Akteure am fremden Hof

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Akteure am fremden Hof
Schriften zur politischen Kommunikation
Band 22
Herausgegeben von
Angela De Benedictis, Gustavo Corni, Brigitte Mazohl,
Daniela Rando und Luise Schorn-Schütte
Christian Steppan
Akteure am fremden Hof
Politische Kommunikation und Repräsentation
kaiserlicher Gesandter im Jahrzehnt des Wandels am
russischen Hof (1720–1730)
Mit 17 Abbildungen
V& R unipress
Reihe des Internationalen Graduiertenkollegs »Politische Kommunikation von der
Antike bis in das 20. Jahrhundert«
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ISSN 2198-6312
ISBN 978-3-8471-0433-9
ISBN 978-3-8470-0433-2 (E-Book)
ISBN 978-3-7370-0433-6 (V& R eLibrary)
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Teil 1: Der Handlungsspielraum der Akteure: Kommunikative,
normative, institutionelle und begriffliche Rahmenbedingungen des
frühneuzeitlichen Diplomatieparketts . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1. Die vielfältige Sprache des frühneuzeitlichen
Gesandtschaftswesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1.1. Der Kommunikationsprozess, seine Akteure und Medien .
1.1.2. Politische Kultur(en) und ihre Sprache(n) . . . . . . . . .
1.2. Die Vielfalt der Struktur – normative und institutionelle
Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2.1. Ideengeschichtliche und normative Rahmenbedingungen
des frühneuzeitlichen Völkerrechts . . . . . . . . . . . . .
1.2.2. Ideengeschichtliche und normative Rahmenbedingungen
der Zeremonialwissenschaften im frühen 18. Jahrhundert .
1.2.3. Ideengeschichtliche und normative Rahmenbedingungen
der frühneuzeitlichen Gesandtschaftsliteratur . . . . . . .
1.2.4. Ideengeschichtliche und normative Rahmenbedingungen
des internationalen Staatensystems . . . . . . . . . . . . .
1.2.5. Von der Norm zur Praxis – Professionalisierung des
europäischen Gesandtschaftswesens . . . . . . . . . . . . .
1.2.6. Professionalisierung und institutioneller Ausbau des
Gesandtschaftswesens in Wien und St. Petersburg/Moskau
1.2.7. Wissens- und Kulturtransfer durch die Intensivierung des
diplomatischen Austausches . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3. Die Vielfalt der Quellen und die daraus erschließbaren
Kommunikationsräume und Begriffsbestimmungen . . . . . . .
1.3.1. Die Akteure in ihren Netzwerken . . . . . . . . . . . . . .
1.3.2. Die Kommunikationsräume der kaiserlichen Gesandten . .
1.3.3. Die Vielfalt der Begrifflichkeiten . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil 2: Vom zwischenstaatlichen Tauwetter in die diplomatische Eiszeit
– Wiederbelebung und Einfrieren der bilateralen Kommunikation in
den Jahren 1720–1725 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1. Ein Klima des gegenseitigen Misstrauens? Die zwischenstaatlichen
Beziehungen am Vorabend der groß angelegten Kontaktaufnahme
von 1720/21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2. Die Entsendung einer diplomatischen Mission des Kaisers im
Jahre 1721 – Annäherung an das neue Russland als zum Teil
unerschlossener akkulturierter Kommunikationsraum . . . . . . .
2.2.1. Die Akteure am fremden Hof – Botschafter Stephan
Wilhelm Graf Kinsky und Legationssekretär Sebastian
Nikolaus Hochholzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.2. Das wechselseitige Bemühen um die Freundschaft des
anderen Hofes – die Kommunikationsstrategien der ersten
Annäherungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.3. Zusammenfassung: Die Kommunikationsstrategien der
außenpolitischen Akteure und deren Widerhall in den
verwendeten Schlüsselbegriffen ihrer Interaktion . . . . . .
2.3. Die Ausrufung Peters I. zum »Allrussischen Imperator« – der
Auslöser für eine Periode des sukzessiven Einfrierens der
diplomatischen Kommunikation ab dem Jahre 1722 . . . . . . . .
2.3.1. Das Eindringen des Zaren in das Weltbild des Kaisers –
machtpolitische und ideengeschichtliche Hintergründe des
Konflikts um den Imperatorentitel . . . . . . . . . . . . . .
2.3.2. Das schwere Ringen um den Erhalt der bilateralen
Beziehungen auf höchster Ebene –
Kommunikationsmechanismen in Zeiten der einsetzenden
diplomatischen Verspannungen . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3.3. Der schwelende Konflikt um den Imperatorentitel und die
Stagnation in der zwischenstaatlichen Kommunikation bis
zum Tode Peters I. 1725 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3.4. Zusammenfassung: Die Kommunikationsstrategien der
außenpolitischen Akteure und deren Widerhall in den
verwendeten Schlüsselbegriffen ihrer Interaktion . . . . . .
Inhalt
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Inhalt
Teil 3: Aufblühen und Kultivierung der diplomatischen Beziehungen –
Kommunikation zur Erlangung und Erhaltung der zwischenstaatlichen
Freundschaft in den Jahren der schnellen Herrscherwechsel
(1725–1730) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1. Wiederaufnahme der diplomatischen Kommunikation auf
höchstem Niveau – das daraus resultierende Bündnis und die
anschließende Intensivierung der Kommunikation (1725–1726) . .
3.1.1. Der Kompromiss in der Titelfrage – Grundlage für die
Kommunikation zwischen den Herrschern und die
Absendung des hochrangigen kaiserlichen Gesandten
Amadeus Graf Rabutin nach Russland . . . . . . . . . . . .
3.1.2. Das Bemühen um den (potenziellen) Bündnispartner –
Kommunikationsstrategien im Rahmen der Intensivierung
zwischenstaatlicher Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.3. Zusammenfassung: Die Kommunikationsstrategien der
außenpolitischen Akteure und deren Widerhall in den
verwendeten Schlüsselbegriffen ihrer Interaktion . . . . . .
3.2. Durch politische und verwandtschaftliche Bande verbunden – eine
Hochblüte bilateraler Kommunikation zwischen den Höfen Karls
VI. und Peters II. (1727–1730)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.1. Der Kaiser und sein Neffe, der Großfürst –
Kommunikationsstrategien im innerrussischen Konflikt um
die Thronfolge Peters II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.2. Unerwarteter Wechsel der außenpolitischen Akteure – der
Tod Rabutins und die schwierige Annäherung von Franz
Carl Graf Wratislaw an den Hof Peters II. . . . . . . . . . .
3.2.3. Stagnation in der Freundschaft der beiden Bündnispartner?
Wratislaws Ringen um die Gunst des Hofes von Peter II. . .
3.2.4. Zusammenfassung: Die Kommunikationsstrategien der
außenpolitischen Akteure und deren Widerhall in den
verwendeten Schlüsselbegriffen ihrer Interaktion . . . . . .
3.3. Ausblick statt Rückblick: Wratislaws erfolgreiche Interaktion mit
dem Hof Anna Ivanovnas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
Diese Arbeit liegt im historiographischen Trend. Sie reiht sich in eine Vielzahl
von kleineren und größeren Werken der jüngeren Geschichtsschreibung ein, die
die Akteure der (frühneuzeitlichen) Außenbeziehungen in den Blick nehmen.
Grundlage aller dieser Untersuchungen stellt eine Neubewertung der wohl
klassischsten Quellen der Diplomatiegeschichte dar – die Korrespondenzen
zwischen den Gesandten und ihren Höfen. All diesen Studien gemeinsam ist eine
neue Betrachtungsweise dieser traditionellen Materialien und die damit verbundene Konzentration auf die bislang unbeachteten Inhalte der diplomatischen Relationen. Damit traten Themen wie das Alltags-, Berufs- und Sozialleben sowie die Interaktion und sozialen Netzwerke der politischen Akteure ins
Zentrum der historiographischen Aufmerksamkeit. Eine Herangehensweise, die
sich mittlerweile bereits gut etabliert hat.1
Sehr viel Neues hält dieser Zugang auch im Falle der diplomatischen Beziehungen zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau in den 1720er-Jahren bereit.
So nahm die bisherige Geschichtsschreibung ausschließlich die aus Sicht der
traditionellen Historiographie politisch relevanten Ereignisse der zwischenstaatlichen Beziehungen in den Blick. Dieser fokussierte sich somit auf ein
einziges Ereignis: den Bündnisschluss im Jahre 1726. Die Vorgeschichte bzw.
Auswirkungen und Folgen dieses Zusammenschlusses fanden in den genannten
Werken jedoch nur am Rande Erwähnung.2 Große Ausnahmen stellen allerdings
die Untersuchungen von Sergej Nelipovič und des deutschstämmigen russischen
Historikers Alexander Brückner (russisch: Aleksandr Brikner) dar. Ersterer
veröffentlichte im Jahre 2010 die bislang erste zusammenhängende, auf russi1 Vgl. pars pro toto zu diesen neuen Betrachtungsweisen in der Diplomatiegeschichte: Gunda
Barth-Scalmani/Harriet Rudolph/Christian Steppan, Einleitung, in: Gunda BarthScalmani/Harriet Rudolph/Christian Steppan (Hgg.), Politische Kommunikation zwischen Imperien. Der diplomatische Aktionsraum Südost- und Osteuropa (Innsbrucker Historische Studien, Bd. 29), Innsbruck-Wien-Bozen 2013, 9–17.
2 Vgl. dazu etwa die Arbeiten von J. Kliwar, W. Leitsch, G.A. Nekrasov und R. Pommerin, die in
der Einleitung zu Teil 3 der Arbeit auf einen Blick zusammengefasst werden.
10
Einleitung
schen Archivmaterialien basierende Studie über die russisch-österreichischen
Beziehungen im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts, die sich auf die ereignisund militärgeschichtlichen Hauptentwicklungslinien der genannten Periode
konzentriert.3 Der im 19. Jahrhundert an den Universitäten in Dorpat (Tartu,
Estland) und Jena wirkende Brückner hingegen stützte seine Arbeiten auf die
Korrespondenzen der kaiserlichen Gesandten mit dem Wiener Hof und behandelte darin bereits Fragen, die man heutzutage wohl als brandaktuell bezeichnen würde.4 Das Alltags-, Berufs- und Sozialleben der Diplomaten findet
darin ebenso Erwähnung wie die personellen Netzwerke und Kommunikationsstrategien derselben.
Wie in den meisten Werken dieser Epoche fehlen jedoch auch bei Brückner
größtenteils die Angaben über die Herkunft seines Wissens. Außerdem gehen
seine trotz alledem sehr gründlich recherchierten Beiträge in ihrem Charakter
nicht über kommentierte Quelleneditionen hinaus und stellen die Fakten über
die Tätigkeit der kaiserlichen Gesandten nicht in einen größeren theoretischen
bzw. methodischen Zusammenhang. So ist zum Beispiel eine Einbettung der
Ereignisse in die normativen Richtlinien der frühneuzeitlichen Diplomatie – wie
sie in der vorliegenden Untersuchung vorgenommen wird – bei Brückner nicht
zu finden. Ungeachtet dessen stellen die von ihm aufgeworfenen kulturgeschichtlichen Fragen der zwischenstaatlichen Beziehungen eine wertvolle Wissensbasis dar, die an manchen Stellen Verweise auf bereits niedergeschriebenes
Wissen möglich macht. Dies ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit, da die
vorhandene Literatur über die internationalen Beziehungen im betrachteten
Zeitraum nicht allzu umfangreich ist und der aktuelle Forschungsstand auf
diesem Gebiet nicht als gängiges Wissen vorausgesetzt werden kann. Aus diesem
Grund werden in der vorliegenden Arbeit immer wieder Einschübe gemacht, in
denen die Hauptentwicklungslinien der diplomatischen Auseinandersetzungen
zusammengefasst werden. Diese sollen dem Leser an manchen Stellen als Faktengrundlage dienen, um sich in weiterer Folge in diese Fallstudie über das
bilaterale Verhältnis zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau vertiefen zu
können.
In den angesprochenen Untersuchungen von Brückner blicken auch jene
Faktoren durch, die den im Titel der Dissertation angesprochenen »Wandel« des
russischen Hofes bedingten. So liefert die vorliegende Arbeit nicht nur wertvolles neues Wissen über die diplomatischen Beziehungen zwischen den Höfen
3 Vgl. Christian Steppan, Rezension über : Sergej G. Nelipovič, Sojuz dvuglavych orlov. Russkoavstrijskij voennyj al’jans vtoroj četverti XVIII v., Moskva: Kvadriga 2010, in: Jahrbücher für
Geschichte Osteuropas / jgo.e-reviews, jgo.e-reviews 2 (2013), 14–15, <http://recensio.net/r/
da70b4e0bdb540738f7a9b35d2ecd638>, (26. Juni 2014).
4 Vgl. Brückner, Alexander, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 55: Nachträge bis 1899:
Wandersleb–Zwirner, Leipzig 1910, 688–691.
Einleitung
11
in Wien und St. Petersburg/Moskau, sondern bringt auch etwas mehr Licht in
eine zum Teil unterbeleuchtete Epoche der russischen Geschichte. Gerade die
zwischen den beiden »großen« Herrschern Peter I. (1682–1725) und Katharina
II. (1762–1796) liegenden Jahrzehnte blieben eine von der bisherigen Historiographie im besten Fall nur oberflächlich erforschte Periode der russischen
Geschichte. So ist bis heute aktuell, was bereits im Jahre 1986 von den Autoren
des Handbuchs der Geschichte Russlands so treffend formuliert wurde. Demnach wurde die Regierungszeit Peters I. von der Geschichtswissenschaft als
eigenständiges Zeitalter herausgegriffen, das aus historiographischer Sicht erst
wieder mit der Epoche Katharinas II. einen entsprechenden Anschluss fand. Der
im Schatten der beiden »Großen« verschwindende Zeitraum von 1725 bis 1762
blieb somit nicht nur eine unterbeleuchtete Phase der russischen Geschichte,
sondern bekam vor allem auch den Charakter eines Zwischenspiels in mehreren
Akten zugeschrieben. Das gilt auch für das im Zentrum dieser Untersuchung
stehende Jahrfünft von 1725 bis 1730. Wenngleich die Historiographie diesen
Abschnitt sehr wohl als eine spezifische Einheit wahrnahm, so wurde er im
Wesentlichen auf ein Thema reduziert: die Frage der Nachfolge Peters I. und das
damit verbundene Problem des Fortbestandes der Selbstherrschaft.5
Und das, obwohl die Regierungsjahre der unmittelbaren Nachfolger Peters I.
sich in vielen Punkten sehr wohl als anschlussfähig an die Epoche des »großen«
Herrschers erweisen und keineswegs nur die selbst von der jüngeren Geschichtsschreibung noch bevorzugte Macht-Frage aufwerfen.6 Der mit Peter I.
einsetzende Wandel Russlands erlebte mit dessen Tod keinen Abbruch, sondern
setzte sich etwa im Bereich der Außenpolitik, des Gesandtschaftswesens, der
Diplomatie und des diplomatischen Zeremoniells sowie der Hofkultur auch
unter seinen Sukzessoren fort.7 So stellte die an der Schwelle vom 17. zum
18. Jahrhundert einsetzende außenpolitische Neuorientierung des russischen
Hofes nur eine von vielen Reformen des »großen« Herrschers dar, die auch nach
seinem Tode weitergeführt wurde. Das wird unter anderem daran deutlich, dass
die nach dem Frieden von Nystad (1721) eifrig betriebene Suche des jungen
russischen Imperiums nach einem geeigneten Bündnispartner erst im Sommer
1726 – also eineinhalb Jahre nach dem Ableben des Langzeitherrschers – abgeschlossen werden konnte. Die Gründe dafür werden im zweiten Teil dieser
Arbeit gründlich untersucht, indem darin die Beziehungen zwischen Wien und
5 Vgl. Klaus Zernack (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 2,1: 1613–1856, Vom
Randstaat zur Hegemonialmacht, Stuttgart 1986, 224–229, 392–401 sowie 444–446.
6 Vgl. dazu etwa die Arbeiten von E.V. Anisimov, I.V. Kurukin und N.I. Pavlenko, die in den
Teilen 2 und 3 dieser Arbeit ausführlich besprochen werden.
7 Vgl. dazu im Detail die im Rahmen der vorliegenden Arbeit ausführlich besprochenen Studien von O.G. Ageeva.
12
Einleitung
St. Petersburg/Moskau in den Jahren 1720 bis 1725 und damit die erste ernst zu
nehmende Annäherungsphase zwischen Karl VI. und Peter I. betrachtet wird.
Die bisherigen Werke über die Außenpolitik und die diplomatischen Beziehungen Russlands in den letzten Regierungsjahren Peters I. haben gezeigt, dass
mit dem gewinnbringenden Frieden von Nystad und der unmittelbar darauffolgenden Ausrufung des Zaren zum allrussischen Imperator nicht nur die
Grundlage für eine ernst gemeinte und nachhaltige Zusammenarbeit mit dem
russischen Hof gelegt wurde, sondern auch die Basis für einen langwierigen
ideologischen Kampf zwischen dem aufgestiegenen russischen Herrscher und
den übrigen europäischen Souveränen bereitet wurde.8 Mit dem viel zitierten
Wandel Russlands zur europäischen Großmacht und den damit verbundenen
Veränderungen in der russischen Herrscherideologie hatte also nicht nur ein
gefragter Bündnispartner, sondern auch ein ernst zu nehmender Konkurrent
das politische Parkett der europäischen Mächte betreten.
Der mit diesen Ereignissen einhergehende Wandel in der Haltung und
Kommunikation des Wiener Hofes gegenüber Russland wird durch die nähere
Betrachtung des Zeitraumes von 1720 bis 1725 genau unter die Lupe genommen.
Diese ins Detail gehende Untersuchung zeigt deutlich, dass gerade die soeben
angesprochene Titelfrage einen bestimmenden Faktor bei der Annäherung
Russlands an die potenziellen europäischen Bündnispartner darstellte und im
konkreten Fall der Beziehungen zwischen Wien und St. Petersburg/Moskau eine
Allianz zwischen beiden Höfen zu Lebzeiten Peters I. unmöglich machte. Die
damit verbundenen Probleme und Herausforderungen der kaiserlichen Gesandten in der Kommunikation mit dem russischen Hof und den übrigen ausländischen Diplomaten, die teilweise mit ihnen um die »feste Freundschaft« des
russischen Herrschers kämpften, stehen daher im Zentrum der Betrachtungen
des zweiten Teils dieser Arbeit. Neben diesem Hauptschwerpunkt der Untersuchung findet darin auch die Art und Weise nähere Erwähnung, wie der beschriebene Wandel Russlands in den letzten Regierungsjahren Peters I. und die
damit verbundenen Veränderungen in den Beziehungen zwischen Wien und St.
Petersburg/Moskau an eine breitere Öffentlichkeit transportiert bzw. von dieser
wahrgenommen wurden.
Die schnell aufeinander folgenden Herrscherwechsel in der zweiten Hälfte
der 1720er-Jahre begünstigten jedoch nicht nur den Bündnisschluss im Jahre
1726, sondern stellten die diplomatischen Vertreter auch vor große Herausforderungen in der Kommunikation mit dem russischen Hof. So wurde mit dem
überraschenden Regierungsantritt von Peters zweiter Frau, Ekaterina I. Alekseevna (1725–1727), vorerst eine Frage entschieden, die die kaiserliche Di8 Vgl. dazu etwa die Arbeiten von A.V. Florovskij, L.A. Nikiforov, S.M. Solov’ev und R. Wittram,
die in Teil 2 der Arbeit ausführlich besprochen werden.
Einleitung
13
plomatie bereits in der ersten Hälfte der 1720er-Jahre beschäftigte: die Nachfolge von Großfürst Petr Alekseevič (1715–1730), einem Enkel Peters I. und
Neffen Karls VI., der erst nach dem Tode Katharinas I. den russischen Thron als
Peter II. (1727–1730) besteigen sollte. Teil drei dieser Arbeit wird unter anderem
beleuchten, welche Kommunikationsstrategien der Wiener Hof in dieser heiklen
innerrussischen Frage verfolgte und wie Karl VI. und seine diplomatischen
Vertreter die Nachfolge des kaiserlichen Neffen voranzutreiben versuchten.
Neben dem Abschluss eines Bündnisses und der Unterstützung der Nachfolge
des Großfürsten waren die Gesandten in den Jahren 1725 bis 1730 vor allem
damit beschäftigt, sich den sich schnell verändernden Kommunikationsvoraussetzungen am russischen Hof anzupassen. So brachten die angesprochenen
Herrscherwechsel auch einen stetigen Wandel der Hofelite mit sich. Die Wiener
Diplomaten mussten sich daher besonderer Interaktionsmechanismen bedienen, um sich das Vertrauen der ständig wechselnden einflussreichen Personen,
Günstlinge und Favoriten an den Höfen Katharinas I. und Peters II. zu sichern.
Die Betrachtungen der dabei angewandten Strategien stellen einen weiteren
Untersuchungsschwerpunkt bei der Analyse der zwischenstaatlichen Beziehungen der zweiten Hälfte der 1720er-Jahre dar.
Der soeben erwähnte Wandel der kommunikativen Voraussetzungen am
russischen Hof bildet einen der Hauptaspekte des einleitenden ersten Teils
dieser Arbeit, der als eine unabdingbare Wissensgrundlage für die anschließende Fallstudie über die diplomatischen Beziehungen in den Jahren 1720 bis
1730 konzipiert wurde. Jenseits der politischen Veränderungen an und gegenüber dem russischen Hof machte dieser bereits vor dem betrachteten Untersuchungszeitraum einen strukturellen und kulturellen Wandel durch, der die Interaktion der Gesandten maßgeblich beeinflusste. Im ersten Teil werden daher
jene Elemente des sich verändernden Hoflebens beleuchtet, die nicht nur Auswirkungen auf die Tätigkeit der Diplomaten hatten, sondern auch deren Beschreibungen des fremden Machtzentrums in den 1720er-Jahren nachhaltig
prägten. Neben ausführlichen Darstellungen über das der Dissertation zugrunde
liegende Kommunikationsverständnis und die Rolle der Gesandten als Repräsentanten ihres Herrschers werden in diesem Großabschnitt jene theoretischen
Fragen geklärt, die zum Teil in den darauffolgenden Kapiteln durch konkrete
Beispiele aus den zwischenstaatlichen Beziehungen praktische Erklärungen
finden.
So wird darin den strukturellen und normativen Rahmenbedingungen für die
diplomatische Kommunikation in der Frühen Neuzeit im Allgemeinen sowie für
die Interaktion am russischen Hof im Speziellen besondere Aufmerksamkeit
geschenkt. Dies erfordert zunächst eine generelle Betrachtung der normativen
Vorgaben des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens, deren Wirksamkeit und
Anwendbarkeit in weiterer Folge am konkreten Fall des russischen Hofs über-
14
Einleitung
prüft werden soll. Entsprechend den übergeordneten Fragestellungen der vorliegenden Arbeit wird dabei ein Hauptaugenmerk auf die völkerrechtlichen
Bestimmungen des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts gelegt, die vor allem
aus der für die Gesandten als Orientierungshilfe dienenden gesandtschaftsrechtlichen und zeremonialwissenschaftlichen Ratgeberliteratur der damaligen
Zeit erschlossen werden können. Konkret wird im ersten Teil dargestellt, welches
Wissen diese Werke für die Tätigkeit der Diplomaten bereit hielten und in
welchem Ausmaß es zur Zeit Peters I. und seiner unmittelbaren Nachfolger
rezipiert wurde. Diese Ausführungen stellen somit die nötige Basis dar, um die
praktische Anwendung dieser theoretischen Richtlinien am Beispiel der zwischenstaatlichen Beziehungen der 1720er-Jahre überprüfen zu können. Somit
trägt die vorliegende Arbeit auch zur Klärung der Frage bei, inwiefern der
Wandel des russischen Hofes auch durch diesen ideengeschichtlichen Transfer
bedingt wurde.
Eine ähnliche Vorgehensweise wird bei der Darstellung des strukturellen
Wandels des Gesandtschaftswesens im betrachteten Zeitraum angewandt.
Ausgehend von der Betrachtung der administrativen, infrastrukturellen und
personellen Veränderungen in der europäischen Diplomatie des späten 17. und
frühen 18. Jahrhunderts wird die Anpassung Russlands an die außenpolitischen
Gebarungen der europäischen Höfe nachgezeichnet. Das machte sich vor allem
im Ausbau der diplomatischen Vertretungen und des außenpolitischen Informationswesens sowie der Professionalisierung der Diplomaten bemerkbar.
Tendenzen, die durch die zunehmende Integration Russlands in die europäische
Staatengemeinschaft auch im Falle des russischen Gesandtschaftswesens beobachtet werden können. Außerdem bilden diese allgemeinen Ausführungen
über die europäische Diplomatie auch eine Wissensgrundlage dafür, um im
zweiten und dritten Teil der vorliegenden Arbeit den strukturellen Wandel und
die Professionalisierung der Russlandpolitik des Wiener Hofes nachzeichnen zu
können.
Diese Ausführungen dienen in erster Linie der Charakterisierung des Wandels am diplomatischen Parkett des russischen Hofes sowie dessen normativer
Richtlinien und ermöglichen die Betrachtung der Anpassung der Wiener Außenpolitik an diesen zum Teil unerschlossenen Kommunikationsraum. Abgesehen davon werden in der vorliegenden Arbeit auch jene Veränderungen im
Bereich des russischen Hoflebens mitverfolgt, die sich aus den Relationen der
1720er-Jahre erschließen lassen. So berichteten die Diplomaten als ständige
Besucher des fremden Machtzentrums in ihren Relationen über diverse Veranstaltungen des höfischen Alltags- und Festkalenders, weshalb diese auch in
Hinblick auf die Wahrnehmung der sich verändernden russischen Hofkultur
durch die ausländischen Vertreter besonders interessant sind. Im ersten Teil
werden daher die Hauptentwicklungslinien dieses Wandels angesprochen, um in
Einleitung
15
den anschließenden Abschnitten konkrete Beispiele aus den Berichten der Gesandten und anderer Beobachter herausgreifen zu können. Somit bereichern die
Erkenntnisse dieser Arbeit das bereits ab dem 19. Jahrhundert in Augenschein
genommene Themenfeld der Hofforschung, welches gerade von der jüngeren
Geschichtsschreibung eifrig bearbeitet wurde.
Natürlich beinhalten die Gesandtschaftsberichte auch eine Vielzahl von
Themen, die bislang noch nicht erwähnt wurden. So stellte etwa der mit der
kommunikativen und repräsentativen Tätigkeit der Gesandten verbundene finanzielle Aufwand der Außenpolitik einen Aspekt dar, der in den Relationen
breite Erwähnung findet. Das gilt auch für Themenbereiche wie den durch die
Diplomaten betriebenen Kulturtransfer im Bereich des Kunst- und Warenhandels, die religiöse und missionarische Tätigkeit derselben im orthodoxen
Russland, ihre Darstellungen über die ökonomischen, militärischen und infrastrukturellen Gebarungen des russischen Reiches sowie die geographischen,
klimatischen und kulturellen Besonderheiten von Land und Leuten – um nur
einige weitere Aspekte des breiten inhaltlichen Spektrums der Relationen zu
nennen. Zu jedem dieser Bereiche ließe sich allerdings eine eigenständige Forschungsarbeit schreiben, die dem Umfang der vorliegenden Studie wohl um
nichts nachstehen würde. Das gilt auch für das Problem der Stellung der Russlandpolitik innerhalb der außenpolitischen Institutionen des Wiener Hofes.
Eine seriöse Auseinandersetzung mit dieser Frage wäre jedoch nur durch die
genaue Analyse der Organisationsstruktur der außenpolitischen Verwaltung
Wiens möglich. Damit würde sich nicht nur der Umfang der auszuwertenden
Archivmaterialien erheblich vergrößern, sondern die Studie insgesamt zu weit
von ihren untersuchungsleitenden Fragen entfernen. Um den Rahmen des
Machbaren eines Ein-Mann-Projekts nicht zu sprengen, wurden die angesprochenen Themen im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur am Rande erwähnt. Es
finden sich mancherorts auch Hinweise auf deren mögliche Ausbaufähigkeit
wieder.
In diesem Zusammenhang muss auch auf einige generelle Eigenheiten der
vorliegenden Studie eingegangen werden, die sich aufgrund der Themenwahl
und des methodischen Zuganges der Arbeit ergeben. So macht die Untersuchung der kommunikativen und repräsentativen Tätigkeit der Gesandten eine
mikroanalytische Untersuchung der Quellen unausweichlich, da nur durch eine
detaillierte und nachhaltige Betrachtung der Materialien zufrieden stellende
Ergebnisse über diese Facetten der Diplomatie herausgearbeitet werden können.
Die daraus resultierende dichte Beschreibung des Inhaltes der einzelnen Materialien, auf deren Vielfalt noch später eingegangen wird, ist somit die logische
Folge eines solchen Zuganges. Gleichzeitig ergeben sich damit Probleme, die
auch an manchen Stellen der Dissertation zum Vorschein kommen. So kommt es
durch die Zusammenführung von verschiedenen Darstellungen über ein und
16
Einleitung
dasselbe Ereignis mancherorts zu Redundanzen, die auf den ersten Blick als
überflüssig erscheinen mögen. Beim näheren Hinsehen zeigt sich jedoch deutlich, dass der Unterschied zwischen den diversen Beschreibungen lediglich
durch einen ins Detail gehenden Vergleich derselben ermittelt werden kann.
Wenngleich durch diese Betrachtungsweise das Lesevergnügen an einigen
Stellen geschmälert wird, so sind es gerade diese kleinen, tief im Detail der
verschiedenen Quellen steckenden Differenzen, die den Mehrwert der vorliegenden Studie begründen.
Um im Dickicht dieser dichten Beschreibungen nicht den Überblick über das
große Ganze zu verlieren, stehen am Ende jedes Teilabschnitts Zusammenfassungen, die die breiten inhaltlichen Darstellungen aus den einzelnen Kapiteln
kompakt zusammenführen sollen. Auf Basis dieser Überblicke konnte ein
Ausblick über die weiteren Ereignisse nach dem Jahre 1730 an das Ende dieser
Arbeit gestellt werden. Diese Vorschau ermöglicht es, die mit dem Tode Peters II.
keinesfalls zu Ende gehende diplomatische Tätigkeit des damaligen Missionschefs zumindest in groben Zügen bis zu ihrem Ende im Jahre 1733 zu betrachten.
Gleichzeitig können damit die sich abermals wandelnden politischen und
kommunikativen Rahmenbedingungen am russischen Hof der 1730er-Jahre
angesprochen werden, die die Arbeit der kaiserlichen Gesandten in Russland
nachhaltig beeinflussen sollten. Eine genaue Betrachtung dieser spannenden
Phase der zwischenstaatlichen Beziehungen wird jedoch erst in nachfolgenden
Untersuchungen des Autors geliefert werden können.
Teil 1: Der Handlungsspielraum der Akteure:
Kommunikative, normative, institutionelle und begriffliche
Rahmenbedingungen des frühneuzeitlichen
Diplomatieparketts
Abb. 1: »Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.« Der österreichische
Bundeskanzler Werner Faymann übergibt dem russischen Ministerpräsidenten
Vladimir Putin ein Fahrrad aus österreichischer Produktion anlässlich der
Unterzeichnung des Gaspipeline-Projekts »South Stream« (Wien, Hofburg, 24. April
2010).9
Dieses Bild ging durch die österreichischen und russischen Medien, als Russlands Ministerpräsident Vladimir Putin am 24. April 2010 seinem Amtskollegen
einen Besuch in Wien abstattete. »[…] ›Mir san mit dem Radl do.‹ Bundeskanzler
9 Quelle: Fotoservice des Österreichischen Bundeskanzleramtes, <http://fotoservice.bun
deskanzleramt.at/bka-fotodetail.html?galleryPath=/bundeskanzler_faymann/fotos_2010_
faymann/russischer_premierminister_putin_bei_bundeskanzler_faymann/0424e-04e>,
(8. Mai 2014).
18
Der Handlungsspielraum der Akteure
Faymann schenkte seinem Gast ein österreichisches Mountainbike […]«,10
kommentierte die österreichische Tageszeitung »Die Presse« den Schnappschuss und stellte das Foto von der Geschenksübergabe an den Beginn eines
Artikels, in dem neben der Einigung auf die Unterzeichnung des gemeinsamen
Gaspipeline-Projekts auch die Inszenierung einer guten Atmosphäre im Rahmen der Visite hervorgehoben wurde. Ähnliche Töne schlug der Korrespondent
des russischen Fernsehsenders »NTV« in seinem Bericht über das Zusammentreffen der Regierungschefs an, der das Präsent Faymanns als Symbol für ein
anderes, politisches Geschenk an Putin darstellte:
»[…] Und gestern schenkte der österreichische Kollege Putins, Kanzler Werner Faymann, dem Premier ein Mountainbike für das Gelände. Aber es scheint, dass für Putin
ein anderes Geschenk des österreichischen Staates wichtiger und angenehmer war.
Nach langen Gesprächen stimmte Österreich – ein Land, das eine führende Rolle beim
Bau der Gasleitung ›Nabucco‹ spielte, welche zur Schwächung der Abhängigkeit von
Russland gedacht war – zu, am ›Südstrom‹ teilzunehmen, und gestand damit ein, dass
eine Abkehr vom russischen Gas auf lange Sicht nicht realistisch ist. Der Vorstand von
›Gazprom‹ erachtet dies als großen Erfolg. […]«11
Gut drei Jahrhunderte zuvor bewegten derartige Geschenke auch die mediale
Öffentlichkeit. So war die Übergabe von Fortbewegungsmittel aus heimischer
Produktion als diplomatische Präsente schon damals ein beliebtes Mittel in der
zwischenstaatlichen Kommunikation, um eine positive Atmosphäre in den bilateralen Beziehungen herzustellen oder zu bestätigen. Dementsprechend verfolgten die zeitgenössischen Gazetten derartige Geschenksübergaben genau, wie
folgende Auszüge aus dem »Wienerischen Diarium« des Jahres 1728 beweisen:
»[…] Dieser Tage überbrachte von Wien ein Kaiserlicher Bereiter acht schöne und
mit kostbaren Zeugen belegte Reit-Pferde, zum Praesent an Se[ine] Czarische
Majestät, und sollen in kurtzem noch 2. Züge Kutschen-Pferde nachfolgen. […]«12
Wenige Monate zuvor waren die dazugehörigen Parade-Kutschen Karls VI.
(1711–1740) an seinen verbündeten Neffen Peter II. (1727–1730) geschickt
worden: »[…] Dito nach-Mittag wurden die jüngst-gemeldte nach dem Russischen Hof gewidmete sehr kostbare zwey Wägen, und andere Kaiserl[iche]
Praesenten für Ihre Russische Majestät von hier nacher Petersburg abgeschicket.
[…]«13 Über die Reaktion des Beschenkten wissen wir aus den Berichten des
Überbringers der »guten Nachricht«, Franz Carl Graf Wratislaw14, Bescheid, der
10 Burkhard Bischof, Mit Muskeln aus Gas, in: Die Presse v. 25. April 2010, Nr. 18726, 3.
11 Vladimir Kontrat’ev, Prem’er Putin zaveršaet vizit v Avstriju, <http://www.ntv.ru/novosti/
191595>, (25. April 2010).
12 Wienerisches Diarium v. 8. Mai 1728, Nr. 37, [4].
13 Wienerisches Diarium v. 28. Februar 1728, Nr. 17, [7].
14 Franz Carl Graf Wratislaw von Mitrowitz (* zwischen 1670 und 1680, † 1750) zählte zu den
wichtigsten Diplomaten der Ära Karls VI. Nach Eintritt in den kaiserlichen Dienst im Jahre
Der Handlungsspielraum der Akteure
19
die Kutschen als kaiserlicher Gesandter anlässlich des Geburtstagsfestes der
Schwester Peters II. im Juli desselben Jahres überreichte.
»Nach einigen aufenthalt aber bey dem ober-cammerern und günstling des monarchen
Knees Dolgoruky bin zu der audienz bey S[eine]r May[estät] eingeführet worden, wo
selbsten ihro mit allen mir am anständigst erschienen worten das compliment über
dieses von Eu[er] Kay[serlichen] May[estät] als zu einem offenbarn zeichen dero besondern liebe und consideration für ihro Rußl[ändische] May[estät] hieher gesandetes
schancknuß abgeleget: […] Und ob derselbe [Anm.: Peter II.] zwar wegen seiner von
erster jugend an führenden etwas ernstlichen mine selten äußerlich die empfindende
freuden viel anzeiget, so schließen ich doch daraus, daß dem herrn diese praesenten ein
nicht gemeines vergnügen müßen erwecket haben dieweilen er sich ohngeachtet des,
bis in die spathe nacht wegen der Groß-Fürstin geburts-tag mitgehalten festins den
anderen morgen gleich angesezet an Eu[re] Kay[serliche] May[estät] das aigenhändige
schreiben zu verfertigen, welches als zu allerunterthänigsten beyschließung mir zugestellet, hiebey verwahret sich finden- und daraus die mehrere beschäftigung der
wahren innerlichen erkandtnus zu ersehen seyn wird.«15
Dieser Auszug aus dem Bericht Wratislaws verweist nicht nur auf den hohen
Stellenwert der frühneuzeitlichen Gesandten in der zwischenstaatlichen Kommunikation, sondern deutet auch auf einen Unterschied zur gängigen diplomatischen Praxis unserer Tage hin. Während Begegnungen von gekrönten
Häuptern im 17. Jahrhundert noch mehrfach vorkamen, wurden derartige
Treffen zwischen Souveränen im 18. Jahrhundert immer seltener und erlangten
1699 war Wratislaw zunächst als königlich kurböhmischer Appellationsrat und dann als
kurböhmischer Gesandter auf dem Reichstag zu Regensburg (1709–1722) tätig. Dem folgte
die Ernennung zum kaiserlichen Botschafter am polnischen bzw. kursächsischen Hof
(1724–1728). Daraufhin wurde Wratislaw in den Jahren 1728 bis 1733 als bevollmächtigter
kaiserlicher Minister an den russischen Hof geschickt. Im Anschluss daran kehrte er mit
demselben Rang erneut an den polnischen bzw. kursächsischen Hof zurück (1733–1740,
sowie 1740–1742), wo er schließlich das Amt des Obersthofmeisters der damaligen polnischen Königin bzw. Kurfürstin von Sachsen und österreichischen Erzherzogin, Maria Josepha, bekleidete. In dieser Funktion stellte Wratislaw den Antrag auf Ernennung zum
wirklichen geheimen Rat, dem am 12. Mai 1743 stattgegeben wurde. Fast zwei Jahrzehnte
zuvor war Wratislaw am 7. Februar 1724 bereits zum kaiserlichen geheimen Rat ernannt
worden. Nachdem sich Wratislaw 1747 altersbedingt aus den offiziellen Geschäften zurückgezogen hatte, verstarb er am 23. April 1750 auf seinen Gütern in Böhmen. Seine Biographie ist somit ein gutes Beispiel für den Werdegang eines Hochadeligen, der als »Berufsdiplomat« Karriere machte. Vgl. Österreichisches Staatsarchiv (künftig: ÖStA), Haus-,
Hof- und Staatsarchiv (künftig: HHStA), Reichsarchive, Geheime Räte, Karton (künftig: Kt.)
7 Geheime Räte U–Z, Konvolut 3 – Reichskanzlei Geheime Räte I. Dekrete Lit. U, V, W
(1700–1760); Friedrich Hausmann, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder
seit dem Westfälischen Frieden (1648), Bd. 2: 1716–1763, Zürich 1950, 57, 75–76, 78, 80 sowie
255; Wratislaw, Franz Carl Graf, in: Constant von Wurzbach, Biographisches Lexikon des
Kaiserthums Oesterreich, Bd. 58: Wolf–Wurmbrand, Wien 1889, 166–167.
15 Bericht Wratislaws an Karl VI. v. 26. Juli 1728, ÖStA, HHStA, Staatenabteilung (künftig: StA),
Russland (künftig: RU) II, Kt. 4, Berichte 1727 VII–1728 XII, 194r–196v.
20
Der Handlungsspielraum der Akteure
erst mit der Gipfeldiplomatie des Wiener Kongresses in den Jahren 1814/15
zunehmende Verbreitung im internationalen Diskurs. So kam vor allem den
hochrangigen Gesandten in der Frühen Neuzeit eine wichtige Rolle als Repräsentanten des Herrschers im fremden Machtzentrum zu, weshalb sie von Heinz
Duchhardt auch als »verlängerter Arm« ihres Souveräns bezeichnet wurden.16
Daran anknüpfend könnte man auf Basis der Ausführungen Wratislaws auch das
Bild des Botschafters als »Sprachrohr« seines Herrschers wählen, um der Bedeutung der Ambassadeure als zentrale Trägergruppe in der zwischenstaatlichen Kommunikation auch metaphorisch gerecht zu werden. Gerade im einführenden Beispiel der Kutschenübergabe an Peter II. fungierte der kaiserliche
Gesandte nicht nur als Überbringer des Geschenks Karls VI., sondern auch als
Vermittler der dazugehörigen Nachricht des Kaisers.
Abb. 2: »Große Geschenke erhalten die Freundschaft.« Eine prunkvolle Kutsche als
Geschenk Kaiser Karls VI. an seinen Neffen, Peter II. (Kreml-Museum, Moskau).17
Wenngleich der Aufwand des diplomatischen Geschenkswesens der Frühen
Neuzeit unter den politischen Beobachtern unserer Tage wohl den Verdacht der
Bestechung hervorrufen würde, so ist die Semantik der eingesetzten Präsente im
18. wie im 21. Jahrhundert bei näherer Betrachtung dieselbe. So hielt etwa Jeanette Falcke diesbezüglich fest, dass derartige Zuwendungen, insbesondere in
Form von Kunstgegenständen, ein äußerst differenziertes Vokabular geboten
hätten, um nuancierte Aussagen treffen zu können und gleichzeitig mehrere
Bedeutungsebenen miteinander zu verknüpfen. Im Diskurs der frühneuzeitli16 Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen
1700–1785 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, Bd. 4), PaderbornMünchen-Wien u. a. 1997, 19–32.
17 Quelle: Homepage des Museums des Moskauer Kremls, <http://armoury-chamber.kreml.
ru/exposure/view/kareta-vena-1741-1742-gg/>, (8. Mai 2014).
Der Handlungsspielraum der Akteure
21
chen Diplomatie seien diese daher als flexibles und elaboriertes Zeichen- und
Kommunikationssystem zu verstehen. Dementsprechend setzten Geschenke
einen gemeinsamen Code der Zeitgenossen voraus, der gegebenenfalls durch
weitere Erläuterungen entschlüsselt werden konnte. Wenngleich die politischen
Beobachter des 18. Jahrhunderts etwa im Fall von artifiziellen Erzeugnissen
vielfach die kleinsten graduellen Unterschiede bemerkten und somit eine geschärfte Wahrnehmung für semantische Feinheiten der Kunstgegenstände bewiesen, so war der Sinngehalt solcher Präsente im politischen Diskurs selten
eindeutig und damit an den Interaktionskontext gebunden. Meistens konnten
den Zuwendungen erst durch die genauen Umstände oder die politischen
Rahmenbedingungen der Geschenksübergabe klare Bedeutungen zugeschrieben werden. Die Interpretation des Empfängers und dessen Reaktion waren
schließlich die Voraussetzung für die Anerkennung der zeichenhaften Botschaft
und stellten oftmals die Grundlage für die weiteren politischen Ereignisse dar.18
Diese allgemeine Einschätzung über die Verwendung von Geschenken im
Gesandtschaftswesen der Frühen Neuzeit trifft nicht nur auf das einführende
Beispiel aus dem 18. Jahrhundert, sondern auch auf jenes aus dem 21. Jahrhundert zu. Markierte die Übergabe des Mountainbikes aus heimischer Produktion an den sportaffinen Ministerpräsidenten Putin die gute Atmosphäre im
Rahmen des Treffens sowie den positiven Abschluss des Gaspipeline-Projekts
und die damit verbundene Intensivierung der österreichisch-russischen Wirtschaftsbeziehungen, so waren auch die Kutschen und Pferde Karls VI. für den
reitbegeisterten Peter II. ein Ausdruck für die angesprochene »Liebe« und
»Consideration« des Kaisers zu seinem Bündnispartner und Neffen. Als Symbole existieren diese Präsente entsprechend einer allgemeinen Definition von
Pierre Bourdieu nur für diejenigen, die sie entschlüsseln können und stellen
somit ein Zeichen mit einer oder mehreren Bedeutung(en) sowie den Ausdruck
sozialer Relationen dar.19 Dementsprechend haben sich im Laufe der Jahrhunderte weniger die Semantik der diplomatischen Geschenke, als vielmehr die
Ausmaße derselben geändert. Sind es heutzutage die kleinen Geschenke, die
zum Erhalt der Freundschaft eingesetzt werden, so waren es in der höfischen
Gesellschaft des 18. Jahrhunderts die großen Präsente, die diesem Zweck dienten.
18 Vgl. Jeanette Falcke, Studien zum diplomatischen Geschenkwesen am brandenburgischpreußischen Hof im 17. und 18. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, Bd. 31), Berlin 2006, 255–277.
19 Vgl. Gerhard Fröhlich/Boike Rehbein (Hgg.), Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk –
Wirkung, Stuttgart 2009, 229. Für eine überblicksartige Vertiefung zu den unterschiedlichen
Definitionen von (politischen) Symbolen vgl. Francesco Benigno/Luca Scuccimarra,
Introduzione. L’ impero dei simboli, in: Francesco Benigno/Luca Scuccimarra (Hgg.),
Simboli della politica, Roma 2010, 7–21.
22
Der Handlungsspielraum der Akteure
So zeigt dieser Vergleich, wie weit die Wurzeln der politischen Kultur des
21. Jahrhunderts in die Vergangenheit zurückreichen und dabei keineswegs an
den Grenzen des 18. Jahrhunderts Halt machen, sondern weit in frühere Zeitschichten vordringen. Gleichzeitig wird aus diesen einführenden Beispielen der
Facettenreichtum der diplomatischen Sprache in der Frühen Neuzeit deutlich.
Hatten Historiker diese Aspekte durch den Fokus der traditionellen Geschichtsschreibung auf die großen politischen Ereignisse bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vernachlässigt, so stellt die vorliegende Arbeit den Versuch dar,
die Kommunikation der kaiserlichen Gesandten am russischen Hof in ihrer
Vielschichtigkeit zu beleuchten.
1.1. Die vielfältige Sprache des frühneuzeitlichen
Gesandtschaftswesens
1.1.1. Der Kommunikationsprozess, seine Akteure und Medien
Die einleitende Betrachtung von diplomatischen Geschenken als aussagekräftige
Instrumente des zwischenstaatlichen Diskurses deutet darauf hin, dass der
vorliegenden Arbeit ein spezifisches Kommunikationsverständnis bei der
Analyse der zwischenstaatlichen Interaktion und der dabei verwendeten Medien
zugrunde liegt. In Anlehnung an Niklas Luhmann wird Kommunikation als
mehrgliedriger Selektionsprozess verstanden, in dem das Verstehen eine ebenso
substantielle Bedeutung wie das Mitteilen einnimmt. Entsprechend dem von
ihm postulierten Dreischritt, wonach auf die Auswahl der Information(en)
sowie der Mitteilung(en) die Selektion des Verstehens folgt, kommen dem
Sender und Empfänger eine gleichbedeutende Rolle innerhalb dieses Aktes zu.
Mehr noch – die weit verbreiteten Zuschreibungen eines aktiven und eines
passiven Parts in der Kommunikation werden aufgelöst. Oder in Luhmanns
Worten gesprochen: Stellen die ersten beiden Selektionen der Informationsund Mitteilungswahl durch »Alter« die ersten Schritte des Prozesses dar, so ist
die abschließende Selektion des Verstehens durch »Ego« ausschlaggebend dafür,
ob es sich im konkreten Fall überhaupt um Kommunikation handelt. Diese
Sichtweise lässt der Wechselseitigkeit zwischen Sender und Empfänger und der
sich daraus ergebenden Anschlusskommunikation einen grundlegenden Charakter im Rahmen einer kommunikativen Operation zukommen.20
20 Vgl. dazu beispielsweise: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und
der Mensch, Wiesbaden 20083, 109–120; Angela De Benedictis, The Richness of History
and the Multiplicity of Experiences in Early Modern Societies. The Self-Description of
»Alteuropa« by Luhmann, in: Massimo Rospocher (Hg.), Beyond the Public Sphere. Opi-
Die Vielfalt der Sprache
23
Dieses theoretische Konzept spiegelt sich ebenso in der eingangs erwähnten
Geschenksübergabe Wratislaws an Peter II. wider. So selegierte auch der kaiserliche Botschafter im Rahmen seiner Tätigkeit am russischen Hof ständig
Informationen: aus der Korrespondenz mit den unterschiedlichen außenpolitischen Verantwortlichen am Wiener Hof, aus seinen Gesprächen mit dem
Botschaftspersonal, mit anderen Diplomaten und mit den Macht- und Würdenträgern des fremden Machtzentrums und nicht zuletzt aus seinen eigenen
Beobachtungen. Aus dieser Fülle an Informationen filterte er vor allem jene
heraus, die für ihn und seinen Hof, deren politische Interessen und seine eigene
Karriere von Nutzen waren. Im konkreten Fall der Geschenksübergabe könnten
diese Selektionen unter anderem folgende Informationen umfasst haben: die
Reitbegeisterung Peters II. als ausschlaggebender Faktor für die Wahl der Präsente, die am Zarenhof üblichen zeremoniellen Rahmenbedingung eines derartigen Aktes, die vor der eigentlichen Überreichung öffentlich wahrgenommene Reaktion auf die Anlieferung der Pferde und Kutschen von Seiten anderer
Gesandter und der russischen Macht- und Würdenträger sowie vieles andere
mehr. Dieser breite Informationspool diente Wratislaw als Grundlage für die
Wahl der zu überbringenden Mitteilung. Neben dem genauen Inhalt der kaiserlichen Grußbotschaft waren dies zum Beispiel der genaue Ablauf der Präsentübergabe und die daran teilnehmenden Personen des Botschaftspersonals.
Peter II. als Empfänger der Nachricht verstand die Überbringung der Kutschen
und der dazugehörigen Worte des Kaisers als Mitteilung. So erlangte der junge
Monarch dadurch Gewissheit über die besondere Zuneigung des Kaisers zu
seiner Person. Gleichzeitig blieb ihm der selektive Charakter der Mitteilung
keineswegs verborgen, da er sich dessen bewusst war, dass der tatsächlichen
Übergabe ein intensiver Informationsaustausch Wratislaws mit den unterschiedlichen Interaktionspartnern über die Geschenksüberreichung vorangegangen war. Dieses Verstehen der sprachlichen und zeichenhaften Botschaften
als solche veranlasste ihn schließlich zur Abfassung des Dankesschreibens an
den Kaiser und stellte somit die von Luhmann als unausweichlich dargestellte
Anschlusskommunikation als Folge des dreigliedrigen Kommunikationsprozesses dar.21 An dieses Konzept schließen also auch die in der Einleitung genannten Ausführungen Falckes über das frühneuzeitliche Geschenkswesen an,
wonach die Interpretation des Empfängers eine Voraussetzung für die Anerkennung der (zeichenhaften) Botschaft sei.
Dementsprechend nehmen nicht nur die Akteure, sondern auch die von
nions, Publics, Spaces in Early Modern Europe (Annali dell’Istituto storico italo-germanico
in Trento. Contributi, 27 = Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts. Beiträge, 27), Bologna-Berlin 2012, 73–90, hier: 83–85.
21 Vgl. Margot Berghaus, Luhmann leicht gemacht. Eine Einführung in die Systemtheorie,
Köln-Weimar-Wien 32011, 96–97.
24
Der Handlungsspielraum der Akteure
ihnen verwendeten Medien einen zentralen Stellenwert in der vorliegenden
Untersuchung ein. So bieten Letztgenannte die Möglichkeit der Eingrenzung von
Selektionen innerhalb des Kommunikationsprozesses. Schon das Beispiel der
Geschenksübergabe deutet darauf hin, dass die Wahl der Informationen und
Mitteilungen von Wratislaw sowie die darauffolgende Auslese der Botschaften
durch Peter II. so oder anders hätten ausfallen können. In diesem konkreten Fall
waren sich Sender und Empfänger dessen bewusst, dass ihr Gegenüber diese
Auswahl vornahm, weshalb sie ihre Selektionen darauf abstimmten. Ein Umstand, der von Luhmann als doppelte Kontingenz bezeichnet wird und die
Grundlage für die Lösung angesichts der prinzipiellen Beliebigkeit der Selektionen bietet. Durch diese spezifische gegenseitige Wahrnehmung werden Alter
und Ego füreinander zwar nicht durchschaubar oder gar berechenbar, wenngleich sie eine reziproke Einflussnahme annehmen, die wiederum zu Anschlussoperationen führt. Die doppelte Kontingenz stellt demnach die Basis für
soziale Systeme dar. Nun wird durch die Verwendung von Medien wie Sprache,
Schrift, nonverbale Gesten, Kunstgegenstände und vieles mehr der Selektionsspielraum begrenzt, ohne eine Auswahlmöglichkeit zu unterbinden. Diese
Eingrenzung macht die Heranziehung einer passenden Selektion wahrscheinlicher. Bei näherer Betrachtung entfalten sich Medien jedoch stets in einer bestimmten Form, wie zum Beispiel die Sprache in Gestalt von Texten, Sätzen,
Befehlen, Gesten und dergleichen mehr. Sie grenzen die Selektionen allerdings
nicht nur ein, sondern erweitern diese gleichzeitig, indem sie zur Schaffung von
Formen animieren. Dieses Paradoxon lässt sich durch die der Form zugrunde
liegende Differenz zwischen dem tatsächlich gewählten Zeichen und dessen
möglichen Variationen erklären.22
Dieses theoretische Konzept führt uns wiederum zu den eingangs angeführten Betrachtungen des frühneuzeitlichen diplomatischen Geschenkswesens. So grenzten die Präsente durch das ihnen innewohnende Vokabular die
möglichen Selektionen ein und eröffneten gleichzeitig eine Fülle von unterschiedlichen Formen der praktischen Umsetzung und Ausdeutung. Nicht zuletzt
deswegen scheint die von Falcke getroffene Charakterisierung von diplomatischen Geschenken als elaboriertes und flexibles Zeichensystem besonders
passend zu sein. Ebenso verhält es sich mit dem »Inhalt« der von Wratislaw
überbrachten Mitteilung Karls VI. an Peter II., in der an Stelle der »besonderen
Liebe« etwa auch die »besondere Freundschaft« hätte hervorgehoben werden
können. Im zwischenstaatlichen Diskurs wurde der Begriff »Freundschaft«
bereits ab dem 16. Jahrhundert unter anderen mit den Begriffen »Liebe« und
22 Vgl. dazu beispielsweise: Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am
Main 1997, 195–202 sowie 814–815; Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer
allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, 148–190.
Die Vielfalt der Sprache
25
»Treue« kombiniert oder kumuliert. Ganz generell war die »Freundschaft« in der
frühneuzeitlichen diplomatischen (Vertrags)Sprache ein fixer Terminus, der
häufig in Kombination mit Begriffen wie »Bündnis«, »Vereinigung« und »Allianz« Verwendung fand.23 In den einzelnen Teilkapiteln der vorliegenden Arbeit
soll daher auch eine tiefer gehende Analyse und Systematisierung des Verhältnisses dieser Begriffe vorgenommen werden.
An Luhmanns Überlegungen knüpften jüngst die Vertreter unterschiedlicher
Disziplinen an, die den Boten als Dritten am Kommunikationsprozess beteiligten ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten. Sie griffen die von Luhmann
getroffene Unterscheidung zwischen dem unsichtbaren Medium und der
sichtbaren Form auf, indem sie zunächst die Position des Beobachters zweiter
Ordnung einnahmen und dementsprechend betrachteten, wie die Medien bislang beobachtet wurden. Aus diesem Blickwinkel erkannte etwa Alexander Zons
den kleinsten gemeinsamen Nenner aller medientheoretischen Ansätze darin,
dass Medien nicht nur Inhalt wiedergeben würden, sondern grundsätzlich generativ seien. Auf dieser gedanklichen Ausgangsbasis setzte zuvor Marshall
McLuhan das Medium mit der Botschaft gleich und entfernte damit den Inhalt
aus der Gleichung der Kommunikation. Diese Verknüpfung von Medium und
Botschaft schuf eine neue Perspektive und machte den ursprünglichen Grund
zur Figur und zum Fokus der Untersuchung. Konkret wurde damit die Frage
nach der Übertragung der Botschaft von einem Kontext zum anderen aufgeworfen und eine Anpassung an die Bezugsrahmen nach beiden Seiten notwendig. Diese Neuorientierung führte zunächst zur Erkenntnis, dass die Verkoppelung von Medium und Botschaft gleichzeitig eine Implosion des dualistischen
Gegensatzpaares von Sender und Empfänger bzw. Alter und Ego bedinge. Die
beiden kommunikationstheoretischen Antagonisten werden dadurch auf ihre
ursprüngliche Funktion des Kontakthaltens reduziert. Diese Beobachtung
bringt die Figur des Boten als Vermittler zwischen Absender und Adressaten ins
Spiel, wodurch das Medium zur Mitte und gleichsam zum verbindenden und
trennenden Dritten im Kommunikationsprozess wird.24 Ein Ansatz, der gerade
für das vorliegende Projekt von besonderem Mehrwert ist. Doch wollen wir diese
geraffte Betrachtung theoretischer Überlegungen konkretisieren, um den Nut23 Vgl. Andreas Würgler, Freunde, amis, amici. Freundschaft in Politik und Diplomatie der
frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, in: Klaus Oschema (Hg.), Freundschaft oder ›amiti¦‹?
Ein politisch-soziales Konzept der Vormoderne im zwischensprachlichen Vergleich
(15.–17. Jahrhundert) (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 40), Berlin 2007,
191–210, hier: 193; Katja Frehland-Wildeboer, Treue Freunde? Das Bündnis in Europa
1714–1914 (Studien zur internationalen Geschichte, Bd. 25), München 2010, 64–70.
24 Vgl. Alexander Zons, Der Bote, in: Eva Eßlinger/Tobias Schlechtriemen/Doris
Schweitzer u. a. (Hgg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma,
Berlin 2010, 153–165, hier : 154–159.