Artikel herunterladen - Fachzeitschriften Religion und Theologie
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Literatur / Medien / Kultur Die gesellschaftliche Bedeutung von Religion Religionssoziologie als kritische Außenperspektive Konrad Merzyn Gert Pickel: Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011, 478 S. Bereits seit geraumer Zeit sind Fragen nach der gesellschaftlichen Bedeutung von Religiosität wieder verstärkt in den Fokus des sozialwissenschaftlichen Interesses gerückt (so wurde beispielsweise 1995 die Sektion Religionssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie offiziell wieder begründet) und haben eine Vielzahl an Debatten und Publikationen nach sich gezogen. Die jüngeren deutschsprachigen Überblickswerke über die religionssoziologische Forschungslandschaft erschienen jedoch gegen Ende der 1990er Jahre, so dass das Erscheinen eines aktuellen Lehrbuchs eine wichtige Lücke in der religionssoziologischen Basisliteratur zu schließen verspricht. Dieser Aufgabe widmet sich der Leipziger Religions- und Kirchensoziologe Gert Pickel mit seiner jüngst erschienenen Einführung. Zunächst werden in einem einführenden Kapitel Grundbegriffe und Aufgaben der Religionssoziologie definiert und in ihrem jeweiligen historischen Kontext verortet. Zudem werden eine Reihe von Lehrbüchern und Überblicksdarstellungen in knappen Charakterisierungen vorgestellt. Daran anschließend widmet sich das Lehrbuch in einem zweiten Kapitel den „Klassikern der Religionssoziologie“ (Kap. 2) und erschließt dem Leser in übersichtlich strukturierten Abschnitten einige ausgewählte, grundlegende Ansätze (Marx, Durkheim, Weber, Simmel, Parsons, Luhmann), deren 256 Relevanz für die aktuelle Religionssoziologie abschließend denkbar knapp skizziert wird. Unter der Überschrift „Moderne theoretische Auseinandersetzungen der Religionssoziologie“ (Kap. 3) werden sodann diejenigen Debatten vorgestellt, die den gegenwärtigen Diskurs im deutschsprachigen Raum maßgeblich strukturieren. Hier werden zunächst die Säkularisierungstheorie oder präziser die unterschiedlichen Ansätze, die unter diesem mittlerweile etablierten Label firmieren, in ihren Bezügen zu Weber und Durkheim sowie in ihren modernen bzw. postmodernen Ausprägungen (Berger, Wilson, Martin, Dobbelaere, Bruce) dargestellt. Als alternative religionssoziologische Paradigmen werden sodann die sog. Individualisierungsthese (Luckmann und seine Schüler) und das Modell eines religiösen Marktes (Stark, Bainbridge, Iannaccone, Finke) inhaltlich charakterisiert und zueinander in Beziehung gesetzt. Von diesen basalen Paradigmen aus erschließt das Lehrbuch aktuelle „Kernfragen der Religionssoziologie“ (Kap. 4), die sich unter anderen mit den Theorieansätzen Oevermanns, Bellahs, Casanovas verbinden. Die beiden folgenden Kapitel widmen sich explizit der empirischen Forschung als integralem Bestandteil religionssoziologischer Wissenschaft. Geboten wird hier zum einen die Einführung in „Methoden und Daten der Religionssoziologie“ (Kap. 5), die vor allem auf die Unterscheidung (nicht jedoch Trennung) von quantitativen und qualitativen Zugängen abhebt; zum anderen werden „Empirische Befunde der Religionssoziologie“ (Kap. 6) aus diversen Kontexten (Deutschland, Europa, Lateinamerika, Asien) als Illustration religionssoziologischer Forschungen skizzenhaft aufgeführt. Abschließend folgen kurze Überlegungen zur gesellschaftlichen Prägekraft der Religion (Kap. 7) und zu „Perspektiven für die Religionssoziologie“ (Kap. 8). Literatur / Medien / Kultur Den Erwartungen an ein einführendes Lehrbuch wird das Werk in vielfacher Hinsicht gerecht: Sog. Memo-Boxen am Ende jedes Abschnitts und eine ausgewogene Zahl graphischer Darstellungen erleichtern die Lektüre und sorgen für schnelle Übersicht innerhalb der einzelnen Kapitel. Literaturhinweise am Ende der Kapitel (mit ebenso kurzen wie hilfreichen Charakterisierungen der aufgeführten Werke) leiten zum vertiefenden Studium an. Die verschiedenen Facetten gegenwärtiger religionssoziologischer Forschung werden (auch für Einsteiger) verständlich ausgebreitet, so dass die Lektüre dieses Lehrbuchs eine gute Übersicht über den theoretischen und empirischen Reichtum der Religionssoziologie vermittelt. Positiv zu vermerken ist zudem, dass empirische Fragen nach religiösen Entwicklungen der Gegenwart ihrer Relevanz für den gesamten Forschungsdiskurs entsprechend gewichtet werden und an verschiedenen Stellen dieser Einführung eine zentrale Rolle spielen (konzentriert in Kap. 6, aber auch in vielen anderen Abschnitten). Nicht nur hierdurch erweist sich die Religionssoziologie als äußerst relevante Außenperspektive für die Praktische Theologie. Grundsätzlich zu begrüßen ist auch die Entscheidung, die Darstellung der empirischen Befunde (Kap. 6) nicht (wie häufig) auf den deutschsprachigen Raum zu beschränken und dadurch den Blick zu weiten auf Entwicklungen bspw. in Lateinamerika und Asien. Diese Horizonterweiterung ist bedeutsam, scheinen doch dort Entwicklungen stattzufinden, die sich nicht ohne weiteres mit den dominierenden Basistheorien der (deutschsprachigen) Religionssoziologie vereinbaren lassen. Der Versuch allerdings, auf wenig mehr als 50 Buchseiten die hochkomplexen und voneinander vollkommen differierenden religiösen und gesellschaftlichen Kontexte Europas, Amerikas, Asiens und Afrikas auch nur ansatzweise treffend zu charakterisieren, verbleibt leider (notwendigerweise) sehr an der Oberfläche. Hier wäre weniger möglicherweise mehr gewesen. Kritische Rückfragen provoziert auch die Auswahl und Darstellung der ‚Klassiker‘ (zu denen z. B. Ernst Troelsch nicht gezählt wird), gelingt es diesem Kapitel doch nur eingeschränkt, die postulierte bleibende Bedeutung dieser Autoren für die gegenwärtigen Debatten zu plausibilisieren. Derartige Detaileinwände vermögen jedoch nicht, den positiven Gesamteindruck dieser Einführung in die Religionssoziologie zu trüben. Aus der Sicht der Praktischen Theologie stellen religionssoziologische Fragestellungen und Reflexionen eine kritische Außenperspektive und somit wertvolle Bereicherung der eigenen Arbeiten dar, betrachten sie doch den gemeinsamen Untersuchungsgegenstand ‚Religion‘ aus grundlegend unterschiedlichen Positionen. Die Methoden und materialen Ergebnisse einer von „methodologischem Atheismus“ (Peter L. Berger) geleiteten Wissenschaft zu rezipieren und mit eigenen, genuin theologischen Zugängen zu verknüpfen, gehört zu den bleibenden Aufgaben einer Praktischen Theologie, die sich erfolgreich um Anschlussfähigkeit im intradisziplinären Gespräch bemüht. Aus diesem Grund sind dem Lehrbuch zahlreiche Leserinnen und Leser nicht nur aus soziologischen Bereichen, sondern auch aus praktisch-theologischen (sowie religionswissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen) Kontexten zu wünschen. 257 Literatur / Medien / Kultur If on a Winter’s Night… Stings Weihnachtswahrnehmungen Harald Schroeter-Wittke Bei der Deutschen Grammophon hat Sting mittlerweile drei Alben eingespielt. Es begann 2006 mit „Songs From the Labyrinth“. Die Musik dieser CD stammt von dem wichtigsten „Songwriter“ unter Elizabeth I: John Dowland (1563-1626). 2010 spielte Sting einige Police-Songs sowie eigene Songs mit Orchester ein: Symphonicities. Dazwischen kam 2009 Sting’s Winter-CD heraus – eine Kammermusik am brennenden Kamin in seinem toskanischen Haus, eingespielt mit Musikerinnen aus der nordenglischen Heimat (Kathryn Tickell – Fidel, Mary Macmaster – Harfe) und Musikern der weltweiten Community wie etwa dem libanesischen Trompeter Ibrahim Maalouf, mit dessen gedämpftem Ton in „Gabriel’s Message“ die CD beginnt. Sting versteht sich als Agnostiker, der religiösen Mythen und Stukturen jedoch sehr viel abgewinnen kann. Seine Winter-CD stellt eine bemerkenswerte Auseinandersetzung mit dem Christentum dar. Sie ist „natürlich“ synkretistisch und agiert auf der Grenze zwischen Frömmigkeit und Blasphemie. Genau darin aber ist sie auch exemplarisch und bedenkenswert. Im Zeitalter der Erderwärmung sieht Sting den Winter in Gefahr. Das ist für ihn eben nicht nur eine klimatische, sondern auch eine kulturelle Frage, denn der Winter ermöglicht für die Menschen der nördlichen Hemisphäre und deren Psyche einen besonderen Zugang zur Welt, welcher verloren zu gehen droht. Der Winter als Zeit des Rückzugs, der Regeneration, des ZuSich-Selbst-Kommens – all das steht bei Sting mit auf dem Spiel. Seine CD sieht den Winter nicht mehr als naturgegeben an, sondern betrachtet ihn im status potentialis: If on a Winter’s Night … So ist die politische Dimension auch hier zu hö258 ren – wie bei vielen seiner Songs, z. B. 1985 bei „Russians“, das in Zeiten des Kalten Krieges mit der popkulturellen Breitenwirkung deutlich machte: „The Russians love their children too“. Dort hatte Sting den Weihnachtschoral „God Rest Ye Merry, Gentleman“ zitiert. Diese Melodie ist auch jetzt wieder zu hören bei „Soul Cake“ und ein gutes Beispiel dafür, wie Sting mit der für ihn ambivalenten christlichen Weihnachtstradition umgeht. Denn „Soul Cake“ ist ein HalloweenLied, mit dem die verkleideten Kinder von Haus zu Haus ziehen, um dort zu segnen und zu schnorren. Die von vielen als triumphalistisch empfundene musikalische Weihnachtstradition kommt hier allein „as a dramatic counterpoint“ in dem erneuten Zitat von „God Rest Ye Merry, Gentlemen“ in „Soul Cake“ zum Erklingen. Solche Brechungen gibt es an mehreren Stellen dieser CD. Ein weiteres mit Halloween angeschnittenes Thema, die Welt der Geister, durchzieht Stings CD. Ghosts begegnen in „Soul Cake“ ebenso wie in Stings eigenem Song „The Hounds of Winter“. So resumiert Sting sein Booklet zur CD: „I find myself haunted by memories. For Winter is the season of ghosts; and ghosts, if they can be said to reside anywhere, reside here in this season of frosts and in these long hours of darkness. We must treat with them calmly and civilly, before the snows melt and the cycle of the seasons begins once more.“ Diese Ambivalenz eignet Stings Umgang mit dem „festival of Christmas, that has become the central and defining event of the winter season“. Schon der erste Song „Gabriel’s Message“ ist programmatisch. Es ist nicht die strahlende Trompete, die hier den Ton angibt, sondern der gedämpfte Ton einer Trompete voller Sehnsucht, die an die Filmmusik von Jim Jarmuschs „Night on Earth“ erinnert. Stings CD beginnt mit einem baskischen Weihnachtslied, interpretiert von einem Literatur / Medien / Kultur Libanesen – zwei musikalische Randtraditionen. Sting sind diese Ränder wichtig, denn sie lassen Anderes, Verschüttetes, Transformiertes aufscheinen, z. B. im Symbol der Rose, die eben auch in die vorchristliche Zeit führt. Sie erblüht zweimal: „There Is No Rose of Such Virtue“ (trad.) und „Lo, How a Rose E’er Blooming“, die englische Adaption von „Es ist ein Ros entsprungen“ (M: Michael Preatorius). Sting nennt diese Anklänge über den Rand hinaus „Ancient Echoes“. „Gabriel’s Message“ jedenfalls besingt die Reinheit Mariens, die Schönheit und Schichtheit des UrSprungs, den Zauber und die Kraft des Anfangs. Das letzte Wort dieser englischen Botschaft „Gloria“ verhallt zu einem staunenden und welteröffnenden Glo… Was den Agnostiker Sting am christlichen Mythos fasziniert, fasst er in dieser CD subsequent in Töne: „Implicit in the story of the birth of Christ is the knowledge of his death and his subsequent Resurrection. This is what connects it to the secular songs about the cycle of the seasons. We are reminded that there is light and life at the centre of the darkness that is Winter – or conversely, that, no matter how comfortable we feel in the cradle, there is darkness and danger all around us.“ In all diesen Ambivalenzen kommt aber auch der Humor nicht zu kurz. So handelt „Cherry Tree Carol“ von der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten, bei der Maria plötzlich die Lust auf Kirschen überkommt. Sie bittet Joseph, ihr Kirschen zu pflücken, während dieser wütend entgegnet: Lass doch den Vater des Kindes für Dich Kirschen pflücken! Was dann auch prompt passiert: Der Kirschbaum biegt seine Äste bis auf den Boden, so dass Maria ihre heißbegehrten Kirschen pflücken kann, während Joseph ein wenig dumm daneben steht und sich fortan mit der nötigen Altersweisheit um Maria kümmert – welch ein skurril-frommes Bild von Heiliger Familie, das weder die problematische Vater- schaft noch den Ärger in der Familie verschweigt, das Rollenmuster durcheinander bringt und zugleich eine ausweglose Situation mit Humor zu befrieden vermag. In diesem Winter-Weihnachts-Kosmos darf das Besingen des Schnees (The Snow It Melts the Soonest) ebenso wenig fehlen wie das Wiegenlied, das zweimal erklingt mit „Bulalow“ (trad.) sowie Stings eigenem „Lullaby for an Anxious Child“. Die Idylle gewinnt jedoch nicht die Überhand, denn es bleibt auch unheimlich, z. B. bei „Christmas at Sea“ (T: Robert Louis Stevenson) oder wenn mit „The Burning Babe“ ein Gedicht des Jesuiten und Märtyrers Robert Southwell (1561-1595) präsentiert wird, „a macabre vision encountered on a winter’s night of the infant Jesus suspended in the darkness and burning in agony for the sins of man“. Schließlich gibt es auch Bezugnahmen auf Klassiker: „The Hurdy-Gurdy Man“ ist eine Hommage an den Leiermann aus Schuberts Winterreise. „Cold Song“ sowie „Now Winter Comes Slowly“ bringen Musik von Henry Purcell zum Klingen. Das Schlussstück „You Only Cross My Mind in Winter“ fasst die Melange dieser WinterWeihnachts-CD noch einmal mit einem Augenzwinkern zusammen. Als Musik erklingt die Sarabande der 6. Cello-Suite von Johann Sebastian Bach, zu der Sting folgenden Text komponiert: Always this winter child, December sun sits low against the sky, Cold light on frozen fields, The cattle in their stable lowing. When two walked this winter road, Ten thousand miles seemed nothing to us then, One walks with heavy tread, The space between their footsteps slowing. All day the snow did fall. What’s left of the day is close drawn in, I speak your name as if you’d answer me, But the silence of the snow is deafening. 259 Literatur / Medien / Kultur How well do I recall our arguments, Our logic holds no debts or recompense, Philosophy and faith were ghosts That we would chase until The gates of heaven were broken. But something makes me turn, I don’t know, To see another’s footsteps there in the snow; I smile to myself and then I wonder why it is You only cross my mind in winter. Weil Musik das Hören strukturiert Zwei Bücher zur Relevanz von Pop-Music für theologische Kulturhermeneutik und Homiletik Ilona Nord Michael J. Gilmour: The Gospel According to Bob Dylan. The Old, Old Story for Modern Times, Louisville Kentucky 2011, 195 S. Der Associate Professor of New Testament and English Literature am Providence College in Manitoba, Canada, Michael Gilmour, ist – das steht unzweifelhaft fest – ein musikalischer Fan von Bob Dylan und ein literarischer Fan von Walter Benjamin. Gilmour bezeichnet Dylan mit Benjamin als Flaneur im religiösen Feld (Kapitel 1). Dem entspreche es auch, dass der Musiker sich zwar selbst als gläubig, aber sich nicht eindeutig zu einer religiösen Organisation zugehörig zeige. Für Gilmour artikuliert Dylan Religion innerhalb von populärer Kultur und lässt auch umgekehrt populäre Kultur in das Feld von Religion fließen. Auf diese Weise wird aus der Studie zu Dylans Bindung an die christliche Tradition und insbesondere 260 an die Bibel eine kulturtheologische Arbeit am Phänomen des Popstars Dylan. Dieser inszeniert sich zum einen selbst mit seiner Musik als Prophet und parodiert zugleich die Prophetie. Zum anderen gehört zu dem rezeptionsästhetisch orientierten Zugang auch die Frage, wie sehr die Hörerinnen und Hörer an der Konstruktion eines ‚Phänomens Dylan‘ mitwirken: „Meaning resides with the listener and her experience of the music, not in the song on its own but the song as mingled with her own emotions and circumstances.“ (47). Neben der Erschließung der religiösen Dimension von Popmusik offeriert Gilmour viele Sachinformationen zu Dylans Musik, z. B. zu seinen musikalischen Vorbildern Neil Young, Robert Johnson und Woody Guthrie. Er erörtert Dylans Bezug zu biblischen Texten, wie sie sich insbesondere in einzelnen Musiktiteln, aber auch anhand von Filmen, insbesondere von „Masked and Anonymous“ (2003) nachzeichnen lassen. Schließlich schildert Gilmour die Schwierigkeiten, die Dylan wegen des Umgangs mit seiner jüdischen Herkunft und der Konversion zum Christentum sowie seiner späteren Rückkehr zu einem vermehrt jüdischen Referenzrahmen hatte. Es gebe eine öffentliche Erwartung an die Kontinuität von Religion, aber lebensgeschichtlich zeige sich eben auch, dass Menschen mit Elementen aus verschiedenen Religionen lebten. Hier verweist die Religiosität des Popstars auf Entwicklungen, die seit gut zehn Jahren auch für sozusagen ganz normale Gläubige in westlichen Gesellschaften diskutiert werden. Alles in allem wird in diesem Buch deutlich, dass es in der theologischen Forschung an Popkultur nicht nur um religiöse Dimensionen in der Kultur geht, sondern um mehr: um eine Erörterung der Art und Weise, wie Religion kulturell (re-)konstruiert wird. Gilmours Studie ist ein Beispiel dafür, wie Religion im musika- Literatur / Medien / Kultur lischen Alltag erforscht werden kann. Diese Arbeit muss im Grunde von jeder Generation immer wieder neu an ‚ihrer‘ Musik unternommen werden. Allerdings steht auch fest, dass Dylan ein Klassiker ist, der noch immer generationenübergreifend wirkt. Ein Buch, das in der religiösen Auseinandersetzung mit einer Ikone der Popmusik grundlegend schulen kann. John S. McClure: Mashup Religion. Pop Music and Theological Invention. Baylor University Press 2011, Waco Texas, 240 S. „Mashup“ – das ist ein global genutzter Terminus Technicus für ein spezielles Mischverfahren von älteren mit neueren kulturellen Produktionen. So zum Beispiel Mashup Arts, Mashup Musics, Mashup Literature – und nun aus der Feder des USamerikanischen Homiletikers John S. McClure: „Mashup Religion“. Unter diesem Titel steht eine programmatische Schrift, die Religion und Theologie, insbesondere Homiletik unter dem Aspekt ihrer Produktionsästhetik neu betrachtet. Das analyseleitende Instrument ist die genannte Mashup-Kultur in der US-amerikanischen Popmusikszene. McClure selbst ist Homiletiker an der Vanderbilt University in Nashville (Tennessee) und er ist Musiker, spielt in Bands, nimmt selbst CDs auf und bringt auch schon einmal eine akademische Konferenz mit Motown-Songs zum Mitsingen. Mit diesem Buch holt er ein Stück professioneller Biographiearbeit nach und liefert zugleich zwei interessante Case Studies: „The Multitrack Sermon“ und „Mashup and Theological Invention“, bezogen auf die kommunikative Arbeit im Fach Theologie. Es braucht eine Zeit, bis man sich in die Denkweise eines Homiletikers hineingearbeitet hat, der aus dem Kontext der Musikproduktion an eine Predigt heran geht. Der Vorschlag, der hier gemacht wird, ist der Mühe aber durchaus wert. McClure geht von verschiedenen ‚tracks‘ aus, die er für eine Predigt mixen kann. Die Spuren, die er legt, überraschen nicht, denn wer hätte es in der Predigtvorbereitung nicht mit scripture tracks, culture tracks, theology tracks und message tracks zu tun? Der tatsächlich neue Zugang liegt in der Analogie zur Musikproduktion. Es wird deutlich, dass Predigerinnen und Prediger sich über die eigenen kommunikativen Ziele Rechenschaft ablegen müssen, denn daran entscheidet sich, ob dem biblischen Text oder einem kulturellen Setting, in dem sich das Evangelium heute kontextualisieren lässt, die bestimmende Spur überlassen wird. McClure konkretisiert sein Modell bis hin zu einem ‚track sheet‘. In diesem werden vertikal die verschiedenen Tracks und horizontal die verschiedenen Sequenzen einer Predigt in einem Spaltenraster aufgeführt. Für die Klärung dessen, was auf den ‚message tracks‘ kommuniziert werden soll, berichtet er z. B. von Online-Kommunikationen mit Menschen, die zu seinem Gemeindeumfeld gehören. Für die Entwicklung des ‚culture track‘ ist ebenfalls Recherche nötig. McClure kann hier konkrete soziale oder kirchliche Projekte ebenso wie Popsongs, Videos etc. heranziehen. In der Predigt steht dann am Ende nicht mehr allein der Prediger bzw. die Predigerin mit seiner bzw. ihrer Rede auf der Kanzel, sondern er und sie präsentieren (im Sinne von vergegenwärtigen) einen Remix aus Glaubenszeugnissen, der aus verschiedenen tracks besteht. Das kann noch in der Form einer Rede geschehen, aber es kann ebenso gut ein multimediales Mosaik geworden sein: „Any of the boxes on the track sheet could be given over to a different media of presentation: popular songs, audio or video clips from television, films, YouTube, or self-conducted interviews, drama and so on. For instance, […] the message track, ‚compassion attracts those in need,‘ could 261 Literatur / Medien / Kultur be expanded slightly and performed as a rap or spoken word poetic monologue […] The preacher will not mix media too often, perhaps one per sermon, or per sequence at most, due to time constraints and sermon continuity, but varying the media used for each track has great potential to enliven sermon production.“ (183). Für McClure ist es klar, dass die Predigerinnen und Prediger der nächsten Generation multimedial und in einem Medienmix kommunizieren werden. Er entwickelt seinen Vorschlag in sechs Kapiteln: 1. The Songwriter, 2. Multitrack Composition and Loop Browsing, 3. Sampling, Remixing, and Mashup, 4. The Grain of the Voice, 5. Fan Cultures, 6. Lyrics. Dabei vertieft er sich in die Produktions- und Rezeptionsweisen von Popmusik und weist permanent aus, was und wie Theologie hier lernen kann. Zugleich ist er aber auch in der Lage, die Gegenrichtung zu verfolgen: Erst die intensive Beschäftigung mit Popmusik macht es möglich, dass ihre Quasi-Theologien adäquat in ein kulturtheologisches Blickfeld kommen. Dies ermöglicht auch ihre kritische Betrachtung, z. B. bezüglich des auch in Deutschland gern von Jugendlichen gehörten Rappers Eminem: „In the case of Eminem, another element is troubling from a Christian perspective. The pathological push to get through to what Jim Morrison once called ‚the other side‘ should not require forms of violence against others that support abuse or misogyny.“ (167). Wie Gilmour macht auch McClure auf die kulturtheologische Bedeutung von Pop-Music aufmerksam. Doch McClures Beitrag besticht vor allem durch seinen produktionsästhetischen Ansatz, den er speziell für die Homiletik entwickelt. Radio, MP3-Player und Handys werden intensiv zum Musikhören eingesetzt. Längst gehört es zum Straßenbild, dass viele Menschen mit Kopfhörern unterwegs sind. Hö262 ren, diese sinnliche Wahrnehmung, die in der Homiletik bereits hohe Reflexion ausgelöst hat, wird zunehmend durch das Hören von Musik strukturiert. Dies ist ein Grund mehr, Forschung und Lehre am Thema ‚Pop-Music und Religion‘ auszubauen. Menschen haben keine Flügel J. S. Foers Roman zum 11. September 2001 Maike Schult Jonathan Safran Foer: Extrem laut und unglaublich nah. Roman. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens, Fischer Taschenbuch Verlag / Frankfurt am Main 112011, 480 S. Extremely loud & incredibly close. Film tiein edition, Penguin Books / London 2011, 326 S. Dieser Roman war eine Auftragsarbeit, die dem Autor einen millionenschweren Vorschuss eingebracht haben soll. Schon vor seinem Erscheinen im Jahr 2005 galt er als „der“ Roman über den 11. September, und anlässlich des zehnjährigen Gedenkens an die Anschläge wurde er 2011 mit Tom Hanks und Sandra Bullock verfilmt. Der Film setzte das bilddominierte Ereignis ins visuelle Medium zurück und kam auch in den deutschen Kinos extrem laut unglaublich nah – ohne die Filmkritik zu überzeugen. Doch der Titel täuscht. Der Roman ist kein Buch über 09/11 und weder laut noch reißerisch. Es ist ein Buch über die Zeit danach. Über die Zeit, die lang und leer vor einem liegt, wenn das einschneidende Ereignis gewesen ist und man nun damit leben muss: sich nicht verabschiedet zu haben, sich schuldig zu fühlen und dem Literatur / Medien / Kultur anderen nicht mehr gesagt zu haben, wie sehr man ihn liebt. Der Roman verschränkt fein komponierte Verlustgeschichten über drei Generationen. Der erste Strang erzählt aus der Perspektive des jungen Oskar den Verlust seines Vaters Thomas Schell, der beim Anschlag auf das World Trade Center ums Leben kam. Zu ihm hatte der Neunjährige eine enge Beziehung, bei ihm fand er inneren Frieden: „Bei ihm kam mein Kopf zur Ruhe. Ich brauchte mir nichts mehr auszudenken.“ (26) Oskar ist ein ungewöhnlich kluges, auch altkluges Kind, das allerhand erfindet und mit Fremdwörtern jongliert. Er designt Schmuck, trinkt Kaffee, verteilt Visitenkarten von sich selbst und hat die Gabe parodistischer Weltbetrachtung: „Wenn alle Menschen zur selben Zeit Hamlet spielen wollten, ginge das nicht, weil es nicht genug Schädel gibt!“ (14) bringt er das Problem der Überbevölkerung auf den Punkt. Doch auch wenn die Zahl der heute lebenden Menschen die Zahl all derer übertrifft, die im Laufe der Menschheitsgeschichte gestorben sind – es nützt einem nichts, wenn man den einen Menschen verloren hat, an dem das Herz hängt. Seit dem Tod des Vaters lebt Oskar in einem inneren Schlafsack (55). Er hat Schwierigkeiten in der Schule, fügt sich blaue Flecke zu, meidet Fahrstühle und öffentliche Verkehrsmittel. Er schläft schlecht, träumt schwer und beginnt zu lügen. Seine Mutter schickt ihn zur Selbstverteidigung und zum Therapeuten, doch keiner kommt an ihn heran. Eines Tages zerbricht Oskar versehentlich eine Vase und findet darin einen versteckten Umschlag mit einem Schlüssel. Auf dem Umschlag steht das Wort Black. Oskar glaubt, dass es sich dabei um eine Person handelt, vielleicht die letzte, die den Vater lebend gesehen hat. So macht er sich auf, alle 472 Blacks der Stadt zu Fuß aufzusuchen, um das passende Schloss zum Schlüssel zu finden. Doch diese Suche, die sich über Monate erstreckt, ist nicht nur motiviert durch die Sehnsucht nach dem toten Vater. Sie entspringt auch einem tiefen Schuldgefühl: Als Oskar am Tag des Terrors allein von der Schule nach Hause kommt, findet er fünf Nachrichten, die der Vater aus dem brennenden Nordturm auf den Anrufbeantworter gesprochen hat. Während Oskar die Anrufe abhört, läutet es erneut: Der Vater ruft ein letztes Mal an. Oskar erstarrt und kann den Hörer nicht abnehmen. Während der Vater spricht, bricht die Nachricht plötzlich ab. Der Turm stürzt ein, der Vater stirbt, ohne seinen Sohn noch einmal gesprochen zu haben: „Dieses Geheimnis war wie ein Loch in meinem Inneren, das jedes noch so kleine bisschen Freude verschluckte.“ (95) Das Trauma macht sprachlos. Es macht alles anders (19) und dem Jungen Bleifüße [w]egen dem, was passiert war (29) an diesem allerschlimmsten Tag (25). Der 11. September ist Oskars schlimmster Tag, aber er ist es nicht in der Geschichte der Menschheit. Solche Bilder stilisiert das Buch nicht. Im Gegenteil: Schlimme, auch allerschlimmste Tage, das findet Oskar im Laufe der Suche heraus, finden sich auch im Leben anderer Menschen. Alle Blacks, denen er in New York begegnet, haben etwas verloren: ihre Gesundheit oder einen geliebten Menschen, nicht nur durch 09/11, sondern auch durch Krankheit oder Scheidung, und müssen ihre eigene Weise finden, mit dem Verlust zurechtzukommen. Auch in Oskars Familie sind traumatische Erfahrungen vorgeprägt. Davon erzählt der zweite Strang des Romans in Form von Briefen, die die Geschichte seiner deutschen Großeltern transparent machen. Sie haben 1945 den Feuersturm angloamerikanischer Streitkräfte auf Dresden erlebt und dabei alle Angehörigen verloren. In New York treffen sie sich wieder und heiraten, doch ihr Zusammenleben basiert auf 263 Literatur / Medien / Kultur Tabus – etwa der Verabredung, kein neues Leben, kein Kind, miteinander zu bekommen. Als die Großmutter dennoch schwanger wird, wird sie vom Großvater verlassen. Seinen Sohn Thomas lernt er nie kennen. Erst am 11. September 2001, dem Tag, an dem der Sohn stirbt, kehrt er nach New York zurück und hilft seinem Enkel Oskar bei der Suche nach dem Schloss. Die Verlusterfahrungen gehen mit einem Verlust der Sinne einher. Hören, Sehen und Sprechen sind im Roman vielfach gebrochen. Der Großvater ist durch das Trauma von Dresden verstummt und kommuniziert nur über ein Schreibheft und die in seine Handflächen eintätowierten Worte Ja und Nein. Die Großmutter sieht schlecht und tippt ihre Lebensgeschichte auf einer Schreibmaschine, die kein Farbband enthält, ins Nichts. Mit solch typographischen Besonderheiten, aber auch Fotos, Montagen, korrigierten Seiten und Unterschriftenproben visualisiert der Roman, wie schwer es ist, Verlust und Trauer in Worte zu fassen und die Leere zu füllen, die der Tod eines geliebten Menschen hinterlässt. Eine besondere Rolle spielen die Fotos auf den letzten Seiten des Buches. Sie zeigen einen Mann, der wie in einem Daumenkino aus dem WTC fällt. Oskar hat diesen Falling Man im Internet gefunden und glaubt gelegentlich, seinen Vater darauf zu sehen in einer Situation, in der man sofort die Flucht ergreifen muss, aber Menschen haben keine Flügel (12). Am Ende des Buches ordnet Oskar die Bilder neu. Er bringt sie in umgekehrter Reihenfolge an, bis es scheint, als würde der Mann nach oben in den Himmel fliegen (436). Ob der ehemalige Atheist (15) Oskar Schell damit eine Art Auferstehungshoffnung ausgedrückt hat, kann man diskutieren. An ein Ende kommt man nicht, aber an einen Anfang: Menschen haben keine Flügel, aber sie haben Bücher wie dieses, und das macht es leichter. Schwerpunktthema des nächsten Heftes: Gemeinde in neuen Formen Das nächste Heft (Heft 1/2013) erscheint im Februar 2013. 264