschichte. Dieses Einsichtsrecht ist
umfassend, es können nicht einzelne Blätter als „persönliche Notizen“ vom Einsichtsrecht
ausgenommen werden, auch wenn diese Beobachtungen über den Patienten enthalten. Das
Einsichtsrecht umfasst auch Schreiben von anderen Ärzten, die in der Krankengeschichte figurieren, selbst wenn diese einmal verletzende Bemerkungen enthalten sollten. Das Einsichtsrecht
wiegt schwerer als der Schutz der privaten Interessen von Kollegen und Kolleginnen des Arztes.
Es kann in diesem Zusammenhang auch auf die Bestimmungen des Datenschutzgesetzes
verwiesen werden (vgl. das Kapitel „Datenschutz“), welches bezüglich der ärztlichen Krankengeschichten anwendbar ist.
Keine Anwendung findet das eidgenössische Datenschutzgesetz auf die öffentlichen Spitäler
der Kantone und Gemeinden. Die meisten Kantone haben jedoch in kantonalen gesundheitsrechtlichen Erlassen oder kantonalen Datenschutzgesetzen analoge Bestimmungen aufgenommen, welche das Einsichtsrecht in die Krankengeschichte sicherstellen. Ausnahmen finden
sich in solchen Gesetzen höchstens bezüglich „besonders schützenswerter Interessen Dritter“,
welche eine volle Einsicht verbieten können.
322
Weitere Rechtsfragen
»» Beispiel: Frau B ist der Meinung, ihr Arzt habe die seit längerer Zeit bestehenden Symptome ihrer Krankheit falsch gedeutet und deshalb die rechtzeitige Einleitung therapeutischer Massnahmen verhindert. Sie erwägt die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen. Sie will jedoch zuerst einmal die Krankengeschichte studieren um sich ein besseres
Bild von der Situation zu machen, und bittet um Einsichtnahme.
Der Arzt von Frau B verweigert die Herausgabe der Krankengeschichte, bietet seiner Patientin jedoch an, in seiner Praxis die Dokumente einzusehen. Dieses Vorgehen ist unzulässig. Entweder muss der Arzt die Krankengeschichte zusenden oder er fertigt Kopien an und
schickt diese seiner Patientin.
Bei psychisch kranken Menschen fürchten viele Ärzte, dass die Einsichtnahme in die Krankengeschichte für die betreffenden Patienten problematische gesundheitliche Reaktionen auslösen
könnte. Das allein ist aber kein Grund zur Verweigerung der Einsicht.
Die Bedeutung des Arztgeheimnisses
Ärzte unterstehen dem Arztgeheimnis. Dieses Arztgeheimnis soll das Recht der Patienten auf
Schutz ihrer Geheimsphäre sichern. Eine Verletzung des Arztgeheimnisses ist strafbar.
Das Arztgeheimnis umfasst alle Tatsachen über die Krankheit eines Patienten, über deren Ursachen und die vorgenommenen Behandlungen, also alles, was der Arzt im Rahmen seiner ärztlichen Tätigkeit von einem Menschen erfahren hat. Selbst die Tatsache, dass sich eine Person bei
einem bestimmten Arzt in Behandlung begeben hat, untersteht dem Arztgeheimnis.
Das Arztgeheimnis verpflichtet die Ärzte, Zahnärzte, Apotheker sowie alle therapeutisch tätige
Personen und ihr Personal zu Verschwiegenheit: Sie dürfen ohne Einwilligung des Geheimnisträgers (d.h. des Patienten) weder mündlich noch schriftlich geschützte Informationen in
irgendeiner Art und Weise an Drittpersonen weitergeben. Zu diesen Drittpersonen zählen
selbst Familienangehörige. Auch an Arztkollegen dürfen solche Informationen ohne Einwilligung nicht weitergeleitet werden, ausser es handle sich um einen Kollegen, der zusammen mit
dem Arzt an der Behandlung beteiligt ist. Gegenüber dem Patienten selber kann sich der Arzt
jedoch selbstverständlich nicht auf das Arztgeheimnis berufen, um ihm irgendwelche Informationen vorzuenthalten.
Der Patient kann den Arzt vom Arztgeheimnis entbinden und ihm dadurch erlauben, gewisse
Informationen an Dritte herauszugeben. Besonders häufig geschieht dies nicht ganz freiwillig, sondern auf Druck von Versicherungen, welche diese Informationen im Hinblick auf den
Abschuss einer Versicherung oder auf die Abklärung von Versicherungsleistungen benötigen.
Erteilt der Patient keine Bewilligung, so kann die kantonale Aufsichtsbehörde den Arzt hierzu
ermächtigen, wenn das Interesse an der Offenbarung gegenüber demjenigen an der Geheimhaltung überwiegt. Schliesslich findet sich im Strassenverkehrsgesetz eine Bestimmung, welche
323
Weitere Rechtsfragen
den Arzt ermächtigt, Personen auch ohne deren Einwilligung der zuständigen Behörde zu melden, wenn er sie nicht mehr als fahrtauglich betrachtet.
Haftung der Ärzte und Spitäler
Ärzte und Spitäler sind verpflichtet, bei der Behandlung ihrer Patienten die nach den Umständen und den Regeln der medizinischen Kunst objektiv gebotene und zumutbare Sorgfalt zu
beachten. Tun sie dies nicht, haften sie für den Schaden, der als Folge einer Verletzung der
ärztlichen Sorgfaltspflicht entsteht.
Medizinische Behandlungen sind immer mit gewissen Risiken verbunden. Ein Erfolg kann nicht
garantiert werden und es können Komplikationen auftreten. Nicht jede solche Komplikation
löst jedoch eine Haftung aus. Vielmehr muss sie auf einen eigentlichen Behandlungsfehler
zurückzuführen sein. Es muss zudem zwischen dem Behandlungsfehler und dem Schaden ein
ursächlicher Zusammenhang bestehen, damit eine Haftpflicht entsteht.
Im Streitfall ist es Aufgabe des Patienten, den Behandlungsfehler und den Kausalzusammenhang zu beweisen. Das ist für ihn als Laien oft mit grossen Schwierigkeiten verbunden. Bestreitet der Arzt einen Fehler begangen zu haben, so bleibt meistens nichts anderes übrig, als
sich sachkundig medizinisch und juristisch beraten zu lassen. Als erstes muss Einblick in die
Krankengeschichte genommen werden und es müssen andere wichtige Dokumente beschafft
werden. Dann muss in der Regel ein medizinischer Gutachter gesucht werden, der möglichst
im Auftrag beider Parteien bereit ist, eine Einschätzung vorzunehmen. Sobald ein Gutachten
vorliegt, das den Behandlungsfehler bejaht, gelingt es in der Regel sich zu einigen.
Eine Haftung kann jedoch auch als Folge einer Verletzung der Aufklärungspflicht entstehen.
Hat ein Arzt nicht über die Risiken eines Eingriffs informiert, so fehlt es an einer rechtsgültigen
Einwilligung in den Eingriff. Führt dieser zu einem Schaden, so haftet der Arzt unabhängig davon, ob er bei der Behandlung selber einen Fehler begangen hat. Hier nun liegt eine umgekehrte Beweislast vor: Der Arzt muss den Nachweis erbringen, dass er seinen Patienten korrekt
aufgeklärt und dieser gestützt darauf eine gültige Einwilligung erteilt hat. Kann er dies nicht
beweisen, so bleibt dem Arzt noch die Möglichkeit nachzuweisen, dass der Patient als vernünftiger Mensch auch bei korrekter Aufklärung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dem Eingriff
zugestimmt hätte.
»» Beispiel: Frau R leidet an einer schweren Diskushernie. Der Arzt schlägt ihr als operativen Eingriff eine Laminektomie vor. Er weist nicht auf das Risiko hin, dass dieser Eingriff
zu einer vollständigen Lähmung beider Beine führen kann. Genau diese Folge tritt nun aber
nach der Operation ein.
Der Arzt hat seine Aufklärungspflicht klar verletzt. Wenn Frau R glaubhaft machen kann,
dass sie bei richtiger Aufklärung in Anbetracht der eher bescheidenen Erfolgsaussichten
324
Weitere Rechtsfragen
und erheblichen Risiken der Operation auf diese verzichtet hätte, muss die Versicherung
des Arztes Schadenersatz leisten.
Im Zusammenhang mit Haftpflichtansprüchen aus ärztlicher Sorgfaltspflichtverletzung sind die
Verjährungs- und Verwirkungsfristen unbedingt zu beachten:
• Vertragliche Haftpflichtansprüche verjähren innerhalb von 10 Jahren seit der schädigenden
Tat. Diese relativ lange Frist kommt immer dann zur Anwendung, wenn im Rahmen eines
Auftrags mit einem Arzt oder einem Privatspital ein Behandlungsfehler begangen worden
ist und daraus eine Haftpflicht abgeleitet wird.
• Wird ein Schadenersatz gegenüber einem öffentlichen Spital geltend gemacht, so sind die
Verwirkungs- und Verjährungsfristen der kantonalen Gesetzgebung zu beachten, welche oft
sehr viel kürzer sind.
Rechtliche Grundlagen
• Rechte und Pflichten aus dem Auftragsverhältnis: Art. 394 ff OR
• Rechte und Pflichten gegenüber öffentlichen Spitälern: Kantonale Spitalgesetze
• Rechenschaftspflicht des Auftraggebers: Art. 400 OR
• Widerruf und Kündigung des Auftrags: Art. 404 OR
• Vertretung urteilsunfähiger Personen bei medizinischen Behandlungen: Art. 377-379 ZGB
• Sterilisation bei urteilsunfähigen Personen: Sterilisationsgesetz
• Strafbarkeit der Hilfe zum Suizid: Art. 115 StGB
• Recht auf Einsicht in die Krankengeschichte: Art. 8-9 Datenschutzgesetz
• Strafbarkeit der Verletzung des Arztgeheimnisses: Art. 321 StGB
• Haftung aus Auftrag: Art. 398 OR
• Verjährung von vertraglichen Haftpflichtansprüchen: Art. 127 und 135 OR
325
Weitere Rechtsfragen
Datenschutz
Der Datenschutz dient dem Schutz der Persönlichkeitsrechte und der Privatsphäre. Wer Daten
einer Person bearbeitet, ist zu rechtmässigem und verhältnismässigem Handeln verpflichtet.
Der Datenschutz verleiht einer betroffenen Person zudem durchsetzbare Rechte. So hat sie
insbesondere Anspruch darauf, Auskunft darüber zu erhalten, welche Daten über sie bearbeitet
werden. Unter gewissen Voraussetzungen kann auch die Berichtigung, Sperrung oder Löschung
von Daten verlangt werden. Besondere Personendaten sind aufgrund einer erhöhten Gefahr für
die Persönlichkeitsrechte zudem stärker geschützt.
In diesem Kapitel wird dargelegt, wer welchem Datenschutzgesetz unterstellt ist und was bei
der Bearbeitung von gewöhnlichen und von besonders sensiblen Personendaten zu beachten
ist. Auch wird aufgezeigt, wie gegen eine widerrechtliche Datenbearbeitung vorgegangen und
wie das Auskunfts- und Akteneinsichtsrecht wahrgenommen werden kann. Zuletzt wird auf die
Besonderheiten im Sozialversicherungsrecht eingegangen.
»
Wer ist welchem Datenschutzgesetz unterstellt?
»
Was ist bei der Bearbeitung von gewöhnlichen und von besonderen Personendaten zu beachten?
»
Wie kann gegen eine Datenschutzverletzung vorgegangen werden?
»
Auskunfts- und Akteneinsichtsrecht
»
Besonderheiten im Sozialversicherungsrecht
»
Rechtliche Grundlagen
Wer ist welchem Datenschutzgesetz unterstellt?
In der Schweiz gibt es neben dem Eidgenössischen Datenschutzgesetz (DSG) in allen Kantonen
auch kantonale Datenschutzgesetze.
Dem Eidgenössischen Datenschutzgesetz unterstehen Bundesorgane und Private. Als
Durchführungsorgane der obligatorischen Krankenversicherung bzw. der obligatorischen
Unfallversicherung sind die Krankenversicherer und die Unfallversicherer in diesem Bereich als
Bundesorgane anzusehen und unterstehen deshalb dem Eidgenössischen Datenschutzgesetz.
Im Bereich der Zusatzversicherungen unterstehen die Krankenversicherer dem Eidgenössischen
Datenschutzgesetz als „Private“.
326
Weitere Rechtsfragen
Den kantonalen Datenschutzgesetzen unterstehen die öffentlichen Organe der Kantone
und der Gemeinden (z.B. kantonale IV-Stellen) sowie private Trägerschaften, die mit einer
öffentlichen Aufgabe betraut sind (z.B. Spitex-Organisationen, Altersheime).
Was ist bei der Bearbeitung von gewöhnlichen und von besonderen
Personendaten zu beachten?
Der Datenschutz regelt die Bearbeitung von Daten. Was genau ist aber unter der „Bearbeitung“
von Daten zu verstehen? Unter den Begriff der „Bearbeitung“ fällt jeglicher Umgang mit Personendaten, insbesondere das Beschaffen, das Aufbewahren, das Verwenden, das Umarbeiten,
das Bekanntgeben, das Archivieren und das Vernichten von Daten.
Der Datenschutz unterscheidet zwischen gewöhnlichen Personendaten und besonderen Personendaten. Besondere Personendaten sind sensible Daten und somit Informationen zur Gesundheit, zur Intimsphäre, zur ethnischen Herkunft, zur Sozialhilfebedürftigkeit, zu religiösen,
weltanschaulichen oder politischen Ansichten sowie zu Strafen und Massnahmen. Aufgrund
erhöhter Risiken für die Persönlichkeitsrechte sind diese Personendaten stärker geschützt
(z.B. durch die ärztliche Schweigepflicht).
Die öffentlichen Organe dürfen Personendaten nur bearbeiten, wenn eine gesetzliche Grundlage besteht. Bei der Bearbeitung von gewöhnlichen Daten reicht hierfür eine Verordnung aus,
bei sensiblen Personendaten ist ein vom Parlament beschlossenes Gesetz vorausgesetzt.
Fehlt eine gesetzliche Grundlage, können Daten nur mit der ausdrücklichen Einwilligung der
betroffenen Person bearbeitet und bekanntgegeben werden. Zudem muss die Datenbearbeitung verhältnismässig sein, das heisst sie muss für den vorgesehenen Zweck geeignet und
erforderlich sein, und es dürfen keine milderen, ebenso geeignete Mittel zur Verfügung stehen.
Auch müssen sich die öffentlichen Organe über die Richtigkeit der Personendaten vergewissern und die Daten angemessen schützen.
Private müssen bei der Bearbeitung von Personendaten darauf achten, dass sie keine widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung begehen. Das heisst, dass auch sie die Daten verhältnismässig bearbeiten, sich über die Richtigkeit der Personendaten vergewissern und die Daten angemessen schützen müssen. Ausserdem darf die Datenbearbeitung nicht gegen den
ausdrücklichen Willen einer Person erfolgen. Sensible Personendaten dürfen Dritten nur
bekanntgegeben werden, wenn die betroffene Person eingewilligt hat, oder wenn eine gesetzliche Grundlage oder ein überwiegendes privates oder öffentliches Interesse besteht.
327
Weitere Rechtsfragen
Wie kann gegen eine Datenschutzverletzung vorgegangen werden?
Wer einer beruflichen Schweigepflicht untersteht (z.B. Arztgeheimnis) oder in seiner beruflichen
Tätigkeit sensible Daten bearbeitet und diese Daten ohne gesetzliche Grundlage oder ohne
ausdrückliche Einwilligung an Dritte bekanntgibt, macht sich strafbar.
Bei einer widerrechtlichen Datenbearbeitung kann die betroffene Person die Unterlassung der
Datenbearbeitung, die Feststellung der Widerrechtlichkeit und die Beseitigung der Folgen verlangen. Zudem kann sie verlangen, dass die Daten vernichtet oder berichtigt werden, oder dass
die Bekanntgabe an Dritte gesperrt wird. Auch kann die Veröffentlichung von Entscheiden und
deren Mitteilung an Dritte verlangt werden. Unter Umständen ist Schadenersatz und Genugtuung geschuldet. Gegenüber Privaten erfolgt die Geltendmachung im zivilrechtlichen Verfahren,
gegenüber den öffentlichen Organen im verwaltungsrechtlichen Verfahren.
»» Beispiel: Frau M stellt fest, dass ihr Vermieter den anderen Hausbewohnern mitgeteilt
hat, dass sie Sozialhilfebezügerin ist. Da Frau M hierzu nicht ausdrücklich zugestimmt hat,
kann sie beim zuständigen Zivilgericht gegen ihren Vermieter eine Klage wegen Persönlichkeitsverletzung erheben.
»» Beispiel: Bei der Einsicht in die über ihn angelegten IV-Akten entdeckt Herr A, dass die
IV in einem internen Feststellungspapier fälschlicherweise einen Hirntumor erwähnt. Herr
A stellt daraufhin einen Antrag auf Berichtigung der IV-Akten. Da Herr A tatsächlich nie
an einem Hirntumor erkrankt ist, berichtigt die IV den Akteneintrag. Würde sich die IV
weigern, die Datenberichtigung vorzunehmen, könnte Herr A eine beschwerdefähige Verfügung verlangen und den Rechtsweg beschreiten.
Auskunfts- und Akteneinsichtsrecht
Jede Person hat das Recht auf Zugang zu den eigenen Personendaten. Auf schriftliches Verlangen müssen somit alle vorhandenen Daten, deren Herkunft und deren Bearbeitungszweck
bekanntgegeben werden. Die Bekanntgabe erfolgt in der Regel unentgeltlich. Daten über die
Gesundheit können durch einen von der betroffenen Person bezeichneten Arzt mitgeteilt werden. Eine Verweigerung des Auskunftsrechts ist nur möglich, wenn dies gesetzlich vorgesehen
ist, oder wenn überwiegende Interessen Dritter dies erfordern. Stellt eine Person fest, dass
Akteneinträge nicht korrekt sind, kann sie deren Berichtigung oder Löschung beantragen.
»» Beispiel: Im Rahmen eines Verfahrens betreffend Errichtung einer Beistandschaft
möchte Herr T Einsicht in die Akten der Erwachsenenschutzbehörde nehmen. Die Behörde
verweigert Herrn T die direkte Einsicht in das sich in den Akten befindende psychiatrische
Gutachten, bietet ihm aber an, das Gutachten dem behandelnden Psychiater zuzustellen
und ihm dadurch Einsicht zu gewähren. Sofern die direkte Einsicht in das Gutachten Herrn
T in Suizidgefahr bringen würde, ist das Vorgehen der Erwachsenenschutzbehörde korrekt.
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Weitere Rechtsfragen
Wie bei der Datenschutzverletzung erfolgt auch die Geltendmachung des Auskunftsrechts
gegenüber Privaten im zivilrechtlichen Verfahren, gegenüber den öffentlichen Organen im verwaltungsrechtlichen Verfahren.
»» Beispiel: Frau N möchte bei ihrer privaten Haftpflichtversicherung Einsicht in die über
sie angelegten Daten haben. Die Haftpflichtversicherung verweigert ihr die Einsicht teilweise und begründet dies damit, dass überwiegende Interessen Dritter dem Auskunftsrecht
entgegenstehen. Frau N kann nun versuchen, ihr Auskunftsrecht beim zuständigen Zivilgericht mittels Klage durchzusetzen.
»» Beispiel: Herr R ist Bewohner eines städtischen Altersheims und möchte die über ihn angelegten Daten einsehen. Das Altersheim gewährt ihm nur ein eingeschränktes Auskunftsrecht und begründet dies ebenfalls mit überwiegenden Interessen Dritter. Herr R kann nun
eine anfechtbare Verfügung verlangen und dagegen ein Rechtsmittel erheben.
Besonderheiten im Sozialversicherungsrecht
Wer bei einer Sozialversicherung (z.B. IV, Unfallversicherung, Ergänzungsleistungsstelle) ein
Gesuch um Ausrichtung von Leistungen stellt, muss seine Verhältnisse bis an die Grenze der
Intimsphäre offenlegen. Mit der Unterzeichnung des Anmeldeformulars werden zudem alle Personen (insbesondere Arbeitgeber, Ärztinnen und Ärzte, Versicherungen, Amtsstellen) ermächtigt, diejenigen Auskünfte zu erteilen, die für die Abklärung des Leistungsanspruchs notwendig
sind. Diese Personen sind sodann zur Auskunftserteilung verpflichtet. Damit unterschreibt eine
gesuchstellende Person sozusagen eine Generalvollmacht, denn sie kann zum Voraus nicht
wissen, an welche Personen und an welche Stellen sich die Sozialversicherung dann tatsächlich
wenden wird.
Im Gegenzug hat die gesuchstellende Person ein schützenswertes Interesse daran, dass die
über sie angelegten Daten nicht an jede beliebige Drittperson weitergegeben werden. Das Bundesgesetz über den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) sieht deshalb eine
Schweigepflicht derjenigen Personen vor, die an der Durchführung der Sozialversicherungen
beteiligt sind. Dies bedeutet, dass die Sozialversicherungen gegenüber Dritten (z.B. Arbeitgeber) zur Verschwiegenheit verpflichtet sind.
»» Beispiel: Seit einem Unfall ist Herr S in seiner bisherigen Tätigkeit arbeitsunfähig. Er
stellt daher bei der IV ein Gesuch um Ausrichtung einer IV-Rente. Mit der Unterzeichnung
des Anmeldeformulars ermächtigt Herr S seinen Arbeitgeber, seine Ärzte und auch die
Unfallversicherung, der IV auf Anfrage hin Auskünfte zu erteilen. Aufgrund der Schweigepflicht ist die IV aber nicht befugt, dem Arbeitgeber weitergehende Auskünfte zu erteilen.
Als eine Ausnahme zur allgemeinen Schweigepflicht ist die Amts- und Verwaltungshilfe zu
betrachten. Damit können die Sozialversicherungen durch schriftliche und begründete Anfrage
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Weitere Rechtsfragen
bei Verwaltungs- und Rechtspflegebehörden oder bei anderen Sozialversicherungen Auskünfte
einholen, die zur Anspruchsüberprüfung notwendig sind.
Rechtliche Grundlagen
• Geltungsbereich des Eidgenössischen Datenschutzgesetzes: Art. 2 DSG
• Geltungsbereiche der kantonalen Datenschutzgesetze: kantonale Datenschutzgesetze
• Besonders sensible Daten: Art. 3 lit. c DSG, kantonale Datenschutzgesetze
• Bearbeitung von Daten: Art. 3 lit. e und 4-7 DSG, kantonale Datenschutzgesetze
• Bearbeitung von Daten durch Bundesorgane: Art. 16-25bis DSG
• Bearbeitung von Daten durch Private: Art. 12-15 DSG
• Bearbeitung von Daten durch öffentliche Organe der Kantone und der Gemeinden und
durch private Trägerschaften mit öffentlichen Aufgaben: kantonale Datenschutzgesetze
• Strafbestimmungen: Art. 34 und 35 DSG, kantonale Datenschutzgesetze
• Geltendmachung widerrechtlicher Datenbearbeitung durch Private: Art. 28, 28a und 28l
ZGB
• Geltendmachung Datenschutzverletzung durch öffentliche Organe: Bundesgesetz über das
Verwaltungsverfahren, kantonale Verwaltungsverfahrensgesetze
• Auskunftsrecht: Art. 8-10 DSG, Art. 1 und 2 VDSG, kantonale Datenschutzgesetze
• Akteneinsicht im Sozialversicherungsrecht: Art. 47 und 48 ATSG, Art. 8 und 9 ATSV
• Ermächtigung zur Auskunftserteilung im Sozialversicherungsrecht: Art. 28 ATSG
• Schweigepflicht im Sozialversicherungsrecht: Art. 33 ATSG
• Amts- und Verwaltungshilfe im Sozialversicherungsrecht: Art. 32 ATSG
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Weitere Rechtsfragen
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Behindert – was tun?
Behindert – was tun?
Der Ratgeber für Rechtsfragen
Das Handbuch „Behindert – was tun?“ wurde 1996 von der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung Behinderter, SAEB (heute Integration Handicap), herausgegeben. Die
Autoren haben sich freundlicherweise bereiterklärt, den Inhalt in überarbeiteter und aktualisierter Form auf „proinfirmis.ch“ zugänglich zu machen.
Besonderer Dank gebührt Georges Pestalozzi und Petra Kern von Integration Handicap für die
Aktualisierung und Überarbeitung sowie Ruedi Prerost für das Lektorat. Ebenfalls bedanken
möchten wir uns bei Dr. Caroline Hess-Klein von Egalité Handicap. Sie stellt uns die Inhalte zum
Gleichstellungsrecht zur Verfügung.
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