Sonderausgabe zum Leben und Werk von Doris F. Jonas

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Sonderausgabe zum Leben und Werk von Doris F. Jonas
Idiolekta
Die Eigensprache in Forschung und Praxis
Sonderausgabe
zum Leben und Werk von Doris F. Jonas
H U T T E N S C H E R V E R L A G 5 0 7 · 1/2012 · ISSN 0947-1731
1/2012
Inhalt
Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Beiträge
Peter Winkler
Doris F. Jonas Pionierin der evolutionären Anthropologie,
Psychologie und Medizin – ein geschichtlicher Beitrag . . . . . . . . . 2
Kommentare
Reinhold Becker
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Dean Falk
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Wolfgang Ittner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Sven Karsten Peters
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Joachim Schaffer-Suchomel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Gunther Schmidt
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Wenda Trevathan
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Luzie Verbeek
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Günther Witzany
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
Hans Hermann Ehrat
Archaische Relikte in der Psychosomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Aktuelles Neuigkeiten Termine
Ankündigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Magdalena Bork: Arts & Sciences in Action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Tilman Rentel: Selbstheilungskräfte im Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
Horst Poimanns
little-brain-corner
Zur Evolution des Gehirns – motio et emotio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
Impressum
© 2012 by Huttenscher Verlag 507
www.huttenscherverlag507.de
Redaktion Michaela Geiberger, Peter Winkler
Christopherus Kapogiannatos
V.i.S.d.P. G
esellschaft für Idiolektik®
und Gesprächsführung (GIG)
www.idiolektik.org
Layout und Satz Elstersatz, Wildflecken
Herstellung Huttenscher Verlag 507
Adresse der Redaktion [email protected]
GIG, Huttenstraße 15, 97072 Würzburg
Adresse des Verlags Huttenscher Verlag 507,
Huttenstraße 15, 97072 Würzburg
Editorial
Editorial
Eine neue Idiolekta, die erste in 2012. A. D. Jonas
wäre in diesem Jahr 99 Jahre alt geworden, was
uns erlaubt und auch etwas angeregt hat, über
die Abschnitte seines Lebensweges hinausgehend
den Fokus weiter zu fassen. Und hieraus entstand
die Beschäftigung mit einer wichtigen Person,
deren Beitrag und Bedeutung für die GIG bisher
schmählich unterschätzt wurde: Doris F. Jonas.
Cherchez la femme! Frauen, insbesondere wenn sie wissenschaftlich tätig sind, finden
kaum die öffentliche Würdigung, die Männer
mit vergleichbarer Leistung erleben.
Dean Falk hat es in eigenen Artikeln gut herausgearbeitet, in welcher Form z. B. hervorragende Frauen überhaupt keinen öffentlichen
Nachruf ihres Werkes in der wissenschaftlichen
Szene erhalten und somit viele Frauen, etwas sarkastisch formuliert, „unsterblich“ werden. Mehr
dazu finden Sie in einigen Kommentaren zur
Arbeit von Peter Winkler, der, auf seine Recherchen zu A. D. Jonas aufbauend, den Lebensweg
von Doris Jonas und deren Beitrag zur Idiolektik und insbesondere zu den Erklärungsmodellen
der archaischen Relikte aufzeigt. Es fällt dadurch
auch mehr und anderes Licht auf A. D. Jonas, was
einer ganzheitlichen Rezeption nur gut tun kann.
Insgesamt ist das Erscheinen dieser IdiolektaAusgabe im Wesentlichen auf das Betreiben und
die Beharrlichkeit von Peter Winkler zurückzuführen, dem hiermit herzlich gedankt sei.
Hans Hermann Ehrat führt das evolutionär
psychotherapeutische Konzept der archaischen
Relikte, bei denen Doris F. Jonas einen wesentlichen Beitrag geleistet hat, sowohl theoretisch als
auch praktisch ein. In diesem Zusammenhang
herzlichen Dank an den Carl-Auer Verlag für die
freundliche Überlassung der Abdruckrechte für
die Ausgabe dieser Zeitschrift!
Zum Thema „Evolution“ finden sich einige
Überlegungen und neuere wissenschaftliche Erkenntnisse, inwieweit sich grundlegende Strukturen und Systeme des Gehirns im Laufe der
Idiolekta 1/2012
letzten 600 Millionen Jahre entwickelt haben,
um unser reichhaltiges Repertoire zum Ausdruck von Emotionen – sowohl beim Menschen
als auch bei Tieren – zur Schau und ans Tageslicht zu bringen.
Zudem finden Sie Hinweise auf unsere Jahrestagung und die Sommerwerkstatt. Die 27.
Jahrestagung der Gesellschaft für Idiolektik und
Gesprächsführung widmet sich dem Thema „Idiolektik und Pädagogik“. Dazu ist es uns gelungen,
nicht nur aus dem reichhaltigen Angebot der
idiolektikeigenen Pädagogen und Pädagoginnen
zu schöpfen, sondern auch neue Impulse aus dem
Lager der Reformpädagogik und des JenaplanAnsatzes zu gewinnen. Ich möchte Sie herzlich
einladen, im Mai 2012 in Würzburg neue Aspekte der Kommunikation und der Möglichkeit sich
zu entwickeln und einen etwas vielleicht anderen
Schulalltag zu erleben, zu erleben.
Die 10. Sommerwerkstatt bietet die Möglichkeit, in wunderschöner Landschaft und – wie wir
das häufig antreffen –, bei geeignetem Wetter den
Einklang von Natur, Geist und Begegnung im
Zentrum der idiolektischen Methode zu erleben
und neue Erfahrungen und Erkenntnisse mit
nach Hause zu nehmen.
Im Abschnitt „Neuigkeiten“ gibt es Berichte
von Veranstaltungen von Magdalena Bork und
Tilman Rentel.
Ich hoffe, Sie haben mit dem neuen Heft, wie
mit den Vorausgegangenen, viel Freude und können es auch nutzen als Informationsmaterial zu
unserer Methode, unserer Gesellschaft und unseren Veranstaltungen sowie zum Weitergeben.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Vergnügen beim Lesen, diskutieren und vielleicht auch
beim Schreiben eines kurzen Kommentars oder
einer Rezension.
Mit den besten Grüßen aus Würzburg verbleibe
ich
Ihr Horst Poimann
1
Peter Winkler
Doris F. Jonas –
Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie
und Medizin – ein geschichtlicher Beitrag
Abb. 1 Doris F. Jonas
Vorläufer der aktuellen
Evolutionären Psychologie und
Evolutionären Medizin
Wer sich heute über innovative Forschungszweige in der Psychologie, Anthropologie und Medizin informiert, kommt an evolutionären Ideen
nicht vorbei. Kurz vor der Jahrtausendwende
trat ein sehr kreativer, origineller und fundamentaler Bereich der Humanwissenschaften in
das Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit: der
evolutionäre Ansatz in der Medizin und Psychologie. Basierend auf der Evolutionstheorie
von Charles Darwin (1858) und moderner Weiterentwicklungen in der Soziobiologie durch
Wilson (1975) und Dawkins (1976) entstanden
revolutionierende Sichtweisen auf das Geschehen in unserem Körper und unserer Psyche in
Idiolekta 1/2012
der Evolutionären Medizin (Nesse, Williams
1996) und der Evolutionären Psychologie (Buss
2005). Publikationen zur Evolutionären Medizin
im deutschsprachigen Bereich siehe z. B. Ganten
(2008) und Verbeek (2008).
Bei diesem Ansatz wird die unmittelbare evolutionäre Wirksamkeit von Eigenschaften unseres
Körpers und unseres Verhaltens (bzw. der hierfür prädisponierenden Gene) erforscht. Typische
Fragestellungen sind hierbei: Wie halten sich die
Entwicklung von Parasiten bakterieller und viraler Art und die Anpassung unseres Immunsystems
im Gleichgewicht? Oder: Welchen Einfluss haben
Attraktivitätsmerkmale bei der Partnerwerbung
auf Gesundheitsmerkmale der Nachkommen? Im
Zuge dieser neuen wissenschaftlichen Entwicklung entstand eine Flut von Veröffentlichungen
sowohl im wissenschaftlichen wie im populärwissenschaftlichen Bereich, bezogen auf die verschiedensten Gebiete, sei es beispielsweise in Bezug auf unser Ernährungsverhalten (Worm 2000),
unser Konsumverhalten (Miller 2009), ja selbst in
Bezug auf evolutionäre Grundmuster in literarischen Werken (Barrash, Barrash 2005).
Gleichwohl ist dieser neue Forschungszweig
(wie es bei evolutionärem Denken nahe liegt)
kaum aus dem Nichts entstanden. Es gab eine
Menge Pioniere, Vormütter und Vorväter dieser
heute sehr aktuellen Forschungsrichtung, die
leider selten Erwähnung finden.
Zum einen ist dies der Forschungszweig der vergleichenden Verhaltensforschung, der Ethologie,
wie sie von Heinroth (1910) eingeführt wurde,
durch Schüler wie Tinbergen (1953) und Lorenz
(1978) fortgeführt wurde und heute noch durch
prominente „Urgesteine“ wie Morris (1968), EiblEibesfeldt (1984) und Goodall (2006) vertreten
2
Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin
werden. Die Bedeutung des ethologischen Beitrags für evolutionäre Bereiche der Wissenschaft
kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, gerade zu biologischen Überlegungen bzgl. Funktionen und Wesen des Menschen. Leider werden
ethologische Arbeiten in der aktuellen Literatur
zur evolutionären Psychologie und Medizin nur
selten zitiert. Ein Phänomen, das sich beim Entdecken einer „neuen“ Forschungsrichtung leider
sehr oft beobachten lässt, ist, dass die unmittelbaren Vorgänger und auch Wurzeln eines neuen Ansatzes vernachlässigt oder gar als veraltet
angesehen werden – eine Vernachlässigung, die
umso schmerzlicher ist, als die Methodologie der
neuen, an der Soziobiologie orientierten evolutionären Ansätze zwar auf den ersten Blick oft
ungleich präziser ist und mit sicherer vorhersagbaren Ergebnissen aufwartet als ethologische beobachtungsorientierte Methoden. Auf den zweiten Blick verzeichnet die ethologische Methodik
aber gerade durch die Beobachtung von Verhalten
in komplexen Umwelten (siehe hierzu auch die
Arbeiten von J. v. Uexküll 1934) und anhand einer
Vielzahl sorgfältig recherchierter Einzelstudien
eine Art der ganzheitlichen Orientierung, die unverzichtbar ist und moderne Methoden neuerer
evolutionärer Ansätze ergänzt.
Weitere Wurzeln der evolutionären Psychologie
und Medizin lassen sich direkt in der Medizingeschichte finden, angefangen mit W.B. Cannon, dem
amerikanischen Physiologen und Entdecker der
homöostatischen Regelkreise in Biologie und Medizin, der in Bezug auf alle Lebewesen evolutionär
begründete Notfallmechanismen entdeckte (Cannon 1915), die ihren Sinn im Zusammenhang mit
Schmerz, Hunger, Angriff und Flucht haben. Ein
weiterer bekannter Vertreter medizinisch relevanter Forschungen war der österreichisch-kanadische
Mediziner Hans Selye, der im Zusammenhang mit
der Anpassung von Lebewesen an Veränderungen
den Mechanismus „Stress“ entdeckte und ein
„„Allgemeines Anpassungssyndrom““ im Krankheitsgeschehen daraus identifizierte (Selye 1956).
Der deutsche Mediziner Rudolf Bilz, der von
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der Umweltlehre Jakob von Uexkülls beeinflusst
war, ging in seiner Beschreibung paläoanthropologischer Mechanismen noch differenzierter vor
und erarbeitete eine ganze Reihe von biologisch
begründeten Verhaltensmechanismen, die für die
Psychiatrie relevant sind (Bilz 1973, 1974). Stichworte hierzu sind z. B. „allgemeine sensorische
Über- oder Unterempfindlichkeit“, „abnorme
Schreckhaftigkeit“, das „Anstoßnehmen“ gegenüber fremden und potentiell feindlichen Personen
sowie der „Subjektzentrismus“ von Lebewesen in
einem spezifischen Erregungszustand.
Der Beitrag von Doris F. Jonas
für den evolutionär orientierten
wissenschaftlichen Diskurs
In dem vorliegenden Artikel soll auf den Beitrag
und die Biografie der Anthropologin Doris F. Jonas eingegangen werden, die gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem evolutionär orientierten Arzt,
Psychiater und Psychotherapeuten A. D. Jonas*
ein sehr umfassendes Lebenswerk zur Evolu­tion
des menschlichen Verhaltens und speziell zu psychosomatischen Phänomenen vorlegte. Gemeinsam mit A. D. Jonas und auch in Einzelpublikationen schuf sie in ihrer nur vierzehnjährigen
wissenschaftlichen Hauptschaffenszeit (vorwiegend in den 1970er Jahren) ein beachtliches wissenschaftliches Werk von über zehn Monografien
und über siebzig Fachartikeln und Fachbeiträgen.
Der biografische Aspekt des vorliegenden Artikels wurde erst ermöglicht durch die freundliche
Unterstützung der Tochter von Doris F. Jonas,
Jill Elise Grant, Juristin und juristische Vertreterin einiger Ureinwohnerstämme in den USA, zu
der im Jahr 2010 eine Kontaktaufnahme gelang
und der an dieser Stelle für ihre Unterstützung
* Sicher gebührt auch A. D. Jonas ein Artikel über seinen Beitrag als Pionier der evolutionären Medizin und
Psychologie. Es fehlen aber derzeit noch zu viele Bausteine aus seiner persönlichen wissenschaftlichen Biographie (auf die er in seiner Zeit in Europa nie ausführlich
Bezug nahm), um ein solches Projekt möglich zu machen.
3
Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin
ein herzlicher Dank ausgesprochen werden soll.
Ebenfalls ein herzlicher Dank gebührt der jüngeren Tochter von A. D. Jonas, Pamela Pouchot,
die Informationen zu einigen persönlichen Details aus dem Leben ihres Vaters beisteuerte.
Das Themenspektrum, das Doris F. Jonas und
A. D. Jonas in ihrem gemeinsamen Wirken bearbeiteten, ist gewaltig. Anbei eine Auswahl der
Themen von Artikeln und Fachbeiträgen, die Doris F. Jonas gemeinsam mit A. D. Jonas oder allein
herausgab und der Bandbreite, die darin zum Ausdruck kommt:
■■ Die Rolle evolutionär orientierter psychologischer Anthropologie für die Humanwissenschaften
■■ evolutionäre Wurzeln psychosomatischer Symptome
■■ die evolutionäre „Verkindlichung“ des Menschen
■■ Gewaltprävention und evolutionär orientierte
Erziehungsmaßnahmen
■■ der evolutionäre Sinn des Alterns
■■ mentale Aktivität im Alter und Schlussfolgerungen für gesellschaftliche Fragestellungen
■■ der Beitrag alternder Ärzte für Gesundheitsversorgung und Gesellschaft
■■ Leben, Tod, Bewusstsein und Sorgeverhalten
■■ der evolutionäre Sinn sexuellen Verhaltens
und sexueller Störungen
■■ Suchtmittelkonsum, Spiritualität, und geistliche sowie heilerische Rituale
■■ Essprobleme und herbivore vs. carnivore Ernährungsmuster
■■ entstehungsgeschichtliche Aspekte der Schizophrenie
■■ archaische Hintergründe neurotischen Verhaltens
■■ Anthropologie der symbolischen Heilung
■■ Ethologie als biologische Basis des ÖdipusKomplexes
■■ Stressverhalten und frühkindliche Erziehung
■■ die biologische Basis von Gewissen und so­
zialem Verhalten
■■ neurophysiologische und evolutionäre Aspekte des Phänomens außersinnlicher Wahrnehmung
Idiolekta 1/2012
■■
■■
■■
■■
■■
Konflikte und Terrorismus und evolutionär
basiertes Verhaltensrepertoire
Anthropologie und Paläoanthropologie von
Machtrolle und Machtverhalten bei Frauen
menschliche Sprachentstehung
interdisziplinäre Forschung auf anthropologischer und evolutionärer Basis
entwicklungsgeschichtlich orientierte Ansätze wissenschaftlicher Klassifikationen.
Die Monografien, die Doris F. Jonas als Mither­
ausgeberin oder allein verfasste, beschäftigten
sich mit:
■■ Verjugendlichung und Verkindlichung des
Menschen als anthropologische Grundmuster
■■ Anthropologie ursprünglich lebender Stammesvölker
■■ Altersforschung und Nutzen neotener Muster und Neugierde für die persönliche Vitalität
und gesellschaftliche Herausforderungen
■■ Sexualität, sexuelle Probleme und Status­aspekte
■■ Stolz, Statusmuster, Konflikte und Erkrankungen
■■ die Abhängigkeit der Lebenskonzepte ganzer
Kulturen von der Realitätskonstruktion durch
die Sinne eine übergreifende Vergleichsstudie
über Spezies und potentielle kosmische Welten
■■ archaische evolutionäre Mechanismen in körperlichen und seelischen Erkrankungen
■■ die Sprachentstehung und die besondere Rolle von Bindung und geschlechtspezifischem
Verhalten
■■ Rituale, Religion, Spiritualität und urzeitliche Wurzeln
■■ gesellschaftliche Mythen der männlichen
Überlegenheit und evolutionäre sowie anthro­
pologische Fakten.
Biografie und wissenschaftlicher Werdegang von Doris F. Jonas
Doris F. Jonas wurde am 21. Mai 1916 als Doris
F. Warshaw in London geboren. Sie war mütterlicherseits Mitglied einer jüdischen Familie,
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Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin
die über mehrere Generationen in London lebte.
Ihre Mutter, Gertrude Warshaw, war eine engagierte Schlüsselfigur der „Federation of Women
Zionists“ (FWZ) und über 16 Jahre deren Schatzmeisterin und spätere Ehrenvorsitzende.
Abb. 2: Nachruf des FWZ anlässlich des Todes von Gertrude
Warshaw im März 1983, in dem ihrer Verdienste in der Vereinigung zionistischer Frauen sowie ihres gesellschaftlichen Engagements während des Krieges gedacht wurde
Der Vater von Doris war als Kind mit seiner Familie von Russland nach London emigriert. Er
war sehr erfolgreich, besaß eine Glasfabrik und
war einige Jahre lang Mitglied des Stadtrats von
London.
Abb. 3: Doris im Alter von 4–5 Jahren, mit ihren ca. 1–2
jährigen Brüdern, den Zwillingen Aubrey und Marcel
Idiolekta 1/2012
Als Jugendliche lebte sie ca. ein Jahr bei einer
Familie in Köln, wo sie gut deutsch lernte. Im
Alter von 20 Jahren heiratete sie Adolph Horner, der (soweit sich Jill E. Grant erinnert) aus
Ostpreußen stammte. Die Ehe hielt nur sehr
kurz und wurde annulliert. Doris war Mitglied
einer englischen zionistischen Organisation und
wirkte auch während des zweiten Weltkrieges
an verschiedenen zionistischen Aktivitäten mit.
Doris hatte Freunde in der englischen Botschaft
Palästinas/Israels und bekam schließlich über
diese Kontakte die Gelegenheit, London mit einem Transportflugzeug nach New York zu verlassen. Allerdings floh sie nicht vor dem Krieg, sie
blieb während der Bombenangriffe auf England
in London, während ihre Familie sich auf dem
Lande aufhielt.
Ihren zweiten Ehemann,
Frank (als Tscheche eigentlich Franticek) Klein
hatte Doris bereits während des Krieges in London kennengelernt. Er
war Bankier in Prag und
unternahm
Geschäftsreisen nach London. Er
sprach als GeschäftsAbb. 4: Doris 1939, im
mann, der viel auf Reisen
Alter von 23 Jahren
war, gut deutsch und englisch insoweit, wie es für seine Geschäftsbelange
erforderlich war. Zunächst emigrierte er mit seiner
ersten Frau und seinen zwei kleinen Kindern 1939
von Prag nach London, nach den deutschen Luftangriffen auf London kamen ihm jedoch Zweifel,
ob der Aufenthalt in London zukünftig sicher
sei. Dies führte ihn und seine Familie zu einem
sechsmonatigen Aufenthalt in Havanna, Kuba,
und schließlich bekam die Familie ein Visum nach
New York. Dort verließ er seine Frau und seine
Kinder, um Doris zu heiraten. Frank hatte neben
seiner Familie auch zahlreiche Verwandte und Bekannte aus Prag heraus geschafft, unter anderem
den früheren Freund seiner Frau, den diese später
heiratete.
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Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin
Nach ihrer Eheschließung lebte Doris das typische Leben einer „50-er Jahre Hausfrau“, was
sie laut Jill E. Grant wohl ausgesprochen wenig
inspirierend fand. Ihr Sohn Francis kam 1949
zur Welt, ihre Tochter Jill im Jahre 1955. (Es gab
auch noch ein Kind dazwischen, das aber kurz
nach der Geburt starb).
Abb. 5: Doris 1959, im Alter von 43 Jahren mit Ehemann Frank (61), Tochter Jill (4) und Sohn Francis (10)
Die wissenschaftliche Ausbildung von Doris
startete bereits weit vor ihrer universitären Qualifikation. Sie verfügte über einen unstillbaren
Wissensdurst, liebte wissenschaftliche Literatur,
Diskussionen und das Reisen. Sie hatte sich bereits vor ihrem Studium der Anthropologie, das
sie erst in ihrer zweiten Lebenshälfte absolvierte, über verschiedene Publikationen und ihre
lebhafte Teilnahme an vielfältigen wissenschaftlichen Diskussionen einen Namen in wissenschaftlichen Kreisen gemacht.
Tatsächlich führten sie ihre Publikationen und
die Anerkennung als „Privatgelehrte“ in verschiedenen Wissensgebieten erst zu dem Wunsch, zu
studieren und offizielle wissenschaftliche Grade
zu erwerben. Ihr Anthropologiestudium und
ihre wissenschaftlichen Grade erwarb sie erst,
als sie sich bereits von David getrennt hatte und
ihre gemeinsame Schaffenszeit mit ihm vorüber
war. Wie Jill berichtet, wurde Doris nach der
Veröffentlichung von „Manchild“ und anderen
Büchern häufig in Zitaten und Publikationen
als Dr. Jonas bezeichnet, was sie zu dieser Zeit
Idiolekta 1/2012
nicht war. Wissenschaftler und Herausgeber, die
sie zitierten, konnten sich wohl nicht vorstellen,
dass ein solches Werk von einer Privatgelehrten
stammte. Wie Jane Goodall erwarb sie ihre wissenschaftlichen Grade also erst, als ein Gutteil
ihrer Forschungen schon abgeschlossen war. Einerseits amüsierte es sie, als Dr. Jonas zitiert zu
werden, andererseits gab es ihr ein ungutes Gefühl, was wohl schließlich dazu führte, dass sie
ihr offizielles Anthropologiestudium schließlich
doch noch nachholte.
Viele Teile ihrer frühen wissenschaftlichen Biographie sind leider nicht mehr zu rekonstruieren, da ihre Tochter Jill Elise Grant, die Quelle
der hier wiedergegebenen Informationen, in der
Zeit, als vieles stattfand, recht jung war. Es ist
zumindest bekannt, dass Doris auch mit Dan
Casriel, dem Begründer der „Bonding“-Therapie (einer Körperpsychotherapie-Methode), bei
verschiedenen Fachartikeln zusammenarbeitete
und wohl auch den evolutionären Teil von dessen Arbeit mit prägte. (Casriel 1972)
Doris traf David (A. D. Jonas) 1967 oder 1968,
und ihr Leben begann auf einmal wieder aufregend zu werden. Sie fing an, mit David zusammenzuarbeiten.
A. D. Jonas hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits
auf das Gebiet evolutionärer Grundlagen von Medizin und Psychologie spezialisiert, und er hatte
schon zahlreiche Artikel sowie zwei Monografien
veröffentlicht. Sein erstes Buch handelte von dem
Ausdruck nicht erkannter „stummer“ konvulsiver nervöser Entladungen und Unregelmäßigkeiten in Gehirnfunktionen in einer signifikanten
Anzahl von Fällen neurotischer Symptome (Jonas
1959). Sein zweites, viel beachtetes Buch „Irritation and Counterirritation“ (Jonas 1962) beeinflusste den bekannten Kommunikationsforscher
McLuhan wesentlich in seinem Medienkonzept.
Eschenhagen (2002) schreibt dazu:
McLuhan sieht Medien als Ausweitungen von Körperfunktionen, über die der Mensch eigentlich auch
ohne technische Hilfsmittel verfügt. Diese Ausweitung
betäubt die Sinne. McLuhan führt die Ansicht der
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Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin
Forscher Hans Selye und Adolphe Jonas an, die diese
Betäubung als eine Art »Selbstamputation« betrachten,
zu der der Körper greift, wenn das Wahrnehmungsvermögen den Grund einer Reizung nicht orten oder
sie umgehen kann. Unter körperlichem »Stress« oder
bei Überreizung schützt sich das Zentralnervensystem
selbst aktiv mit der Waffe der Amputation oder der
Absonderung des »kränkenden« Organs, Sinnes oder
der gestörten Funktion. So ist also die Belastung durch
Beschleunigung des Tempos oder die größere Last der
Anreiz zu neuen Erfindungen. McLuhan nennt das
Rad als Ausweitung des Fußes als Beispiel. Auf Grund
des beschleunigten Austausches durch die Medien Geld
und Schrift war z. B. der Fuß der steigenden Belastung
nicht mehr gewachsen. Das Rad wurde zur Entlastung
»amputiert«.
So hat sich laut Jonas die Ausweitung der Fähigkeit zur Abspaltung und Nach-Außen-Projizierung auch auf körper- und ich-fremde Objekte
(heute z. B. Automobile, Häuser) und abstrakte
Konzepte (Ideen wie z. B. von Ehrlichkeit, Stolz
etc.) als Ich-Erweiterung entwickelt, die nun als
virtuelle Kunstprodukte ein psychologisches und
kulturelles Eigenleben führten. Aufgrund der
größeren Popularität von Selye schrieb McLuhan
diese Konzepte Jonas und Selye zu, tatsächlich
stammten sie aber ausschließlich von Jonas.
Auch David Jonas war bereits verheiratet und hatte zwei Töchter. Ob er zum Zeitpunkt des Kennenlernens von Doris noch mit seiner Familie
zusammen lebte, wird bei den Töchtern Pamela
und Jill unterschiedlich berichtet. Laut Aussage
seiner Tochter Pamela hatte er sich jedoch schon
seit langer Zeit emotional von seiner Familie entfernt und sei sehr auf seine Arbeit fokussiert und
viel in seine Gedanken vertieft gewesen.
Das Zusammentreffen von David und Doris erfolgte über gemeinsame Freunde. Vonseiten der
jüngeren Tochter von David Jonas, Pamela, gibt
es den Hinweis, dass sie zudem in persönlichen
Dingen den Rat von Jonas gesucht habe.
Doris und David beschlossen, an einem gemeinsamen Buchprojekt zu arbeiten: „Manchild“, eine
Studie über die Verjugendlichung und Verkindlichung des Menschen im Zuge der MenschheitsIdiolekta 1/2012
entwicklung (Neotenie). Dieses Werk beschäftigt
sich mit den weitreichenden Folgen dieser Entwicklung hin zur Neotenie, von den höchsten
kulturellen Errungenschaften bis zu den niedrigsten menschlichen Beweggründen. Darüber
hinaus werden verschiedene körperliche, psychischen und psychosomatischen Erkrankungen
und daraus ableitbare Ansätze zu deren Behandlung beleuchtet.
Doris hatte eigene literarische Qualitäten, die
sich ideal mit denen von David ergänzten. Bücher, an denen Doris mitwirkte, haben einen
klareren Aufbau, eine deutlichere Struktur und
setzen sich fundierter mit den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen und der Fachliteratur zu dem jeweiligen Zeitpunkt auseinander.
1968 ließ sich Doris von ihrem Ehemann Frank
Klein scheiden, der 1969 wieder heiratete. Im Zuge
ihrer Zusammenarbeit wurden Doris und David
auch privat ein Paar und heirateten schließlich.
Abb. 6: David und Doris Jonas
Methodologisch standen Jonas und Jonas in der
Tradition der Ethologie und der Interdisziplinarität. Das heißt, sie suchten in menschlichem
Verhalten und Physiologie, in parallelem Verhalten und Physiologie aus dem Tierreich, in Er7
Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin
gebnissen aus eigenen klinischen Erfahrungen
und Forschungen sowie aus Ergebnissen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen nach
Grundmustern, deren gemeinsamer Nenner und
Erklärungsansatz die Evolution des Menschen
darstellt. Die bevorzugte Methodik der heutigen
evolutionären Ansätze über die Untersuchung
genetisch identifizierbarer Einzelmerkmale und
deren evolutionäre Wirksamkeit ist induktiv geprägt. Im Vergleich dazu erscheint der abduktiv
geprägte Ansatz von Jonas und Jonas, der detektivistisch nach gemeinsamen Grundmustern
sucht, ein Ansatz zu sein, der weniger exakt anmutet. Aus einer anderen Perspektive betrachtet
ergänzt aber dieser Ansatz das induktive Vorgehen und hat von daher durchaus das Potential,
bei Erhärtung durch verschiedene Fakten Einzelergebnisse wieder zu einem komplexen Gesamtzusammenhang zusammenzufügen.
David (eigentlich Adolphe Desiderius Jonas), der
am 12. 4. 1913 als Sohn jüdisch-polnischer Eltern
in Zemun, Jugoslawien geboren wurde, studierte Medizin in Wien (wie er berichtete u. a. bei
Freud). Er machte dort 1936 seinen Abschluss.
Seine praktische ärztliche Ausbildung absolvierte er im Universitätsklinikum von Catania,
Italien. Während des Krieges ging er zum Abschluß seiner medizinischen Ausbildung nach
Amerika – wie ihm dies als Jude gelang, ist nicht
bekannt. Seine Eltern und seinen jüngeren Bruder Jules holte er nach. Er arbeitete zunächst als
Assistenzarzt im Riverside Hospital, Virginia; in
Virginia lernte er auch seine erste Frau kennen.
Schließlich ließ er sich in New York nach Berichten seiner jüngeren Tochter Pamela, zunächst als
Allgemeinarzt, später als Liaisonpsychiater und
Psychotherapeut nieder. In den 1960er Jahren
arbeitete er als Research Fellow für Neurologie
und Psychiatrie im Mt. Sinai Hospital, New York.
Er hegte zu der Zeit, als er Doris kennenlernte,
wohl bereits den Wunsch, mit seiner Praxis in
den vorzeitigen Ruhestand zu gehen und sich
schwerpunktmäßig der Forschungs- und Publikationstätigkeit zu widmen. Nach einigen JahIdiolekta 1/2012
ren der gemeinsamen Tätigkeit im „Institute for
Theoretical Medicine“ mit D
­ oris F. Jonas war er
mit der wissenschaftlichen Resonanz seiner Arbeiten in den Staaten wohl nicht ganz zufrieden
und strebte eine exponiertere Rolle in Europa
an, sei es als Leitfigur des evolutionären Ansatzes oder als Begründer einer neuen psychotherapeutischen Methode. Zudem hegte er wohl den
Wunsch, zurück zu seinen persönlichen Wurzeln
nach Europa zu gehen und dort den Kreis seiner wissenschaftlichen und persönlichen Laufbahn zu schließen. Im Zuge dieses Bestrebens
war ihm eine gewisse Rastlosigkeit zu eigen, die
Doris wohl anfangs anzog und faszinierte, andererseits nach ca. zehn Jahren wohl auch das Ende
ihrer Beziehung einläuten sollte. (Häufig sind es
ja die kontrastierenden, „kontrapunktischen“
Eigenschaften von Partnern, die einerseits den
besonderen Reiz zu Beginn einer Beziehung ausmachen, andererseits im Verlaufe der Beziehung
die Herausforderung und schließlich auch die
Zerreißprobe darstellen.)
In ihrer vierzehnjährigen Ehe schufen beide ein
beachtliches gemeinsames wissenschaftliches
Werk von über zehn Monografien und über siebzig Fachartikeln. Nach einer gemeinsamen Zeit
in New York, wo sie Ende der 1960er Jahre das
„Institute for Theoretical Medicine“ gemeinsam
leiteten, das David 1963 gegründet hatte, verließen sie auf Davids Wunsch im Sommer 1972 New
York und gingen nach London. Im Herbst 1972
reisten sie – ebenfalls auf Davids Wunsch – nach
Marrakesch, um in der Berberregion in Marokko
anthropologische Forschungen zu betreiben.
Mitte der 1970er lebten sie ein paar Jahre in
Würzburg, wo David Konsultationspsychiater
der amerikanischen Armee und später Gastdozent am Psychologischen Institut der Universität
Würzburg war. Zudem betrieb er eine psychotherapeutische Privatpraxis. Ende der 1970er Jahre
gingen sie gemeinsam wieder nach London und
gründeten dort das „„Institute of Sociobiological
Medicine“. 1979 wollte David wieder zurück
nach Würzburg, Doris jedoch nicht, was schließ8
Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin
Abb. 7: Doris und David Jonas
lich zur Trennung des Paares führte. Die Trennung erfolgte wohl im Unfrieden. Doris wollte in
London bleiben, von wo sie stammte und wo ihre
Familie lebte, einschließlich ihrer Mutter. Doris
nahm ihr Anthropologiestudium auf und arbeitete für die Royal Anthropological Society.
Davids Schwerpunkt wandte sich nach der Trennung der beiden von evolutionären Themen, zu
denen er weiterhin regelmäßig publizierte, mehr
und mehr der Lehre einer von ihm begründeten,
vor allem im Bereich der Psychosomatik und der
Zwangserkrankungen wirksamen Psychotherapiemethode zu, die an der individuellen Sprache, dem
Idiolekt des Patienten ansetzt: der „Idiolektik. In
Kombination mit den evolutionären Erkenntnissen aus Doris’‘ und seinem Lebenswerk schuf er
damit einen Psychotherapieansatz, der sich einerseits sehr einfach und konsequent an den sprachlichen sowie non- und paraverbalen Signalen des
Gesprächspartners also dessen Eigensprache, orientiert und andererseits einen evolutionären und
neurophysiologisch orientierten Ansatz in das
praktische therapeutische Geschehen auf didaktisch sehr elegante Weise integrierte.
Der bahnbrechende Erfolg blieb ihm aber mit
diesem Ansatz verwehrt. Es entwickelte sich aus
seinem Betreiben eine vielversprechende „„Ge­
sellschaft für Idiolektik und Gesprächsführung“
die dieses Werk weiter führte, methodisch und
theoretisch weiter verfeinerte und untermauerte
sowie in den Anwendungsmöglichkeiten ausweiIdiolekta 1/2012
tete. Nach wie vor ist diese Methodik aber eher als
– wenn auch expandierender – Geheimtipp anzusehen. Erst kürzlich erschien mit „Eigensprache“ ein
Werk, das posthum diese Kombination aus eleganter psychotherapeutischer Methode mit dem Ansatz der evolutionären Psychosomatik im Rahmen
der Seminartätigkeit von A. D. Jonas dokumentiert (Winkler 2010). Ein Literaturüberblick zur
Begründung dieser neuen Methode im weiteren
Wirken von A. D. Jonas nach der Trennung von
Doris F. Jonas (Jonas 1981, 1985, Jonas, Daniels
1985) findet sich im Literaturanhang.
1985 erhielt A. D. Jonas schließlich einen Ruf an
einen Lehrstuhl bei Erwin Ringel in Wien, worauf David mit der Aussicht, seinen wissenschaft­
lichen Kreis vollends zu schließen und die „vierte
Wiener psychotherapeutische Schule“ zu begründen, euphorisch nach Wien aufbrach. Der Kreis
schloss sich, die Hoffnung auf eine vierte „Wiener
Schule“ erfüllte sich aber nicht. Ende 1985 verstarb David Jonas auf dem Wege zu seiner letzten
Vorlesung im Alter von 72 Jahren.
Abb. 8: Nachruf auf A. D. Jonas
9
Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin
Doris studierte und arbeitete nach der Trennung
zunächst weiter in London. Ihren Master in sozialer Anthropologie erhielt sie im November
1982. Einen Bachelor-Grad hatte sie nicht erworben, anscheinend vergab die Londoner Universität gleich einen Master Grad für all ihre wissenschaftlichen Arbeiten. Die Verleihung eines
weiteren Grades erfolgte 1984, zu der sie dann
bereits aus den USA anreiste. Nach dem Tode
ihrer Mutter im September 1981 zog Doris 1983
zurück nach New York zur Familie ihrer Tochter.
Dort arbeitete sie nicht weiter an ihren wissenschaftlichen Projekten. Es verstärkte sich in diesen Jahren bei ihr wohl auch das Empfinden, dass
ihre Arbeit in der wissenschaftlichen Diskussion
zu wenig zur Kenntnis genommen wurde, sowie,
dass David viele Ideen ihres gemeinsamen Werkes als die seinen ausgab bzw. sie für ihren Anteil
daran nicht würdigte.
Zudem fand sie wohl, dass das Leben als Autorin
ein zu einsames sei und widmete sich nun lieber
ihren familiären Kontakten.
Abb. 9: Doris F. Jonas 1984 im Alter von 68 Jahren mit
ihrer Tochter Jill Elise Grant und ihrem Enkel Matthew.
Sie verstarb im Jahr 2002 im Alter von 85 Jahren in
Chevy Chase MD, USA.
Ein Ausschnitt aus ihrer Todesanzeige in der
New York Times:
Jonas, Doris F., geb. Warshaw, starb am 20. 1. 2002
in Chevy Chase MD, früher in London, England und New York City. Geliebte Mutter von
Francis C. Klein und Jill E. Grant, [...] Mitglied
des ­Royal Anthropology Institute, Autorin und
Weltreisende.
Idiolekta 1/2012
Abb. 10: Online Todesanzeige New York Times, Doris F.
Jonas
Ein Werk von ihr und A. D. Jonas, das bis heute
noch Verbreitung findet und eine wesentliche
wissenschaftliche Grundlage der GIG e.V. (Gesellschaft für Idiolektik und Gesprächsführung)
darstellt, und das nach Aussagen von Jill E. Grant
für Doris auch ihr liebstes Werk war, ist das
Buch Signale der Urzeit – Archaische Mechanismen
in Medizin und Psychologie, (Jonas, Jonas, 1977),
das im Darwin-Jahr 2009 im neuen Layout beim
Huttenschen Verlag 507 wieder aufgelegt wurde.
In ihm legen Jonas und Jonas in der Tradition
von W.B. Cannon eine ganze Reihe archaischer
Reaktionsmechanismen unseres Körpers dar, die
von großer Bedeutung für die Entstehung psychosomatischer Symptome und auch für deren
Behandlung sind.
Sie gehen dabei über die Cannonschen Grundmuster „Flucht“, „Hunger“ und „Angriff “ hinaus und leiten die Mechanismen der „Evolutionären Psychosomatik“ aus der ganzen Palette
der Ethologie unter Zuhilfenahme einer Vielzahl
interdisziplinärer Erkenntnisse her. Interessant
dabei ist, dass hier auch eine Brücke zur Linguistik geschlagen wird, in dem in körperbezogenen
Redewendungen nicht nur Hinweise auf eine
psychosomatische Dynamik gesehen werden,
sondern in diesen auch evolutionär bedeutsame
archaische Mechanismen identifiziert werden,
die aus der menschlichen Urzeit und teilweise
aus artübergreifenden Mechanismen und Reflexen stammen. (Vgl. Abb. 11)
10
Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin
Signale der Urzeit ist auch in englischer Sprache
erschienen, zunächst, wie Jill E. Grant sich erinnert, in Amerika unter The Past Within Us und
schließlich in England unter Primeval Mechanisms (Jonas, Jonas 1979). Es wäre sicher mit seinem
originellen Ansatz auch heute in der amerikanischen und englischen Szene der evolutionären
Psychologie und Medizin wieder aktuell und
interessant. Leider sind die englischsprachigen
Versionen antiquarisch komplett vergriffen und
ließen sich bisher auch über Bibliotheksdatenbanken nicht finden. Das Buch harrt also noch
seiner Wiederentdeckung im englischen Sprachraum.
Methode geschaffen habe, gern Kontakt aufbauen wolle. Sie lehnte ab mit der Begründung, nie
wieder direkt oder indirekt etwas mit David zu
tun haben zu wollen. Ob ein intensiveres Bemühen um sie und die nachhaltige Würdigung ihres
Werkes zum Erfolg geführt hätten, muss leider
offenbleiben.
Wir hätten sicher noch vieles von ihr lernen können.
Nach dem Tode von A. D. Jonas 1985 versuchten Mitglieder der Gesellschaft für Idiolektik
und Gesprächsführung (GIG) in Verbindung mit
Doris F. Jonas zu treten. Sie begründeten dieses
Anliegen damit, dass die GIG das Werk von A. D.
Jonas fort führe und zu ihr, da sie mit ihrem evolutionären Ansatz eine wichtige Grundlage der
Idiolekta 1/2012
11
Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin
Literatur aus dem Text
Barash, D. P., Barash, N.R. (2005): Madame Bovary’s
Ovaries: A Darwinian Look at Literature, New
York: Delacorte Press.
Bilz, R. (1973): Wie frei ist der Mensch? Paläoanthropologie. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Bilz, R. (1974): Studien über Angst und Schmerz. Paläoanthropologie. Bd. 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Buss, D.M., (2005): The Handbook of Evolutionary
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Cannon, W.B. (1905): Bodily Changes in Pain, Hunger,
Fear and Rage: An Account of Recent Researches
into the Function of Emotional Excitement, New
York: Appleton.
Casriel, D. (1972): A Scream Away From Happiness,
New York: Grosset & Dunlap.
Darwin, C. (1859): On the origin of species by means
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races in the struggle for life. London: John Murray.
Dawkins, R. (1976): The Selfish Gene. Oxford: Oxford
University Press.
Eibl-Eibesfeldt, I. (1984): Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriss der Humanethologie,
München: Piper.
Eschenhagen, P. (2002): McLuhan – Die Theorie von
der Temperatur der Medien, Das heiße Kino im Vergleich zum kühlen Fernsehen. Paderborn.
Ganten, D. (2008): Evolutionäre Medizin – Evolution
der Medizin, Göttingen: Wallstein
Goodall, J., Berman, P. (2006): Grund zur Hoffnung.
Autobiografie, München: Riemann
Heinroth, O. (1910): Beiträge zur Biologie, namentlich Ethologie und Psychologie der Anatiden. In:
Berichte des V. Int. Ornithologen Kongresses Berlin
1910, S. 559 ff.
Jonas, A. D., 1959: Ictal and Subictal Neurosis – Diagnosis and Treatment, Springfield:, C.C. Thomas.
Jonas, A. D., 1962: Irritation and Counterirritation –
A Hypothesis about the Autoamputative Property
of the Nervous System, New York: Vantage Press.
Jonas A. D., 1981: Kurzpsychotherapie in der Allge­
mein­
praxis–Das gezielte Interview, Neuauflage
2008: Würzburg: Huttenscher Verlag 507.
Jonas, A. D., 1985: Orientierungshilfen zur Psychotherapie in der Allgemeinpraxis – archaische Relikte in
psychosomat. Symptomen, Gräfelfing: Socio-medico.
Jonas, A. D., Daniels, A., 1985: Was Alltagsgespräche
verraten – verstehen Sie limbisch?, Wien: Hannibal,
Neuauflage 2008: Würzburg: Huttenscher Verlag 507.
Lorenz, K. (1978): Vergleichende Verhaltensforschung
Idiolekta 1/2012
oder Grundlagen der Ethologie. Wien / New York:
Springer.
Miller, G. (2009): Spent: Sex, Evolution, and Consumer Behavior, New York: Viking Adult.
Morris, D. (1967): The Naked Ape – A Zoologist’s
Study of the Human Animal, London: Cape, New
York, McGraw-Hill
Nesse, R. M., Williams, G. C. (1995). Why We Get Sick.
New York: Times Books.
Selye, H. (1956): The Stress of life. New York: McGraw-Hill.
Tinbergen, N. (1953): Social behaviour in animals.
London: Methuen.
v. Uexküll, J. (1934): Streifzüge durch die Umwelten
von Tieren und Menschen: Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten, Berlin: J. Springer.
Verbeek, L. (2008): Darwinische Medizin – Evolutionsbiologie in Gesundheit und Wissenschaft, Hamburg: Kovač
Wilson, E. O. (1975): Sociobiology: The New Synthesis. Cambridge, Mass: The Belknap.
Winkler, P., (2010): Eigensprache –Körpersymptome
verstehen mit Evolutionärer Psychosomatik und
Idiolektik® – Seminare mit A. D. Jonas, Würzburg,
Huttenscher Verlag 507.
Worm, N. (2000): Syndrom X oder Ein Mammut auf
den Teller! Mit Steinzeitdiät aus der Wohlstandsfalle, Lünen: Systemed.
12
Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin
Bibliografie der Artikel und Fachbeiträge von Doris F. Jonas und A. D. Jonas
während ihrer gemeinsamen Schaffenszeit*:
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ESP (Extrasensory Perception), Am J Psychiatry,
Feb;126(8):1173–7.
2. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1971): Primordial Elements in Man, Am J. Psychiatry. Jan; 127(7):974–5
3. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1971): Evolutionary
Roots of some Psychosomatic Ailments, Proceedings of the 1st World Congress of the International
College for Psychosomatic Medicine, Gudalajara,
Mexico
4. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1971): The Protean
Nature of Man’s Immaturity and its Evolutionary
Roots, Proc. V, World Congress of Psychiatry, Mexico City, Excerpta Medica
5. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1974): The Evolutionary
Mechanisms of Neurotic Behavior, Am J Psychiatry, Jun; 131(6):636–40
6. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1974): The Place of Ethology and Evolutionary Anthropology in Psychiatry,
Brit. Journ. Psychiatry, 131,6, 636–640
7. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1974): Ethology’s Importance to Medicine, World Medicine, 9,23, 83–93
8. Jonas, A. D., (1974): Letter: Skull Transillumination, Br Med J. Jun 22; 2(5920):671–2
9. Jonas, A. D., Jonas, D. F., Count, E.W. (1974): More
on “Assumption and Inference on Human Origins”,
Current Anthropology, 15, 4, 457–461
10.Jonas, A. D., (1974): Letter: Ethology, anthropology, and psychiatry, Am J. Psychiatry. Nov;
131(11):1290–1
11.Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1975): An Evolutionary
Context for Schizophrenia, Schizophr Bull. Spring;
(12):33–41
12.Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1975): The Influence of
Early Training on the Varieties of Stress Responses
– an Ethological Approach, J Psychosom. Res.;
19(5–6):325–35
* Einige Literaturangaben stammen aus dem handschriftlichen Nachlass von Doris F. Jonas über Jill E.
Grant, es ist aus ihnen meist nicht zu ersehen, ob es sich
um gemeinsame Artikel mit David oder um Artikel
nur von Doris handelt. Sie konnten aus Literaturdatenbanken nicht nachrecherchiert werden, aus diesem
Grunde sind bei diesen Artikeln die Autorenangaben
weitgehend weggelassen.
Idiolekta 1/2012
13.Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1975): A Biological
Basis for the Oedipus Complex: an Evolutionary and Ethological Approach, Am J Psychiatry.
Jun;132(6):602–6
14.Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1975): Gender Differences in Mental Function: A Clue to the Origin of
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15.Jonas, A. D., Jonas, Cowan, H.K.J., Glick, B.S.,
Zukin, B.,Heiman, B., Richman, P., Smith, K..,
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16.Jonas, A. D., Jonas, D. F., Dibble H.L., Swartz, J.D.,
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18.Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1977): The Self-as-We
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19.Jonas, A. D., (1977): “Vegetative-neurotic” Disorders in the German Federal Republic. ��������
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20.Jonas, A. D., (1977): Ictal and Subictal Neurosis,
Am J Psychiatry. Sep; 134(9):1051–2
21.Jonas, A. D., (1978): Anthropological Cross-Fertilization, Am J Psychiatry. Sep; 135(9):1113–4
22.Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1978): Using Phylogenetic Mechanisms in Classification, Am J Psychiatry. Oct;135(10):1250
23.Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1979): Just How Does
Psychological Intervention Modify Behavior?,
Med Times. Jan; 107(1):(106) 16d (106– 24d
24.Jonas, A. D., (1979): Was war und was noch ist –
eine biopsychologische Übersicht, 203–242 in:
Fester, R, König, M.E.P., Jonas, D. F., Jonas, D.,
1979: Weib und Macht – fünf Millionen Jahre Urgeschichte der Frau, Frankfurt am Main, Fischer
25.Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1980): A Bioanthropological Overview of Addiction, NIDA Res Monogr.
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26.Jonas, A. D., (1980) (Institute of Sociobiological
Medicine, London): Section I: Introduction, in:
Studies in Conflict & Terrorism 1980, Volume 3,
Issue 3&4, pages 257–264
13
Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin
Zusätzliche Literaturliste über
Doris F. Jonas von Jill E. Grant:
27.Acupuncture as a Counterirritant, Modern Medicine, 39, 22:16-?
28.The Role of Words in Sexual Relationships, Human Sexuality, 7,1:199.
29.Jonas, A. D., Jonas, D.F., (1972): The Evolutionary Infantilization of Man: A Significant Factor in
Violence, published in Pawlowski: Path to Permanent Peace, Vol. 11, NY: Vantage Press
30. Is Impotence Increasing? Medical Aspects of Human Sexuality, 5, 10, October 1972.
31.The Fundamental Nature of Man’s Infantilization,
Proceedings of the Medical Assoc. For the Prevention of War, vol. 2, part 8, Dec. 14, 1973. (Seminar
on Childhood Origins of Group) Aggression at
Needham College, Cambridge, July 1973.
32.The Mask of Neurotic Behavior, Interface (London), Aug. 1973, pp. 21–25.
33.The Subterranean, Interface (London), Oct. 1973,
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34.Planning for the Elderly, Interface (London), Nov.
1974, also in German translation in Medizin, Oct.
19, 1977; re-titled Why People Get Old, Modern
Medicine (NY), Apr. 1977, 45, 7:63–68.
35.Mental Activity as a Factor in Longevity, World
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36.Don’t Talk to the Animals – Listen, Physician’s
World (NY), 11, 2:35–40, Feb. 1974.
37.The Aging Physician, Physician’s World (NY), 11,
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38.Hasan M. El-Shamy; Doris F. Jonas; Jerome H.
Barkow: Comment on Darwinian Psychological Anthropology, Current Anthropology, 15, 1,
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39.Fluctuations in Status: An Element in Illness, Interface (London), June 1974, pp. 11–15.
40.Life, Death, Awareness and Concern, in Life After
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41.Ejaculation, Premature for Whom? Physician’s
World (NY), 11, 7:72–98, July 1975.
42.Is Premature Ejaculation a Dysfunction by Decree? Forum (London), 1975.
43.The Nature of Psychological Symptoms, World
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44.Doris F. Jonas: Book review: E.W. Count, Being
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Page 1 of 3
45.Doris F. Jonas: Book review: S. Zuckerman, ed.,
Idiolekta 1/2012
The Concepts of Human Evolution, Man, 9, 3:
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46.Doris F. Jonas; A. David Jonas; Earl W. Count,
1975: More on “Assumption and Inference on Human Origins” Current Anthropology, Dec., 1975,
vol. 16, no. 4, p. 626–630
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50.Answer to Dr. Abraham Freedman on Evolutionary Mechanisms, Amer Journal of Psychiatry 131,
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58.Reply to Comments on An Alternative Paleobiology, Current Anthropology, 17, 4:774–75, Dec.
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Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin
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66.Letter re Overview: Foundations of Cultural Psychiatry (Armando R. Fevezza and Mary Orman),
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69.Letter on Phylogenetic Aspects of Schizophrenia,
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70.A Bioanthropological Overview of Addiction,
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Washington, D.C., 1980.
71.Comment on Sapienization and Speech (Grover
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Dec. 1980.
72.Encyclopedia of Psychology, Prof. Arnold and
Hans Eysenck, eds.
Bücher von und mit Doris F. Jonas
1. Doris F. Jonas, (1969): Untersuchungen zu den
Komödien von Philippe Néricault Destouches,
Dissertation: Phil.Fak. d. Univ.Köln, 344 S., OCLC
Nummer: 604624580, Köln: Kleikamp
2. Jonas, A. D., Klein, D. F. (1970): Man-child, A
study of the infantilization of man, – New York,
Düsseldorf: McGraw-Hill, in japanisch 1984:
Man chairudo: ningen yōchika no kōzō, Tokyo :
Takeuchi Shoten Shinsha.
3. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1973): Alpha Eridani,
unveröffentlichtes Manuskript über anthropologische Studien in der Berberregion in Marokko
Idiolekta 1/2012
4. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1973): Young Till We
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5. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1974): Sex and Status,
London: Hodder and Stoughton, auch: (1982):
Das Leittier – Sex u. Status im Geschäfts- u. Gesellschaftsleben, Zürich: Schweizer Verlagshaus,
in spanisch (1977): Sexo y status : influencia de la
sexualidad en la jerarquia social, Barcelona, Luis
de Caralt
6. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1974): The Price of
Pride – Medical Dimensions, New York
7. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1976): Other Senses,
Other Worlds, New York: Stein and Day, deutsch
(1977): Die Außerirdischen – Intelligenz auf fremden Sternen, Zürich: Schweizer Verl.-Haus
8. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1977): Signale der Urzeit – Archaische Mechanismen in Medizin u. Psychologie, Stuttgart: Hippokrates-Verl., Neuauflage
2008: Würzburg, Huttenscher Verlag 507
9. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1979): Das erste Wort
– wie die Menschen sprechen lernten, Hamburg:
Hoffmann und Campe
10.Fester, R., König, M.E.P., Jonas, D.F., Jonas A. D.
(1980): Weib und Macht – Fünf Millionen Jahre
Urgeschichte der Frau, Frankfurt a.M.: Fischer
11.Jonas, A. D., Jonas, D. F., Fester, R., (1980): Kinder
der Höhle – Die steinzeitl. Prägung d. Menschen,
München: Kösel
12.Jonas, D.F. (1980): Der überschätzte Mann. München: Kösel
Der Autor:
Peter Winkler, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Supervisor (BDP).
Verheiratet, zwei Kinder. Lebt in Stuttgart. Studium der Psychologie an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg, seit 1989
tätig an einer innerbetrieblichen psychosozialen Beratungsstelle
für Mitarbeiter und Führungskräfte. Therapeutische und beraterische Ausbildungen in Idiolektischer Kurzzeittherapie, systemischer
Therapie, Positiver Psychotherapie, Weiterbildungen zum Organisationsberater, Konfliktberater und ADS-Coach und in Psychotraumatologie.
Seit 1998 Vorstands- (– 2010), Dozenten- und Supervisorentätigkeit bei der Gesellschaft für Idiolektik und Gesprächsführung (GIG),
Dozenten- und Supervisorentätigkeit bei der Internationalen Akademie für positive Psychotherapie (IAPP).
Themenschwerpunkte: Psychosomatik, Konfliktmoderation, Coaching/Supervision, Ressourcenorientierte Arbeit mit Sucht und
psychischen Erkrankungen, Betriebliche Ansätze zu psychosozialen und Gesundheitsthemen, Interventionsmethodik und Therapieforschung, Evolutionäre Ansätze in den Humanwissenschaften,
verschiedene Veröffentlichungen und Konferenzbeiträge.
15
Kommentare
Dean Falk
Reinhold Becker
Gedanken zum inspirierenden Leben
der Evolutionsforscherin Doris F. Jonas
(1916–2002)
Ja, ja, die Vergessenen! Winkler bringt eine
Fülle von bisher unbekannt gebliebenem biographischen Material über die also Erinnerte
(1916–2002) und zu ihrem Mann, A. D. Jonas
(1913–1985), der in Wien studierte und im deutschen Sprachraum, gemeinsam mit seiner Frau,
dort und in Würzburg Spuren hinterließ.
Beider Anliegen: Der evolutionäre Ansatz in der
Psychologie und der Medizin. Das Ergebnis:
Eine Fülle von Monographien und wissenschaftlichen Beiträgen zum Thema, vorwiegend in den
70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts!
Beider Früchte kulminierten in dem evolutionären psychotherapeutischen Ansatz von A. D. Jonas, der in dem erst kürzlich von Winkler (2010)
herausgegebenen Werk Eigensprache seinen posthumen Niederschlag fand.
Eine Parallele: Der deutsche Nervenarzt Hans
Lungwitz (1881–1967), dessen fundamentales
psychologisches Werk (Lehrbuch der Psychobiologie) ebenfalls den evolutionären Ansatz in
der Psychologie und der Medizin verfolgt („Erkenntnistheorie für Nervöse“, Erstauflage 1932)
und dessen sprachbiologisches Hauptwerk erst
jüngst erstmals in geschlossener Form erschienen ist (H. Lungwitz: Die Psychobiologie der
Sprache, 3. Auflage, Thieme 2010).
Winklers Verdienst: ein Stück Erinnerungskultur auf dem Fachgebiet neu herausgegeben zu
haben! Doch das ist mehr als nur ein geschichtlicher Beitrag.
Dr. Reinhold Becker Herausgeber von H. Lungwitz: Die
Psychobiologie der Sprache
Idiolekta 1/2012
Nur wenige Frauen haben bisher Anerkennung
als Vorreiterinnen auf dem Gebiet der evolutionären Wissenschaften gefunden. So ist zum
Beispiel Mary Anning (1799–1847) mit ihrer
Sammlung von Fossilien die einzige Frau, die in
modernen Lehrbüchern der biologischen Anthropologie in den Kapiteln über die Anfänge der
Evolutionstheorie regelmäßig Erwähnung findet (siehe z. B. Jurmain, Kilgore und Trevathan,
2011). Aus diesem Grund ist es sehr inspirierend,
etwas über das Leben und den Werdegang von
Doris F. Jonas zu erfahren, die gemeinsam mit
ihrem Mann David Jonas zahlreiche bahnbrechende Ansätze auf dem Gebiet der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin
veröffentlichte (Winkler, 2012). (Für eine Aufstellung der verschiedenen Publikationen von
Doris und David Jonas siehe Winkler [2012]).
Unter anderem forschte und schrieb Doris Jonas
über die Anthropologie und Evolution des Alterns, menschliches Sexualverhalten, psychische
und psychosomatische Krankheiten, Wachstum
und Entwicklung und die Entstehung von Sprache. Was dieses letztgenannte Thema betrifft,
war sie mit ihren Beobachtungen hinsichtlich
der Rolle der Mutter-Kind-Bindung bei der
Sprachentstehung ihrer Zeit weit voraus.
Offensichtlich zeichnete Doris Jonas ein auffallend lebhaftes Interesse an der Natur aus, dem
sie nachging und über das sie schrieb, ohne
eine entsprechende Ausbildung zu haben. Erst
nachdem sie als Autorin wissenschaftlicher Arbeiten wahrgenommen wurde, erhielt sie 1982
einen Magistergrad in sozialer Anthropologie an
der Universität von London, der ihr verliehen
wurde, ohne dass sie zuvor einen Bachelor-Grad
erhalten hatte (Winkler 2012). Ihre leidenschaftlich verfolgten intellektuellen Interessen waren
der Ausgleich für mehrere Ehen und das Mutterdasein. Wie Winkler schreibt, versuchte „Doris
16
 Kommentare
das typische Leben einer 50er Jahre Hausfrau“ zu
führen. Genau zu dieser Zeit zeigte „The Adventures of Ozzie and Harriet“ (eine amerikanische
Kult-Sitcom der 50er und 60er Jahre) was Frauen
vom Leben zu erwarten hatte – nämlich Hausfrau
und Mutter zu werden, die ihre Befriedigung aus
dem beruflichen Erfolg ihres Ehemannes und der
Kindererziehung bezog. Ganz sicher verfolgten
sie keine eigenen intellektuellen Interessen und
strebten keine wissenschaftliche Karriere an.
Dass Doris Jonas unter diesen Umständen als
akademische Forscherin und Autorin erfolgreich
war, ist umso bemerkenswerter. Die Tatsache, dass
sie in ihren späteren Jahren immer häufiger das
Gefühl hatte, ihre Arbeit sei nicht ausreichend
gewürdigt worden und dass (ihr Exmann) David
ihre gemeinsamen Ideen als „die seinen ausgegeben“ hatte (Winkler 2012), ist traurig, aber nicht
überraschend.
Zweifellos war Doris Jonas eine außergewöhnliche Frau und eine Evolutionswissenschaftlerin.
Es ist, nebenbei bemerkt, interessant, dass eine
weitere Wissenschaftlerin, die weniger als zwei
Jahrzehnte nach Doris Jonas geboren wurde,
die weltberühmte Schimpansenforscherin Jane
Goodall (*1934), bei der leidenschaftlichen Verfolgung ihrer wissenschaftlichen Interessen auf
dem Gebiet der Zoologie und der Evolution einen
ähnlichen Weg nahm und einen hohen akademischen Grad einer britischen Universität erhielt,
nachdem ihre Veröffentlichungen Anerkennung
gefunden hatten und zwar ohne dass ihr zuvor
ein Bachelor­grad verliehen worden war (nämlich
der Doktortitel, verliehen von der Universität
Cambridge 1965). Auch sie war mehrmals verheiratet und hat ein Kind. Für alle angehenden
Forscherinnen sollten Frauen wie Doris Jonas
und Jane Goodall daher eine Inspiration sein. Sie
verfolgten ihre intellektuellen Interessen äußerst
zielstrebig, wobei sie sich ihr Wissen zu einem
großen Teil selbst aneigneten, wurden schließlich verdientermaßen mit akademischen Graden
ausgezeichnet und schafften es dabei auch noch,
sich um ihre Familien zu kümmern. Also, dann
können Sie das auch!
Idiolekta 1/2012
Literatur:
Jurmain, R., Kilgore, L., Trevathan, W. (2011): Essentials of Physical Anthropology, 8th edition. United
States: Wadsworth CENGAGE Learning.
Winkler, P. (2012): Doris F. Jonas – a pioneer of evolutionary anthropology, psychology and medicine – A
historical contribution.
Englischsprachiger Original-Kommentar von Dean
Falk auf: http://deanfalk.com/human-brain-evolution-what-fossils-tell-as/
Prof. Dean Falk ist Professorin für Anthropologie an der
Hale G. Smith Florida State Universität und Senior Scholar
an der School for Advanced Research, Santa Fe, New Mexico.
U. a. Autorin von: „Finding Our Tongues: Mothers, Infants,
and the Origins of Language“ deutsch: „Wie die Menschheit zur Sprache fand: Mütter, Kinder und der Ursprung des
Sprechens“
Wolfgang Ittner
Als direkter Schüler von A. D. Jonas arbeite ich
tagtäglich in meiner Beratungspraxis mit dem
Themenschwerpunkt „Coaching bei Beziehungsschwierigkeiten“, mit den Konzepten der archaischen Relikte von Doris F. und A. D. Jonas.
Vor allem die Verknüpfungen, die Jonas und
Jonas zwischen dem Faktor Status und Sex/Attraktivität untersucht haben (siehe Jonas, Jonas
Sex und Status), werfen ein erhellendes Licht auf
die Beziehungsdynamik und die notwendigen
Schritte, die man (Mann) machen muss, um für
den Partner wieder attraktiv zu erscheinen. Viele
Paar- und Beziehungsforscher übersehen die Relevanz, die diese archaischen Mechanismen auch
in modernen Zeiten immer noch haben.
Jonas und Jonas waren im wahrsten Sinne Pioniere des evolutionären Ansatzes in Psychologie und
Medizin. Von daher freue ich mich, dass an dieser Stelle die Bedeutung auch von Doris F. Jonas
für ihren lange vernachlässigten Anteil an dem
Konzept der archaischen Relikte gewürdigt wird.
Wolfgang Ittner (Dipl.-Biologe) Autor des Online-Buchs
„Partner weg“, http://www.beziehungsdoktor.de
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 Kommentare
Sven Karsten Peters
Gunther Schmidt
Die heutige Arbeit – und gerade die Vorgaben
aus Politik und Kassen – bewirkt bei Spezialisten
für Gesundheit, wie bei mir als Kardiologen im
Krankenhaus, sich von der Kunst der menschlichen Gesprächsführung weg mehr und mehr
in die technokratische Richtung drängen zu lassen. Ich halte es für wichtig, gerade durch „alte“
wissenschaftliche Arbeiten, die durch die Zeitlosigkeit ihrer Erkenntnisse frischer und aktueller
wirken als manche neue Studie, auf elementare
Bestandteile des ärztlichen Tuns, der Gesprächsführung hinzuweisen. Ohne dieses Wissen, wo
ich als Arzt meinen Patienten als Individuum
abzuholen habe – und wie ich mich auch selbst
verhalte – werde ich nicht erleben, dass sich ein
Patient seine kardiale Krankheit „zu Herzen
nimmt“.
Ich freue mich sehr, dass mit diesem Artikel den
aus meiner Sicht so außerordentlich verdienstvollen und wichtigen Arbeiten von Doris F. Jonas und A. David Jonas eine längst überfällige
und sehr angemessene Würdigung erteilt wird.
Sehr erfreulich finde ich dabei auch, dass gerade
die Arbeit von Doris F. Jonas eigenständige Anerkennung findet.
Dr. Sven Karsten Peters, Autor von „Rudolf Bilz (1898–
1976): Leben und Wirken in der Medizinischen Psychologie“
Joachim Schaffer-Suchomel
In einer höchst spannenden Grafik werden die
von Jonas und Jonas entdeckten archaische Relikte und deren Entsprechungen in organsprachlichen Redewendungen aufgezeigt. Wir greifen
z. B. in Notsituationen auf Reflexe zurück: Wenn
wir „Schiss bekommen“, entleeren wir uns zur
besseren Flucht. Oder „wir erstarren“, wenn
eine Flucht nicht mehr möglich ist. In diesem
Fall werden muskuläre Fluchtimpulse gehemmt.
Solche Schlüsselworte und Schlüsselsätze sind
aufschlussreich, sie öffnen die Sicht auf die Befindlichkeit eines Menschen. Einem Patienten,
der dank seiner Sprache in seiner Befindlichkeit
vom Therapeuten gefunden wird, kann durch
diese Ortung überhaupt erst geholfen werden.
Joachim Schaffer-Suchomel, Autor u. a. von „Du bist was
Du sagst” www.brainfresh.net
Idiolekta 1/2012
Die Arbeiten von beiden haben – gerade auch
für das Feld der Psychotherapie – viele wichtige
und sehr wertvolle neue Perspektiven erbracht,
die leider noch immer in ihrer grundlegenden
Bedeutung oft viel zu wenig verstanden und beachtet werden. Ich halte ihre evolutions- und sozio-biologisch orientierten Forschungen für sehr
bedeutsame Pionierleistungen, die viele Chancen
für Kompetenz-aktivierende und Ressourcenorientierte Psychotherapie eröffnen, die es ohne
sie so nicht gäbe. Sie ermöglichen, dass endlich
viele Phänomene so z. B. auch Symptome, die in
unserem üblichen psycho- und sozio-kulturellen
Kontext und in den traditionellen MainstreamPsychotherapie-Konzepten als sinnlos, krank,
als Zeichen ausschließlicher Inkompetenz angesehen werden, in ihren ursprünglichen SinnKontext gestellt werden können. So kann endlich
verstanden werden, in welch oft faszinierender
Weise sie als in ihrem relevanten Kontext kluge
Leistungen wirken und welch kompetente und
effektive Lösungsversuche im Verlauf der Evolution sie darstellen.
Durch diese sehr differenzierten Betrachtungen evolutionärer Zusammenhänge konnten
sie entscheidende Querverbindungen schaffen, um bisher meist abgewertete Aspekte des
Erlebens und Verhaltens von Menschen in
neue, hilfreiche Bewertungs-und BedeutungsRahmen stellen zu können. Die außerordentlich wichtige Bereicherung, die sich dadurch
gerade für die Bereiche der Psychotherapie, der
Psychosomatik und Beratung ergeben, kann
man nicht hoch genug einschätzen. Denn sie
18
 Kommentare
tragen so zu Kraft gebenden und ermutigenden
Chancen bei, um Klienten wieder ein Erleben
von mehr Würde und Kompetenz zu ermöglichen und die wertvollen Bedürfnisse, die sich
selbst hinter noch so bizarr anmutenden Reaktionen verbergen, verstehbar zu machen und
gesunde Erfolgsstrategien zu entwickeln, um
diesen Bedürfnissen besser gerecht zu werden.
Und darüber hinaus sind alle ihre Arbeiten geprägt von immer achtungsvoller Neugier und
dem Respekt vor der Einzigartigkeit der jeweiligen Eigenwelt von Individuen. So tragen sie
in wohltuender Weise zu einer Haltung multikultureller Toleranz und bereichernder KoExistenz bei, die fundamentalistischen „Normen-Imperialismus“ transzendiert und die wir
gerade in unserer Zeit als notwendige Basis konstruktiven Zusammenlebens im „global village“
unbedingt brauchen. Insofern sind die Arbeiten
sowohl von Doris Jonas als auch von A. David
Jonas vielleicht aktueller als je.
Dr. med. Dipl. rer. pol. Gunther Schmidt, Ärztlicher Direktor der SysTelios-Klinik für psychosomatische Gesundheit
Siedelsbrunn und Leiter des Milton-Erickson-Instituts Heidelberg. Autor u. a. von „Liebesaffären zwischen Problem
und Lösung. Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen
Kontexten“
Wenda Trevathan
Da ich bereits zahlreiche geschichtliche Über­
blicke auf dem Gebiet der Evolutionären Medizin aus anthropologischer Sicht verfasst habe,
war es mir eine Freude, Doris Jonas und ihren
Beitrag auf diesem Gebiet kennenzulernen,
wenngleich ich ein wenig beschämt bin, dass ich
bisher nicht mit ihrer Arbeit vertraut war. Es ist
durchaus möglich, dass es noch weitere Wissenschaftler gibt, die, wie Doris, Arbeiten zu dem
verfasst haben, was wir heute als Evolutionäre
Medizin bezeichnen, deren Schriften aber nicht
für uns zugänglich sind. Dank Peter Winklers
sorgfältiger Recherche können wir Doris Jonas
nun in die Reihen der „Mütter“ der EvolutionäIdiolekta 1/2012
ren Medizin aufnehmen, deren Werk wir nicht
länger ignorieren können.
Dr. Wenda Trevathan ist biologische Antropologin an der
Universität von Colorado-Boulder, Autorin u. a. von “Evolu­
tionary Medicine and Health: New Perspectives”. (Trevathan,
W. R., E. O. Smith, J. J. McKenna (Eds.) )
Luzie Verbeek
Frauen als Wissenschaftlerinnen finden zunehmend die Aufmerksamkeit in geschichtlichen
Beiträgen. Den Mehrwert sehe ich weniger in
einer „posthumen Gerechtigkeit“ als in einer veränderten Perspektive, Erkenntnisse und deren
Entwicklung neu zu betrachten. Die Reflektion
darüber, wie Ideen entstehen, könnte mit solchen
Beiträgen auch das Bild über derzeitige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beeinflussen.
Meilensteine in der Wissenschaft wurden zum
Teil durch Frauen ermöglicht, ohne dass dies
explizit Erwähnung fand (vergl. z. B. auch Lück:
Geschichte der Psychologie).
Peter Winkler stellt in diesem Artikel den Werdegang von Doris F. Jonas dar. Ihre Beiträge für
den evolutionär wissenschaftlichen Diskurs werden aufgezählt und machen neugierig auf eine
Vertiefung; detailliert beschrieben wird ihre akademische Laufbahn im familiären und geschichtlichen Kontext.
In dieser „Kasuistik“ nimmt Peter Winkler auch
Bezug auf Jane Goodall. Beide Frauen leisteten
bereits einen Großteil ihrer Forschungsarbeit vor
ihrer formalen akademischen Ausbildung. Die zu
vermutende sehr hohe intrinsische Motivation
sowie die fehlende klassische universitäre Bildung wirkten in dieser Kombination vielleicht
sogar begünstigend auf die Erkenntnisgewinne
dieser Frauen. Die autodidaktische oder unkonventionelle Ausbildung verschonte sie weitgehend von vorgefertigten Wahrheiten (Dogmen)
und vor den Denkschranken einer „scientific
community“. Von Frauen erwartet(e) man tendenziell weniger wissenschaftliche Beiträge. Sie
waren daher zunächst auch keinem hohen Erwar19
 Kommentare
tungsdruck ausgesetzt. Möglicherweise lässt sich
hieraus eine Konstellation erkennen, die innovative Ideen regelhaft begünstigte.
Diese fragliche Form der „Begünstigung“ soll jedoch nicht über die Tragik in Doris Jonas Leben
hinwegtäuschen, die Peter Winkler mehrfach hervorhebt. Die Ablehnung trotz Nachfrage seitens
der Gesellschaft für Idiolektik und Gesprächsführung, weiter wissenschaftlich zu arbeiten, deutet
darauf hin, dass sich Doris Jonas der akademischen Welt nicht zugehörig fühlte und mit ihrem
Werdegang haderte. An anderer Stelle schreibt
Peter Winkler: „Zudem fand sie wohl, dass das
Leben als Autorin ein zu einsames sei und widmete sich nun lieber ihren familiären Kontakten“.
Ich finde bedauerlich, dass es immer noch bemerkenswert ist, wenn auch Frauen sowohl ein akademisches und berufliches Zuhause als auch ein
erfülltes Familienleben verwirklichen. Geschichtliche Beiträge in Form von Fallbeispielen wie der
von Peter Winkler gehen über einen informativen
Charakter hinaus, da sich mit der Anerkennung
wissenschaftlicher Leistungen von Frauen und
„Titellosen“ in der Vergangenheit auch die Anerkennung in der Gegenwart ändern könnte.
Dr. med. Luzie Verbeek, Autorin von „Darwinische Medizin – Evolutionsbiologie in Gesundheit und Wissenschaft“
Günther Witzany
Das Lebenswerk der vorgestellten Autorin Doris
Jonas beschäftigt sich mit evolutionärer Anthropologie, Psychologie und Medizin. Bei Termini
wie „Evolutionäre Psychologie“ und „Evolutionäre Medizin“ stellt sich die Frage nach dem
dahinter liegenden Evolutionsbegriff. Ist es die
darwinistische Evolution (Variation und Selektion) oder eine neo-darwinistische Evolution
(Mutation als Ursache von Variation) oder eine
post-darwinistische Evolution (Variation als Ergebnis natürlicher Gentechnik bzw. als Ergebnis
kompetenter genetischer Textbearbeitung).
Der Rekurs des Artikels auf die frühe VerhaltensIdiolekta 1/2012
forschung (bei einigen Vertretern in der Nähe zur
nationalsozialistischen Rassenideologie) stellt die
Frage, ob diese Zweige auch evolutionistisch bzw.
biologistisch konzipiert sind, oder aber mechanistisch bzw. reduktionistisch. Die Frage ist auch:
haben diese Richtungen etwas mit der evolutionären Erkenntnistheorie zu tun?
Die Untersuchungen zur Menschwerdung durch
das Ehepaar Jonas kommen zur Sprache, aber auch
die Gründung der Idiolektik. Hierbei tut sich die
Frage auf, wie diese Methode bei Gehörlosen
und ihrer Muttersprache, der Gebärdensprache,
zur Anwendung kommen würde. Jedenfalls dürfte diese Methode sehr effizient sein, sonst hätte
nicht Erwin Ringel A. D. Jonas nach Wien geholt.
Ich kannte Erwin Ringel und schätze ihn sehr.
Vielleicht hätte am Anfang des Beitrages eine
klare und kurze Definition, was man heute unter
evolutionärem Ansatz versteht, gut getan. Die Erwähnung von R. Dawkins ist da nicht hilfreich,
weil man seine Schriften weniger als wissenschaftlich denn als ideologisch bezeichnen muss.
Die Evolution von den großen Menschenaffen
zum Menschen war ja auch nicht das Ergebnis von
zufälligen Mutationen, sondern von massiven retroviralen Besiedelungsschüben, so wie das ganze
menschliche Genom durch zig-tausende sesshafte
Retroviren besiedelt ist, die die Ablesung der Gene
regulieren. Nicht anders ist das anpassbare Immunsystem (zuerst bei den Knorpelfischen) entstanden oder die Evolution der Säugetiere (das
retroviral codierte Syncytin schützt den Embryo
vor dem Immunsystem der Mutter). Dies führt zu
der zentralen Rolle von Viren bei der Evolution
praktisch aller Lebewesen sowie zu den Folgen,
die eintreten, wenn diese sesshaften viralen Genregulatoren außer Gleichgewicht geraten und zu
Krankheiten führen (z. B. bei Schizophrenie).
Dr. Günther Witzany studierte Philosophie, Politikwissenschaft und Moraltheologie in Salzburg und München. Er begründete den biokommunikativen Ansatz in der Biologie,
der Kommunikationsprozesse zwischen Zellen, Geweben,
Organen und Organismen untersucht und genetische Prozesse als Ergebnis kompetenter Textbearbeitung betrachtet.
Autor von „Biokommunikation und natürliche Bearbeitung
genetischer Texte: Die Anwendung der sprachpragmatischen Philosophie der Biologie“
20
Hans Hermann Ehrat
Archaische Relikte in der Psychosomatik
Die* von D. F. Jonas und A. D. Jonas beschriebenen „archaischen Relikte“ sind Paradebeispiele
für Störungen, die wir als psychosomatisch bezeichnen.
Bei diesen archaischen Relikten handelt es sich
um körperliche Phänomene (Symptome), die in
früherer evolutionärer Zeit eine adaptive Funktion hatten und heute von uns – ohne Kenntnis der Zusammenhänge – als Erkrankungen
bezeichnet werden. Diese körperlichen Phänomene werden von einem Generatorsystem im
Mittelhirn gesteuert. Auf gegebenen neuronalen
Bahnen werden Impulse von dort zu den Zielorganen geleitet, die in adaptiver Weise – im Sinne
einer Überlebenssicherung – eine entsprechende
Reak­tion zeigen. Die entstehenden „Erkrankungen“ sind im wahrsten Sinne des Wortes eben
keine Erkrankungen, sondern sinnvolle und
überlebenssichernde körperliche Maßnahmen.
Unter diesem Aspekt fallen Verstehen von und
Verständnis für ganz bestimmte körperliche oder
psychosomatische Symptome leicht. Wird in der
Behandlungssituation für den betroffenen Patienten deutlich, dass der Arzt die zugrunde liegenden Zusammenhänge versteht, ist der wichtigste
therapeutische Schritt bereits erfolgt. Anerkennung und Würdigung körperlicher Phänomene
als eine Leistung des Organismus entspricht einem Paradigmenwechsel, in dem die „vorgetragenen körperlichen Phänomene“ (Symptome)
als sinnvoll und auch notwendig verstanden
werden. Insofern gilt:
* Der Abdruck des vorliegenden Textes, der aus
dem Buch Schlüsselworte entnommen ist, erfolgt mit
freundlicher Genehmigung des Carl Auer Verlages,
bei dem wir uns herzlich bedanken.
Alle Rechte dieses Textes liegen beim Carl Auer Verlag. (RED)
Idiolekta 1/2012
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Ist die „körperliche Botschaft“ verstanden worden, braucht sie nicht wiederholt zu werden.
Ist eine „verbale Botschaft“ verstanden worden, braucht sie nicht wiederholt zu werden.
Körperliche und verbale Mitteilungen sind –
so betrachtet – als gleichwertige zu bezeichnen.
Bei psychogenen somatischen Erkrankungen, die
sich nicht im Katalog der archaischen Relikte befinden, sind die Zusammenhänge zwischen auslösenden Faktoren und der „somatischen Antwort“
oftmals nicht so leicht zu erkennen. Hier kann zukünftige Forschung noch hilfreiche Beiträge leisten, um den bestehenden Katalog archaischer Relikte zu erweitern. In Kenntnis der Mechanismen
der archaischen Relikte fällt es aber leicht, den Patienten zu vermitteln, dass ihr Organismus „gute
Gründe“ hat, so und nicht anders zu reagieren. In
der praktischen Arbeit ist genau dieser Hinweis
oft schon ausreichend dafür, eine Entlastung zu
erzielen. Mit einem solchen Hinweis wird quasi
ohne genaue Kenntnis der Zusammenhänge deutlich gemacht, dass Verstehen und Verständnis das
Leitmotiv der Begegnung mit betroffenen Patienten ist. Häufig lässt sich beobachten, dass der
Patient auf die provokative Äußerung, dass sein
Körper bzw. er selber sicher gute Gründe habe,
sich so und nicht anders zu verhalten, die Zusammenhänge zwischen auslösenden Momenten und
den beklagten körperlichen Phänomenen selbst
herstellt. Daraus ergibt sich die Hypothese, dass
der Zielorgankatalog und damit auch das Repertoire archaischer Relikte umfassender sein muss
als von Doris F. Jonas und A. D. Jonas beschrieben. Diese Erkenntnisse sind gewissermaßen der
biologische Hintergrund eines einschneidenden
Paradigmenwechsels, indem psychosomatische
Erkrankungen primär keine Störungen, sondern
21
Hans Hermann Ehrat: Archaische Relikte in der Psychosomatik
Ausdrucksformen unseres Organismus im Sinne
der Überlebenssicherung sind.
Bei dieser Art und Weise der Betrachtung körperlicher Phänomene (Symptome) wird leicht verständlich, dass Bekämpfung dieser Symptome im
konventionellen Sinne ein grandioses Verwirrspiel
der Wahrnehmungen anrichten kann. Dies wiederum führt dann auch oft zu einer deutlicheren
Ausprägung der vorhandenen Symptome. Zum
Beispiel Patienten mit Herzrasen, die nach einer
eingehenden klinischen Untersuchung erfahren,
es fehle ihnen nichts, antworten sehr oft mit einem
um ein Mehrfaches ausgeprägten „Krankheitsbild“. Die logische, medizinisch nicht widerlegbare und vermeintlich „beste“ Auskunft nimmt
der betroffene Organismus als Abwertung und als
maximale Verständnislosigkeit auf. Es bleibt nur
eine Möglichkeit, nämlich lauter zu schreien – das
heißt, die Symptome zu verstärken.
In diesem Kapitel geht es um die Frage, welche
Bedeutung der „idiolektischen Gesprächsführung“ im Verständnis und in der Behandlung
psychosomatischer Erkrankungen zuzuschreiben
ist. Ärzte – ausgebildet in Technik und Methodik
dieser Gesprächsführungsform – haben eine andere Art des Zugangs zu Patienten. Hinausgehend
über logisch-abstrakte Erklärungen, Messwerte
und andere objektivierbare Daten, tritt hier eine
besondere Anamneseform in den Vordergrund,
die am ehesten mit einer dialogischen Begegnung
verglichen werden kann. Allererste Voraussetzung
zu dialogischem Verhalten ist die Bereitschaft,
sich auf das Hier und Jetzt des Gesprächspartners,
auf seine Einzigartigkeit einzulassen. In einem
solchen Setting sind für jeden Gesprächsleiter
plötzlich ganz bestimmte, vom Gesprächspartner
benutzte Begriffe hörbar, die er für sich dann als
Schlüsselworte bezeichnet. Diese Schlüsselworte,
die nach ganz bestimmten Vorgaben ausgewählt
werden, sind die Eingangspforte zu einem ganz
wesentlichen Phänomen menschlicher Beziehung.
Sie ermöglichen die Entstehung eines sogenannten Resonanzphänomens – nach A. D. Jonas der
entscheidende Faktor eines Gespräches an sich.
Idiolekta 1/2012
Resonanz drückt Beziehung aus, und Beziehung
besteht deswegen, weil die benutzten Schlüsselworte für beide Gesprächspartner in direkter Beziehung zu ihrem jeweiligen Kontext stehen.
Schlüsselworte sind also gewissermaßen „Zauberworte, die die Welt zum Klingen bringen“.
Resonanz hat also mit der besonderen Art der
sprachlichen Klangwelt zu tun, die oft festgefahrene, meist intellektuelle Konzepte zu lockern vermag, um sie im besten Sinne infrage
zu stellen. Die Klangwelt der Sprache und die
entstandene Resonanz berühren Stellen der Individualität.
Sie bringen Freude über und Stolz auf das Selbst
ans Licht – eine vitalisierende Form des Selbstbewusstseins. Die Beteiligten – Kranke und Behandler – stehen gleichermaßen im Kraftfeld solcher
Interaktion. Beide sind unterwegs und machen
Erfahrungen, die angedeutet und umschrieben
werden können mit der Erfahrung zweier Bergwanderer. Die Worte, die auf einer Bergwanderung gewechselt werden, sind nur wenige, und
oft sind sie banal, die transportierte Kraft und
Qualität heißt: „Auf diesem Wege ist es für mich
wichtig, dass du mit mir bist und ich deine Zuverlässigkeit bei jedem neuen Schritt wieder erfahre.“ Wenn man am Gipfel angekommen ist, stellt
sich eine Empfindung von unbeschreiblicher Intensität ein – die Nachwirkungen sind körperliche
Leichtigkeit und ein fröhliches Herz.
Unter dieser Voraussetzung werden Einblicke
in eine heile Welt möglich – der Betroffene als
Experte seiner Situation spürt, wo eigene Kräfte
vorhanden und wie sie einzusetzen sind. Dieses
Spüren bezeichnet ein Etwas, das vom inneren
Leben, dem ganz Eigenen eines Menschen entgegenkommt und eine Ahnung weckt, wie viel
mehr es geben muss als das, was wir mit unseren
Sinnen wahrzunehmen vermögen und auf das die
Sehnsucht des Menschen gerichtet ist.
Diese beschriebene Denkweise ist eine ganz besondere Form der Salutogenese, eine Möglichkeit
für den Organismus zur Selbsthilfe. Diese Denkweise ermöglicht auch auf besondere Weise das
Verständnis für die Thematik der Salutogenese
22
Hans Hermann Ehrat: Archaische Relikte in der Psychosomatik
schlechthin – ein viel benutzter Begriff wird
plötzlich verständlich und greifbar. Sie nimmt
den Behandler (Berater) in einer ganz besonderen Art und Weise in die Pflicht, weckt seinen
Respekt vor jedem einzelnen Individuum, ist
lehrreich für Kenntnis und Wissen über Verantwortung. Wie weitab eine solche Art und Weise
des Zugangs zum Leiden eines Menschen von
der aktuell praktizierten liegt, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Zur praktischen Erläuterung dieses „neuen“ medizinischen Denkens
und Handelns soll der aufgeführte Symptomenkatalog Orientierungshilfe für die praktische
Arbeit sein. Es würde den Rahmen dieses Artikels bei weitem überschreiten, wenn sämtliche,
z. B. auch bei Jonas und Jonas beschriebenen
archaischen Relikte, als Grundlage für Adaptationsprozesse hier abgehandelt würden. Der
vorliegende Katalog bietet eine Auswahl häufig
anzutreffender Phänomene.
Für das weitere Studium werden vor allem die
Arbeiten von Jonas und Jonas (1971, 1974a,
1974b, 1977, 1985) empfohlen.
Symptomenkatalog im Bereich verschiedener
Organsysteme
1. Sinnesorgane
2. Herz-Kreislauf-Organe
3. Atemorgane
4. Verdauungsorgane
5. Bewegungsapparat
6. Hauterkrankungen
7. einige psychiatrische Krankheitsbilder und
ihre archaischen Wurzeln.
Sinnesorgane
Der Vestibularapparat (Gleichgewichts­
apparat)
In der Praxis des niedergelassenen Allgemeinarztes sind sehr oft Patienten anzutreffen, die über
hartnäckige Schwindelanfälle klagen. Die körperlichen Untersuchungen zeigen in über 50 % der
Fälle keine Hinweise zur Erklärung der beklagIdiolekta 1/2012
ten Beschwerden. Das bekannte Menière-Syndrom – wohl das bestbeschriebene Krankheitsbild aller „Schwindelerkrankungen“, bestehend
aus der Symptomtrilogie: 1. akut auftretende
Hörminderung, 2. Schwindel, 3. Ohrgeräusch
(Tinnitus) – entsteht durch eine Reizung des
Innenohrs, das sich aus dem Bogengangsystem
(Gleichgewicht) und der Schnecke (Hörfähigkeit) zusammensetzt. Es existieren nur angedeutet Vorstellungen, wie es zu diesem Reizzustand
kommen kann. Die Gleichgewichtssicherung,
die wesentliche Leistung des Vestibularapparates, wird einerseits durch optische Impulse und
andererseits durch Impulsvermittlung aus den
Bogengängen erreicht.
Primaten, bei ihrer Vorwärtsbewegung oft von
Baum zu Baum springend, schätzen (optisch)
vor jedem Sprung die zu überwindende Distanz ein. Wird diese Distanz als unüberwindlich oder fraglich überwindlich eingeschätzt,
setzt als Warnsignal Schwindel ein, der beabsichtigte Sprung wird durch ein eindringliches
Körpersignal (Schwindel) verhindert, d. h., der
Schwindelanfall ist also gewissermaßen eine
überlebenssichernde Maßnahme des Organismus. Dieser Schwindel ist für viele Menschen
eindrücklich nachvollziehbar, wenn sie sich an
hoch gelegenen Orten, z. B. auf hohen Brücken
oder Türmen, aufhalten und hinunterblicken.
Im idiolektischen Gespräch wird bei betroffenen
Patienten oft und rasch deutlich, dass sie sich
aktuellerweise in einer Situation befinden, die
„unübersichtlich“, „unüberschaubar“ ist. Worte
wie die genannten tragen als Hinweise das Distanzthema in sich und weisen auf eine direkte
Anlehnung an die phylogenetisch (entwicklungsgeschichtlich) bekannte Situation von Patienten, die eine Vorwärtsbewegung intendieren.
Dieser Symptomenkomplex tritt immer wieder
bei Menschen auf, die sich in Übergangssituationen befinden. Am ausgeprägtesten sind solche
Schwindelerkrankungen bei Studenten, die, vor
belastenden Examenssituationen stehend, wegen starker Schwindelanfälle nicht mehr in der
Lage sind, vernünftig zu arbeiten und sinnvoll
23
Hans Hermann Ehrat: Archaische Relikte in der Psychosomatik
zu reagieren. (Phylogenetisch gesprochen, hat der
Organismus wahrgenommen, dass vor ihm eine
nicht sicher überwindbare Distanz liegt, so dass
das Alarmsystem „Schwindel“ aktiviert wurde.)
Das vorhandene „Krankheitsbild“ ist unter diesem Aspekt keine Krankheit, sondern unter der
entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung eine
Fähigkeit des Organismus, auf eine ganz bestimmte bedrohliche Situation angemessen und sinnvoll
zu reagieren. In Kenntnis solcher Zusammenhänge ist Verständnis für die vorhandenen körperlichen Phänomene ein Leichtes, wird doch schon in
der Eigensprache des Patienten auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Das vermeintliche Defizit
ist also eine präformierte, überlebenssichernde
Ressource und nicht, wie ursprünglich angenommen, eine Erkrankung.
Die Nase, Nasenschleimhaut
Ein anderes sehr beeindruckendes Sinnesorgan
ist die Nase bzw. die Nasenschleimhaut. Menschen, die in klimatisch kalten Zonen leben,
sind mit dem Phänomen der verstopften Nase
vertraut. Die phylogenetische Bedeutung dieser
Verlegung der oberen Atemwege dient der Regulation des Wärmehaushalts der Organismen. Die
Nasenschleimhaut ist mit einem dichten Geflecht
von Blutgefäßen ausgestattet. Bei niedrigen Umgebungstemperaturen schwillt die Schleimhaut
im Sinne einer vermehrten Durchblutung an, die
ihrerseits die eintretende kühle Luft intensiver
anwärmt, um möglichst wenig kalte Luft in die
Lungen eintreten zu lassen. Interessanterweise
findet sich das gleiche Phänomen bei Menschen,
die – psychologisch gesprochen – einem kalten
menschlichen Klima ausgesetzt sind. Dieses
Sinnesorgan unterscheidet also nicht zwischen
klimatisch bedingter Kaltluft und psychisch bedingter Kälte.
In Kenntnis dieser Tatsache wird auch dieses
körperliche, automatisierte Phänomen zu einer
phylogenetisch begründbaren „Begabung“. Dass
bei der Behandlung solcher „Krankheiten“ neuartige Therapieformen notwendig sind, braucht
Idiolekta 1/2012
in diesem Zusammenhang nicht mehr gesondert
ausgesprochen werden.
Herz-Kreislauf-Organe
Ängste sind letztlich immer verknüpft mit der
Furcht, das Leben zu verlieren. Ängste sind also
auch „Impulsgeber“ für ganz bestimmte körperliche, meist vegetative Phänomene.
Im Mittelpunkt des Lebens steht das „Zentralorgan Herz“. Seine Tätigkeit ist bekanntermaßen
sehr eng verknüpft mit unseren Empfindungen und unseren Ängsten. Nicht von ungefähr
kommt dies in der Sprache – in der Eigensprache,
im Idiolekt der Menschen – zum Ausdruck. Wie
oft hören wir die Aussage: „Das habe ich mir zu
Herzen genommen.“ Dieser Satz schließt nahtlos an die Verbindung zwischen Empfindungen
(z. B. Ängsten) und dem Herzen an. Unter der
oben dargestellten Betrachtungsweise wird ein in
der Allgemeinpraxis häufiges „Krankheitsbild“
sehr rasch verständlich: Besteht Furcht, das Leben zu verlieren, werden aus überlebenssichernden Gründen diejenigen Organsysteme aktiviert,
die für eine allfällige Flucht dringend gebraucht
werden. Dieses Fliehen ist eine Kardinalmöglichkeit für Lebewesen, die Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Die wesentlichen
körperlichen Voraussetzungen für Flucht sind
Blutdrucksteigerung und Erhöhung der Herzfrequenz. Im Extremfall stellt sich eine Phänomenologie ein, die wir üblicherweise als Panikattacke
umschreiben. Wird ein solcher vegetativer und
vor allem automatisierter Vorgang mit logischen
Argumenten kommentiert, fühlt sich der angesprochene Organismus nicht verstanden – es
entsteht ein Verwirrspiel, bei dem dem Organismus meist keine Wahl bleibt, als seine Aussagen
lauter vorzubringen, das heißt, die „Symptome“
treten verstärkt in Erscheinung. Dies geschieht
sehr oft dann, wenn Patienten mit Panikattacken
von den behandelnden Ärzten erfahren, es fehle
ihnen nichts, alle elektrokardiographischen Resultate sowie alle Laborwerte seien unauffällig
bzw. zeigten Normalwerte. Auch die Vorstel24
Hans Hermann Ehrat: Archaische Relikte in der Psychosomatik
lung, die als pathologisch angesehene Herzfrequenzsteigerung könnte mit der gemessenen
Blutdruckerhöhung zusammenhängen, ist sehr
unbefriedigend, weil sehr wahrscheinlich auch
diese Blutdruckerhöhung eine unabdingbare
Voraussetzung für eine erfolgreiche Flucht ist.
Das Wissen über die entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge dieser beschriebenen
Mechanismen befähigt den Behandler, diesen
körperlichen Phänomenen in echt respektvoller Haltung zu begegnen, sie zu würdigen und
damit Verständnis zu vermitteln.
Herzinfarkt als Totstellreflex
Der Totstellreflex ist bei einigen Tierarten verbreitet. Er wird dann ausgelöst, wenn für das Beutetier
keine Möglichkeit der Flucht vor der Bedrohung
des Fressfeindes mehr bleibt. Das Tier erscheint
leblos, selbst wenn es vom Fressfeind untersucht
und angeknabbert wird (die meisten Raubtiere
fressen kein Aas). Dieser Totstellreflex ist dann
möglich, wenn die Blutzufuhr zum Zentralorgan des Lebens, zum Herzen, abrupt gedrosselt
werden kann. Anatomisch ist dies gewährleistet
durch eine ganz bestimmte – nur im Herzen und
im Gehirn vorkommende – Kreislaufkonstellation. Bei diesen beiden Organsystemen befinden
sich sogenannte Endarterien. Dabei handelt es
sich um eine Kreislaufform, die ohne Kollateralen ausgestattet ist. Kollateralen sind Gefäße, die
im Falle von Veränderungen der Durchblutung
(Blutmehranforderung, Durchblutungshindernisse usw.) einen Umgehungskreislauf z. B. zu
unterversorgten Gewebebereichen vornehmen
können. Herz und Hirn sind Organe, die erstaunlicherweise trotz ihrer zentralen Bedeutung nicht
über die erwähnten Kollateralen verfügen. Der
Sinn des endarteriellen Kreislaufs im Gehirn ist
nicht bekannt. Hingegen wird am Herzen deutlich, dass diese Kreislaufanatomie der Funktion
der Totstellreaktion dient. Totstellen – im Tierreich ein umkehrbarer Prozess (z. B. beim Opossum) – kann beim Menschen zum Herzinfarkt
oder zum Sekundenherztod führen. Ein an sich
Idiolekta 1/2012
sinnvoller, dem Überleben dienender Mechanismus kann zu einer lebensgefährdenden Reaktion werden. Die Einsicht in diese Dynamik kann
bei einem überlebten Herzinfarkt in einer therapeutischen und präventiven Nachbearbeitung
zu einem Verständnis der körperlichen Reaktion
in bedrohlichen Situationen helfen. Flucht als
Ausdruck „innerer Weisheit“ – ein Resultat des
Wirkens eines selbst organisierenden Prinzips –
wird somit zu einem verständlichen, selbstverständlichen Phänomen. Damit ist auch der notwendige Respekt – die notwendige Würdigung
körperlicher „Aussagen“ – gewonnen. Aus diesen
Darstellungen wird selbstredend auch einleuchtend, dass eine medikamentöse Behandlung von
Panik­attacken nur eine Linderung der Symptome erzielen kann – der Weg ins Rezidiv ist gewissermaßen vorgezeichnet. Die innovative, avantgardistische Interviewform des idiolektischen
Gespräches kann in idealer Weise die Rezidivhäufigkeit verringern, „weil sein darf (muss), was
ist“. Patienten werden somit die Kenner ihrer
aktuellen Situation, die Experten – sie sind für
logische Argumente nicht erreichbar (immun).
Asthma bronchiale
Hierbei handelt es sich um ein Krankheitsbild,
das an den Behandelnden große Anforderungen
stellt und gleichzeitig in der Praxis des Allgemeinarztes eine häufige Erkrankung darstellt.
Die Unterteilung in allergische, also extrinsisch
Formen einerseits und in intrinsische Formen
andererseits ist für das Anliegen der Psycho­
somatik hilfreich. Bei beiden Formen handelt
es sich um obstruktive Atemwegserkrankungen,
die durch eine eingeschränkte Luftströmung
in den Atemwegen definiert ist. Eine familiäre
Häufung ist bekannt. Mischformen zwischen extrinsischen und intrinsischen Formen sind sehr
viel häufiger als rein extrinsische bzw. intrinsische Formen. Die Atmungsbehinderung macht
sich insbesondere beim Ausatmen bemerkbar,
da der Atemwegsquerschnitt bei der Exspiration
geringer ist als bei der Inspiration. Bei der aller25
Hans Hermann Ehrat: Archaische Relikte in der Psychosomatik
gischen (exogenen) Form des Asthma bronchiale
ist es sinnvoll, nach den auslösenden Faktoren
zu suchen, wie z. B. Pflanzenpollen, Medikamentenunverträglichkeit, Folgen von körperlicher
Anstrengung, Refluxkrankheit usw. Die Allergene lösen eine Entzündung der Bronchialschleimhaut aus. Es entwickeln sich Ödeme sowie eine
Störung der Schleimproduktion in den Bronchien. In der Folge solcher exogen ausgelösten
Bronchialerkrankungen kann eine spastische Verengung der Bronchien beobachtet werden. Dieses
Symptom ist sowohl dem extrinsischen wie auch
dem intrinsischen Asthma bronchiale eigen. Das
intrinsische, funktionelle, nicht allergische Asthma bronchiale beruht sehr oft auf teils bewussten,
teils unbewussten Angstsituationen, in denen die
betroffene Person wenig Chancen erkennt, die
belastende, auslösende Umgebung verlassen zu
können.
Kasuistik: Eine junge Italienerin, die seit vielen
Jahren und zunehmend an invalidisierendem
Asthma bronchiale leidet, erzählt über ihre häusliche Situation: Der Ehemann – wesensverändert
nach der Entfernung eines Hirntumors sowie
aus seiner Grundhaltung als eher despotischer
Mensch heraus – lässt seine Frau kaum zu Wort
kommen. Vielmehr deckt er sie mit Vorwürfen
und Beleidigungen ein. Die Patientin berichtet,
wie sie sich immer mehr in sich zurückzieht und
immer weniger Gelegenheit findet, ihre Sicht der
Dinge darstellen zu können. Der Hinweis seitens des Behandlers, sie habe immer viel mehr
hinnehmen müssen, als sie habe von sich geben
können, lässt die Patientin im wahrsten Sinne des
Wortes »aufatmen«. Dieser Hinweis würdigt und
respektiert ihre Situation – in der Folge kann eine
Abnahme der Asthmaanfälle beobachtet werden.
Sie ahnt, dass „funktionell“ in ihrem Körper
nachgeahmt wird, was ihrer äußeren Situation
entspricht (nämlich nehmen und nehmen und
nehmen und ganz wenig ab- bzw. zurückgeben).
Sie ahnt, dass sie unter den gegebenen Umständen die Notwendigkeit des Ausatmens vernachlässigt. Sie freut sich über die Tatsache, dass ihre
prekäre Situation so deutlich gesehen wird. In der
Idiolekta 1/2012
Folge findet eine Trennung vom Ehemann statt –
ein Vorgang, der für konventionell denkende Italiener außerordentlich ist. Das Beschwerdebild
ändert sich. Es ist anzunehmen, dass die von mir
im Gespräch eingeführte Metapher, nämlich das
Sinnbild des immerwährenden Aufnehmens und
des wenigen Weggebens, einen hilfreichen AhaEffekt ausgelöst hat.
Das Ziel eines eigensprachlich geführten Interviews ist damit vollumfänglich erreicht, zumal der
Aha-Effekt eine Zugangspforte zum „selbst organisierenden Prinzip“, zur „inneren Weisheit“ ist.
Dieses selbst organisierende Prinzip ist, gemäß
den Axiomen zur idiolektischen Gesprächsführung, die einzige Kraft, die Veränderung ermöglicht.
Die Begegnung mit der Sinnhaftigkeit eines körperlichen Phänomens hat eine initiatische Wirkung, weil gewürdigt wird, was die körperliche
Phänomenologie auszudrücken versucht, weil sie
gehört und auch verstanden wird.
Verdauungsorgane
Bei der vorliegenden Betrachtung wird der gesamte Verdauungsapparat als eine zusammenhängende Einheit betrachtet. Der Beschwerdekatalog
umfasst – von oben nach unten beschrieben – einige körperliche Phänomene, die zum Teil bekannt
und verständlich sind, und andere, bei denen sich
ein weites Feld der Spekulationen öffnet.
Schlingbeschwerden
Schlingbeschwerden sind in der Praxis des Allgemeinarztes ein häufig anzutreffendes Krankheitsbild – eine Erkrankung, bei der eine eingehende
körperliche Untersuchung eine Conditio sine
qua non (eine unerlässliche Voraussetzung) ist.
Oft sind aber die radiologischen Informationen
nichtssagend, hingegen findet sich im idiolektischen Anamnesegespräch eine Mehrzahl von
Hinweisen auf die „Pathogenese“ der beklagten
Beschwerden. Das Verschlingen von zu großen
Brocken löst einen nachhaltigen Schmerz in der
26
Hans Hermann Ehrat: Archaische Relikte in der Psychosomatik
Speiseröhre (Ösophagus) aus, der oft über Tage bis
Wochen anhalten kann. Die genau gleiche Symptomatologie findet sich ab und zu bei Patienten,
die eben daran sind, einen zu großen Brocken im
übertragenen Sinne zu verschlucken. Es entsteht
eine Verkrampfung der Speiseröhrenmuskulatur,
die derjenigen beim realen Verschlucken von
zu großen Brocken gleicht und vor allem auch
eine höchst sinnvolle Schutzreaktion darstellt,
da sowohl die Ösophagusschleimhaut als auch
das Organ an sich eine nicht zu unterschätzende
Verletzlichkeit aufweisen. Besonders bei diesem
„Krankheitsbild“ verwenden die Patienten sehr
oft eine auffällige Organsprache, indem sie von
einem sehr großen, nicht hinunterzubringenden
Brocken sprechen.
Schmerzhafte Schließmuskelkrämpfe
Eine ähnliche Phänomenologie wie die oben
genannte Verschließungsreaktion der Nasenschleimhäute bei Kälte begegnet uns im Analbereich im Zusammenhang mit wahrgenommenen
Bedrohungen. Die Analmuskulatur verschließt
anfallsweise und krampfartig den Ausgang des
Enddarmes. Dieses Körperphänomen wird als
Proctalgia nocturna bezeichnet – eine vor allem nachts auftretende sehr schmerzhafte Beschwerde. Diese Reaktion des Enddarmes ist bei
Menschen zu beobachten, die unter großer Anspannung und Druck oder unter unterdrückten
inneren Aggressionen leben müssen. Nach A. D.
Jonas ist dieses krampfartige und anfallsweise
Verschließen des Enddarms vergleichbar mit
dem „Luken schließen“ eines Ozeandampfers
bei herannahendem Sturm. Es stellt sich dann
sofort die Frage, woher der Sturm kommt – wobei es sich als sinnvoll erwiesen hat, die Betroffenen zu fragen, woher der Sturm kommt. Diese
idiolektische Explorationsform wird von A. D.
Jonas als die metaphorische bezeichnet. Eine solche Anamneseform verlangt vom Behandler die
Fähigkeit, „angemessene“ Bilder einführen zu
können. Erstaunlicherweise wird von den meisten Patienten die Metapher des sturmbedrohten
Idiolekta 1/2012
Dampfers aufgenommen, und wir hören die Erklärung, was dieser Sturm im Leben des Patienten darstellt.
Erkrankungen der Magen- und
Duodenalschleimhaut
„Meine derzeitige Situation liegt mir wie ein
Stein im Magen“ ist eine Äußerung, die allen
Ärzten vertraut ist. Soll unser Magen und auch
unser Zwölffingerdarm „Steine“ verdauen,
wird eine sehr große Menge von Magensäure
benötigt. Gerade die beiden erwähnten Organsysteme übernehmen eine solche Aufgabe mit
Hingabe, ohne darauf zu achten, ob realiter
ein Verdauungsprozess angesagt ist oder nicht.
Ihre automatisierten, autonomen Steuerungssysteme funktionieren bei der bloßen Vorstellung einer solchen Aufgabe adäquat – es wird
„sinnvollerweise“ eine überschießende Menge
von Verdauungssäften produziert. Gleichzeitig
findet in dieser Situation kein reales Angebot
von Speisen statt, dadurch werden die eigenen
Organstrukturen in den Verdauungsprozess
miteinbezogen – und entsprechend geschädigt.
Das eigensprachlich geführte Interview wird
sich mit Vorteil der Beschreibung des erwähnten Steines zuwenden – es werden dadurch für
den Betroffenen Einsichten in Zusammenhänge eröffnet, die die Sinnhaftigkeit der beklagten Beschwerden deutlich macht. Der Magen
oder das Duodenum des Patienten verhalten
sich – unter dem Aspekt dieser Einsicht – vollkommen adäquat, und es wird auch verständlich, dass sie sich so und nicht anders verhalten
müssen. Die Eigensprache – der Idiolekt – des
Patienten zeigt von Anfang an auf, was in seinem Organismus ablaufen muss, und sie weist
auf die Unumgänglichkeit beschriebener Phänomene hin. Diese Einsicht entspricht einem
echten Verständnis, das, wie schon in anderem
Zusammenhang aufgezeigt, für eine sehr unangenehme und belastende Körperreaktion eine
ganz „neue“ Erklärungsmöglichkeit bietet. Der
„Stein im Magen“ wird sich dabei zunächst
27
Hans Hermann Ehrat: Archaische Relikte in der Psychosomatik
nicht verändern. Verändern wird sich die Vorstellung davon, welche Reaktionen ein Stein im
Magen auslösen muss.
Bewegungsapparat
Alle unsere Bewegungen kommen durch das Zusammenspiel von Nervensystem und Muskulatur
zustande. Am Bewegungsablauf sind neben Muskulatur und Nervensystem auch Knochen, Gelenke, Sehnen und Bänder beteiligt. Stützgerüst
des Bewegungsapparates ist die Wirbelsäule, die
das zentrale Stützorgan des Skelettes überhaupt
darstellt. Wesentliche Bausteine der Wirbelsäule
sind die Wirbelkörper, die Zwischenwirbelscheiben sowie Bandapparat und Wirbelgelenke. Die
Wirbelsäule ermöglicht:
1. den aufrechten Gang,
2. optimale Beweglichkeit der oberen Extremitäten,
3. das Auffangen von Erschütterungen durch
Elastizität und
4. durch entsprechende Krümmungen der Wirbelsäule = Lordosen, Kyphosen und Skoliosen.
Der ganze Apparat der Bewegungen wird durch
willkürliche – bewusst gesteuerte – Muskelbewegungen ermöglicht. Alle Skelettmuskeln stehen
unter einem Spannungszustand, Tonus genannt,
der durch abwechselnde Kontraktionen einzelner
Muskelfasern entsteht. Auch dieser Muskeltonus
unterliegt der nervlichen Steuerung. Störungen
des Muskeltonus sind bekannt, wobei sowohl ein
verminderter wie auch gesteigerter Muskeltonus
als kennzeichnend für bestimmte Erkrankungen
gilt. In der folgenden Betrachtung geht es um
muskuläre Phänomene, die – unbewusst – willkürliche Muskulatur aktivieren und die vor dem
Hintergrund von „echten“ oder auch „vermeintlich echten“ Aufgabenstellungen entstehen. Die
Organsprache des Bewegungsapparates ist eine
sehr deutliche, und sie weist direkt auf die aktiven – auch überaktiven – Muskelgruppen, die
für die intendierte Leistung unabdingbar benöIdiolekta 1/2012
tigt werden. Spricht ein Patient über seine Eigenschaft, bei allen Dingen hartnäckig zu sein und
auch immer wieder zu versuchen, „mit dem Kopf
durch die Wand“ gehen zu wollen, sind zwei Hinweise auf die zurzeit aktivierte Nackenmuskulatur gegeben worden. Die klinische Untersuchung
solcher Patienten – meist in Behandlung wegen
Spannungskopfschmerz, Tinnitus, Druck hinter
den Augen u. v. a. m. – zeigt in vielen Fallen eine
„Verspannung“ der paravertebralen Muskulatur
im Nacken- und Halsbereich, also jener Muskelstränge, die seitlich und längs der Wirbelsäule
verlaufen.
Im eigensprachlichen Interview wird oft und
rasch deutlich, dass es für den Patienten wichtig, lebenswichtig, vielleicht überlebenswichtig
ist, ein solch hartnäckiges Verhalten zur Verfügung zu haben: Er hat für sein Verhalten Gründe,
„gute Gründe“, d. h., bei der Bewältigung der Anforderungen seines Lebensweges hat es sich als
hilfreich erwiesen, hartnäckig zu sein – und nur
dieses Verhalten hat sich als überlebenssichernd
erwiesen.
Fatalerweise wird dann oft und ohne Würdigung
der Bedeutung eines solchen Verhaltens eine Entspannungsbehandlung eingeleitet. Einem archaisch begründeten, automatisierten Verhalten der
betroffenen Muskelgruppe wird damit bedeutet,
dass die vorliegende Leistung nicht sinnvoll und
auch schädigend ist. Dabei ist es unbestritten,
dass eine organische Schädigung aufgrund solcher „hypertoner“ Muskelaktivierung eintreten
kann. Dies geschieht aber im „Auftrag“ einer
ganz anderen, bedeutungsvollen Aktion.
Hauterkrankungen
Hauterkrankungen sind in der allgemeinärztlichen Tätigkeit sehr häufig anzutreffen. Ebenso
häufig bleibt die Klärung der Entstehungszusammenhänge solcher Erkrankungen verborgen.
Nach einer Hypothese von A. D. Jonas (Seminar
in Bad Grönenbach, 1985) sind entlang den zentripetalen, sensiblen Bahnen auch antidromale
Phänomene zu beobachten. Diese antidromal
28
Hans Hermann Ehrat: Archaische Relikte in der Psychosomatik
verlaufenden Erregungsleitungen transportieren nach seiner Erkenntnis „Abfallprodukte“
des ZNS an die Körperoberfläche und verursachen dort verschiedenartigste Exanthemformen.
Kasuistik: Eine 70-jährige Patientin, die vor
zwei Jahren zu einem Dermatologen überwiesen
wurde, erscheint zur Blutdruckkontrolle in meiner Sprechstunde. Auf meine Frage, wie es mit
ihrem Hautausschlag stehe, sagt sie resigniert,
der Hautarzt versuche schon seit langer Zeit verschiedenste Medikamente und Salben, es sei aber
nie eine Abnahme der Beschwerden eingetreten.
Ohne Aufforderung beginnt sie dann, von ihrer
Herkunftsfamilie zu erzählen. Am meisten habe
sie immer unter ihrem Stiefvater gelitten, und
es sei für sie sehr schmerzlich, sich vorzustellen,
wie schwer das ganze Leben für ihre Mutter gewesen sein musste. Zwei Wochen nach diesem
„Erstgespräch“ meldet mir die Patientin eine
deutliche Besserung ihres Hautausschlages.
Im eigensprachlichen Interview wird dieser Aspekt noch einmal deutlich herausgearbeitet. In
einer anschließenden systemischen Betrachtung
in der Form einer Familienaufstellung ergibt
sich folgende Szene: Stellvertreterin der Mutter
sagt zum Stellvertreter des Stiefvaters: „Wenn du
nicht gewesen wärst, hätte ich gar nicht leben
können.“ Diese „Szene“ ist für die Patientin eine
ganz große Überraschung: „So habe ich mir das
nicht vorgestellt“, ist ihr Kommentar, „so habe
ich das ganze Leben unter einer falschen Annahme verbracht.“
In der Folge kann ein deutlicher Rückgang
des Exanthems festgestellt werden, nach zwei
Wochen erzählt mir die Patientin – übrigens
ohne sich zu wundern –, das Exanthem sei jetzt
vollständig verschwunden. In diesem Fallbeispiel ist nicht nur der aufgetretene Effekt bemerkenswert, sondern vor allem die Tatsache,
dass es ätiologisch für einen Arzt, für einen
Therapeuten unmöglich ist, ohne das Instrument der Eigensprache den Patienten zu einem
Aha-Erlebnis bezüglich seines Beschwerdebildes zu führen. Die Öffnung des Tores zum
Verstehen und zum Verständnis kann nur durch
Idiolekta 1/2012
die Betroffenen selbst erfolgen: „Medicus curat,
natura sanat – der Arzt sorgt [der Arzt benutzt
eine ganz umschriebene Interviewtechnik], die
Natur heilt [durch das idiolektische Interview
wird es den Menschen ermöglicht, ihrer inneren
Weisheit, ihrem selbst organisierenden Prinzip
zu begegnen].“
An diesem Beispiel wird sehr deutlich, was mit
dem Expertentum der Patienten gemeint ist.
Nach einer gängigen Definition sind Experten
Menschen, die eine ganz eigene Sprache sprechen. Diese Sprache ist nur denjenigen verständlich, die diese Sprache gelernt haben. Die
Eigensprache ist nur denjenigen verständlich,
die gelernt haben, wie diese eigene Sprache jedes
Menschen verstanden werden kann.
Einige psychiatrische Krankheitsbilder
und ihre archaischen Wurzeln
Angsterkrankungen
Angst ist das Phänomen menschlichen Seins, das
als „Signal“ vor Gefahren generell warnt – es ist
gewissermaßen ein „normales Grundgefühl“ und
jedem Menschen bekannt. Unsere Sinnesorgane
nehmen Signale auf, die Angst mehr oder weniger ausgeprägt evozieren. Lebewesen haben
grundsätzlich drei Möglichkeiten, auf Bedrohungen zu reagieren, nämlich durch:
1. Flucht,
2. Kampf,
3. Schreckstarre.
Flucht ist nur möglich, wenn der Organismus
entsprechende und adaptive Körperreaktionen
aktiviert. Dazu gehören: Blutdruckerhöhung,
Anstieg der Pulsfrequenz, Schweißproduk­
tion, zunehmende Muskelspannung, eventuell
Entleerung des Magen-Darm-Traktes. In der
gleichen Weise werden zur Vorbereitung einer
Kampfhandlung körperliche Reserven entsprechend mobilisiert. Hierbei kann es zu reflektorischen Verkrampfungen der Rippenmuskulatur
kommen, die sich bemüht, den Brustkorb zu
29
Hans Hermann Ehrat: Archaische Relikte in der Psychosomatik
verfestigen, um darin befindliche lebenswichtige Organe zu schützen. In der Praxis berichten
Menschen dann oftmals über Schmerzen in der
Brustregion, die so massiv sein können, dass man
sie mit einem Herzinfarkt verwechselt; sie müssen natürlich dahin gehend abgeklärt werden.
Interessanterweise liefert das eigensprachliche
Interview in vielen Fällen bereits die wichtigsten Hinweise.
Die Schreckstarre stellt eine „mildere“ Form des
im Zusammenhang mit dem Herzen geschilderten Totstellreflexes dar: in bedrohlichen Situationen zu erstarren, um vom Fressfeind übersehen
zu werden. Patienten berichten im Zusammenhang mit Angsterleben davon, „wie gelähmt zu
sein“, oder von verschiedenen Verkrampfungen
der Extremitäten und des Brustraums (sowie Einschränkung der freien Atmung), die die Mobilität
und somit das durch-Bewegung-erkannt-Werden
verhindern.
Phobische Erkrankungen
Dazu zwei Beispiele für Klaustrophobie und Agoraphobie.
Klaustrophobie
Die Klaustrophobie – Angst in engen Räumen
– ist archaischerweise ein überlebenssicherndes
Phänomen, weil für Lebewesen in der freien
Wildbahn das Fehlen von Fluchtmöglichkeiten
eine lebensbedrohliche Situation darstellt. In
dieser Lage des Eingeschlossenseins werden
alle vegetativen Phänomene, die Flucht ermöglichen, sofort in Gang gesetzt. Es handelt sich
also bei den „Symptomen“ der Klaustrophobie
um Körperphänomene, die Flucht erst ermöglichen.
Die Symptome sind also sinnvoll, notwendig und
automatisiert.
„Was ist das Gute daran, wenn Sie sich in offenen Räumen befinden“ lautet eine klassische und
ressourcengerichtete Frage im eigensprachlichen
Interview.
Idiolekta 1/2012
„Ich kann dann jederzeit an einen anderen Ort gehen, das ist für mich erleichternd und hilfreich.“
Diese Antwort des „Klaustrophobiepatienten“ ist
für ihn selber einleuchtend und stellt die beklagten Symptome in ein anderes „Licht“. Er zeigt
sich gewissermaßen selber – ein sogenannter AhaEffekt –, wie wichtig es für ihn ist, „weite Räume“
aufzusuchen. Die Erklärung des Behandlers, wie
physiologisch richtig, sinnvoll und automatisiert
seine Körperreaktionen in engen Räumen sind,
ist eine Würdigung der Symptome, eine Würdigung, die Verständnis ermöglicht. Wie in vielen
Fällen wirkt auch hier wieder das Verständnis im
Sinne eines Von-sich-selber-verstanden-wordenSeins.
Agoraphobie
Agoraphobie – Angst vor offenen Plätzen – ist
wie die Klaustrophobie unter die archaischen
Relikte einzuordnen. Patienten, die unter solchen Ängsten leiden, beschreiben sehr deutlich,
wie sie große, offene Platze immer den Rändern
nachgehend „überqueren“. „In der freien Wildbahn überqueren nur unkluge Lebewesen eine
Lichtung auf dem direkten Wege“, ist meine
Bemerkung gegenüber dem Patienten, und er
erkennt, dass er, einem biologischen Sinn folgend, etwas Richtiges tut, wenn er große Plätze
immer indirekt überquert. Dieser Hinweis ist
sowohl eine Würdigung des Verhaltens wie auch
eine Würdigung der Körperreaktionen, die sich
zeigen, wenn die „Gefährlichkeit“ einer „Direktüberquerung“ einer Lichtung bzw. eines großen
Platzes missachtet wird.
Auch in diesen Fällen wird nach derartigen Gesprächen oft eine Abnahme der Symptomatologie beobachtet, während dem Betroffenen klar
wird, wie richtig sein Organismus funktioniert.
Die idiolektische Gesprächsführung, die von der
Sinnhaftigkeit der Körperphänomene ausgeht,
bewirkt vor allem durch die veränderte Eigenbeurteilung der störenden Körperphänomene eine
Erleichterung. Anstelle von „Defiziten“ erleben
betroffene Patienten die Bedeutung und die Sinn30
Hans Hermann Ehrat: Archaische Relikte in der Psychosomatik
haftigkeit von primär unverständlichen körperlichen Phänomenen.
Die posttraumatische Belastungsstörung
Der Umgang mit diesem Krankheitsbild ist
neuerdings zur täglichen Herausforderung für
Behandler geworden. Das idiolektische, eigensprachliche Interview ermöglicht Einsichten in
ein Zustandsbild, das im konventionellen Gespräch oft unverständlich ist.
Ein Mazedonier, der auf einer Baustelle von
einem Albaner in mörderischer Absicht angeschossen wurde, leidet in der Folge unter diesem
vielgestaltigen und prima vista schwer verständlichen Krankheitsbild, das folgende Kardinalsymptome aufweist:
1. depressive Verstimmung
2. Unfähigkeit, einer geregelten Arbeit nachzugehen
3. Atemnot
4. praecordiale Schmerzzustände
5. Abdominalschmerzen
6. Muskelschwäche etc.
Im idiolektischen Interview erwähnt der Patient
ein Bild, „Angeln am See“, dem das Gespräch
folgt. Vordergründig handelt es sich bei einer
solchen Tätigkeit um eine entspannende, erholsame Betätigung, die dem betroffenen Patienten
bis dato viel Freude machte. Jetzt fällt ihm selber auf, dass sich diese Freude und Entspannung
nicht mehr einstellen. Im Gegenteil, bei dem von
ihm so sehr geschätzten Sport fühlt er sich aufs
Äußerste angespannt, und er bemerkt, dass seine
Aufmerksamkeit maximal eingesetzt wird. Er
beschreibt, dass allein schon das Rascheln eines
herunterfallenden Blattes ihn in Panik versetzt,
es treten Schweißausbrüche auf, und gleichzeitig
bemerkt er ein sehr unangenehmes Herzrasen.
Später stellen sich praecordiale Schmerzen ein,
oft begleitet von sehr störenden Bauchschmerzen. Sein intrapersoneller Dialog zielt auf Beruhigung und auf eine Argumentation, die
einer Verurteilung seiner Befindlichkeit gleichIdiolekta 1/2012
kommt, vor allem mit dem Hinweis, es bestehe
doch absolut keine Notwendigkeit für solche
übertriebenen Reaktionen. Auffallend an dieser Symptomatologie ist, dass alle körperlichen
„Botschaften“ zum Katalog der archaischen Relikte gehören. Überlebenssichernde körperliche
Phänomene sind absolut und verständlicherweise im Vordergrund – anamnestisch bestand ohne
Zweifel eine lebensbedrohliche Situation. Anlässlich meiner psychotherapeutischen idiolektischen Gespräche zeigt sich immer das gleiche
Phänomen. Der Patient berichtet über die große
Erleichterung, die sich einstellt, wenn er verspürt, wie verständnisvoll ich, im Gegensatz zu
ihm selber, mit seinen „körperlichen Aussagen“
umgehe. Alle von ihm beklagten Beschwerden
sind körperlich präformierte und automatisierte
Reaktionen seines Organismus auf das unbewältigte und nicht zu bewältigende Ereignis, das zu
dem umfassenden Beschwerdebild geführt hat.
Im konventionellen Behandlungsgespräch wird
immer wieder versucht, dem Patienten klarzumachen, dass das zurückliegende Ereignis jetzt
keine oder nur wenig Bedeutung habe. Er selber
bringt sich immer wieder dazu, mit neuem Impetus eine ihm gestellte, oft sehr kleine Aufgabe
zu bewältigen. „Ich bin absolut in der Lage, diese
Aufgabe zu erfüllen – das kann doch für mich gar
keine Schwierigkeit sein“ sind die regelmäßigen
Aussagen des Patienten zu sich selber.
Seine organische Reaktion zeigt aber das absolute Gegenteil. Anstelle des erhofften Resultates,
anstelle eines Erfolgserlebnisses treten körperliche Beschwerden, wie oben beschrieben, auf,
und es stellt sich eine eigenartige Reaktion ein,
die einem beginnenden Winterschlaf gleicht.
(Der Patient benennt diesen Zustand: Ruhestand.) Auch dieses Phänomen gehört wiederum
zu den archaischen Relikten. Die permanente
Forderung, wenigstens eine Teilleistung zu erbringen, ist einem psychischen „Kälteeinbruch“
vergleichbar – in der phylogenetischen Betrachtung eine für gewisse Lebewesen zwingende Situation, den „Winterschlaf “ einzuleiten. Es ist
äußerst hilfreich, zu realisieren, dass Menschen
31
Hans Hermann Ehrat: Archaische Relikte in der Psychosomatik
die Fähigkeit, einen „Winterschlaf “ auszulösen,
nicht verloren haben, sie erleben einen Zustand,
der logischem Denken nicht zugänglich ist.
Zusammenfassung
Die hier geschilderte Erkenntnis bezüglich archaischer Relikte und Sinnzusammenhängen
in Verbindung mit der Symptomatik ist eine
unabdingbare Voraussetzung beim Umgang mit
betroffenen Patienten, weil die Phänomenologie
aller „Beschwerden“ ein Ausdruck der „inneren
Weisheit“ des Organismus im Hinblick auf sein
Überleben ist.
Der repetitive Versuch, solche Patienten mit logischen und absolut verständlichen Argumenten
zu „rehabilitieren“, kann nachhaltig schädigend
sein, während die hier beschriebene Vorgehensweise einen innovativen Einblick in psychogen
induzierte Verhaltensmuster phylogenetischer
Herkunft vermittelt.
Idiolekta 1/2012
Es ist anzunehmen, dass der Katalog archaischer
Relikte weit umfassender ist, als bisher von Jonas
und Jonas (1977, 1985) beschrieben. Für Ärzte und
Psychotherapeuten, die psychosomatisch Kranke
betreuen, ist die Kenntnis archaischer Relikte oft
hilfreich beim Verstehen unverständlicher somatischer Phänomene. Die Kenntnis dieses Spektrums
archaischer Reaktionen ist notwendig, will man
verstehen, wie oft körperliche Phänomene nicht
pathologisch, nicht defizitär, sondern in Wahrheit
somatische Fähigkeiten sind, die es ermöglichen,
ganz bestimmte Situationen eben auch ganz umschrieben körperlich zu „beantworten“.
Literatur:
Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1977): Signale der Urzeit
– Archaische Mechanismen in Medizin u. Psychologie, 2008: Würzburg, Huttenscher Verlag 507
Jonas, A. D., 1985: Orientierungshilfen zur Psychotherapie in der Allgemeinpraxis - archaische Relikte in
psychosomatischen Symptomen, Gräfelfing: Sociomedico
32
Aktuelles · Neuigkeiten · Termine
Unsere nächsten beiden
großen Veranstaltungen:
Jahrestagung am 17.–19. 5. 2012 in Würzburg
Sommerwerkstatt am 11.–14.07.2012 in Gupf-Stein/AR
Vorankündigung
Jahrestagung 2013 „Evolutionäre Psychosomatik“
und 100. Geburtstag A. D. Jonas
A. D. Jonas war sicher einer der ersten Psychotherapeuten, der evolutionäre Aspekte des psychosomatischen Geschehens aufgenommen und
zahlreiche Publikationen und Lehrvideos hinterlassen hat. Die Gesellschaft für Idiolektik® und
Gesprächsführung hat die Tradition von A. D.
Jonas fortgeführt: Psychosomatik spielt eine äußerst wichtige Rolle und bildet ein wesentliches
Fundament der Idiolektik. Es gab bisher keine
Jahrestagung ohne psychosomatische Seminare
und Bezüge zur evolutionären Psychosomatik.
Der 100. Geburtstag von A. D. Jonas ist ein willkommener Anlass, das Thema in den Fokus zu
setzen und die Komponenten der Idiolektik und
Idiolekta 1/2012
der Evolution in Bezug auf Psychosomatik besonders darzustellen und zu würdigen. Wir haben
eine Reihe wichtiger internationaler und nationaler Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen
zu diesem Thema eingeladen und hoffen, Ihnen
einige präsentieren zu können. Ich möchte Sie
alle auffordern, sich diesen Termin vorzumerken,
um ein wichtiges Ereignis im Jahr 2013 nicht zu
versäumen: die 28. Jahrestagung der Gesellschaft
für Idiolektik® und Gesprächsführung zum Thema „Psychosomatik“ vom 9.–11. 5. 2013.
Horst Poimann
33
Aktuelles · Neuigkeiten · Termine
Idiolekta 1/2012
34
Aktuelles · Neuigkeiten · Termine
Magdalena Bork
Arts & Sciences in Action
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Abschluss-Symposium:
„Arts & Sciences in Action!“
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27. / 28. Januar 2012
Universität für Musik und darstellende Kunst Wien
Anton-von-Webern Platz 1, 1030 Wien, Clara Wieck-Schumann-Saal
Denn nur scheinbar gut eingebettet in die Wiege der klassischen abendländischen Musik, fühlte sich die Ausbildung für viele MusikerInnen
im Kontext heute veränderter Marktbedingungen
aber tatsächlich eher wie eine harte Pritsche an:
Leistungsstreben, Konkurrenzdenken, Perfek­
tionismus, Versagensangst – nicht gerade Stoff,
aus dem sich Berufsträume gut weben l­assen.
Und so zog Quo-Vadis aus, Freiräume zu kreieren, in denen die eigene Musik zum Sprechen
und die eigene Sprache zum Klingen gebracht
werden konnte: mit den Methoden des freien
kreativen Spiels (Freie Improvisation) und der
idiolektischen Gesprächsführung.
freiTAg 27. JAnuAr 2012
14:00 uhr Beginn EinführungSpErformAncE (Bork/ehrat/gagel/gstättner/Mütter/röbke)
15:00–18:00 uhr
fünf SpiELrÄumE
improviSATion und inSpirATion (gstättner/Preisl/Weinhuber)
EnSEmBLE improviSATion (gagel)
idioLEKTiK pur (ehrat/Poimann)
EigEnSprAchE im SprEchEn und muSiZiErEn (Bork/Cincera/Krüger)
frEirAum (Badura/Cruz)
19:30–22:30 uhr
ÖffEnTLichES KonZErT Joseph Haydn-saal
Axis-duo * osojnik/flunger * Lava * pago Libre/Shilkloper
sAMsTAg 28. JAnuAr 2012
10:00 uhr
drEi dEnKrÄumE (Badura&gstättner/Bork/gagel)
12:00 uhr
pETiTE mATinÉE Musikbeitrag vom Quo Vadis-Projektensemble
14:00 uhr
ÖffEnTLichE ABSchLuSSprÄSEnTATion
Das Quo Vadis-Projektteam performt die forschungsergebnisse
15:30 uhr
ZuKunfTSrAum
impulse für die Ausbildung einer neuen generation von Musikerinnen
modErATion:
Peter rÖBKE
miT:
Magdalena BorK * Helena gAunT * Barbara giSLEr * urban mÄdEr *
leonhard pAuL * lorenz rAAB * rineke SmiLdE * Petra STump * ulrike Sych
Bild 1: Bertl Mütter/Einführungsperformance
WEiTErE informATionEn: www.quovadisteufelsgeiger.at
AnmELdung (begrenzte Teilnehmerinnenzahl): www.musiceducation.at/termine
miTvErAnSTALTEr: plattform für künstlerische forschung Österreich (pArA)
Quo vadis, Teufelsgeiger? is funded by the
Austrian science fund (fWf): Ar 8-g21
Künste und Wissenschaften sind an einem schönkalten Januar-Wochenende an der altehrwürdigen
Wiener Musikuniversität gehörig und hörbar in
Bewegung geraten: Mit viel Spiel, Klang, Raum,
Geist und Gefühl, Eigensprache und Musik beging das Forschungsprojekt „Quo vadis, Teufelsgeiger?“ sein Abschluss-Symposium. Dutzende
neugierige Menschen mit bunten fachlichen
Hintergründen kamen zusammen, um zwei Tage
lang zu schauen, zu hören, zu erfahren und miteinander zu erleben, was das Quo-Vadis-Labor zwei
Jahre lang jungen MusikerInnen angeboten hat,
um die Suche nach ihrem eigenen Ton, nach ihrer
musikalischen Eigensprache zu unterstützen.
Idiolekta 1/2012
Bild 2: Hans Hermann Ehrat/SpielRaum „Idiolektik Pur“
Unsere Leitidee war, mit eigenem Beispiel voranzugehen – wir (das Projektteam Reinhard Gagel, Maria Gstättner und ich) haben niemanden
beforscht, niemanden unterrichtet, niemandem
etwas beigebracht, sondern haben gemeinsam Er35
Aktuelles · Neuigkeiten · Termine
fahrungen gesammelt, Gestalten kreiert und uns
gegenseitig Fragen gestellt – so oft, kurz, einfach
und konkret wie möglich. Dabei legten wir den
Fokus auf das Selbst, die eigene Zuwendung, den
eigenen Körper als Ressource und vor allem auf
all das, was man schon kann. Unser „Arbeitsmaterial“ war stets das Können der MusikerInnen
und das, was da ist und uns hier und jetzt Rückenwind geben kann für einen neuen, anderen,
vielleicht gar tänzerischen Schritt.
und dabei vielleicht etwas zu entdecken, was
einen anzieht und anspricht – und möglicherweise das wieder in der Hand zu spüren, was einem Mut, Kraft und Zuversicht gibt.
Bild 5: Horst Poimann / SpielRaum „Idiolektik Pur“
Bild 3: Magdalena Bork / SpielRaum „Eigensprache im Sprechen und
Musizieren“
wir haben getan
und tun lassen
wieder Kind sein lassen:
spielen, staunen
sich einlassen
sich mitreißen lassen
den Körper spüren
und tanzen lassen
den Moment spielend fassen
Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht – im Projekt wie im Symposium – Raum und Räume zu
schaffen, in denen der Funke überspringen kann –
von Idee zur Kreation, vom Instrument zu seiner
Spielerin, von Inspiration zur Begeisterung am
eigenen Schaffen. Dafür war es oft hilfreich, das
angestammte – mit Erwartungen und Ansprüchen gepflasterte, durch über Jahre eingebläute
(vermeintliche) Qualitätsstandards beschränkte,
von Enttäuschung und Kränkung gesäumte –
Terrain zu verlassen, um in andere Welten, andere künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten einzutauchen: Wir ließen die MusikerInnen tanzen,
malen und darstellen, also sinnliche Erfahrungen
machen, die erst jenseits des Bewertungsschemas
gut oder schlecht ihre Wirkung entfalten konnten.
Künstlerische Erfahrungen, in denen sich zeigt,
was (s)ich mitteilen will.
Bild 4: Andreas Cincera und Magdalena Bork / SpielRaum „Eigensprache im Sprechen und Musizieren“
Im Quo-Vadis-Projekt ging es darum, Potentiale
zu entfalten, die eigene Spur (wieder) zu finden
Idiolekta 1/2012
Bild 6: SpielRaum „Eigensprache im Sprechen und Musizieren“
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Am ersten Tag des Symposiums standen den
Besuchern fünf Erfahrungsräume – SpielRäume
– zur eigenen Auswahl, in denen es um Ensemble-Improvisation, Inspiration und Sinnlichkeit
(Malen, Tanzen und Spielen), Freiheit (das Entfalten aus dem puren Sein) und Eigensprache
ging. Das Interesse an der Eigensprache war besonders groß, in beiden SpielRäumen zu diesem
Thema funkelten viele Augenpaare einander an,
und schlackerten viele Ohren ob der Wirkung
eines kurzen Gesprächs über … Schuhe (!) oder
eines sphärisch über den Raum schwebenden,
gerade eben von der Gruppe selbst erfundenen
Klangs. Der erste Tag endete mit einem vielfältigen Improvisationskonzert, in dem vor allem
die vier u. a. Alphorn blasenden MusikerInnen
der Gruppe Pago Libre nicht nur die Herzen der
alpenländisch-affinen ZuhörerInnen im Nu zu
erobern vermochten.
Am zweiten Tag, an dem die Erfahrungen des
Freitags in den DenkRäumen gemeinsam reflektiert werden konnten, schienen die Wörter
Eigensprache und Idiolektik zum Grundvokabular
der BesucherInnen geworden zu sein. Nach einer
aufwühlenden Abschluss-Performance über die
Projekt-Erkenntnisse ging das Symposium mit
einem Visions-Podium, das nicht mehr zögern
musste, für Ermutigung, Angstfreies Studieren und
Ganzheitliche MusikerInnen-Ausbildung die richtigen Worte zu finden, zu Ende.
Es war unüberhörbar und bleibt unübersehbar:
in Wien hatten die IdiolektikerInnen gut lachen.
Idiolekta 1/2012
Bild 7: Horst Poimann und Hans Hermann Ehrat / SpielRaum „Idiolektik Pur“
Ich danke allen IdiolektikerInnen, die mich inspiriert haben, die zu sein, die ich bin und das
zu tun, was ich tue. Ich danke vor allem Hans
Hermann Ehrat, Horst Poimann und Andreas
Cincera für das Leiten der SpielRäume „Idiolektik
Pur“ und „Eigensprache im Sprechen und Musizieren“ und der gesamten Graduierten-Gruppe für
ihr mich und die Idiolektik wunderbar unterstützendes Da-Sein an diesem besonderen Wochenende in Wien.
Einen eigen-sprechenden und eigen-klingenden Abschluss-Film und ein kleines und feines
WDR3 Interview zum Symposium wie auch alle
weiteren Informationen über das abgeschlossene
Projekt finden Sie unter: www.quovadisteufelsgeiger.at
Das Projekt wurde gefördert vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF).
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Tilman Rentel
Selbstheilungskräfte im Gespräch –
Eigensprache. Ressourcen. Resilienz
Bericht von der Idiolektik-Veranstaltung im Klinikum Nürnberg im Februar 2012
Und jedem Menschen wohnt ein Zauber inne,
der ihn beschützt und der ihm hilft, zu leben.
frei nach Hermann Hesse
Am 17./18. Februar 2012 fand am Klinikum
Nürnberg inzwischen zum siebten Mal eine
Veranstaltung zum Kennenlernen und Vertiefen der idiolektischen Gesprächsführung statt.
Als Organisator dieser Veranstaltung habe ich
mich sehr gefreut, dass im Herbst letzten Jahres
spontan 6 Dozent/innen zugesagt hatten. Denn
es kamen dieses Mal am Freitag Abend für den
Einführungsvortrag und die anschließenden
Übungsrunden ca. 100 Teilnehmer/innen, so dass
nach einer Einführung und zwei kommentierten
Beispielgesprächen im Plenum Christa Olbrich,
Anna Karin Engels zusammen mit Kerstin Happich, Peter Winkler, Daniel Bindernagel, Horst
Poimann und ich alle „Ohren voll“ zu tun hatten,
die TeilnehmerInnen in ersten und hoffentlich
nicht letzten Übungsgesprächen zu begleiten.
Besonders erfreulich war, dass ca. ein Drittel der
Idiolekta 1/2012
TeilnehmerInnen Mitarbeiter aus verschiedenen
Abteilungen des Klinikums waren, so dass auf
diesem Wege das achtsame Wahrnehmen der
Eigensprache im Umgang mit Patienten und
Angehörigen gefördert werden konnte. Etwa 50
TeilnehmerInnen nutzten dann am Samstag die
Gelegenheit, einen ganzen Tag bei zwei weiteren
Dozenten Erfahrungen mit der Methode in der
Praxis zu sammeln.
Insbesondere der supervidierte Praxisanteil der
Fortbildung wurde von den TeilnehmerInnen
sehr positiv aufgenommen. In den Seminargruppen und in den Pausen herrschte ein angeregter
Austausch und die Rückmeldungen der TeilnehmerInnen im Abschlussplenum waren sehr
ermutigend, diese Veranstaltung auch in den
kommenden Jahren fortzusetzen.
Inhaltlich möchte ich ein paar Gedanken zum
Titel der Veranstaltung teilen, mit der die TeilnehmerInnen am Freitag Abend in das Thema
eingeführt wurden.
Hätte der Mensch den ihm innewohnenden
„Zauber“ der eigenen Selbstheilungskräfte nicht
immer wieder unterstützt von einer beschützenden menschlichen Gemeinschaft erlebt, wäre er
längst ausgestorben.
Diese Tatsache in umgekehrter Richtung gedacht würde nahelegen, Menschen, die um ihr
(Über)-leben kämpfen, im Gespräch beizustehen
und zu versuchen, ihnen diese Kräfte wieder zugänglich zu machen.
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Aktuelles · Neuigkeiten · Termine
Ein Beispiel aus meiner derzeitigen Tätigkeit auf
einer internistischen Krebsstation, wo wir eine
Gruppe schwer körperlich erkrankter Menschen,
die zusätzlich an Ängsten, Depressionen oder
chronischen Schmerzen leiden, intensiv psychotherapeutisch begleiten:
Frau S. (75 Jahre) litt seit einem Jahr unter täglichen Schmerzen im Bereich des Enddarms verbunden mit häufigem Stuhldrang. Dies habe dazu
geführt, dass die früher aktive Patientin kaum
mehr von zuhause fortgegangen war und soziale Kontakte stark eingeschränkt habe. Begonnen
habe die Schmerzsymptomatik, als sie vor einem
Jahr wegen plötzlich aufgetretener stechender
Schmerzen im Bereich des Enddarms zur stationären Diagnostik ins Krankenhaus eingeliefert
worden war und bei der anschließenden Diagnostik ein Rezidiv ihrer vor 8 Jahren erfolgreich
behandelten Brustkrebserkrankung festgestellt
wurde, und zwar mit Metastasen in Leber, Kleinhirn und Wirbelkörpern. Dies sei für die Patientin
ein Schock gewesen. Seitdem seien die Schmerzen
nicht mehr zurückgegangen, obwohl die inzwischen durchgeführte ausführliche medizinische
Diagnostik keine organischen Ursachen für die
Symptomatik benennen konnte. Die Patientin
war hierüber verständlicherweise sehr verzweifelt,
da sie große Hoffnung hatte, dass die Ärzte ihr die
Schmerzen würden nehmen können. Sie war zunächst einer psychotherapeutischen Behandlung
ihres Leidens sehr skeptisch gegenübergestanden,
da sie sich nicht vorstellen konnte, wie Gespräche
einen Einfluss auf die täglichen schwerwiegenden
Schmerzen haben könnten.
In einer der ersten Kontakte ergab sich folgendes
Gespräch (welches ich sinngemäß aus der Erinnerung niedergeschrieben habe):
Wie kann ich mir Ihre Schmerzen vorstellen?
Das ist so ein Druckgefühl.
Was könnte so ein Druckgefühl hervorrufen?
Idiolekta 1/2012
Das weiß ich ja selbst nicht!
Wenn wir uns das versuchen würden bildlich vorzustellen, diesen Druck, wäre der eher von innen nach
außen oder von außen nach innen, oder wie ist das?
Naja, das wäre so als wenn da zwei Balken etwas
Weiches in der Mitte zusammenpressen.
Wie geht das?
Es ist so ähnlich, als würden diese Balken mit so
Schraubzwingen zusammengepresst.
Solche nimmt mein Mann immer, wenn er Bilderrahmen klebt.
Was müsste geschehen mit den Zwingen, damit es erträglicher wird?
Man müsste sie andersherum aufdrehen, dass die
Spannung nachlässt.
Wie weit?
Bis zu einer gemütlichen Spannung, das ist eigentlich
nicht das richtige Wort, aber so würde ich das beschreiben (gebraucht ihre Hände um diesen gemütlichen
Druck darzustellen)
Was verbinden Sie mit so was Gemütlichem?
(schaut weich und versonnen) Da fällt mir der Sessel
in meinem Wohnzimmer ein, auf dem ich es liebe zu
sitzen … mit meiner Katze auf dem Schoß.
Was spüren sie da?
Da geht’s mir gut, ich bin ganz entspannt, die Katze
ist warm und weich.
…
Was geht Ihnen durch den Sinn?
Ich muss an die Jacobson-Entspannungsübung denken, die wir gestern in der Gruppe gelernt haben, so
mit den Händen und Beinen anspannen und entspannen. Meinen Sie, ich könnte so was auch „da unten“
probieren, würde ja keiner sehen, wenn ich’s mache.
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Aktuelles · Neuigkeiten · Termine
Sie beschließt daraufhin, mit ihrer Beckenbodenmuskulatur und den Schließmuskeln eine
solche Art von Übungen zu machen und kombiniert das Ganze noch mit der Vorstellung eines
Abendrots, was ihr in einem früheren Gespräch
spontan einfiel auf der Suche nach einem Licht
in einer heilsamen Farbe (Lichtstromübung). Sie
imaginierte sich bei den Übungen auf dem Sessel
sitzend und von dort aus ins Abendrot schauend,
was die Entspannungsreaktion unterstützte.
Nach einigen Tagen berichtete sie erstmals von einem schmerzfreien Wochenende und fragte, ob das
mit ihren „Übungen“ zusammenhängen könne.
Sie wurde darin ermutigt, ihre eigenen Lösungsansätze weiterzuverfolgen. Nach einem kurzzeitigen erneuten Auftreten der Schmerzen über ein
paar Tage blieb die Patienten dann nach ca. drei
Wochen Behandlungszeit weitgehend schmerzfrei
und nahm ihre sozialen Aktivitäten wieder auf.
Insbesondere fand sie nun die Kraft, mit ihrem
Mann über ihre Ängste vor dem Sterben durch
die Metastasierung der Krebserkrankung zu sprechen und hörte einen ebenso verängstigten Mann,
der erleichtert war, dass er nun auch seine Angst
vorm Verlust seiner Frau ansprechen konnte.
So konnte diese Patientin im idiolektischen Gespräch Verständnis für ihre Symptome und damit
Orientierung gewinnen und über das ihr zugetraute Selbstheilungswissen und -potential wieder
eigenständig werden in der Unterstützung ihres
Heilungsprozesses. Dieser Zugewinn an Autonomie und Handlungsfähigkeit mündete in die Erfüllung grundlegender Bindungsbedürfnisse über
den emotionalen Austausch mit ihrem Partner.
Der Teufelskreis aus Schmerz, Hilflosigkeit und
Angst/Depression konnte so über eine Distanzierung und Symbolisierung über das Nutzen
des „Spielraums“ der Eigensprache in einen sich
selbst verstärkenden Kreisprozess der Handlungsfähigkeit – Selbstwirksamkeit – des Wohlbefindens und der Lebensfreude umgewandelt
werden.
Idiolekta 1/2012
Psychosomatische Erkrankungen sind Bedürfnismangelerkrankungen:
Insbesondere das idiolektische Gespräch kann
hier primäre Bindungsbedürfnisse über empathische Präsenz ebenso unterstützen wie sie in
der Lage ist, die Autonomie und Eigenständigkeit des Gegenübers über die Würdigung seiner
Eigensprache zu respektieren und zu fördern.
So kann eine Rebalancierung von Bindungs- und
Autonomiebedürfnissen jenseits der von außen
kommenden handlungs- und verstandesorientierten Lösungssuche des klassischen medizinischen Settings geschehen. Das idiolektische Gespräch gibt Raum, dass das Gegenüber gesehen
und gehört werden kann, vor jedem Ratschlag
und schnellen Lösungsangebot. Kreativ werden
heißt hier, mit dem sein was ist. Innehalten, mit
sich selbst in Verbindung gehen, in Resonanz
mit sich sein. Dasein. Und das Ganze nicht alleine! Darüber hinaus wird das Grundbedürfnis
nach Selbstwert gefördert, z.B. durch die Unterstützung beim Finden eigener Bilder und Lösungen. Eine Teilnehmerin des Seminars fasste
diese Erfahrung so in Worte: „Es macht glücklich, wenn man selbst drauf kommt“. Dies kann
bei nicht ausreichend organisch begründbaren
Symptomen in deutlichem Kontrast stehen zur
vorhergehenden Expertensuche und der damit
häufig verbundenen Frustration.
Das Grundbedürfnis nach körperlichem Wohlbefinden kann im Gespräch direkt gefördert werden durch Beachtung nonverbaler Signale und
die über die Spiegelneurone vermittelten physiologischen Entspannungsreaktionen bzw. Spannungsregulationen, wie bei dieser Patientin über
40
Aktuelles · Neuigkeiten · Termine
die Schlüsselworte und –Erfahrungen des Lieblingssessels inklusive Tier und des Abendrots.
Auch das grundlegende menschliche Bedürfnis
nach Sinn kann durch das Einbeziehen eben solcher Erfahrungen von Halt und Erfüllung beachtet werden. In den so geöffneten Räumen kann
eben ein eigener Sinn (ein Eigensinn im besten
Sinne) auftauchen.
Dass dies nicht immer so einfach funktioniert,
liegt nicht zuletzt auch daran, dass es sich bei
diesen Prozessen eben nicht um lineare Abfolgen
des „ich tu was und das wirkt und dann ist gut“
handelt, sondern um komplexe, auf sich selbst zurückbezogene kreisförmige systemische Prozesse.
In meiner Übungsgruppe wurde mir das schmerzhaft bewusst, als ich in einem Gespräch über
Bauchschmerzen die Wirksamkeit einer idiolektischen Intervention demonstrieren wollte und
damit den Kontakt mit dem Gegenüber verlor.
Wie gut war es, von der Gruppe der Beobachter
darauf hingewiesen zu werden, dass es eben nicht
um richtige Interventionen geht, sondern um Resonanz im jeweiligen Augenblick des Gesprächs.
worten stellen als Anregung, eigene Erfahrungen
damit in Verbindung zu bringen.
Selbstheilungskräfte
In jedem Menschen existieren Erfahrungen und
Kräfte, die ihm helfen zu leben.
Ressourcen
Jeder Mensch verfügt über gute Erfahrungen, Fähigkeiten und Vorstellungen.
Resilienz
Jeder Mensch verfügt über Fähigkeiten, mit
Schwierigkeiten umzugehen und sie zu bewältigen.
Eigensprache
In der individuellen Art und Weise, wie ein
Mensch Sprache benutzt, finden sich Hinweise
auf diese Erfahrungen und Kräfte.
Wenn es also um das Fördern von seelischer und
körperlicher Gesundheit geht, kann der achtsame
Umgang mit der Eigensprache der Betroffenen
im Gespräch Zugang ermöglichen zu den faszinierenden Landschaften der Selbstheilungskräfte mit den einzigartigen Orten der Ressourcenund Resilienzerfahrungen.
An den Schluss meiner Gedanken zu dieser Veranstaltung möchte ich die Thesen zu den Titel-
Idiolekta 1/2012
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Winkler, P. (Hg.)
Eigensprache
Seminare zur Evolutionären
Psychosomatik und Idiolektik
mit A. D. Jonas
490 Seiten | 23,– Euro
ISBN 978-3-930823-00-0
A. D. Jonas
Kurzpsychotherapie in der
Allgemeinmedizin
Das gezielte Interview
414 Seiten | 23,– Euro
ISBN 978-3-930823-22-2
D. F. Jonas / A. D. Jonas
Signale der Urzeit
Archaische Mechanismen
in Medizin und Psychologie
347 Seiten | 23,– Euro
ISBN 978-3-930823-21-5
Horst Poimanns
little-brain-c or ner
Zur Evolution des Gehirns – motio et emotio
Abb. 1
Gehirn. Nicht so ein großes Gehirn wie unseres,
aber die Anlagen bis hin zur DNA, die es aufbaut,
waren in diesem Lebewesen bereits vorhanden.
Die Säugetiere kamen circa 162 Mio. Jahre vor
unserer Zeitrechnung auf die Welt, parallel dazu
lebten die Dinosaurier bis 65 Mio. Jahre vor unserer Zeitrechnung. Unsere Alpen entstanden vor
10 Mio. Jahren, nur so ganz nebenbei. Vor 6 bis
5 Mio. Jahren gab es die letzten gemeinsamen
Vorfahren und es entwickelte sich die Gruppe
der Lebewesen, die über den Homo erectus, den
Urmenschen, vor ca. 2 Mio. Jahren über den archaischen Homo sapiens vor 500 000 Jahren bis
zum modernen Menschen der Neuzeit führte.
Erdentstehung und neurologische
Evolution der Arten
Damit das Gehirn entstehen konnte war der Beginn unserer Erde notwendig. Vor ca. 4,6 Mrd.
Jahren entstand die Erde und es dauerte knapp
1 Mrd. Jahre, bis die ersten einfachen Lebensformen entstanden. Diese ersten Zellen, einfache
Hefezellen, die in der Lage waren, sich zu vermehren, haben mit uns Menschen noch immer
1/3 ihrer genetischen Ausstattung gemeinsam,
wenngleich ihr Gehirn zugegebenermaßen noch
etwas sehr rudimentär ausgebildet war. Es dauerte fast noch einmal 2 Mrd. Jahre, bevor sich mehrzellige Lebewesen bildeten, wobei ab dem Jahr
680 Mio. vor Christus eine rasche Entwicklung
im Meer stattfand. Die Besiedlung des Landes
begann ca. 375 Mio. Jahre vor unserer Zeitrechnung. Im Jahr 2004 fand Neil Shubin in der kanadischen Arktis wohl einen gemeinsamen Vorfahren, der diese Besiedlung des Landes startete.
Dieses Lebewesen hatte bereits alles, was für uns
später wichtig war, Schultern, Ellenbogen, Beine, Nacken, Handgelenk und natürlich auch ein
Idiolekta 1/2012
Abb. 2
Wir zeigen üblicherweise die Entwicklung des
menschlichen Gehirns gerne im Vergleich zu anderen Säugetieren (s. Abb. 2) die in der Größendimension zwischen Ratte und Kaninchen und
Mensch dargestellt werden, ab und zu befindet
sich auch noch ein Schaf dazwischen. Dabei wer43
Horst Poimanns
little-brain-c or ner
den in der Regel größere Gehirne, auch von jetzt
lebenden Säugetieren, wie von Pferden oder von
Elefanten, aus unergründlichen Überlegungen
heraus selten in solchen Reihen dargestellt.
Diese Darstellung bildet auch keinen Nachweis
der Entwicklung unseres Gehirns, weil all diese
Gehirne zur jetzigen Zeit für ihre Lebewesen optimal gestaltet sind und es ihnen erlaubt, in dieser
ihrer Welt gut zu überleben.
Die Gehirne unserer gemeinsamen Vorfahren lassen sich aufgrund der speziellen Konsistenz des
Gehirns mit Nerven, Stützzellen, Bindegewebe
und Blutgefäßen nicht in irgendwelchen Gesteinsschichten konservieren. Wenn man von Gehirngrößen spricht, spricht man gerne vom Enzephalisationsquotienten, der beim Menschen 7 beträgt,
beim Schimpansen 2,4 und beim Gorilla nur 1,14,
wenn man relativ nahe „Verwandte“ sucht. Dieser EQ gibt die Relation von Gehirnvolumen zu
Körpervolumen an und soll die Komplexität des
jeweiligen Gehirnes ausweisen. In weniger als 4
Mio. Jahren, einer relativ kurzen Zeit, wenn man
in evolutionären Zeiträumen denkt, wurde das
Hominidengehirn dreimal so groß, wie es Primaten in 60 Mio. Jahren davor erreicht hatten.
Dieses Gehirn (s. Abb. 3) wurde eingesetzt, um
genauere motorische Fertigkeiten zu entwickeln,
sowie das Gedächtnis und die Möglichkeit zu
planen, was durch die Anfertigung von Werkzeugen notwendig gemacht wurde. Das größere
Gedächtnis machte es einfacher, Tiere zu jagen,
wenn man wusste, wie man sie aufspürte und ihre
Bewegungsräume kannte. Man war leichter in der
Lage, den komplexen Regeln der jeweiligen Gesellschaften zu folgen und sich anzupassen. Was
letztlich immer angeführt wird, wenn man von
der reinen Größe des Gehirns absieht, ist die Entwicklung der Sprache als typisch menschliche Errungenschaft. Doch lassen Sie mich jetzt nicht
in wenig bewiesene, spekulative, nur vielleicht
Idiolekta 1/2012
Abb. 3
begründete Hypothesen verfallen, sondern auf
einen speziellen Aspekt der Gehirnentwicklung
eingehen.
Das dreigeteilte Gehirn
McLean entwickelte in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts sein Konzept vom tri-une-brain. Das
Gehirn der Reptilien kam zunächst – vor ungefähr
500 Mio. Jahren – in Fischen vor und erreichte
– um 250 Mio. Jahre vor unserer Zeitrechnung –
nach kontinuierlicher Entwicklung (mit der Zwischenstufe der Amphibien) seinen am weitesten
entwickelten Zustand. Das sogenannte limbische
System, das sich vor ca. 180 Mio. Jahren entwickelte, kam zunächst in kleinen Säugetieren vor. Danach entwickelte sich – als Lage über dem limbischen System – vor ungefähr 60 Mio. Jahren in den
Primaten der sogenannte Neocortex mit seiner un44
Horst Poimanns
little-brain-c or ner
glaublichen Wachstumsrate. Das Reptiliengehirn,
das unsere für das Leben notwendigen Basisfunktionen wie Herzschlag, Atmung, Körpertemperatur und Gleichgewichtssinn erfüllt, ist dem Hirnstamm und dem Kleinhirn in wesentlichen Teilen
angelagert. Obwohl es äußerst verlässlich arbeitet,
ist es manchmal wenig flexibel und etwas zwanghaft. Das limbische System ist mit seinen wesentlichen Strukturen des Hippocampus, der Amygdala
und des Hypothalamus der Sitz von Bewertungen,
die wir oft unbewusst machen und welche einen
starken Einfluss auf unser Verhalten ausüben. Das
limbische System ist in der Lage, Erinnerungen an
Verhaltensweisen aufzuzeichnen, die entweder sehr
angenehme oder sehr unangenehme Erfahrungen
beinhalten. Es ist sozusagen die Grundlage unserer
Emotionen. Der Neocortex hat letztlich in einer
dünnen Schicht mit den grauen Zellen in beiden
Hemisphären Vorstellung, Bewusstsein, abstraktes
Denken und Sprache ermöglicht. Der Neocortex
ist äußerst flexibel und hat ein nahezu unbegrenztes Lernvermögen. Das Nervensystem der Invertebraten hingegen, die ca. 99% der Tiere auf der Welt
ausmachen, ist nicht phylogenetisch aufeinander
aufbauend, sondern je nach spezifischer Notwendigkeit und Körperbau ausgeprägt: von einfachen
Lichtrezeptoren bei Euglena zu einem Nervennetz
bei der Hydra, welche bereits durch Synapsen verknüpft sind. Der Plattwurm hat bereits eine Längsverbindung der einzelnen Ganglien, Schnecken
und Seeschnecken haben mehrere Ganglien mit
zum Teil langen Nervenverbindungen, einige Insekten, wie z. B. der Grashüpfer, haben ein kleines
Gehirn zwischen den Augen, der Oktopus hat ein
Gehirn mit mindestens 300 Mio. Nervenzellen.
Gehirn und Emotionen
Ganz klar ist das menschliche Gehirn sowohl ein
intentionales Werkzeug als auch ein Werkzeug
für Intersubjektivität, bevor es ein sprachliches
Idiolekta 1/2012
Werkzeug wird. Und emotionale Ausdrücke, die
sowohl das Bewegen als auch das Bewegt-werden
im zwischenmenschlichen Kontakt und direkten
Austausch regulieren, sind das primäre Medium
der Kommunikation. Kinder nutzen Emotionen
über gemeinsam affektiv geladene Aufmerksamkeit zur Regulation gemeinsamer Aktivitäten.
Das Zusammenspiel von gemeinsamen Interessen
und emotionalen Werten, die in einem gemeinsamen Bewegungsspiel ausgedrückt werden, führen zu kooperativer Bewusstheit und gemeinsamen Unternehmungen. Diese Aktivitäten bilden
einen gemeinsamen Sinn in sich selbst. Verbundene Aufmerksamkeit auf auswärtige Abläufe ist
nicht genug und Worte sind nicht notwendig, um
Sinn zu erhalten. Alle Anpassungshandlungen,
d. h. die Bewegungen des Lebens, operieren auf
einer verschiedenen Zeitskala und in verschiedenen Zeitperioden gefühlter, vorgestellter oder erinnerter Erfahrungen, die jeweils auf Aktivitäten
angeborener neuronaler Netzwerke gründen, die
durch motorische Handlungen einen körperbezogenen Raum-Zeit-Raum schaffen. Diese neuronalen Netzwerke regulieren diese motorischen
Ak­tionen durch sensible Reaktionen in Bezug
auf interne und externe Veränderungen im Sinne von Perturbation sensu Maturana und Varela
(Trevarthen 1999 und 2008).
Wenn wir – selbst auf Entfernung – in der Gegenwart von Anderen sind oder wenn wir in der
Öffentlichkeit sind, können wir deren Zustand
bzgl. Interesse, Motivation und Selbstregulation
aus ihrer Haltung und ihren Gesten in Relation
zum Kontext fühlen, z. B. anhand des Tempos
und der Modulation ihrer Bewegungen, und
wenn sie Laute von sich geben, anhand von
Rhythmus, Tonhöhe, Intensität und Qualität
ihrer Stimmen. Wir müssen dabei nicht hören,
was sie inhaltlich sagen. Wir verfolgen, wie und
wohin ihre Augen schauen, die Veränderung
ihrer Ausdruckshaltung im Gesicht, die feinen
45
Horst Poimanns
little-brain-c or ner
Variationen von Handbewegungen, genauso wie
Veränderungen in ihrer Vokalisation und Rede.
Ganz besonders beobachten wir aufmerksam,
wie diese Verhaltensweisen zu unseren eigenen
Motiven und Gefühlen in Bezug stehen. In sehr
intimem Kontakt fühlen wir die Zartheit einer
Berührung, die Andeutung von Spannung, wir
spüren die Körperhaltungen, nehmen die Atmung wahr und die leiseste Veränderung in der
Stimmausdruckslage. Wir gewinnen dynamische
Informationen über ihre Motive und kognitives
Verhalten, sowohl aus ihren Bewegungen des
Körpers im Raum oder von den Veränderungen
der inneren Körperwahrnehmung und Bauchgefühlen, welche sich in ihrem Ausdruck und Gesten zeigen.
Ethologen beschreiben emotionale Signalinventare von Tieren, die wesentliche Informationen
z. B. im Jagdverhalten vermitteln, sowohl zwischen Jäger und Beute, als auch in der Koordination von Gruppenjagd. Oder sie verdeutlichen,
wie das Werbungsverhalten durchgeführt wird,
ebenso wie Partnerschaft und elterliche Sorge:
alles, um die kooperative Gesellschaft einer Art
zu erhalten. Jede Art hat ein feines Vokabular
von „„emotionalen Signalen“, welche über Körperbewegungen weiter vermittelt werden, und
bei vielen Tierarten gibt es Hinweise, dass diese
Konventionen des emotionalen Ausdrucks gelernt werden können.
Primäre Emotionen, die wir durch die Evolution
mit vielen Tieren teilen, sind neurodynamisch
sehr ähnlich und zusammenhängende neurobiologische Prozesse, die weit in der Entwicklung
des Gehirns und des Bewusstseins verankert sind.
Weil wir relativ homogene alte Erlebnissysteme
mit vielen anderen Lebewesen dieser Welt teilen,
haben wir auch die Möglichkeit, emotionalen
Kontakt zu Tieren aufzubauen bzw. von diesen
Idiolekta 1/2012
angerührt zu werden. Vermutlich liegen diese
primitiven Strukturen konzentriert in zentralen
Mittelhirnregionen, wie z. B. dem PAG (periaquäduktales Grau). (Wade und Panksepp 1998 B.)
Emotionen sind überkommene, evolutionäre
Werkzeuge für die jeweilige Lebensgestaltung.
Ein besseres Verständnis dieser alten emotionalen Energien kann uns heute helfen, den Alltag
zu meistern.
Der Anteil tiefer neurologischer
Strukturen an mentalen Prozessen
Die Basalganglien und deren Anteile an Hirnstamm, Kleinhirn, Thalamuskernen, Striatum
und Pallidum werden für alle Aspekte größerer
muskulärer Aktivitäten wie Stoßen, Schlagen,
Rennen, Gehen, Schwimmen und sogar Lächeln
benötigt. Die Basalganglien, insbesondere das
limbische Striatum, spielen eine besondere Rolle in emotionalen und motivationalen Abläufen,
indem sie affektive Zustände in Bewegung umsetzen. Verletzungen der Basalganglien können
so zu einer Vielzahl von affektiven Störungen
führen. Das Striatum und Teile des Thalamus
sind dem Vorhirn zuzurechnen und agieren als
Verbindungsstück oder Interface zwischen den
neueren neokortikalen motorischen Zentren im
Frontallappen und den älteren motorischen Regionen, die im Hirnstamm angesiedelt sind. Wichtige Komponenten des Striatums umfassen den
Nucleus caudatus, Putamen, den Globus pallidus
und die Amygdala.
Für die längste Zeit der Entwicklung im Bereich
der Wirbeltiere kam die Motorik aus dem Rückenmark, dem Hirnstamm, dem Kleinhirn und
dem limbischen Striatum, wie wir es noch im modernen Menschen finden können. Für den größten Teil der Evolution bestand das Vorderhirn aus
dem olfaktorischen System, der Amygdala, Hy-
46
Horst Poimanns
little-brain-c or ner
pothalamus und Hippocampus.
Das Striatum war von der Amygdala dominiert und ursprünglich
sogar ein Teil der Amygdala.
Das ganze Vorderhirn, wie auch
Amygdala, Hypothalamus und
Hippocampus standen unter
großem Einfluss des olfaktorischen Systems und reagierte
auf Geruchsimpulse, indem es
das Füttern, das Kämpfen, das
Fliehen oder sexuelle Aktivitäten veranlasste. Deswegen wird
dieser Teil des Gehirns manchmal auch als Rhinencephalon
oder Nasenhirn bezeichnet. In
der Frühgeschichte der Evolution bildeten die Amygdala und
das Striatum einen gemeinsamen Komplex, das dorsovent- Abb. 4
rale Amygdalastriatum. Dieses
dorsoventrale Amygdalastriatum war durch das
olfaktorische System dominiert. Das striatoamygdaloide Grau oder auch dorsales Pallidum
führte Motoraktivitäten aus, die in gewisser
Weise ein Spiegelbild zum Hirnstamm bildeten,
der über das vestibuläre System und – mit etwas
weniger Ausprägung – durch das visuelle System
dominiert wurde. Einer der entscheidenden Unterschiede war, dass das olfaktorische System die
Möglichkeit bot, kurz inne zu halten, bevor eine
Antwort notwendig wurde. Dies machte es möglich, dass es zu einer Art „Denkmaschine“ wurde, während der Hirnstamm rein reflexiv blieb.
Das Amygdala- Striatum-Konglomerat wurde
im Verlauf der Evolution langsam auseinander
gepresst und auseinander geschoben, was sich
anhand verschiedener Fische, Amphibien und
Reptilien gut aufzeigen lässt (s. Abb. 4).
Dies lässt sich heute noch am Beispiel des Hai
nachvollziehen, der seit 450 Mio. Jahren exisIdiolekta 1/2012
tiert. Aber noch beim Menschen ist die Amygdala mit dem Striatum aufs Engste verknüpft, so
dass der Schweif des Nucleus caudatus unmittelbar in die Amygdala mündet oder umgekehrt die
Amygdala einen starken Strang in den Kopf des
Nucleus caudatus über dessen Schweif schickt.
Aus diesem Grund wird dieser Teil des Striatums
auch das „limbische Striatum“ oder die „ausgedehnte Amygdala“ genannt.
Zusätzlich zu den Basalganglien sind der Thalamus, die primären, sekundären und supplementären motorischen Hirnareale des Frontallappens wichtige Zentren, die die Bewegung
mit bestimmen. Das limbische Striatum und die
Basalganglien in ihrer Verknüpfung, welche die
frontalmotorischen Zentren mit einbezieht, sind
eng verbunden und funktionieren als ein integriertes System, welches alle Aspekte emotional
getriggerter Bewegungsverhalten in Abstimmung mit dem Hirnstamm, dem Kleinhirn, dem
47
Horst Poimanns
little-brain-c or ner
Rückenmark und den Kernen der Hirnnerven
beinhaltet. Alle diese Teile sind eng verknüpft
und funktionieren als ein integriertes System der
Hervorbringung von Bewegung, z. B. schicken
die Basalganglien Input in den Hirnstamm über
die extrapyramidalen motorischen Systeme und
gleichzeitig in die motorischen Areale des Thalamus und die motorische Areale des Neocortex,
der ebenso Projektionen in den Hirnstamm und
in das Rückenmark schickt (Parent and Hazrati
2005).
Die Basalganglien, insbesondere das Corpus,
das limbische Striatum und der Globus pallidus,
entwickeln sich aus olfaktorischem System und
Amygdala und können deshalb in vielerlei Hinsicht als Teil des limbischen Systems betrachtet
werden. Sehr eng verbunden, und damit ebenfalls
ein Teil der Basalganglien, sind die Substantia nigra, die Formatio reticularis und das Tegmentum
im Mittelhirn, welches Dopamin in den Corpus
und das limbische Striatum schickt. Insbesondere
die nigrostriatale bilaterale Dopamin-Zellgruppe
(A9) schickt Dopamin von der Substantia nigra
in das dorsale Caudatum und Putamen und den
medialen Frontalhirnlappen, wobei gleichwohl
einige Fasern ebenso das limbische Striatum erreichen.
Das mesolimbische Dopaminsystem entspringt
in den Zellgruppen A10 im ventralen Mittelhirn-Tegmentum und schickt seine Fasern die
Amygdala, in das Septum, in den Hippocampus, in frontale kortikale Gebiete, ebenso wie
in das ventrale Caudatum und Putamen, den
Nucleus accumbens und die Substantia innominata, z­ usätzlich auch in das dorsale Striatum.
Das m
­ esolimbische Dopaminsystem ist in Verbindung zu bringen mit Emotionen, Stimmungen, Gedächtnis, Belohnung sowie motorischen
Überlebensaktivitäten wie Rennen und Galoppieren.
Idiolekta 1/2012
Artübergreifende Basisemotionen
Es ist eine wissenschaftliche Tatsache – und nicht
nur eine Schlussfolgerung –, dass durch die Forschung an den Gehirnen von Tieren eine Reihe gleicher und daher vergleichbarer emotionaler Systeme
über alle Säugetiere hinweg aufgezeigt werden kann.
Diese emotionalen Systeme sind schwerpunktmäßig in den medialen Strukturen des Gehirns zu finden, vom periaquäduktalen Grau des Mittelhirns
über die medialen Regionen des Zwischenhirns zu
den basalen Kerngebieten des Vorderhirns. Sie reichen von den Kerngebieten der Stria terminalis, der
präoptischen Regionen, dem Septum und der Basalganglien, das heißt dem Nucleus accumbens, hoch
bis zur Amygdala, zur Insel und einigen Strukturen
des medialen Frontalhirnes. Dies schließt das anteriore Cingulum, den orbitofrontalen Cortex und den
medialen präfrontalen Cortex ein.
Abb. 5
Die sieben Basisemotionen oder die emotionalen
Systeme, die sich konsistent und immer wieder in
den Neurowissenschaften in der Forschung an verschiedenen Tierarten zeigen lassen, sind 1. Suchen
und Orientieren, 2. Angst, 3. Wut, 4. Lust, 5. Sorgeverhalten, 6. Panik und 7. Spielverhalten. Diese
emotionalen Grundsysteme sind notwendig für das
entsprechende emotionale Verhalten, aber bei wei48
Horst Poimanns
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tem nicht ausreichend für die höher angesiedelten
kognitiv-emotionalen Äußerungen, die aus diesen
Systemen hervorgehen und im Alltag aufscheinen.
Diese sieben Basissysteme lassen aber die Organismen als aktive Betreiber in der Welt erscheinen:
Tiere, die sich engagieren und Vorgänge in der
Welt über Emotionen verstehen, im Gegensatz zu
nur einfach passiv auf Stimuli reagierenden oder
informationsverarbeitenden Verhaltensrobotern.
Ohne die einzelnen Systeme, ihre Verbindungen
und grundlegenden biochemischen Substrate weiter auszuführen, sollten zwei dieser Systeme kurz
angesprochen werden. Einmal das Orientierungssystem, weil es für fast alle anderen emotionalen Basissysteme grundlegend ist, sowie das Spielverhalten, weil es als genereller Faktor für Wohlbefinden
und auch für Heilungskräfte bei Disfigurationen
im emotionalen Bereich eingesetzt werden kann –
und dies über die Arten hinweg. Spielverhalten ist
eine üblicherweise wenig benutzte Ressource, mit
der erwachsene Lebensformen wieder in eine positiv-affektive Spur zurückgebracht werden können.
Es wird zunehmend klar, dass körperliche Aktivität so gut wirkt wie Antidepressiva oder jede Form
von Medizin, die Emotionalität dämpft (Wade und
Panksepp 2009). Zudem ist es wahrscheinlich, dass
der Drang zum Spielen in Erwachsenen wieder reaktiviert werden kann durch verschiedene Formen
von körperlicher Aktivität. Vieles wird erleichtert
durch eine künstlerische Begleitkomponente, wie
Musik oder Tanz, die ja zum Teil um rhythmische
motorische Impulse des Körpers entworfen wurden. (Panksepp und Trevarthen 2008).
einer flexiblen Art und Weise in motorische Ausführhandlungen umgesetzt werden konnten. Diese Funktionen der Basalganglien, insbesondere
des limbischen Striatums, funktionieren im Menschen noch genau so wie in anderen Lebewesen.
So sind die Basalganglien noch außerordentlich
wichtig in stereotypisierten und artspezifischen
motorischen Ausdrucksverhalten von sozialen
oder emotionalen Zuständen, welche sich im
Wegrennen bei Angstzuständen, im Beißen in
defensiven Situationen oder im Abwehrverhalten durch ballistische Bewegungen, wie Schlagen
oder mit dem Fuß stoßen, zeigen oder aber auch
durch Gesichtsausdruck, Haltung, Muskeltonus
oder Gesten. Da Menschen grundsätzlich die
gleichen Basalganglien und das gleiche limbische
System besitzen, egal ob sie glücklich, traurig, ärgerlich usw. sind, zeigt ihre Gesichts- und Körpermuskulatur die gleiche, sofort identifizierbare
emotionale Haltung und das gleiche Ausdrucksverhalten, unabhängig von Kultur oder ethnischer Herkunft. Im Gegensatz zum Hirnstamm
und zum Kleinhirn, welches nur reflektiv arbeitet
und stereotypisierte Motorprogramme zur Verfügung stellt, die ohne weiteres Denken ausgeführt
werden, zeigen die Basalganglien eine außerordentliche Flexibilität in Bezug auf die emotional
motorischen Ausdrucksaktivitäten und können
außerordentlich gut auf die motivationalen und
emotionalen Zustände des Organismus reagieren,
da eine extensive Verbindung mit dem limbischen
System vorliegt.
Sowohl die Amygdala als auch das anteriore Cingulum, der laterale Thalamus und der Hippocampus sind so in der Lage, einen beachtlichen Einfluss auf die Basalganglien zu gestalten, welche
sich aus der Amygdala heraus entwickelt hatten,
um als eine Schaltstation zwischen Emotionen
und motorischen Aktivitäten zu dienen, so dass
die Bedürfnisse und Impulse der Amygdala in
Veränderungen der Funktion
des autonomen Nervensystems im
Laufe der Evolution
Idiolekta 1/2012
Wenn wir dem Weg der Evolution folgen und
betrachten, in welcher Form sich das autonome Nervensystem entwickelt hat – zum Beispiel
von alten Knorpelfischarten hin zu Fischen mit
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Horst Poimanns
little-brain-c or ner
Geräten, Amphibien, Reptilien und Säugetieren
– erfahren wir nicht nur, dass das Gehirn wächst
und der Cortex an Komplexität zunimmt, sondern
auch, dass es darüber hinaus eine Veränderung in
der Zusammensetzung und der Funktion des autonomen Nervensystems gibt. Bei den Säugetieren arbeitet das autonome Nervensystem in einem
hierarchischen System, dem phylogenetische Zustände in umgekehrter Reihenfolge entsprechen.
Porges entwickelt dies in seiner polyvagalen Theorie. Zunächst, so meint er, gab es drei Antwortsysteme: 1. Die cranialen Nerven, die in der Lage
sind, die Gesichtsmuskulatur zu regulieren und
in Ruhe ablaufende automatische und behaviorale Zustände zu vermitteln. 2. Das sympathischadrenale System, das in der Lage ist, den metabolischen Output zu steigern. 3. Das inhibitorische
vagale System, das in der Lage ist, den metabolischen Umsatz zu verringern, das Freezing von
Muskeln zu fördern und auch die Defäkation.
Diese drei Strategien als Antwort auf Herausforderungen der Umwelt sind das Ergebnis differenzierter neurophysiologischer Systeme. Diese
Systeme zeigen eine aufeinander aufbauende phylogenetische Abhängigkeit. Die cranialen Nerven
als Regulator der Gesichtsmuskulatur und des
Ausdrucksverhaltens tauchen erst bei Säugetieren
auf. Das sympathisch-adrenale System ist mit anderen Wirbeltieren, inklusive Reptilien, gemeinsam verfügbar. Und zuletzt teilen wir das inhibitorische vagale System bereits mit primitiven
Wirbeltieren, einschließlich der Amphibien und
der einfachsten Fischarten. Diese drei Systeme repräsentieren verschiedene evolutionäre phylogenetische Abschnitte der neuronalen Entwicklung.
Zunächst entstanden im Verlauf der Evolution
einfache inhibitorische Systeme des Verhaltens,
die sich zu einem Flucht-Kampf-System entwickelten und sich letztlich beim Menschen und
anderen Primaten zu komplexen mimischen,
Idiolekta 1/2012
gestischen und tonalen Ausdruckssystemen entwickelten.
Nur durchschnittlich 20 Millisekunden vor einem Bewegungsbeginn beginnen die Neuronen,
ins Striatum zu feuern. Ihre Rate steigert sich
beim Start einer spezifischen Bewegung und hört
nach dem Enden der Bewegung auf. Zusätzlich
sind die Nervenzellen somatotopisch angelegt,
so dass sie Arm-, Gesichts- oder Beinbewegungen repräsentieren und als Cluster im Striatum
anzutreffen sind. Die Nervenzellen steigern ihre
Aktivität auch vor und während einer Bewegung
des Beines, des Gesichts oder des Armes.
Die Inselregion zeigt sich in funktionellen Aufnahmen (z. B. fMRI) in einer Rolle, in der sowohl
Schmerz als auch verschiedene andere emotionale Qualitäten, wie Ärger, Angst, Ekel, Freude und
Traurigkeit verarbeitet werden. Über die Inselregion werden diffuse Rückmeldungen aus den
Bauchorganen in die Bewusstseinsebene transferiert. Kretschy und andere (204) meinen, dass
Körperzustände in der Inselregion des Gehirns
repräsentiert werden und für subjektive Erfahrungen und Gefühle ihren Beitrag leisten.
Zusammenfassung
Die Geschichte der Gehirnentwicklung, insbesondere der Gehirnentwicklung des Menschen,
ist nicht nur eine Geschichte der Entwicklung
der äußeren Hirnrinde oder einer Volumenzunahme des Gehirns, so erstaunlich und unbegreiflich dies auch in den letzten Mio. Jahren
gewesen sein mag. Die grundlegenden Voraussetzungen für uns Menschen sind jedoch auch in
tieferen Hirnstrukturen im Verlauf der Evolution
einer kontinuierlichen Wandlung und Entwicklung unterworfen worden. So weiß man nun, dass
es grundemotionale Strukturen gibt, die für die
50
Horst Poimanns
little-brain-c or ner
Verarbeitung von bestimmten körperlichen Signalen und Außenweltsignalen eine Rolle spielen,
indem sie die Bedeutung dieser Signale für uns
als ganzheitlichen Organismus bewerten, um daraufhin eine sofortige oder – mehr oder weniger
überlegte – verzögerte Reaktion zu produzieren.
Während vor vielen Mio. Jahren die Wahrnehmung, Bewertung und körperliche, motorische
Reaktion nicht nur im Gehirn, sondern auch
im Verhalten eine Einheit bildeten, und so wenig Zeit für Nachdenklichkeit bestand, kam es
durch eine vermehrte motorische Möglichkeit
beim Übergang der Meerestiere zu den Landtieren im Gehirn aufgrund von zunehmenden Leitungsbahnen zu einer langsamen Trennung der
Bewertungsanteile und der Anteile im Gehirn, die
für die motorische Reaktion zuständig sind. Dadurch gelang es, Zeit zu schaffen, um nachdenken
zu können, ggf. auch, um bestimmte Reaktionen
dann qua Entscheidung nicht durchzuführen. All
diese Abläufe finden tief in unserem Gehirn statt
Idiolekta 1/2012
und sind unserem Bewusstsein nicht zugänglich.
Das macht es vielleicht erklärlich, dass bestimmte
mimische Reaktionen oder motorische Reaktionen oder Gesten oder Körperhaltungen auf unmittelbare Eindrücke hin so schwer zu kontrollieren oder nicht zu spielen sind. Auf der anderen
Seite hat diese Entwicklung den entscheidenden
Schritt dazu gelegt, dass wir unseren Gefühlen
nicht mehr ausgeliefert sind, sondern sie auch
beeinflussen können.
Bildnachweise
Abb. 1: Mod. Nach Walter Schneider, 2012
Abb. 2: Mod. Nach www.thebrain.mcgill.ca, 2009
Abb. 3: Mod. Nach Uni-Jena, 2009
Abb. 4: Mod. Nach R. Joseph, 2011
Abb. 5: Mod. Nach Zina Deretsky, 2004
Literatur beim Verfasser
51
© Julia Marten
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