Artikel herunterladen - Fachzeitschriften Religion und Theologie

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Literatur / Medien / Kultur
Die gesellschaftliche
Bedeutung von Religion
Religionssoziologie als kritische
Außenperspektive
Konrad Merzyn
Gert Pickel: Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
2011, 478 S.
Bereits seit geraumer Zeit sind Fragen
nach der gesellschaftlichen Bedeutung
von Religiosität wieder verstärkt in den
Fokus des sozialwissenschaftlichen Interesses gerückt (so wurde beispielsweise
1995 die Sektion Religionssoziologie in
der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
offiziell wieder begründet) und haben eine
Vielzahl an Debatten und Publikationen
nach sich gezogen. Die jüngeren deutschsprachigen Überblickswerke über die religionssoziologische Forschungslandschaft
erschienen jedoch gegen Ende der 1990er
Jahre, so dass das Erscheinen eines aktuellen Lehrbuchs eine wichtige Lücke in der
religionssoziologischen Basisliteratur zu
schließen verspricht. Dieser Aufgabe widmet sich der Leipziger Religions- und Kirchensoziologe Gert Pickel mit seiner
jüngst erschienenen Einführung.
Zunächst werden in einem einführenden
Kapitel Grundbegriffe und Aufgaben der
Religionssoziologie definiert und in ihrem
jeweiligen historischen Kontext verortet.
Zudem werden eine Reihe von Lehrbüchern
und Überblicksdarstellungen in knappen
Charakterisierungen vorgestellt. Daran anschließend widmet sich das Lehrbuch in
einem zweiten Kapitel den „Klassikern der
Religionssoziologie“ (Kap. 2) und erschließt dem Leser in übersichtlich strukturierten Abschnitten einige ausgewählte,
grundlegende Ansätze (Marx, Durkheim,
Weber, Simmel, Parsons, Luhmann), deren
256
Relevanz für die aktuelle Religionssoziologie abschließend denkbar knapp skizziert
wird.
Unter der Überschrift „Moderne theoretische Auseinandersetzungen der Religionssoziologie“ (Kap. 3) werden sodann diejenigen Debatten vorgestellt, die den
gegenwärtigen Diskurs im deutschsprachigen Raum maßgeblich strukturieren. Hier
werden zunächst die Säkularisierungstheorie oder präziser die unterschiedlichen Ansätze, die unter diesem mittlerweile etablierten Label firmieren, in ihren Bezügen
zu Weber und Durkheim sowie in ihren modernen bzw. postmodernen Ausprägungen
(Berger, Wilson, Martin, Dobbelaere, Bruce) dargestellt. Als alternative religionssoziologische Paradigmen werden sodann
die sog. Individualisierungsthese (Luckmann und seine Schüler) und das Modell
eines religiösen Marktes (Stark, Bainbridge, Iannaccone, Finke) inhaltlich charakterisiert und zueinander in Beziehung gesetzt. Von diesen basalen Paradigmen aus
erschließt das Lehrbuch aktuelle „Kernfragen der Religionssoziologie“ (Kap. 4), die
sich unter anderen mit den Theorieansätzen Oevermanns, Bellahs, Casanovas verbinden.
Die beiden folgenden Kapitel widmen sich
explizit der empirischen Forschung als integralem Bestandteil religionssoziologischer
Wissenschaft. Geboten wird hier zum einen
die Einführung in „Methoden und Daten der
Religionssoziologie“ (Kap. 5), die vor allem
auf die Unterscheidung (nicht jedoch Trennung) von quantitativen und qualitativen
Zugängen abhebt; zum anderen werden
„Empirische Befunde der Religionssoziologie“ (Kap. 6) aus diversen Kontexten
(Deutschland, Europa, Lateinamerika, Asien)
als Illustration religionssoziologischer Forschungen skizzenhaft aufgeführt. Abschließend folgen kurze Überlegungen zur gesellschaftlichen Prägekraft der Religion (Kap.
7) und zu „Perspektiven für die Religionssoziologie“ (Kap. 8).
Literatur / Medien / Kultur
Den Erwartungen an ein einführendes
Lehrbuch wird das Werk in vielfacher Hinsicht gerecht: Sog. Memo-Boxen am Ende
jedes Abschnitts und eine ausgewogene
Zahl graphischer Darstellungen erleichtern
die Lektüre und sorgen für schnelle Übersicht innerhalb der einzelnen Kapitel. Literaturhinweise am Ende der Kapitel (mit
ebenso kurzen wie hilfreichen Charakterisierungen der aufgeführten Werke) leiten
zum vertiefenden Studium an. Die verschiedenen Facetten gegenwärtiger religionssoziologischer Forschung werden
(auch für Einsteiger) verständlich ausgebreitet, so dass die Lektüre dieses Lehrbuchs eine gute Übersicht über den theoretischen und empirischen Reichtum der
Religionssoziologie vermittelt. Positiv zu
vermerken ist zudem, dass empirische Fragen nach religiösen Entwicklungen der Gegenwart ihrer Relevanz für den gesamten
Forschungsdiskurs entsprechend gewichtet
werden und an verschiedenen Stellen dieser Einführung eine zentrale Rolle spielen
(konzentriert in Kap. 6, aber auch in vielen anderen Abschnitten). Nicht nur hierdurch erweist sich die Religionssoziologie
als äußerst relevante Außenperspektive für
die Praktische Theologie.
Grundsätzlich zu begrüßen ist auch die
Entscheidung, die Darstellung der empirischen Befunde (Kap. 6) nicht (wie häufig)
auf den deutschsprachigen Raum zu
beschränken und dadurch den Blick zu
weiten auf Entwicklungen bspw. in Lateinamerika und Asien. Diese Horizonterweiterung ist bedeutsam, scheinen doch dort
Entwicklungen stattzufinden, die sich
nicht ohne weiteres mit den dominierenden Basistheorien der (deutschsprachigen) Religionssoziologie vereinbaren lassen. Der Versuch allerdings, auf wenig
mehr als 50 Buchseiten die hochkomplexen und voneinander vollkommen differierenden religiösen und gesellschaftlichen
Kontexte Europas, Amerikas, Asiens und
Afrikas auch nur ansatzweise treffend zu
charakterisieren, verbleibt leider (notwendigerweise) sehr an der Oberfläche. Hier
wäre weniger möglicherweise mehr gewesen. Kritische Rückfragen provoziert auch
die Auswahl und Darstellung der ‚Klassiker‘
(zu denen z. B. Ernst Troelsch nicht gezählt wird), gelingt es diesem Kapitel doch
nur eingeschränkt, die postulierte bleibende Bedeutung dieser Autoren für die gegenwärtigen Debatten zu plausibilisieren.
Derartige Detaileinwände vermögen jedoch nicht, den positiven Gesamteindruck
dieser Einführung in die Religionssoziologie zu trüben.
Aus der Sicht der Praktischen Theologie
stellen religionssoziologische Fragestellungen und Reflexionen eine kritische
Außenperspektive und somit wertvolle
Bereicherung der eigenen Arbeiten dar,
betrachten sie doch den gemeinsamen
Untersuchungsgegenstand ‚Religion‘ aus
grundlegend unterschiedlichen Positionen. Die Methoden und materialen Ergebnisse einer von „methodologischem
Atheismus“ (Peter L. Berger) geleiteten
Wissenschaft zu rezipieren und mit eigenen, genuin theologischen Zugängen zu
verknüpfen, gehört zu den bleibenden Aufgaben einer Praktischen Theologie, die
sich erfolgreich um Anschlussfähigkeit im
intradisziplinären Gespräch bemüht. Aus
diesem Grund sind dem Lehrbuch zahlreiche Leserinnen und Leser nicht nur aus soziologischen Bereichen, sondern auch aus
praktisch-theologischen (sowie religionswissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen) Kontexten zu wünschen.
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Literatur / Medien / Kultur
If on a Winter’s Night…
Stings Weihnachtswahrnehmungen
Harald Schroeter-Wittke
Bei der Deutschen Grammophon hat Sting
mittlerweile drei Alben eingespielt. Es begann 2006 mit „Songs From the Labyrinth“. Die Musik dieser CD stammt von
dem wichtigsten „Songwriter“ unter Elizabeth I: John Dowland (1563-1626). 2010
spielte Sting einige Police-Songs sowie eigene Songs mit Orchester ein: Symphonicities. Dazwischen kam 2009 Sting’s Winter-CD heraus – eine Kammermusik am
brennenden Kamin in seinem toskanischen
Haus, eingespielt mit Musikerinnen aus
der nordenglischen Heimat (Kathryn
Tickell – Fidel, Mary Macmaster – Harfe)
und Musikern der weltweiten Community
wie etwa dem libanesischen Trompeter
Ibrahim Maalouf, mit dessen gedämpftem
Ton in „Gabriel’s Message“ die CD beginnt.
Sting versteht sich als Agnostiker, der religiösen Mythen und Stukturen jedoch sehr
viel abgewinnen kann. Seine Winter-CD
stellt eine bemerkenswerte Auseinandersetzung mit dem Christentum dar. Sie ist
„natürlich“ synkretistisch und agiert auf
der Grenze zwischen Frömmigkeit und
Blasphemie. Genau darin aber ist sie auch
exemplarisch und bedenkenswert.
Im Zeitalter der Erderwärmung sieht Sting
den Winter in Gefahr. Das ist für ihn eben
nicht nur eine klimatische, sondern auch
eine kulturelle Frage, denn der Winter ermöglicht für die Menschen der nördlichen
Hemisphäre und deren Psyche einen besonderen Zugang zur Welt, welcher verloren zu gehen droht. Der Winter als Zeit
des Rückzugs, der Regeneration, des ZuSich-Selbst-Kommens – all das steht bei
Sting mit auf dem Spiel. Seine CD sieht
den Winter nicht mehr als naturgegeben
an, sondern betrachtet ihn im status potentialis: If on a Winter’s Night … So ist
die politische Dimension auch hier zu hö258
ren – wie bei vielen seiner Songs, z. B.
1985 bei „Russians“, das in Zeiten des Kalten Krieges mit der popkulturellen Breitenwirkung deutlich machte: „The Russians love their children too“.
Dort hatte Sting den Weihnachtschoral
„God Rest Ye Merry, Gentleman“ zitiert.
Diese Melodie ist auch jetzt wieder zu hören bei „Soul Cake“ und ein gutes Beispiel
dafür, wie Sting mit der für ihn ambivalenten christlichen Weihnachtstradition umgeht. Denn „Soul Cake“ ist ein HalloweenLied, mit dem die verkleideten Kinder von
Haus zu Haus ziehen, um dort zu segnen
und zu schnorren. Die von vielen als
triumphalistisch empfundene musikalische
Weihnachtstradition kommt hier allein „as
a dramatic counterpoint“ in dem erneuten
Zitat von „God Rest Ye Merry, Gentlemen“
in „Soul Cake“ zum Erklingen. Solche Brechungen gibt es an mehreren Stellen dieser CD.
Ein weiteres mit Halloween angeschnittenes Thema, die Welt der Geister, durchzieht Stings CD. Ghosts begegnen in „Soul
Cake“ ebenso wie in Stings eigenem Song
„The Hounds of Winter“. So resumiert
Sting sein Booklet zur CD: „I find myself
haunted by memories. For Winter is the
season of ghosts; and ghosts, if they can
be said to reside anywhere, reside here in
this season of frosts and in these long
hours of darkness. We must treat with
them calmly and civilly, before the snows
melt and the cycle of the seasons begins
once more.“ Diese Ambivalenz eignet
Stings Umgang mit dem „festival of Christmas, that has become the central and defining event of the winter season“.
Schon der erste Song „Gabriel’s Message“
ist programmatisch. Es ist nicht die strahlende Trompete, die hier den Ton angibt,
sondern der gedämpfte Ton einer Trompete
voller Sehnsucht, die an die Filmmusik von
Jim Jarmuschs „Night on Earth“ erinnert.
Stings CD beginnt mit einem baskischen
Weihnachtslied, interpretiert von einem
Literatur / Medien / Kultur
Libanesen – zwei musikalische Randtraditionen. Sting sind diese Ränder wichtig,
denn sie lassen Anderes, Verschüttetes,
Transformiertes aufscheinen, z. B. im Symbol der Rose, die eben auch in die vorchristliche Zeit führt. Sie erblüht zweimal:
„There Is No Rose of Such Virtue“ (trad.)
und „Lo, How a Rose E’er Blooming“, die
englische Adaption von „Es ist ein Ros
entsprungen“ (M: Michael Preatorius).
Sting nennt diese Anklänge über den Rand
hinaus „Ancient Echoes“. „Gabriel’s Message“ jedenfalls besingt die Reinheit Mariens, die Schönheit und Schichtheit des UrSprungs, den Zauber und die Kraft des
Anfangs. Das letzte Wort dieser englischen
Botschaft „Gloria“ verhallt zu einem staunenden und welteröffnenden Glo…
Was den Agnostiker Sting am christlichen
Mythos fasziniert, fasst er in dieser CD
subsequent in Töne: „Implicit in the story
of the birth of Christ is the knowledge of
his death and his subsequent Resurrection.
This is what connects it to the secular
songs about the cycle of the seasons. We
are reminded that there is light and life at
the centre of the darkness that is Winter –
or conversely, that, no matter how comfortable we feel in the cradle, there is darkness and danger all around us.“
In all diesen Ambivalenzen kommt aber
auch der Humor nicht zu kurz. So handelt
„Cherry Tree Carol“ von der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten, bei der Maria
plötzlich die Lust auf Kirschen überkommt.
Sie bittet Joseph, ihr Kirschen zu pflücken, während dieser wütend entgegnet:
Lass doch den Vater des Kindes für Dich
Kirschen pflücken! Was dann auch prompt
passiert: Der Kirschbaum biegt seine Äste
bis auf den Boden, so dass Maria ihre
heißbegehrten Kirschen pflücken kann,
während Joseph ein wenig dumm daneben
steht und sich fortan mit der nötigen Altersweisheit um Maria kümmert – welch
ein skurril-frommes Bild von Heiliger Familie, das weder die problematische Vater-
schaft noch den Ärger in der Familie verschweigt, das Rollenmuster durcheinander
bringt und zugleich eine ausweglose Situation mit Humor zu befrieden vermag.
In diesem Winter-Weihnachts-Kosmos darf
das Besingen des Schnees (The Snow It
Melts the Soonest) ebenso wenig fehlen
wie das Wiegenlied, das zweimal erklingt
mit „Bulalow“ (trad.) sowie Stings eigenem „Lullaby for an Anxious Child“. Die
Idylle gewinnt jedoch nicht die Überhand,
denn es bleibt auch unheimlich, z. B. bei
„Christmas at Sea“ (T: Robert Louis Stevenson) oder wenn mit „The Burning
Babe“ ein Gedicht des Jesuiten und Märtyrers Robert Southwell (1561-1595) präsentiert wird, „a macabre vision encountered
on a winter’s night of the infant Jesus suspended in the darkness and burning in
agony for the sins of man“.
Schließlich gibt es auch Bezugnahmen auf
Klassiker: „The Hurdy-Gurdy Man“ ist eine
Hommage an den Leiermann aus Schuberts
Winterreise. „Cold Song“ sowie „Now Winter Comes Slowly“ bringen Musik von Henry Purcell zum Klingen.
Das Schlussstück „You Only Cross My Mind
in Winter“ fasst die Melange dieser WinterWeihnachts-CD noch einmal mit einem Augenzwinkern zusammen. Als Musik erklingt
die Sarabande der 6. Cello-Suite von Johann Sebastian Bach, zu der Sting folgenden Text komponiert:
Always this winter child,
December sun sits low against the sky,
Cold light on frozen fields,
The cattle in their stable lowing.
When two walked this winter road,
Ten thousand miles seemed nothing to us
then,
One walks with heavy tread,
The space between their footsteps slowing.
All day the snow did fall.
What’s left of the day is close drawn in,
I speak your name as if you’d answer me,
But the silence of the snow is deafening.
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Literatur / Medien / Kultur
How well do I recall our arguments,
Our logic holds no debts or recompense,
Philosophy and faith were ghosts
That we would chase until
The gates of heaven were broken.
But something makes me turn, I don’t
know,
To see another’s footsteps there in the
snow;
I smile to myself and then I wonder why it
is
You only cross my mind in winter.
Weil Musik das Hören
strukturiert
Zwei Bücher zur Relevanz von Pop-Music
für theologische Kulturhermeneutik und
Homiletik
Ilona Nord
Michael J. Gilmour: The Gospel According to
Bob Dylan. The Old, Old Story for Modern
Times, Louisville Kentucky 2011, 195 S.
Der Associate Professor of New Testament
and English Literature am Providence College in Manitoba, Canada, Michael Gilmour,
ist – das steht unzweifelhaft fest – ein musikalischer Fan von Bob Dylan und ein literarischer Fan von Walter Benjamin. Gilmour bezeichnet Dylan mit Benjamin als
Flaneur im religiösen Feld (Kapitel 1). Dem
entspreche es auch, dass der Musiker sich
zwar selbst als gläubig, aber sich nicht
eindeutig zu einer religiösen Organisation
zugehörig zeige.
Für Gilmour artikuliert Dylan Religion innerhalb von populärer Kultur und lässt
auch umgekehrt populäre Kultur in das
Feld von Religion fließen. Auf diese Weise
wird aus der Studie zu Dylans Bindung an
die christliche Tradition und insbesondere
260
an die Bibel eine kulturtheologische Arbeit am Phänomen des Popstars Dylan.
Dieser inszeniert sich zum einen selbst mit
seiner Musik als Prophet und parodiert zugleich die Prophetie. Zum anderen gehört
zu dem rezeptionsästhetisch orientierten
Zugang auch die Frage, wie sehr die Hörerinnen und Hörer an der Konstruktion eines ‚Phänomens Dylan‘ mitwirken: „Meaning resides with the listener and her
experience of the music, not in the song
on its own but the song as mingled with
her own emotions and circumstances.“
(47).
Neben der Erschließung der religiösen Dimension von Popmusik offeriert Gilmour
viele Sachinformationen zu Dylans Musik,
z. B. zu seinen musikalischen Vorbildern
Neil Young, Robert Johnson und Woody
Guthrie. Er erörtert Dylans Bezug zu biblischen Texten, wie sie sich insbesondere
in einzelnen Musiktiteln, aber auch anhand von Filmen, insbesondere von „Masked and Anonymous“ (2003) nachzeichnen
lassen. Schließlich schildert Gilmour die
Schwierigkeiten, die Dylan wegen des Umgangs mit seiner jüdischen Herkunft und
der Konversion zum Christentum sowie
seiner späteren Rückkehr zu einem vermehrt jüdischen Referenzrahmen hatte. Es
gebe eine öffentliche Erwartung an die
Kontinuität von Religion, aber lebensgeschichtlich zeige sich eben auch, dass
Menschen mit Elementen aus verschiedenen Religionen lebten. Hier verweist die
Religiosität des Popstars auf Entwicklungen, die seit gut zehn Jahren auch für sozusagen ganz normale Gläubige in westlichen Gesellschaften diskutiert werden.
Alles in allem wird in diesem Buch deutlich, dass es in der theologischen Forschung an Popkultur nicht nur um religiöse Dimensionen in der Kultur geht,
sondern um mehr: um eine Erörterung der
Art und Weise, wie Religion kulturell
(re-)konstruiert wird. Gilmours Studie ist
ein Beispiel dafür, wie Religion im musika-
Literatur / Medien / Kultur
lischen Alltag erforscht werden kann. Diese Arbeit muss im Grunde von jeder Generation immer wieder neu an ‚ihrer‘ Musik
unternommen werden. Allerdings steht
auch fest, dass Dylan ein Klassiker ist, der
noch immer generationenübergreifend
wirkt. Ein Buch, das in der religiösen Auseinandersetzung mit einer Ikone der Popmusik grundlegend schulen kann.
John S. McClure: Mashup Religion. Pop Music and Theological Invention. Baylor University Press 2011, Waco Texas, 240 S.
„Mashup“ – das ist ein global genutzter
Terminus Technicus für ein spezielles
Mischverfahren von älteren mit neueren
kulturellen Produktionen. So zum Beispiel
Mashup Arts, Mashup Musics, Mashup Literature – und nun aus der Feder des USamerikanischen Homiletikers John S.
McClure: „Mashup Religion“. Unter diesem
Titel steht eine programmatische Schrift,
die Religion und Theologie, insbesondere
Homiletik unter dem Aspekt ihrer Produktionsästhetik neu betrachtet. Das analyseleitende Instrument ist die genannte
Mashup-Kultur in der US-amerikanischen
Popmusikszene.
McClure selbst ist Homiletiker an der Vanderbilt University in Nashville (Tennessee)
und er ist Musiker, spielt in Bands, nimmt
selbst CDs auf und bringt auch schon einmal eine akademische Konferenz mit Motown-Songs zum Mitsingen. Mit diesem
Buch holt er ein Stück professioneller Biographiearbeit nach und liefert zugleich
zwei interessante Case Studies: „The Multitrack Sermon“ und „Mashup and Theological Invention“, bezogen auf die kommunikative Arbeit im Fach Theologie.
Es braucht eine Zeit, bis man sich in die
Denkweise eines Homiletikers hineingearbeitet hat, der aus dem Kontext der Musikproduktion an eine Predigt heran geht.
Der Vorschlag, der hier gemacht wird, ist
der Mühe aber durchaus wert. McClure geht
von verschiedenen ‚tracks‘ aus, die er für
eine Predigt mixen kann. Die Spuren, die
er legt, überraschen nicht, denn wer hätte
es in der Predigtvorbereitung nicht mit
scripture tracks, culture tracks, theology
tracks und message tracks zu tun? Der tatsächlich neue Zugang liegt in der Analogie
zur Musikproduktion. Es wird deutlich,
dass Predigerinnen und Prediger sich über
die eigenen kommunikativen Ziele Rechenschaft ablegen müssen, denn daran
entscheidet sich, ob dem biblischen Text
oder einem kulturellen Setting, in dem
sich das Evangelium heute kontextualisieren lässt, die bestimmende Spur überlassen wird.
McClure konkretisiert sein Modell bis hin
zu einem ‚track sheet‘. In diesem werden
vertikal die verschiedenen Tracks und horizontal die verschiedenen Sequenzen einer
Predigt in einem Spaltenraster aufgeführt.
Für die Klärung dessen, was auf den ‚message tracks‘ kommuniziert werden soll,
berichtet er z. B. von Online-Kommunikationen mit Menschen, die zu seinem Gemeindeumfeld gehören. Für die Entwicklung des ‚culture track‘ ist ebenfalls
Recherche nötig. McClure kann hier konkrete soziale oder kirchliche Projekte
ebenso wie Popsongs, Videos etc. heranziehen. In der Predigt steht dann am Ende
nicht mehr allein der Prediger bzw. die
Predigerin mit seiner bzw. ihrer Rede auf
der Kanzel, sondern er und sie präsentieren (im Sinne von vergegenwärtigen) einen Remix aus Glaubenszeugnissen, der
aus verschiedenen tracks besteht. Das
kann noch in der Form einer Rede geschehen, aber es kann ebenso gut ein multimediales Mosaik geworden sein:
„Any of the boxes on the track sheet could
be given over to a different media of presentation: popular songs, audio or video
clips from television, films, YouTube, or
self-conducted interviews, drama and so
on. For instance, […] the message track,
‚compassion attracts those in need,‘ could
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Literatur / Medien / Kultur
be expanded slightly and performed as a
rap or spoken word poetic monologue […]
The preacher will not mix media too often,
perhaps one per sermon, or per sequence
at most, due to time constraints and sermon continuity, but varying the media
used for each track has great potential to
enliven sermon production.“ (183). Für
McClure ist es klar, dass die Predigerinnen
und Prediger der nächsten Generation
multimedial und in einem Medienmix kommunizieren werden.
Er entwickelt seinen Vorschlag in sechs
Kapiteln: 1. The Songwriter, 2. Multitrack
Composition and Loop Browsing, 3. Sampling, Remixing, and Mashup, 4. The Grain
of the Voice, 5. Fan Cultures, 6. Lyrics. Dabei vertieft er sich in die Produktions- und
Rezeptionsweisen von Popmusik und weist
permanent aus, was und wie Theologie
hier lernen kann. Zugleich ist er aber auch
in der Lage, die Gegenrichtung zu verfolgen: Erst die intensive Beschäftigung mit
Popmusik macht es möglich, dass ihre
Quasi-Theologien adäquat in ein kulturtheologisches Blickfeld kommen. Dies ermöglicht auch ihre kritische Betrachtung,
z. B. bezüglich des auch in Deutschland
gern von Jugendlichen gehörten Rappers
Eminem: „In the case of Eminem, another
element is troubling from a Christian perspective. The pathological push to get
through to what Jim Morrison once called
‚the other side‘ should not require forms of
violence against others that support abuse
or misogyny.“ (167). Wie Gilmour macht
auch McClure auf die kulturtheologische
Bedeutung von Pop-Music aufmerksam.
Doch McClures Beitrag besticht vor allem
durch seinen produktionsästhetischen Ansatz, den er speziell für die Homiletik entwickelt.
Radio, MP3-Player und Handys werden intensiv zum Musikhören eingesetzt. Längst
gehört es zum Straßenbild, dass viele Menschen mit Kopfhörern unterwegs sind. Hö262
ren, diese sinnliche Wahrnehmung, die in
der Homiletik bereits hohe Reflexion ausgelöst hat, wird zunehmend durch das Hören von Musik strukturiert. Dies ist ein
Grund mehr, Forschung und Lehre am Thema ‚Pop-Music und Religion‘ auszubauen.
Menschen haben keine
Flügel
J. S. Foers Roman zum 11. September 2001
Maike Schult
Jonathan Safran Foer: Extrem laut und unglaublich nah. Roman. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens, Fischer Taschenbuch Verlag / Frankfurt am Main 112011,
480 S.
Extremely loud & incredibly close. Film tiein edition, Penguin Books / London 2011,
326 S.
Dieser Roman war eine Auftragsarbeit, die
dem Autor einen millionenschweren Vorschuss eingebracht haben soll. Schon vor
seinem Erscheinen im Jahr 2005 galt er als
„der“ Roman über den 11. September, und
anlässlich des zehnjährigen Gedenkens an
die Anschläge wurde er 2011 mit Tom
Hanks und Sandra Bullock verfilmt. Der
Film setzte das bilddominierte Ereignis ins
visuelle Medium zurück und kam auch in
den deutschen Kinos extrem laut unglaublich nah – ohne die Filmkritik zu überzeugen. Doch der Titel täuscht. Der Roman ist
kein Buch über 09/11 und weder laut noch
reißerisch. Es ist ein Buch über die Zeit
danach. Über die Zeit, die lang und leer
vor einem liegt, wenn das einschneidende
Ereignis gewesen ist und man nun damit
leben muss: sich nicht verabschiedet zu
haben, sich schuldig zu fühlen und dem
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anderen nicht mehr gesagt zu haben, wie
sehr man ihn liebt.
Der Roman verschränkt fein komponierte
Verlustgeschichten über drei Generationen. Der erste Strang erzählt aus der Perspektive des jungen Oskar den Verlust seines Vaters Thomas Schell, der beim
Anschlag auf das World Trade Center ums
Leben kam. Zu ihm hatte der Neunjährige
eine enge Beziehung, bei ihm fand er inneren Frieden: „Bei ihm kam mein Kopf zur
Ruhe. Ich brauchte mir nichts mehr auszudenken.“ (26) Oskar ist ein ungewöhnlich kluges, auch altkluges Kind, das allerhand erfindet und mit Fremdwörtern
jongliert. Er designt Schmuck, trinkt Kaffee, verteilt Visitenkarten von sich selbst
und hat die Gabe parodistischer Weltbetrachtung: „Wenn alle Menschen zur selben Zeit Hamlet spielen wollten, ginge das
nicht, weil es nicht genug Schädel gibt!“
(14) bringt er das Problem der Überbevölkerung auf den Punkt. Doch auch wenn die
Zahl der heute lebenden Menschen die Zahl
all derer übertrifft, die im Laufe der Menschheitsgeschichte gestorben sind – es nützt einem nichts, wenn man den einen Menschen
verloren hat, an dem das Herz hängt.
Seit dem Tod des Vaters lebt Oskar in einem inneren Schlafsack (55). Er hat
Schwierigkeiten in der Schule, fügt sich
blaue Flecke zu, meidet Fahrstühle und
öffentliche Verkehrsmittel. Er schläft
schlecht, träumt schwer und beginnt zu
lügen. Seine Mutter schickt ihn zur Selbstverteidigung und zum Therapeuten, doch
keiner kommt an ihn heran. Eines Tages
zerbricht Oskar versehentlich eine Vase
und findet darin einen versteckten Umschlag mit einem Schlüssel. Auf dem Umschlag steht das Wort Black. Oskar glaubt,
dass es sich dabei um eine Person handelt,
vielleicht die letzte, die den Vater lebend
gesehen hat. So macht er sich auf, alle
472 Blacks der Stadt zu Fuß aufzusuchen,
um das passende Schloss zum Schlüssel zu
finden.
Doch diese Suche, die sich über Monate erstreckt, ist nicht nur motiviert durch die
Sehnsucht nach dem toten Vater. Sie entspringt auch einem tiefen Schuldgefühl:
Als Oskar am Tag des Terrors allein von der
Schule nach Hause kommt, findet er fünf
Nachrichten, die der Vater aus dem brennenden Nordturm auf den Anrufbeantworter gesprochen hat. Während Oskar die Anrufe abhört, läutet es erneut: Der Vater
ruft ein letztes Mal an. Oskar erstarrt und
kann den Hörer nicht abnehmen. Während
der Vater spricht, bricht die Nachricht
plötzlich ab. Der Turm stürzt ein, der Vater
stirbt, ohne seinen Sohn noch einmal gesprochen zu haben: „Dieses Geheimnis war
wie ein Loch in meinem Inneren, das jedes
noch so kleine bisschen Freude verschluckte.“ (95)
Das Trauma macht sprachlos. Es macht alles anders (19) und dem Jungen Bleifüße
[w]egen dem, was passiert war (29) an diesem allerschlimmsten Tag (25). Der 11.
September ist Oskars schlimmster Tag, aber
er ist es nicht in der Geschichte der
Menschheit. Solche Bilder stilisiert das
Buch nicht. Im Gegenteil: Schlimme, auch
allerschlimmste Tage, das findet Oskar im
Laufe der Suche heraus, finden sich auch
im Leben anderer Menschen. Alle Blacks,
denen er in New York begegnet, haben etwas verloren: ihre Gesundheit oder einen
geliebten Menschen, nicht nur durch
09/11, sondern auch durch Krankheit oder
Scheidung, und müssen ihre eigene Weise
finden, mit dem Verlust zurechtzukommen.
Auch in Oskars Familie sind traumatische
Erfahrungen vorgeprägt. Davon erzählt der
zweite Strang des Romans in Form von
Briefen, die die Geschichte seiner deutschen Großeltern transparent machen. Sie
haben 1945 den Feuersturm angloamerikanischer Streitkräfte auf Dresden erlebt
und dabei alle Angehörigen verloren. In
New York treffen sie sich wieder und heiraten, doch ihr Zusammenleben basiert auf
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Literatur / Medien / Kultur
Tabus – etwa der Verabredung, kein neues
Leben, kein Kind, miteinander zu bekommen. Als die Großmutter dennoch schwanger wird, wird sie vom Großvater verlassen.
Seinen Sohn Thomas lernt er nie kennen.
Erst am 11. September 2001, dem Tag, an
dem der Sohn stirbt, kehrt er nach New
York zurück und hilft seinem Enkel Oskar
bei der Suche nach dem Schloss.
Die Verlusterfahrungen gehen mit einem
Verlust der Sinne einher. Hören, Sehen
und Sprechen sind im Roman vielfach gebrochen. Der Großvater ist durch das Trauma von Dresden verstummt und kommuniziert nur über ein Schreibheft und die in
seine Handflächen eintätowierten Worte
Ja und Nein. Die Großmutter sieht schlecht
und tippt ihre Lebensgeschichte auf einer
Schreibmaschine, die kein Farbband enthält, ins Nichts. Mit solch typographischen Besonderheiten, aber auch Fotos,
Montagen, korrigierten Seiten und Unterschriftenproben visualisiert der Roman,
wie schwer es ist, Verlust und Trauer in
Worte zu fassen und die Leere zu füllen,
die der Tod eines geliebten Menschen hinterlässt. Eine besondere Rolle spielen die
Fotos auf den letzten Seiten des Buches.
Sie zeigen einen Mann, der wie in einem
Daumenkino aus dem WTC fällt. Oskar hat
diesen Falling Man im Internet gefunden
und glaubt gelegentlich, seinen Vater darauf zu sehen in einer Situation, in der
man sofort die Flucht ergreifen muss, aber
Menschen haben keine Flügel (12). Am Ende des Buches ordnet Oskar die Bilder neu.
Er bringt sie in umgekehrter Reihenfolge
an, bis es scheint, als würde der Mann nach
oben in den Himmel fliegen (436). Ob der
ehemalige Atheist (15) Oskar Schell damit
eine Art Auferstehungshoffnung ausgedrückt hat, kann man diskutieren. An ein
Ende kommt man nicht, aber an einen Anfang: Menschen haben keine Flügel, aber
sie haben Bücher wie dieses, und das
macht es leichter.
Schwerpunktthema des nächsten Heftes:
Gemeinde in neuen Formen
Das nächste Heft (Heft 1/2013) erscheint im Februar 2013.
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