der russisch-österreichische Überfall auf Berlin

Transcription

der russisch-österreichische Überfall auf Berlin
Wladimir Kusnezow
Fünf Tage
in der Hand
des fürchterlichsten
Feindes
Die Geschichte des russisch-österreichischen Überfalls auf Berlin im Herbst
1760 unter Einbeziehung sowohl deutscher, als auch russischer Quellen sowie
unter besonderer Berücksichtigung der Ereignisse im heutigen Stadtbezirk
Friedrichshain-Kreuzberg
Am 3.Oktober 1760 erscheinen die russischen Truppen unter dem Kommando des
Grafen Tottleben vor dem Kottbusser Tor. Der erste Angriff wird zurückgeschlagen,
doch am 9.Oktober kapituliert die Stadt vor der Übermacht des Gegners und wird
eingenommen. Die Besatzer räumen Berlin am 13.Oktober, nachdem sie eine
Kontribution kassiert haben. Militärisch bedeutungslos, ruft die Einnahme der
preußischen Hauptstadt eine breite politische Resonanz
hervor. Im Zweiten
Weltkrieg wird diese Episode des Siebenjährigen Krieges durch die sowjetische
Partei- und Staatsführung propagandistisch ausgenutzt.
Inhalt
Vorwort
Seite 2
Teil 1. Vorausgegangene Ereignisse
Seite 4
Teil 2. Über den verunglückten Versuch,
die Stadt im Flug zu erobern
Seite 21
Teil 3: Berlin wehrt sich
Seite 31
Teil 4: Berlin kapituliert
Seite 45
Teil 5: Die Besatzung
Seite 67
Teil 6: Die Nachwirkung
Seite 87
Literaturverzeichnis
Seite
1
Vorwort
Der Siebenjährige Krieg (1756-1763) geht auch als Dritter Schlesischer Krieg und
als zweiter Weltkrieg (nach dem Spanischen Erbfolgekrieg) in die Geschichte ein.
Er wird in Mitteleuropa, Nordamerika, Indien, Karibik und auf den Weltmeeren
geführt, wobei alle damaligen Großmächte und viele kleinere und mittlere Staaten
sich an den kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligen. Wenn es für Frankreich
und England hauptsächlich um ihre Überseekolonien geht, steht der Konflikt um
Schlesien zwischen Preußen und Österreich im Mittelpunkt des Krieges in Europa.
Die Rückeroberung Schlesiens, das an Preußen infolge des Zweiten Schlesischen
Krieges (1740-1748) verloren wurde, ist das erklärte Kriegsziel der Kaiserin MariaTheresia und des Wiener Hofes.
Die Preußen bekommen Unterstützung von England, Österreich ist mit Frankreich
und Russland verbündet. Für den dritten Partner im Bunde, Russland, geht es
dabei um die Expansion gen Westen. Die Russen verkünden ihr starkes Interesse
an Ostpreußen. Neben diesen Plänen der Vergrößerung ihres Herrschaftsgebietes,
gibt es für die Zarin Elisaveta auch rein persönliche Motive, einen Krieg gegen
Preußen zu führen. Für seine Scherze wie den, dass er nun mit drei Weibern zu
tun
hat,
Maria-Theresia,
Elisaveta
und
Madame
Pompadour
(Mätresse
des
französischen Königs Ludwig XV), hasst sie den preußischen König von ganzem
Herzen so wie es nur eine beleidigte Frau tun kann. Die Tiefe ihres Hasses wird
Friedrich noch zu spüren bekommen, erst der Tod der Zarin im Jahre 1761 befreit
ihn aus einer äußerst kritischen Lage, wo schon niemand mehr an die Rettung
1
Preußens glaubt.
1. Kammerherr der preußischen Königin Graf Ernst Ahasverus Heinrich von Lehndorff notiert am
31.Januar 1762 in seinem Tagebuch: „Nachdem alle Hoffnungen, den König glücklich aus all den
Krisen hervorgehen zu sehen, zuschanden geworden sind, kommt ein plötzlicher Hoffnungsstrahl
durch den Tod der Kaiserin von Rußland. Diese Fürstin, gegen den König persönlich erbittert, hatte
ihm den Untergang geschworen, indem sie sich für die Witze rächen wollte, die der König zu
unserem Unglück über sie gemacht hatte. Ihr Vorhaben war ihr auch so gut geglückt, daß die
Russen im Besitze von Preußen, Pommern, Kolberg, eines Teiles der Neumark und mit einer
2
Der Krieg in Europa beginnt mit einem präventiven Schlag Preußens gegen das
mit Österreich verbündete Sachsen. Am 29.August 1756 marschiert Friedrich in
Sachsen ein. Kurze Zeit später kapituliert die sächsische Armee und wird gefangen
genommen. Diesem Ereignis folgen viele große und kleine Schlachten, ruhmreiche
Siege und vernichtende Niederlagen, harte Schicksalsschläge und unglaubliche
Rettungswunder.
Nachdem
Hunderttausende
Soldaten
ihr
Leben
auf
den
Schlachtfeldern des Krieges verlieren und weitere Hunderttausende zu Krüppel
gemacht werden, Hunderte von
Städten und Ortschaften geplündert, abgebrannt
oder entvölkert werden, wird am 15.Februar 1763 auf der Hubertusburg ein
Friedensvertrag zwischen Preußen und seinen Gegnern geschlossen, der den
Vorkriegs- Status quo wiederherstellt.
2
Für den weiteren Verlauf der deutschen
Geschichte ist dieser Vertrag von enormer Bedeutung, denn seitdem etabliert sich
Preußen endgültig im Kreise der europäischen Großmächte.
Im Herbst 1760 ist allerdings der preußische König noch meilenweit von der
Verwirklichung dieses seines Ziels entfernt. Kurz zuvor wird er bei Kunersdorf von
den Russen und Österreichern derart vernichtend geschlagen, dass sein Heer sich
vorübergehend völlig auflöst. Und nun wird seine Hauptstadt von den Feinden
eingenommen und geplündert. Die kurzzeitige Besetzung Berlins bringt zwar keine
Wende im Kriegsverlauf, militärisch gesehen bleibt sie lediglich eine unwichtige
Episode des Siebenjährigen Krieges. Und trotzdem ist die Geschichte dieser
Besetzung spannend, lehrreich und in vielerlei Hinsicht aktuell, was wir im
folgenden zu zeigen vermögen.
beträchtlichen Armee in Schlesien nächstes Frühjahr zum letzten Schlage ausholen konnten; da trat
zu unserem Glück der Tod dazwischen. Ihr Land verliert in ihr eine gute Herrscherin, aber wir
gewinnen sicherlich dabei“ (Lehndorff, S.141).
Moral aus der Geschichte: Mach niemals Witze über
die Frauen!
2. Und so kommentiert Graf Lehndorff den Friedensvertrag: „Somit hat alle unsere Not ein Ende.
Wenn man nun aber bedenkt, welche unzähligen Opfer dieser Krieg gefordert hat, wieviel Provinzen
verwüstet, wieviel Familien ruiniert worden sind, und das alles, um die Herrscher in dem status quo
ante zu sehen, so möchte man über den Wahnwitz der Menschheit laut aufschreien“ (Lehdorff,
S.146).
3
Teil 1. Vorausgegangene Ereignisse
Das Glück ist dem Kühnen hold: Der berühmte
Husarenritt des Grafen Hadik
Seite 5
Aus der Vorgeschichte des Streifzuges 1760
Seite 8
Der Plan
Seite 10
Die Anweisungen
Seite 11
Der Aufmarsch
Seite 14
Mit Zittern und Zagen
Seite 15
Mit Ehrgeiz und Eifer
Seite 17
Mit Mut und Tat
Seite 18
4
Das Glück ist dem Kühnen hold: Der berühmte
Husarenritt des Grafen Hadik
Berlin wird während des Siebenjährigen Krieges zwei Mal besetzt. Beide Male
handelt es sich um lokale, überfallartige Operationen, die im Rahmen der
Alliiertenstrategie untergeordnete militärische Ziele verfolgen. Hermann Granier
wundert sich darüber, dass auf die für die Generalität des XIX Jahrhunderts
selbstverständliche Idee, durch die Besetzung der gegnerischen Hauptstadt den
Widerstand des Feindes entscheidend zu brechen und den Krieg zu gewinnen, im
XVIII Jahrhundert scheinbar niemand gekommen ist (Granier, S.113).
Im Oktober 1757 entsenden die Österreicher ein kleines Expeditionskorps unter
dem Kommando des Grafen Hadik zum Überfall auf Berlin. General Hadik bricht
am 11.Oktober 1757 mit 2000 Mann Infanterie sowie mit etwa 1400 Kürassieren
und Husaren in Elsterwerda auf. Er führt 4 Geschütze mit sich. In Elsterwerda
lässt er General Kleefeld mit einem kleinen Truppenverband und 2 Geschützen zur
Rückendeckung zurück. 100 - nach anderen Angaben 300 - Husaren mit ausgesuchten Pferden erhalten den Auftrag, sich um die reibungslose Kommunikation
zwischen den beiden Generälen zu kümmern.
In einem Eilmarsch, bei dem seine Kavallerie für die damalige Zeit unglaubliche
50 Meilen und die Infanterie 32 Meilen täglich zurücklegen, erreicht er am
15.Oktober 1757 Königs-Wusterhausen. Um unentdeckt zu bleiben, biegt seine
Hauptkolonne in der Dunkelheit der Nacht am 16.Oktober von der Straße ab und
erreicht das Berliner Schlesische Tor durch den Wald.
Graf Hadik schickt einen Trompeter in die Stadt mit einer Forderung in Höhe von
300.000 Taler. Da dieser Forderung vom Berliner Magistrat nicht entsprochen
wird, beginnt der Sturm, der zuerst auf das Schlesische Tor und auf die
Spreebrücke gerichtet ist. Am Ufer der Stralauer Vorstadt gehen etwa 300
Verteidiger
in
Stellung.
Sie
geraten
unter
Kanonenfeuer.
Eine
der
Kugeln
zerschmettert die Kette der Zugbrücke, die Brücke fällt herab. Die Österreicher
dringen sofort ein und überwältigen die Soldaten der Berliner Garnison. Das
5
Schlesische Tor wird eingenommen. Zwei preußische Bataillone, die in den Straßen
der Köpenicker Vorstadt Stellung beziehen, werden in wenigen Minuten völlig
aufgerieben. Etwa 300 bis 400 preußische Infanteristen, die das Kotbusser Tor
verteidigen sollten, ergreifen panisch die Flucht - noch bevor sie mit dem Feind in
Berührung kommen. Die österreichischen Husaren holen sie ein und mähen sie
buchstäblich nieder. Einige der Flüchtenden nehmen sie gefangen. Auf einem
offenen Gelände wie dem Köpenicker Feld kann ein Infanterist einem Berittenen
kaum entlaufen. Die Angreifer stoßen auf keinen nennenswerten Widerstand,
obwohl die Berliner Garnison unter ihrem Kommandanten General von Rochow
über wesentlich mehr Kräfte als Hadik verfügt. Die Königin rettet sich nach
Spandau und mit ihr flüchtet der Rest der Berliner Garnison.
Die Österreicher rücken nicht in die Stadt vor, sie bleiben in der Köpenicker
Vorstadt stehen. Unter ihnen sind einige ehemalige Berliner, sie plündern gezielt
die
Ihnen
bekannten
reichen
Häuser
vor
dem
Stralauer
Tor
und
in
der
Lindenstraße am Rondel. Hadik erneuert seine Forderung nach Kontribution. Um
weitere
Plünderungen
zu
vermeiden,
zahlt
der
Berliner
Magistrat
diesmal
bereitwillig 215.000 Taler „Brandsteuer“ sowie 25.000 sog. „Douceur-Gelder“ „an
die Truppe“. In der Nacht zum 17. Oktober verlässt Hadik Berlin. Sein von
Friedrich mit starken Truppen ausgerüsteter Verfolger, Fürst Moritz von Dessau,
befindet sich zeitgleich nur einen zweistündigen Fußmarsch von der Stadt entfernt.
Erst als die Gefahr vorüber ist, lässt sich der Kommandant der Berliner Garnison
wieder in der Stadt blicken. Er wird von der Menge der aufgebrachten Berliner
bedrängt, beleidigt und mit Steinen beworfen. Nur unter militärischem Schutz kann
er, mit Kot bedeckt, sein Haus erreichen. Noch Tage später halten fünfzig
Husaren vor dem Haus des Generals von Rochow Wache, „da das Volk noch
immer in äußerst gereizter Stimmung gegen ihn ist.“ (Lehndorff, S. 94).
3
Trotzdem bleibt von Rochow nach seiner Blamage weiter im Amt, teils wegen des
3. “Man beschuldigt ihn eines geheimen Einverständnisses mit dem Feinde, - notiert Graf Lehdorff in
seinem Tagebuch, kurz, man traut ihm jede Schändlichkeit zu. Man tut ihm aber unrecht. Sein
ganzer Fehler besteht darin, daß ihn der Himmel mit recht wenig Verstand, aber viel Hochmut und
recht viel Geiz begabt hat, weshalb er niemand zu Rate gezogen und keinen Groschen ausgegeben
hat, um die Stärke des Feindes auszukundschaften.
6
Personalmangels in der preußischen Militärverwaltung, wie wir es heute bezeichnen
würden, teils dank der Fürsprache einer Person, die dem preußischen König nahe
4
steht.
Sein Biograph verteidigt ihn später mit dem Argument: “Er hatte...nicht
den Befehl, sich zu halten, sondern nur den die königl. Familie zu retten. Diese
brachte er nach Spandau in Sicherheit, nachdem er jede Kapitulation verweigert
habe...“
(
Zedlitz-Neukirch,
S.429)
Offensichtlich
irrt
sich
die
Menge
der
geplünderten Bürger, als sie den General mit Steinen statt Lobgesängen bei seiner
Rückkehr aus Spandau empfängt.
Militärisch ist der Streifzug von Hadik kaum von Bedeutung. Nicht desto trotz
hinterlässt er einen überwältigenden Eindruck bei den Zeitgenossen, u.a. auch bei
Friedrich. Nachdem Friedrich am 13. Oktober 1757 die Nachricht über die
Bewegung des Feindes in Richtung Berlin erhält, verliert er seine Gelassenheit
völlig. Er zieht sich am Abend zurück, seine Begleitung beobachtet durch die
Fenster seines Quartiers, wie er stundenlang mit dramatischsten Gesten Verse aus
Racines Tragödie Mithridates deklamiert.
Der legendäre Husarenritt offenbart die Verwundbarkeit Preußens sowie die mangelnde
Sicherheit
seiner
Hauptstadt. In einer
Zeit,
in der
das vorsichtige
Manövrieren mit großen Truppenverbänden zum Alpha und Omega der Kunst der
Kriegsführung erhoben wird, diese Truppen auf ein kompliziertes System der
Versorgung durch Depots und Magazine angewiesen sind und sich deshalb nur
schleppend bewegen, bringt der Streifzug die Vorteile der Schnelligkeit und des
Überraschungsangriffs an den Tag.
Außerdem hat er wie alle Dummköpfe den Befehl des Königs zu sehr nach dem Buchstaben
ausgeführt. Seine Majestät hatte befohlen, daß die Garnison, falls der Feind sich der Stadt nähere,
der Königin zur Bedeckung dienen solle; der König konnte aber nicht voraussehen, daß der
Kommandant ein solcher Tropf sein würde, die Hauptstadt des Landes in die Gewalt der Österreicher
fallen zu lassen, wenn diese nur 1000 Mann stark wären, während unsere Garnison 4 500 Mann
zählte“ (Lehdorff, S.91)
4. Kommentar des Grafen Lehndorff: „Alle Welt ist aufs höchste erstaunt, daß der König den
Kommandanten wieder in sein Amt eingesetzt hat; die ganze Stadt ist darüber in Verzweiflung“
(Lehdorff, S.94).
7
Der Jubel des Wiener Hofes bei der Nachricht über die Erstürmung Berlins ist
grenzenlos: Graf Hadik wird zum Ritter des Gross-Kreuzes des Maria-TheresienOrden, das lediglich zwanzig Mal in der ganzen Geschichte Österreichs verliehen
wird.
Es ist vorauszusehen, dass seine Tat früher oder später Nachahmer findet.
Aus der Vorgeschichte des Streifzuges 1760
Die Überlegungen, einen erneuten Überfall a la Hadik auf Berlin zu verüben,
stellen die Alliierten seit 1758 mehrfach an. Endgültig beschließt den Aufmarsch
die
Sankt
Petersburger
Konferenz,
eine
russische
Einrichtung
mit
gleichen
5
Funktionen wie der Wiener Hofkriegsrat, Mitte September 1760. Entsprechend der
Weisung der Konferenz wird im Feldlager der russischen Armee im schlesischen
Carolat(h) (heute Siedlisko in Polen) am 21.September 1760 (am 10.September
nach dem damals in Russland geltenden Julianischen Kalender) der Kriegsrat
einberufen. Dieser Kriegsrat unter Vorsitz des Grafen von Fermor
6
legt am
5. Dmitrij Masslowski fügt hinzu, „dass die Frage über die Expedition nach Berlin im Prinzip bereits
1758 durch die Konferenz in Aussicht genommen war. Ssaltykow wollte sie bereits gleich nach der
Schlacht von Paltzig zur Ausführung bringen, so dass im Hauptquartier schon alle Daten „zur
Organisation der „Expedition" vorhanden waren“ (Masslowski, S.229).
6. Der ehemalige Oberbefehlshaber der russischen Feldarmee Graf Wilhelm von Fermor, ein
russischer General englischer Abstammung, übernimmt am 12.September 1760 erneut den Oberbefehl
über die russischen Streitkräfte in Schlesien und Ostpreußen, da sein Amtsnachfolger, Graf Pjotr
Saltykow, „an Hypochondrie“ schwer erkrankt und somit vorübergehend dienstuntauglich ist. Am
11.September geht die entsprechende Meldung nach Sankt Petersburg, wo bereits am 28.September
der offizielle Nachfolger Saltykows, Feldmarschall Graf Alexander Buturlin, präsentiert wird. Die
provisorische Führung des Grafen Fermor dauert etwa einen Monat. Der Streifzug gegen Berlin fällt
fast komplett in diese Zeit.
Der erkrankte Saltykow, der, obwohl de facto nicht mehr an der Führung beteiligt, de jure bis zum
28.September im Amt bleibt, signiert in dieser Zeit einige wichtige Dokumente der Armee wie z.B.
die
Relation
an
die Zarin
am
26.September
(15.September)1760
8
über
die Entsendung
des
22.September den Aufmarschplan fest, der am 26.September in den Anweisungen
Fermors an General Tottleben weiter konkretisiert wird. Der Beschluss des
Kriegsrates
erwähnt
das
nachdrückliche
Bemühen
des
österreichischen
Militärbevollmächtigten im russischen Hauptquartier, Baron Thomas Plunkett, um
die Operation gegen Berlin. Der österreichische Generalleutnant, in dessen Adern
irisches Blut fließt, fasst seine Argumente für den Streifzug in einer schriftlichen
„Pro Memoria“ zusammen, die er am 22.September dem Kriegsrat vorliegt
(Korobkov, Semiletnjaja vojna, S.659).
In Wien heißt man die Entscheidung der Sankt Petersburger Konferenz über den
Aufmarsch gegen Berlin willkommen. Man wünscht endlich eine Wende in einem
Kriegsverlauf, der sich für die Österreicher zu einem Patt zu entwickeln droht. Der
österreichische Oberbefehlshaber Feldmarschall Daun wird mit seinen Truppen von
Friedrich
in
eine
Gebirgsregion
gedrängt,
wo
er
kaum
Möglichkeiten
zum
Manövrieren hat. Der erfolgreiche Schlag gegen seine Hauptstadt soll Friedrich
veranlassen, preußische Truppen in Schlesien zu teilen, dementsprechend den
Druck auf Daun zu verringern und dem Feldmarschall die Gelegenheit für die
entscheidende Schlacht geben. Sollte das nicht gelingen, so will man dem Gegner
zumindest großen materiellen Schaden zufügen, denn Berlin ist für die Versorgung
der preußischen Armee von großer Bedeutung.
Die Hauptstadt Preußens verspricht leichte Beute: Die Berliner Garnison besteht
1760 lediglich aus 1200 -1500 Mann verschiedener Waffengattungen - eine zu7
sammengewürfelte Truppe nach der Beschreibung der Zeitzeugen. Sie untersteht
immer noch dem Kommando des Generals von Rochow, der sich 1757 nicht
gerade mit Ruhm bekleckert hat. Die Befestigungen von Berlin werden zwar in
Tottlebenschen Korps nach Berlin (Korobkov, Semiletnjaja vojna, SS.652-655).
Im Zusammenhang mit dem Führungswechsel an der Spitze der russischen Armee gehen die
Gerüchte, dass Saltykow seinen Verstand verloren hat, doch in Wirklichkeit leidet er am heftigen
Fieber. Auf dem Wege der Besserung übernimmt er am 10.Oktober 1760 erneut das Kommando,
solange sich der frischernannte Befehlshaber Buturlin der Armee nicht anschließt.
7. Die Berliner Garnison besteht zu dieser Zeit aus 3 Bataillonen Garnisontruppen und 50
Stadthusaren.
9
den Vorkriegszeiten erneuert, der Umbau dient jedoch nicht militärischen, sondern
vorwiegend Überwachungszwecken, was auch der Name „Berliner Zollmauer“
verrät. Einer dauerhaften Belagerung bzw. einer massiven Bombardierung werden
sie nicht standhalten.
8
Der König hat sein Feldlager im Schlesischen Gebirge und kann wegen der
Entfernung nicht so schnell zur Rettung seiner Hauptstadt kommen. Die weiteren
preußischen Verbände, die sich unweit von Berlin befinden, sind verhältnismäßig
klein und scheinen fest gebunden zu sein: das Korps des Generals Johann Dietrich
von Hülsen steht in Torgau gegen die Reichsarmee, das Korps des Prinzen
Friedrich Eugen von Württemberg hat in Pommern mit den Schweden zu tun.
Der Plan
Der Plan der russischen Führung sieht vor, Berlin mit den leichten Truppen unter
dem Kommando des aus Kursachsen stammenden russischen Generals Gottlob
Curt Heinrich Graf von Tottleben anzugreifen. Tottleben gilt als ein fähiger und
tapferer Kommandeur, kurz vor dem Streifzug auf Berlin erhält er den AlexanderNewski-Orden für „seine Bravour und gute Disposition“ ( Granier, S.114) in einem
Gefecht mit der Nachhut des Prinzen Heinrich von Preußen in Schlesien am
27.August 1760. Berlin und die Umgebung kennt er aus eigener Erfahrung, da er
früher eine Zeit lang in der Stadt lebt.
Die Unterstützung, die er braucht, erhält Tottleben von dem zweiten russischen
Korps
unter
dem
General
Graf
Zachar
Tschernyschew
sowie
von
dem
8 .“Auf dem linken Spreeufer umschloß die Stadt eine aus des Großen Kurfürsten Zeit stammende
Mauer, die nach der üblen Erfahrung von 1757 bis zum Spreeufer am Oberbaum, der Stromsperre
beim Eintritt der Spree in die Stadt, ergänzt war; auch waren vor den Thoren leichte Erdwerke,
Fleschen, angelegt worden... Auf dem rechten Spreeufer, etwa in der Richtung der heutigen
Linienstraße, lief nur ein Palisadenzaun um die Stadt, die also eigentlich als offen gelten musste und
nur gegen einen Handstreich zu halten war“ (Granier, SS. 114f).
10
österreichischen Korps des Grafen Lacy, die ihm in einer Entfernung nach Berlin
folgen. Gleichzeitig rückt die Hauptarmee nach, sie verlässt ihr Feldlager in Carolat
und marschiert in Richtung Frankfurt/Oder.
In den Plan eingeweiht, reicht Tottleben einen Denkschrift mit seinen allgemeinen
Erwägungen
über
die
Ausführung
der
Expedition
beim
Hauptquartier
ein.
Offensichtlich dient ihm dabei der Streifzug von Hadik als Vorbild, denn er meint,
„dass die Hauptbürgschaft des Erfolges der ihm übertragenen Unternehmung sich
mehr in Abhängigkeit von „der Schnelligkeit und der richtigen Zeit als von der
Stärke der Reiterei" befände, desgleichen von „der Heimlichkeit des Marsches" und
schliesslich „von der Unterbrechung aller derjenigen Verbindungen, welche der
Feind auf verschiedenen Wegen mit Berlin unterhielte" (Masslowski, S.228).
Weiterhin erwägt er die Verstärkung seines Korps durch 2 Dragoner-Regimenter,
2000 Grenadiere zu Pferde und etwas reitende Artillerie. Was die Verpflegung der
Truppe angeht, so will er seine Leute „durch die Mittel des Landes“ versorgen.
Die Beteiligung Tschernyschews an der geplanten Expedition nimmt er ohne
besondere Freude zur Kenntnis. Ihn will er entfernter haben, um die Früchte
seines Zuges mit niemandem teilen zu müssen. Deshalb „meinte Totleben, für
Tschernyschew „würde es angemessen sein" über Krossen nach Frankfurt zu
marschiren und von dort auf der Strasse nach Berlin nur eine Brigade Infanterie
zu schicken, auf die sich die Truppen des Expeditionsdetachements nöthigenfalls
beim Rückmarsch basiren könnten“ (Masslowski, S.229)
Die Anweisungen
Offensichtlich glauben sowohl die Konferenz, als auch die Führung der russischen
Feldarmee, dass die Preußen keine Lehre aus der „üblen Erfahrung von 1757“
gezogen
haben:
die
Erwägungen
Tottlebens
werden
in
den
endgültigen
Anweisungen von Fermor fast im Verhältnis 1:1 umgesetzt. Der einzige wesentliche
Unterschied
besteht
darin,
dass
das
Korps
von
Tschernyschew
nicht
nach
Frankfurt, wie es Tottleben lieb wäre, sondern von Beuthen über Freistadt,
11
Christianstadt, Sommerfeld nach Guben und Beeskow geschickt wird. „Auf diese
Weise
hatten
beide
Detachements
bis
Guben“
zwar
„verschiedene
Wege
einzuschlagen,“ dennoch „von Guben sollte das Korps Tschernysehew's direkt
hinter
marschiren,
Totleben
um
ihn
im
Nothfalle
unterstützen
zu
können“
(Masslowski, S.229).
9
Das Detachement von Tottleben soll aus drei Husaren-, drei Kosaken- und zwei
Dragoner-Regimenten sowie vier Grenadierbataillonen und einer Artillerie-Einheit
mit
19
Geschützen
(
Einhörner
und
(Korobkov, Semiletnjaja vojna, S. 660).
10
Schuwalowsche
Haubitze
)
bestehen
Demnach geht Fermor davon aus, dass
für die Einnahme und die Plünderung Berlins Kräfte genügen, die sich nicht
wesentlich von Hadiks Kräften unterscheiden. Auf Hadiks Ritt als Vorbild für das
9. Detachement (mil.) ist eine kleinere Truppenabteilung, die aus dem Verband eines größeren Heer-
körpers zur Lösung einer selbständigen Kriegsaufgabe abgezweigt ist.
10. In der Literatur wird allgemein die Beschreibung des Tottleben Korps aus dem Werk des Oberst
(später General) Masslowski ( Masslowski, S.230) über den Siebenjährigen Krieg übernommen. Die
einzigen Ein-wände der Kritiker gelten den Zahlen, die Masslowski aufführt. So findet Herman
Granier, dass die Berechnungen Masslowskis nicht verlässlich sind, der Mannschaftsbestand ist viel zu
niedrig bewertet ( Granier, S. 143).
Laut Masslowski führt Tottleben die folgenden Truppenteile ein:
-drei Husarenregimentern: Moldawisches, Kroatisches und Serbisches Regiment, die von den Obersten
Podgoritschani, Tswetanowitsch (Zwätnikowitsch) und Tekeli geführt werden ( insgesamt ca. 1000
Mann);
-fünf Kosakenregimenter unter Kosaken-Obersten Popov I. und Popov II., Turoverov, A.Lukovkin,
B.Lukovkin (insgesamt ca. 1400 Kosaken);
-1200 Grenadiere des Brigadiers Melgunow (Rigaer und Sankt Petersburger Regimenter von
Grenadieren zu Pferd);
-1800 Grenadiere des Brigadiers Bachmann (vier Grenadierbataillone, geführt von Oberst
Maslov,
Oberstleutnant Fürst Prozorovski, Oberstleutnant Burmann und Major Patkul);
-eine Artillerieeinheit unter Oberstleutnant Glebow mit insgesamt 15 Geschützen.
Tottleben selbst spricht dagegen von nur drei Kosakenregimentern, nämlich von Lukovkin (ohne
Initialen), Turoverov und Popov, und beziffert die Bachmanns Grenadiere auf 2.000 Mann.
12
ganze Unternehmen nimmt Fermor in seinen Anweisungen offen Bezug, er
wünscht Tottleben Lob und Ehre verdienen, wie die der Reichsgeneral Hadik
geerntet hat (Korobkov, Semiletnjaja vojna, S. 661).
Tottleben wird viel Entscheidungsfreiheit eingeräumt: er soll „ den Streifzug nach
eigenem Ermessen so führen und mit solcher Schnelligkeit <marschieren>, die
nach Ihrer (d.h. Tottlebens ) Meinung angemessen ist, um die Ihnen (d.h.
Tottleben) anvertrauten Menschen und Pferde nicht zu entkräften und eine
glückliche Expedition zu ermöglichen“ (Korobkov, Semiletnjaja vojna, S.660-661,
Sprache-russ., Übersetzung des Autors). Die Deckung durch die Korps von
Tschernyschew und Lacy sowie ferner durch die russische Armee, die in Richtung
Frankfurt rückt, wird als eine reine Vorsichtsmassnahme dargestellt. Fermor geht
offensichtlich davon aus, dass Berlin nur durch
Tottlebens Korps eingenommen
wird und zwar noch bevor die Berliner Garnison Verstärkung von außerhalb
erreichen wird. Erst nach dem Verlassen der preußischen Hauptstadt soll sich
Tottleben dem Tschernyschew Korps anschließen, um auf seinem Rückzug von den
aus Magdeburg und Torgau zur Verstärkung nach Berlin entsandten gegnerischen
Truppen nicht überrascht zu werden.
Die Aufgaben Tottlebens nach der Einnahme der preußischen Hauptstadt formuliert
Fermor in den Punkten drei und fünf seiner Anweisungen folgendermaßen:
„ Drittens. Bei Ihrem (d.h. Tottlebens) Einzug in Berlin wird nachdrücklich
empfohlen, <Folgendes> ohne Verzögerung in die Tat umzusetzen, und zwar, von
der Stadt einen beträchtlichen Geldbetrag als Kontribution zu verlangen und für
das, was <sie> nicht in der Lage sind <gleich> zu zahlen, eine durch die ganze
Stadt unterschriebene Bürgschaft mit der festgelegten Frist, zu der sie bezahlen
müssen, anzufordern sowie < für die Tilgungsgewährleistung> zwei Personen
<von Rang> und einige Vertreter der Kaufleute auszuwählen und sie als Geisel zu
nehmen;
<es
Kanonengießereien,
wird
alle
nachdrücklich
Magazine,
empfohlen>
Waffen-
und
dortige
Tuchfabriken
Waffenlager,
gänzlich
zu
verwüsten und aus allem, was für die Versorgung <unserer> Armee dringend
notwendig ist, Nutzen zu ziehen, hier scheint die Ankündigung ausreichen, dass
sowohl der Stadt als auch der Bürgerschaft keinen Schaden zugefügt wird, wenn
13
die Forderungen <der Besatzer> schnell und ohne Ausreden erfüllt werden,
ansonsten wird die gerechte Vergeltung für alle durch den preußischen König in
Sachsen, insbesondere in Leipzig, begangenen Gräueltaten geübt und das muss
dann tatsächlich geschehen.
Fünftens.
Die
übrigen
Einzelheiten
werden
Ihnen
(d.h.Tottleben)
nicht
vorgeschrieben, es wird sich auf Ihre Umsicht eines erfahrenen Generals verlassen,
besonders wird empfohlen, eine strenge Disziplin in der Mannschaft zu halten und
niemandem von den Einheimischen auf Ihrem Marsch und in Berlin Verletzungen
und Verwüstungen zu zufügen und die schädliche Säuferei nicht zu zulassen,
sondern sie dadurch zu unterbinden, dass Ihre ganze Mannschaft stets in
Bereitschaft gehalten wird, um den Marodeuren die Möglichkeit zu rauben, sich
<von
der
Störungen
Truppe>
zu
für
Ihnen
die
entfernen
und
anvertraute
somit
irgendwelchen
Aufgabe
Schaden
einzurichten...“
bzw.
(Korobkov,
Semiletnjaja vojna, S.661, Sprache-russ., Übersetzung des Autors).
Der Aufmarsch
Der Befehl und die Anweisungen von Fermor erhält Tottleben am 26.September
(15.September) 1760 in der Nähe von Glogau in Schlesien, wo er mit seinem aus
vier Husaren- und fünf Kosakenregimentern bestehenden Korps das Feldlager
bezieht. Noch am gleichen Abend stoßen der Brigadier Bachmann mit zweitausend
Grenadieren, der Brigadier Melgunow mit zwei Regimentern von Grenadieren zu
Pferde
und
der
Kosakenregimenter
Oberstleutnant
und
ein
Glebow
mit
seiner
Husarenregiment
lässt
zu
ihm.
Zwei
Tottleben,
wie
ihm
Artillerie
vorgeschrieben, bei der Hauptarmee zurück. Mit dem Rest der vereinten Truppe
bricht er am 27.September auf.
Über Sorau und Guben, wo er lange Verschnaufpausen einlegt, um die Pferde und
Kutschen für seine Infanterie und Artillerie aufzutreiben und sich mit den Quartiermeistern von Tschernyschew, die diese Gegend noch vor ihm heimgesucht haben,
zu streiten, erreicht er am 30.September Beeskow. Hier gibt er seinen Soldaten
14
einen Rasttag anlässlich des Geburtstages des russischen Großfürsten Paul. Am
02.Oktober trifft er endlich in Königs-Wusterhausen ein.
Tschernyschew, der zeitgleich mit Tottleben in Beuthen aufbricht, erreicht am
gleichen Tag, dem 02.Oktober 1760, Fürstenwalde. Auch das Lacy Korps befindet
sich bereits im Anmarsch, wovon Graf Fermor am 30.September benachrichtigt
wird. Aus seinem Feldlager in Waldenburg marschiert Lacy durch die Lausitz gen
Berlin.
Unterwegs erhält Tottleben die falsche Kundschaft, dass der General von Hülsen
mit seinem Korps nur wenige Meilen entfernt bei Beelitz steht. In Besorgnis um
den Ausgang seines Unternehmens wendet er sich an Tschernyschew mit der Bitte
um Verstärkung. Dieses und die anderen Vorkommnisse seines Marsches werden
später von den sowjetischen Geschichtsschreibern unter die Lupe genommen und
als belastende Indizien ausgelegt, um den Deutschen Tottleben des Verrats an der
russischen Sache zu bezichtigen. In ihrer Darstellung sabotiert Tottleben den
Befehl, in dem er in böser Absicht den Aufmarsch auf Berlin verzögert. Das sehen
die Zeitzeugen offensichtlich anders. Was speziell die Berliner Bürgerschaft angeht,
so wäre sie damals sicherlich froh, wenn die Verdächtigungen der sowjetischen
Historiker einen wahren Kern hätten. Denn für die Berliner geht alles im Gegenteil
viel zu schnell.
Mit Zittern und Zagen
In der lebendigen Darstellung von seinen Erlebnissen im Herbst 1760 schildert
Probst
Süßmilch,
wie
die
Berliner
die
Nachricht
über
die
heranrückenden
russischen Truppen, die „uns einen Besuch zu drohen schienen“(Wilke, S.19),
wahrnehmen: „...so entstand Dienstags, den 30ten Septembr die erste Furcht aus
der Nachricht von der Ankunft des Totlebischen Korps, so sich von Glogau über
Grünberg Grossen und Guben herunter ziehen solte. Mittwochs den 1ten Oktobr
ward die Stadt noch mehr allarmiret als man hörete daß sich schon Cosacken
Partheien zu Storckau 6 Meilen von hier eingefunden, den Abend ward man
15
wieder beruhiget...“(ebenda). Die Beruhigung macht sich nach einem Gerücht über
die „sicheren Briefe aus Soldin“ breit, mit der Nachricht, dass General Werner mit
einem 3650-Mann starken Korps seine Route von Kolberg auf Berlin verlegt, um
Tottleben in den Rücken zu fallen und ihn so an seinem Vormarsch zu hindern.
Man glaubt auch, dass Prinz von Württemberg sein Vorhaben gegen die Schweden
abbricht, um den Berlinern zur Hilfe zu kommen. Am nächsten Tag hatten „das
Posthaus und die Policey“ „verschiedene Leute zu recognosciren ausgeschickt und
man vernahm, so viel, daß Cosacken schon dißeit Wusterhausen bis gegen
Rhudow eine Meile von hier gestreiffet“(Wilke, S.21). Die Berliner sehen sich nun
endgültig „der Gefahr des fürchterlichsten Feindes ausgesetzt“(ebenda).
Die Russen nimmt man zu dieser Zeit in Mittel- und Westeuropa als Exoten wahr:
die russischen Truppen feiern erst im Siebenjährigen Krieg ihr Debüt auf
westeuropäischen Kriegsschauplätzen. Die Angst vor dem unbekannten Feind aus
der „Tatarey“, dessen Sprache man nicht versteht, ist groß. Insbesondere die
irregulären Truppen der Russen, Kosaken und Kalmücken, beeindrucken die
Einheimischen durch ihre fremde Erscheinung. In ganz Europa verbreiten sich
während des Krieges „die Gräuelmärchen von den bärtigen asiatischen Horden, die
Frauen das Herz herausrissen und den Leib aufschlitzen, die Gefangene grausam
folterten und nach Schnapsorgien Lustmorde verübten.“ (Klaus J. Gröper: Die
Geschichte der Kosaken, Bertelsmannverlag, Mün-chen 1976, S.306). Ein russischer
Kundschafter berichtet 1758 aus Berlin u.a. über seine Gespräche mit Berlinern:
schon damals urteilen sie über die Kosaken, die seien nur für Plünderungen gut
11
(Korobkov, Semiletnjaja vojna, S.300). Nun rückt die nähere Bekanntschaft mit
diesen Räuberbanden in greifbare Nähe. Und so steigt die Anspannung bei den
Berlinern von Tag zu Tag, man schwankt zwischen Verzweifelung und Hoffnungen
auf eine wunderbare Rettung.
In der in Aufregung versetzten Stadt brodelt die Gerüchteküche. In ihrer Unruhe
11. Vgl. dazu die Äußerung von Probst Süßmilch:“ Die Kosacken sind ein tollkühner Haufen, die zwar
bey Schlachten wenig oder gar nichts zur Entscheidung beitragen können, die aber doch wegen der
Flüchtigkeit ihrer Pferde hinter einem Heer und durch ihre Mordbrennerey, manchen Schrecken und
Verwirrung anrichten können. Es sind wohl ausgewachsene und starcke Kerl, die zwar verwegen und
flüchtig, aber zu ordentlichen Angriffen nicht geübet. “ (Wilke, S.29 ).
16
sind die Berliner geneigt, den wildesten Spekulationen Glauben zu schenken: „Man
nimt in solchen Fällen alles zu Hilfe, was einige Beruhigung geben könne. Man
will auch nicht glauben, was den Trost rauben kann. Man hielt es für ohnmöglich,
daß die Residentz sollte können abandoniret werden, und glaubte auch noch
mehr, und schmeichelte sich daß von Schlesien aus etwas hinter dem General
Totleben her würde seyn geschreitet worden“(ebenda).
Und der General Tottleben höchstpersönlich raubt den Berlinern ihre letzten
Hoffnungen, zeitgleich mit dem mit Zittern und Zagen erwarteten Auftauchen von
Kosaken vor den Toren der Stadt erfahren die Berliner, dass „er des Morgens im
Dorfe Britz im Predigerhause Caffe getruncken, und beym Abschied soll gesaget
haben: Diesen Abend muß Berlin in meinen Händen seyn. Und als repliciret
worden, daß man sage, der Printz von Würtenberg sollte zum Siccurs kommen,
soll er gesagt haben: das weiß ich besser, daß es nicht seyn könne, der Pr.
liefert morgen den Schweden eine Bateille, und fliegen kann er nicht“(Wilke,
S.23).
Mit Ehrgeiz und Eifer
Tottleben, der in der Schnelligkeit und dem Ausnutzen des Überraschungsvorteils
zurecht die besten Voraussetzungen für den Erfolg seiner Unternehmung sieht,
lässt die Infanterie in Königs-Wusterhausen zurück. Die zurückgelassenen Teile
seines Korps rücken zu ihm nach und nach im Laufe des Tages, und eilt, nur von
der leichten Reiterei umgeben, nach Berlin. Ausgerechnet am 03.Oktober, dem
künftigen Tag der Deutschen Einheit, (22. September nach dem Julianischen
Kalender), erblicken seine Kosaken von den Rollbergen vor dem Kottbusser Tor
12
die Stadtmauer der preußischen Hauptstadt.
12. Die
Infanterie
Tottlebens
erreicht
Fürstenwalde
erst
gegen
Mitternacht,
wo
ihr
eine
Verschnaufpause gegönnt wird. Mit Tagesanbruch entsendet Tottleben die kroatischen Husaren unter
Tswetanowitsch nach Potsdam um die Stadt einzunehmen, sie kehren jedoch bald „ unverrichteter
Sache“ zurück. Danach bricht er gegen Berlin auf. Seine Vorhut bilden die Kosaken von Turowerow.
17
„Es war ein überaus schöner Tag, den aber den schwülen Tagen im Julius
ähnlich, die oft plötzlich einen Orcan mit sich führen. Etwan gegen 10 Uhr
entstand in den Straßen eine Furchtvolle Bewegung und raunen und es hieß: die
Kosacken sind schon vor dem Thor, dem Hallischen und Ricksdorfer, es war auch
leider! mehr als zu wahr...“,- berichtet Probst Süßmilch ( Wilke, S.21)
Man kann mit einem gewissen Grad an Wahrscheinlichkeit annehmen, dass der
russische General, im Gegensatz zu den Einheimischen, an diesem Tag bestens
gelaunt ist. Denn für Tottleben ist das möglicherweise der Augenblick der späten
Genugtuung: er lebt früher in Berlin, bewirbt sich für den Dienst in der
preußischen Armee, der preußische König weist ihn jedoch zurück. Nun kann er
Friedrich endlich vor Augen führen, dass auf einen Mann wie ihn zu verzichten,
ein verhängnisvoller Fehler war. Sofort schickt er seinen Parlamentär, Leutnant
Tschernyschew,
mit
der
Aufgabeforderung
in
die
Stadt.
Kurze
Zeit
später
überbringt ihm dieser eine unerwartet forsche Antwort. So schildert Tottleben die
Ereignisse an diesem Tag in seiner 1761 gedruckten „Relation“: »... und rückte
den 3ten October, Vormittags um 10 Uhr, in aller Stille vor Berlin; ich glaubte
mich dieser Stadt sogleich zu bemeistern, weil ich erfahren, daß die Besatzung
schwach wäre, und aus lauter Deserteuers bestände; ich ließ daher die Stadt
sogleich auffordern, welches dem Mittags um 12 Uhr geschähe, allein der Trompeter wurde nicht in die Stadt gebracht, und anstatt der geforderten 9 Millionen
bekam er die unvermuthete Antwort, Pulver und Bley stünde uns zu Diensten,
man würde sich bis auf den letzten Mann wehren«.(Wilke, S.48)
Mit Mut und Tat
General von Rochow erhält als erster die Meldung über die Bewegung der Russen
in Richtung Berlin, lange bevor diese Neuigkeit zu den anderen Berlinern
durchsickert. Er ist ein ordentlicher
Verwaltungsangestellter. Das Zeug
zum
Ihnen folgen die übrigen leichten Reiter, angeführt von Tottleben selbst und die Nachhut aus den
Grenadieren zu Pferde.
18
Kriegsgeneral hat er jedoch nicht. Hermann Granier zitiert einen Zeugen, der
beschreibt, wie der Rochow nach dem Erhalt der verhängnisvollen Nachricht „wie
vom Blitzstrahl getroffen“ Tage lang herumläuft „ohne daß der Grund verlautete,
so daß man in der Stadt besorgte, dem Könige sei ein Unglück zugestoßen
“(Granier, s.114). Er schreibt hastig verzweifelte Briefe an Prinz von Württemberg,
fleht ihn um Hilfe an. In seinen Briefen nach Magdeburg äußert er die Hoffnung,
dass er noch zehn Tage hat und dann kann sich die Lage ändern, d.h. er hofft,
wie auch die gemeinen Berliner, auf ein Wunder.
Diese Hoffnung wollen ihm die Feinde allerdings nicht erfüllen. Und als es soweit
ist - Tottleben vor den Toren Berlins steht und die Stadt zur Aufgabe auffordert,
- ist es Rochows erster Antrieb, abzumarschieren und die Residenzstadt erneut im
Stich zu lassen.
13
Zu seinem Glück ist er diesmal nicht allein, sondern von den
Männern der Tat umgeben. Sie retten den General vor einer erneuten Blamage,
indem sie die Sache der Verteidigung in die eigenen Hände nehmen.
In März 1758 ernennt Friedrich den damals 73-jährigen Feldmarschall Hans von
Lehwald zum Gouverneur Berlins. Das ist ein Posten ohne klare Vollmacht bzw.
deutlich definiertem Aufgabenbereich, denn durch die Ernennung verfolgt Friedrich
lediglich das Ziel, dem alten verdienten General so etwas wie eine Sinekure zu
erschaffen. Doch für die Stadt wird die Anwesenheit des erfahrenen Kriegers zum
großen Vorteil. Gleichfalls glücklich ist für die Berliner der Umstand, dass eine
Reihe von kriegserprobten preußischen Generälen, und, allen voran, der berühmte
Kavallerie-General Friedrich Wilhelm Freiherr von Seydlitz-Kurzbach, sich zu dieser
Zeit in Berlin aufhalten, um ihre Verletzungen und Krankheiten zu kurieren.
General Seydlitz diktiert die entschlossene Antwort an Tottleben. Mit dabei sind,
neben Rochow und Lehwald, Friedrich Markgraf von Brandenburg-Schwedt und
Karl David Kircheisen, Polizei-Direktor und Stadt-Präsident. Unmittelbar danach
reitet Seydlitz mit den Stadthusaren auf eine Erkundung des Feindes aus, während
Lehwald sich zu den zunächst bedrohten Stadttoren, dem Köpenicker, dem
13. „Wegen Unzulänglichkeit der zu Gebot stehenden Vertheidigungs=Mittel hielt er (Rochow) er dem
Wohle der Stadt am angemessensten, sie zu verlassen, und ihr Schicksal der Großmuth des Feindes
anheimzustellen...“ (Geschichte des Siebenjährigen Krieges in einer Reihe von Vorlesungen..., S.147).
19
Kottbusser und dem Hallischen Tor, begibt, um die notwendigen Anstalten zu ihrer
Verteidigung zu treffen. Er wird von den Generälen Rupert Scipio von Lentulus
und Karl Gottfried von Knobloch tatkräftig unterstützt. Die Soldaten der Berliner
Garnison werden auf ihre Posten verteilt, Kanonen in die Fleschen
14
geführt,
Schießgerüste für die Verteidiger errichtet. Nun mögen die Russen kommen.
14. Als Flesche (frz. fleche = „Pfeil“) wird ein Festungswerk bezeichnet, das aus zwei in einem
ausspringenden Winkel zusammenlaufenden Facen (d.h. die dem Angreifer zugekehrten Seiten eines
Werkes) besteht. Die Flesche zählt zu den Vorwerken einer Festung und wird üblicherweise einer
Bastionsspitze vorgelagert, um eine zusätzliche Feuertage zu schaffen (Festungsbau).
20
Teil 2. Über den verunglückten
Versuch, die Stadt im Flug zu
erobern
Über die entsetzliche Menge von Bomben und
anderen brennenden Dingen sowie über die Schäden,
die Kreuzberg durch die Feuerkugeln erlitten hat
Seite 22
Action!
Seite 24
Katerstimmung
Seite 28
21
Über die entsetzliche Menge von Bomben und
anderen brennenden Dingen sowie über die Schäden,
die Kreuzberg durch die Feuerkugeln erlitten hat
Gegen 14.00 Uhr beginnt das Bombardement der Stadt. Die Verteidiger schießen
aus den vor den Stadttoren platzierten Kanonen zurück: “ Von unserem Flekken
oder kleinen Bastionen an den Thoren ward redlich geantwortet...“(Wilke, S.23).
Laut Tottlebens Bericht an Fermor (Korobkov, Semiletnjaja vojna, S.673) ordnet er
zunächst an, die Ziele in der Stadtmitte wie das königliche Schloss und das
Gießhaus von der Position in der Hasenheide zu beschießen (Granier präzisiert die
Stellung seiner Batterie: sie befindet sich „hinter dem „Johannisstich“, dem
Gebäude der Tempelherren“ (Granier, S.117). Zu dieser Zeit stehen Tottleben,
entsprechend dem Bericht, drei schwere Kanonen zur Verfügung, die bereits aus
Wusterhausen eingetroffen sind.
Diese erste Bombardierung bleibt nahezu wirkungslos: „Die beiden ersten Bomben
wurden forciret und es fiel die eine auf den Schloß=Platz, nahe bei den Fiacres,
die alle aus einander sprengeten, die andere in ein Haus zwischen der Roß und
Lappstraße. Viele und die meisten fielen auf den Werder sonderlich auf den
Spittelmarckt und in den Gartens am alten Stadt=Graben hinter dem Hospital und
dem Predi-ger=Hause (gemeint ist das Filial von St.Petri, St.Getrauden, mit seinem
Hospital Predigerhaus, siehe: Wilke, S.48). Die Friedrichstadt bekam die anderen
und viele Häuser wurden beschädiget, es ward aber nirgends gezündet. Es waren
theils Haubitz Granaten theils Bomben von 40 bis 50 Pfund. Es können wohl
einige Hundert hereingeworfen seyn. Drey Personen sind blessiret. Die gantze
Sache machte wenig Ein-druck auf die Gemüther der Bürger, die Straßen blieben
voll Menschen. Es dauerte dieses häufige Schiessen drey Stunden bis 5 Uhr, aber
ohne Wirckung“ (Wilke, S.23).
Nach 17.00 Uhr herrscht wieder Stille: „Von 5 bis 9 Uhr geschahen nur dann und
wann Schüße, und zwar von uns auf die anfallende Kosacken Partheien“( ebenda).
In dieser Zeit bringt Tottleben die zweite Batterie an den Weinbergen in Stellung.
Somit forciert er seine Vorbereitungen zum Sturm: „Am späteren Abend habe ich
22
meine Batterien verändert und befohlen, schwere Geschütze an den Bergen vor
dem Tor nach Brandenburg (gemeint ist wahrscheinlich das Potsdamer Tor-W.K.)
in Stellung zu bringen. Die Deserteure aus der Stadt haben einstimmig erklärt,
dass
in
stationiert
der
Stadt
sind,
wenig
welche
Kavallerie
aus
und
russischen,
lediglich
drei
sächsischen
Infanterie-Bataillone
und
französischen
Kriegsgefangenen bestehen. Diese hatten angeblich die Absicht, ihre Waffen beim
ersten
geblasenen
Alarm
niederzulegen.
Daher
entschloss
ich
mich
in
der
vergangenen Nacht die beiden Stadttore, sowohl das Brandenburger, als auch das
Kotbusser Tor, gewaltsam einzunehmen. Sobald die Batterien auf den erwähnten
Bergen, von denen ich die ganze Stadt von dieser Seite bombardieren konnte,
aufgestellt waren, befahl ich alle schweren Geschütze hinzufahren, und am späten
Nachmittag um zehn Uhr begann die Bombardierung ...“( Aus dem Rapport von
Tottleben an Fermor vom 04.Oktober (23.September)1760, Korobkov, Semiletnjaja
vojna, S.673, Sprache-russ., Übersetzung des Autors).
Der spätabendliche Beschuss richtet sich an erster Stelle gegen die Stadttore, die
gestürmt werden sollen: „Des Abends gleich nach dem Schlag von 9. Uhr fing das
feindliche Feuer aus Kanonen und Haubitzen gedoppelt an, und ward mit aller
möglichen Heftigkeit bis 3/4 auf 12 Uhr fortgesetzet. Bomben, Feuer Kugeln,
glüende Kugeln, Schuwalowsche ovale und unsrer Artillerie, noch unbekante
Bomben und andere brennende Dinge wurden in entsetzlicher Menge geworffen,
mehr als man sich aus so wenig Geschütz hätte vorstellen sollen. Um 10 Uhr ging
am Hallischen Thor das Feuer an zweyen Orten zugleich auf; Aller guten
Feuer=Anstalten ohnerachtet konte es doch nicht gelöschet werden, weil der noch
ungeübte Bürger nicht so an das Löschen konte gebracht werden, und weil gleich
ein Fuhrmann beym Waßerfahren mit zwey Pferden getödtet ward. Das Wetter
war aber gantz stille und die Gegend, wo es brante, weitläuftig daher man auch
darüber in der Stadt nicht sehr unruhig ward. Es ist im Hinter=Gebäude am
Rondehl, und eines im Anfang der Friedrichsstraße abgebrandt“,- berichtet Probst
Süßmilch ( Wilke, S.23).
Andere Zeitzeugen beschreiben die erheblichen Zerstörungen, welche die Beschießung im späteren Stadtbezirk Kreuzberg angerichtet hat: „Die Häuser in der
Linden Straße im Rondel <heute Mehringplatz> und verschiedenen andern Straßen
23
sind sehr beschädiget und zerschmettert auch finden sich daß sie würeklich
Bomben geworffen wovon ich heute noch eine gesehen, welche noch nicht
crepiret war“ ( Wilke, S.52) „...die Haubitz=Granaten und Bomben flohen durch
die ganze Friedrichstraße bis zur Jäger-Brücke, ja sogar in die Brüderstraße bey
der Petrikirche, die Häuser am Hallischen Thore wurden mit Kanonen und
Schuwalow=Kugeln sehr beschädigt, nach 10 Uhr sahe man an zwey Orten in der
Lindenstraße Feuer aufgehen...“ (Granier, S.118)
Nach diesem feurigen Vorspiel bricht der mit Spannung erwartete Sturm los.
Action!
„Endlich aber gegen 11 Uhr ging der Sturm selbst an, “-berichtet Probst Süßmilch,
-„ den man schon immer vermuthet hatte. Etwas Infanterie und abgeseßene
Dragoner und Kosacken drungen an und zwar mit einem greßlichen Geschrey,
welches man nebst vielen eintzelnen Schüßen aus dem kleinen Gewehr bei stiller
Nacht mitten in der Stadt auf dem Boden der Häuser hören konnte. Gestehe es,
daß diese halbe Stunde bis nach halb 12 Uhr mir die fürchterlichste gewesen, weil
ich nach Kriegs= Gebrauch eine Plünderung und andere excesse besorgte, wenn
es Ihnen gelingen sollte, in die Stadt zu dringen“ (Wilke, S.24).
15
Der Angriff richtet sich gegen drei Tore: das Kottbusser ( Rixdorfer) Tor, das
Hallische Tor (Rondel) und das Potsdamer Tor (Schafbrücke). Die Nacht ist hell,
was
den
Verteidigern
zugute
kommt,
da
die
Angreifer,
vom
Mondschein
beleuchtet, vortreffliche Ziele bieten. Es wird heftig gefeuert: der Statistiker
Süßmilch errechnet, dass die Verteidiger innerhalb 30-45 Minuten 20 Patronen pro
Gewehr verschießen. Die bedrohlichste Situation entsteht am Hallischen Tor, weil
da „wegen der nahe an den Thoren liegenden Gärten und Zäune konte der Feind
sich nahe heran schleichen, und dann mit Gewalt eindringen“ (Wilke, S. 24-25).
15. Später erfährt Süßmilch von den russischen Offizieren, dass den Mannschaften der Angreifer
tatsächlich die Plünderung der Stadt versprochen wird (Wilke, S.24).
24
Hier versammeln sich schließlich fast alle Anführer: Feldmarschall Lehwald, der
zuvor die Verteidigung am Kottbusser Tor organisiert; General Knobloch vom
Potsdamer Tor, General Seydlitz und der Berliner Kommandant General Rochow.
Ihre Truppe besteht aus 150 Mann des Itzenpilz- Bataillons. Die Bürgerschaft verspricht zuvor ihren Beschützern eine reichliche Belohnung, die sie später auch erhalten: jeder Soldat bekommt fünf Taler und „einen Überfluß an Lebensmitteln“
(Wilke, S.24) und die Investition rentiert sich: die Männer der Garnison zeichnen
sich in dieser Nacht durch Standhaftigkeit und Tapferkeit aus. Sie werden auch
durch das Vorbild ihrer Kommandeure angefeuert, die wie die gemeinen Soldaten
mit der Waffe in der Hand kämpfen. Der 75-jähriger Lehwald verlässt seinen
Wachposten auch nachdem der Angriff zurückgeschlagen wird nicht. Und er hat
seinen Posten immer dort, wo es am gefährlichsten ist.
In den nächsten Tagen werden die mutigen Verteidiger mit Lob überhäuft: „ Den
Guten Muth und die Courage welche die wenige Manschafften ... beweisen kann
nicht
genugsam
gerühmet
werden“
(Wilke,
S.53).
„Unser
braves
Garnison
Regiment,- schreibt Süßmilch, blieb ... im steten Feuer, sowol von dem Bastion als
Echafaut in der Stadt, die Officiers blieben in contenance, und der erfahrenenen
Generals Aufsicht und Ermunterung trug unter göttlichem Beystand sehr vieles
bey“(Wilke,
S.
24).
Und
der
General
Rochow
bezeugt,
„daß
keiner
ist
zurückgetreten, sondern wie brave Kerls gethan, der Feind war nicht weiter davon
entfernt, als 36 Schritt, und so haben wir gegen einander gefeuert“ (Granier,
16
S.118).
16. Die Dankbarkeitsäußerungen der Bürgerschaft, die zweifelsohne aufrichtig gemeint sind, kann man
endlos zitieren: „...dem Feldmarschall Lehwaldt und dem General Seydlitz hat man zu ihrem eigenen
Ruhm zu danken, daß die Stadt erhalten worden“ ( Granier, S.120). „Alles, was bisjetzt geschehen,
streist ans Wunderbare, und der Entschluß allein, eine solche Großstadt wie Berlin mit 3 schwachen
Bataillonen zu vertheidigen, erscheint ... groß und der Erfolg staunenswerth“ (ebenda). Es wäre
ungewöhnlich, wenn die Lobpreisung in diesem Ausmaß vom niemanden mit Neid gesehen wird.
Kommandant Rochow weist dem Feldmarschall Lehwald in einem Streit am nächsten Tag dessen
Platz zu, indem er ihn daran erinnert, dass der Feldmarschall bisher noch kein Gouverneurspatent
von Friedrich hat. Und das macht er in einer so gemeinen Form, dass der alte Soldat „die Nacht
kein Auge zugethan und sich vorgesetzet hat, heute noch wegzugehen“(Granier, S.120).
25
Auf der anderen, der geschlagenen Seite, gibt es wenig Anlass zur Freude. Den
Angriff gegen das Hallische Tor führt der damals 28jährige Oberstleutnant und
spätere russische Feldmarschall Fürst Prozorowskij, an. In seinen Erinnerungen
erzählt er:
„Und am Abend wurden wir zum Sturm angesetzt. Oberst Burmann <sollte> vom
Kottbusser Tor nach rechts, gegen das Tor, das Klein Frankfurt genannt wird,
<vorstoßen>, Major Patkul gegen das Kottbusser Tor, und ich <bekam den
Auftrag> das Hallische Tor in Front <unserer> Batterie anzugreifen. Jeder von
uns hatte 300 Mann, ein Dragoner- Schwadron und zwei Regimentsgeschütze...
Mit mir waren in diesem Gefecht alles Grenadiere des Ersten Grenadier Regiments,
um die ich eben ersucht habe, da ich in diesem Regiment Oberstleutnant war. So
gingen wir zum Sturm über.
Zur allgemeinen Unzufriedenheit wird erzählt, dass Herr Burmann nicht ankam, er
fand, dass der Weg wegen Morasts unpassierbar ist und kehrte zurück. Patkul
sollte bei seinem Angriff einen kleinen Fluss über die Brücke passieren, die sich in
der Reichweite der Batterie am Stadttor befand. Beim Heranrücken hat er einige
Schüsse aus den Kanonen abgefeuert, und so den Feind provoziert, ihm zu
antworten. Dadurch wurde er gestoppt bzw. deswegen hielt er es für unmöglich,
seinen Marsch fortzusetzen, blieb schließlich stehen und kehrte zurück. Ich rückte
jedoch, nichts von diesem Vorfall wissend, so leise und nah an das Tor, dass <
mir >die Wache zuzurufen begann. Ich schob die Geschütze vor, feuerte auf die
Batterie am Tor und stieß in großen Schritten direkt gegen die Batterie vor,
jedoch als ich am Graben ankam, geriet ich in schweren Beschuss von der
Batterie
und
über
die
Mauer,
von
den
Schießgerüsten.
Inzwischen
setzte
Oberstleutnant Glebow die Bauten am Tor mehrfach in Brand, sie wurden jedoch
immer gelöscht. Und da es um diese Zeit vom Kanonen- und Gewehrfeuern des
Gegners so hell geworden ist, konnte ich den mit Wasser gefüllten Graben, den
17
Contreeskarpe,
innen durch die steile Palisaden-Wand verkleidet..., vor mir sehen.
Ich habe das Wasser mit meinem Degen sondiert, und fand, dass es sehr tief
und breit ist, weshalb ich in diesem Fall nichts weiter unternehmen konnte. Ich
17. Contreescarpe nennt man die äußere Grabenböschung (Festungsbau)
26
verlor, verwundet und getötet, alle Offiziere bis auf einen Leutnant und 150
Soldaten.
18
Mir selbst jedoch war nur der Hut in einem Winkel durch den hinteren
Rand durchgeschossen, die Kugel trat zwischen dem Ohr und der Schläfe heraus.
Also flüchtete ich mit den anderen in Deckung einer kleine Holzbude, die zum
Glück dort stand. Hier stieß - inmitten des Feuers - der Rittmeister des Sankt
Petersburger Dragoner Regiments Kowitsch mit seinem Schwadron zu mir. Ich
befahl ihm jedoch, nicht näher zu rücken, damit seine Leute und Pferde nicht
unnötig der Gefahr ausgesetzt werden, sondern in einer Entfernung anhalten,
damit er mich bei meinem Rückzug von diesem Tor, solange ich unsere Batterien
auf dem nah liegenden Berg nicht erreiche, decken konnte. Das war schon
deshalb
erforderlich,
weil
ich
auf
dem
Rückweg
nicht
nur
durch
meine
Verwundeten, sondern auch durch die <mitgenommenen Leichen der> Gefallenen
belastet war. Mehr noch, da die Fuhrwerke mit Pferden in diesem Fall wegfielen
oder verschwanden, mussten die Grenadiere die Geschütze selbst ziehen. Mit
Sonnenaufgang kam ich im Lager an. Kurze Zeit später sind wir von Berlin
weggezogen...“ (Prozorowskij, S.65f, Sprache-russ., Übersetzung des Autors).
Diese
Beschreibung
bezeugt,
dass
der
Angriff
nicht
mit
der
deutschen
Gründlichkeit vorbereitet ist, obwohl ein Deutscher die Angreifer befehligt: die
Wege
sind
nicht
ausgekundschaftet,
die
russischen
Soldaten
haben
keine
Vorrichtungen um den Graben zu überwinden etc. Man kann dem Urteil des
österreichischen Feldmarschalls Brühl Recht geben, der am 11.Oktober 1760 in
Warschau schreibt, “...daß Tottleben etwas zu hitzig und voreilig zu Werke
gegangen sein mag...“ (Granier, S.143).
19
18. Nach den Angaben von Dmitrij Masslowski, der sich auf einen Bericht von Bachmann stütz,
verliert Prozorowski 92 Mann, von Patkul, Nachfahre eines berühmten livländischen Staatsmannes,
dagegen, keinen einzigen Soldaten (siehe: Masslowski, S.236 ). „Das Fehlen aller Verluste bei dem
Datachement Patkul’s,- schreibt Masslowski, lässt darauf schliessen, dass derselbe überhaupt nicht
zum Sturm auf das Kottbusser Thor vorgegangen ist“ (ebenda). Weder die offiziellen Berichte noch
die russischen Autoren erwähnen das Kommando von Burmann, offensichtlich wegen dem kläglichen
Ausfall seines Unterneh-mens.
19. Nach Meinung Masslowskis, der die Person des Grafen Tottleben sehr kritisch beurteilt, scheitert
die Erstürmung Berlins an der „Unfähigkeit, Unentschlossenheit und Furchtsamkeit Tottlebens bei
27
Katerstimmung
Noch in der Nacht des 04.Oktobers muss General Tottleben einsehen, dass der
Versuch, Preußens Hauptstadt im Fluge zu erobern, gescheitert ist.
20
Der Tag, der
so schön begann, endet in einem Desaster: »Diese Nacht kam so theuer zu
stehen, daß wir mehr denn 700 Todte und noch mehr verwundete zähleten, und
ich selbst hatte bey den Stürmen mein Pferd unter dem Leibe verlohren«,
21
berichtet er in seiner veröffentlichen „Relation“ ( Wilke, S. 49).
Noch bis etwa drei Uhr nachts ballert er wuterfüllt weiter auf die Stadt - solange
die Vorräte an Kugeln reichen, danach jedoch muss er aufbrechen und die
dieser Gelegenheit fast als an Verrath streifend“(Masslowski, S.239). Im Gegenteil zu dem Urteil des
Feldmarschalls Brühl bezichtigt Masslowski Tottleben des Zeitverlustes „von mehr als einen Tag“:
„Die Kunst Totleben’s musste gerade darin bestehen, durch einen schnellen Anfall die Berliner zu
verblüffen (was ja auch geschah) und, ehe sie zur Besinnung kommen konnten, wenigstens ein Thor
zu erobern oder eine Bresche in die Mauern zu legen... und nicht die Steingebäude, wohl aber die
Thore zu bombardieren... “(Masslowski, S.238f). Statt dessen tut Tottleben „lauter unnütze und
fehlerhafte Dinge“(ebenda) wie die Errichtung von zwei Batterien sowie die Bombardierung des
Königlichen Schlosses und schenkt dementsprechend den Verteidigern Zeit, sich auf die Abwehr des
Sturms gründlich vorzubereiten.
20. Die Schuld für den Misserfolg seines Sturms will Tottleben später dem Grafen Tschernyschew
geben, der ihm auf seine Bitten keine Verstärkungen geschickt hat. Anhand der detaillierten Analyse
von Tottlebens Argumentation kommt Dmitrij Masslowski zu dem Schluss, dass sie keinerlei Kritik
standhält (siehe: Masslowski, S.236ff).
21. Jürgen Wilke bezichtigt Tottlebens gedruckte „Relation“ der maßlosen Übertreibung: keine von
den Zahlen, die Tottleben aufführt ( 9 Millionen Kontributionsforderung, 6500 am 03. Oktober auf
Berlin abgefeuerte Geschosse, 700 Mann Verlust infolge des missglückten Sturms usw. usf.), meint
Wilke, findet ihre Bestätigung in den sonstigen Quellen (Wilke, S.49). In diesem Zusammenhang ist
es nicht uninteressant, die Angaben der „Relation“ mit Tottlebens Bericht an Fermor vom 04.Oktober
zu vergleichen: hier beziffert er seine Verluste auf insgesamt 86 Mann, davon 61 Verwundeten
(Korobkov, Semiletnjaja vojna, S.675), d.h. diesmal untertreibt er wahrscheinlich stark.
Die Kritik Wilkes, generell richtig, trifft jedoch in einem Punkt nicht zu: die Forderung einer
Kontribution in Höhe von 9 Millionen Talern wird vom Graf Lehndorff in dessen Tagebüchern
bestätigt ( Lehndorff. S.131).
28
Stellung räumen, da er die Kunde von der Ankunft des Korps des Prinzen von
Württemberg erhält.
Tottlebens Artillerie ist nach dem nächtlichen Bombardement in einem desolaten
Zustand. Wegen der Entfernung zu den Zielen in der Stadt werden die Kanonen
verstärkt mit Pulver geladen, nur drei von ihnen - laut seinem Bericht an Fermor
(Korobkov, Semiletnjaja vojna, S.674) - halten die Nacht aus.
22
Dazu kommen die
Schwierigkeiten mit der Versorgung. Die Soldaten, wie er Fermor berichtet, haben
seit drei Tagen kein Brot erhalten (ebenda) und da der Versuch, sein Korps auf
Kosten der eroberten Stadt zu ernähren, scheitert, muss er schleunigst alternative
Versorgungswege für die Truppe erschließen. Und, schließlich, glaubt Tottleben
möglicherweise tatsächlich an „Hülsens Eingreifen..., das ihn zwischen zwei Feuer
bringen würde“ ( Granier, S.119, in seinem Bericht an Fermor erwähnt Tottleben
allerdings diese Befürchtungen nicht), wenn er in seiner Stellung vor Berlin bleibt.
Unter diesen Umständen entscheidet Tottleben nach Köpenick zu gehen. Das
Städtchen Köpenick bietet durch seine Brücken die Möglichkeit, sowohl den
Anschluss an das heranrückende Korps von Tschernyschew, „mit dessen Hilfe
allein noch die Einnahme Berlins zu erwarten war“ (ebenda), als auch zum linken
Spreeufer aufrecht zu erhalten. Gegen 11 Uhr bricht er auf,
23
zurück bleiben nur
einige Hunderte leichte Reiter unter Turowerow und Tswetanowitsch, die sich in
den darauffolgenden Tagen mit der preußischen Kavallerie scharmützeln.
Unterwegs vereiteln seine Kosaken den verspäteten Versuch der Preußen, Brücken
zu beseitigen: „Hier haben wir eine Mannschaft, die eine Spreebrücke bewacht
hat, einen Offizier mit vierzig oder fünfzig Soldaten, der bereits das Stroh
herangeschleppt hat um die Brücke niederzubrennen, gefangen genommen. Die
Kosaken hinderten ihn daran ...indem sie ihm in den Rücken gefallen sind,
22. Nach den Berechnungen von Masslowski soll Tottleben in dieser Nacht insgesamt 8 Geschütze
einbüsst haben (Masslowski, S.236).
23. Das fliegende Detachement gegen Köpenick, das aus einem Kommando der Grenadiere und den
Grenadieren zu Pferde mit zwei schweren Geschützen besteht, wird von Tottleben persönlich
angeführt. Zuvor wird Bachmann
zur Rekognoszierung rausgeschickt.
Melgunow schließen den beiden nach und nach an.
29
Die übrigen Kräfte unter
weshalb
er
gezwungen
war,
sich
zu
ergeben,“
-
erinnert
Prozorowskij
(Prozorowskij, S.66, Sprache-russ., Übersetzung des Autors).
Doch diese kleinen Erfolge können die Katerstimmung des Grafen Tottleben nicht
beseitigen. Er ist zutiefst frustriert: die Lorbeeren des Hauptstadtbezwingers, die er
unbedingt vor seinem Konkurrenten Graf Tschernyschew erhalten will, rücken in
weite
Ferne.
Nun
reagiert
er
seine
nachvollziehbare
Enttäuschung
an den
Köpenickern ab. Martin Küster verweist in seiner Beschreibung der Einnahme von
Köpenick durch die russischen Truppen auf Johann Gottfried Beneke, damals
Oberprediger der Köpenicker St.-Laurentius- Gemeinde: „ Durch Beneke wissen
wir: Tottlebens Artilleristen hatten vor Berlin ihre Munition bis auf zehn Kugeln
verschossen. Diesen Rest verwendete der General nun am Abend des 4. Oktober
gegen Köpenick. Das erste Geschoss flog weit über das Städtchen hinaus und
setzte eine Scheune in Brand. Die nächsten sechs durchschlugen Ziegeldächer,
zündeten jedoch nicht. Der achte Schuss ließ ein Militärobjekt in Flammen
aufgehen: Pferdestall und Fouragedepot der in Köpenick stationierten berittenen
königlichen Feldjäger, von denen ein Leutnant und 36 Mann anwesend waren.
Jetzt ergab sich die Stadt.„ (Küster)
Und
die
Augenzeugen,
die
den
Einzug
der
Tottleben-Truppen in Köpenick
verfolgen, berichten, dass der General „mit gewaltigem Zorn“ (ebenda) in die
Stadt kommt. Doch die Köpenicker wissen sich zu helfen: der Ruf des Generals
als notorischer Schürzenjäger ist ihnen aus der vergangenen Zeit bestens bekannt.
Und so quartieren sie den General und seine Maitresse bei der schönsten Witwe
des Städtchens ein. Ein angenehmer Abend in der Damengesellschaft bewirkt
Wunder: am nächsten Tag wird General Tottleben zur Milde in Person und der
Bürgermeister von Köpenick zu seinem besten Freund. Diese hübsche Anekdote
erzählt uns Martin Küster.
30
Teil 3: Berlin wehrt sich
Des Guten zu viel getan
Seite 32
Das Blatt wendet sich erneut
Seite 33
Keine Ruhe vor dem Sturm
Seite 37
Die Sache geht der Lösung entgegen
Seite 42
31
Des Guten zu viel getan
Gottlob, dass die Berliner sich nicht allein auf die weiblichen Reize verlassen
müssen:
sie
haben
nämlich
bessere
Beschützer.
Noch
in
den
früheren
Morgenstunden des 04.Oktober rückt die Kavallerie des Prinzen von Württemberg
(Provinzial-Husaren, Plettenberg- und Württemberg-Dragoner) in die Stadt ein.
Gegen 13.00 Uhr folgt ihr die Infanterie. Durch die verzweifelten Briefe Rochows
alarmiert, muss der Prinz auf seinen Plan, die Schweden anzugreifen, unter den
gegebenen Umständen verzichten. Er lässt eine kleine Truppe zur Deckung gegen
die Schweden zurück und eilt mit einem 5000 - 6000 Mann starken Korps nach
Berlin.
24
Fliegen kann er allerdings nicht, dafür zeigen seine Soldaten wahre
Wunder an Ausdauer in einem höchst strapaziösen Marsch. Sie erreichen die
Stadt, völlig erschöpft, gerade im richtigen Moment.
Nach den stürmischen Erlebnissen der vergangenen Nacht feiern sie die Berliner
“wie vom Himmel gesandte Erreter“ (Archenholz, S. 256). „Die Hertzen,- atmet
Probst Süßmilch auf, wurden etwas erleichtert...“ (Wilke, S.25f ). Der Berliner
Magistrat organisiert sofort die großzügige Verpflegung der Soldaten, er stellt
ihnen Unmengen von Fleisch, Bier und Schnaps zur Verfügung.
25
Diese „fast allzu reichliche“ (Archenholz) Fütterung ist allerdings auch der Grund,
warum die Soldaten nicht gleich einsetzbar sind. Als gegen Mittag ein großes
Aufgebot der Württembergs Kavallerie auf die Russen losgeht, kämpfen die Reiter
nicht so sehr gegen den Feind, sondern gegen die Müdigkeit. Es gelingt ihnen
24. Prinz Württemberg setzt 7 Schwadronen Kavallerie und 9 Bataillonen Infanterie in Marsch auf
Berlin. Zurück bleiben 2 Bataillonen Infanterie, 10 Schwadronen Kavallerie und 200 Husaren von
Zieten unter dem Kommando vom Oberst Belling. Diese Kräfte reichen nur, um die Schweden zu
beobachten (Geschichte des Siebenjährigen Krieges in einer Reihe von Vorlesungen..., S.149).
25. „...in aller möglichen Geschwindigkeit wurde eine große Anzahl Ochsen geschlachtet, viele
hundert Tonnen Bier und Brandtwein, ingleichen viele tausend Brodte angeschafft und in das
Opernhaus gebracht, aus welchen denn nicht allein mehr beredtes Corps bey seiner Ankunlt, sondern
auch während der Zeit, daß selbigen mit den Russen vor dem Thor scharmuzierte, und bis zu
seinem Abzug unterhalten worden.“ ( Aus den Erinnerungen von Gotzkowsky, in: Duwe, S.63)
32
gerade mal zwei Kosaken zu fassen, der Rest weicht vor der Nase der
preußischen Reiterei nach Köpenick aus. Gleich nach dem Abzug der Preußen
erlauben sich die Kosaken die Frechheit, in Rixdorf, direkt vor den Toren der
Stadt,
erneut
aufzutauchen.
Nach
diesem
„beeindruckenden“
Ergebnis
der
Stärkedemonstration verzichtet Prinz von Württemberg auf weitere Experimente
und gibt seinen Männern einen Ruhetag.
26
Er verkündet jedoch, dass er fest entschlossen sei, am 06.Oktober, nachdem seine
Soldaten den Rausch ausschlafen haben, „dem Feinde auf den Hals zu gehen“
(Granier, S.119).
Das Blatt wendet sich erneut
Sein Versprechen wird er nicht einlösen. Am Abend den 05.Oktober zeigen sich
die ersten Soldaten des Tschernyschew Korps
27
auf dem rechten Spreeufer. Durch
26. Herman Granier verrät uns ein interessantes Detail: im Korps des Prinzen von Württemberg dient
zu dieser Zeit ein Sohn von Tottleben. Erst nach Berlin reicht er dem Prinzen seine Bitte um
Beurlaubung ein (Granier, S.143). Tottlebens eigener Bruder, Oswald Lebrecht von Tottleben, ist
ebenfalls bei den Preußen im Range eines Oberstleutnants (Duwe, S.273).
27. Das Tschernyschew Korps besteht aus den folgenden Truppenteilen:
-4er Grenadier Regiment;
-2er Moskauer Infanterie Regiment;
-Kiewer Infanterie Regiment;
-Vjatkaer Infanterie Regiment;
-Sankt Petersburger Infanterie Regiment;
-Nevaer Infanterie Regiment;
-Vyborger Infanterie Regiment
mit der Gesamtstärke von ungefähr 12.000 Mann.
33
das Eintreffen der Hauptkräfte der Russen wendet sich das Blatt erneut zu
Ungunsten der Verteidiger. „ Man sähe nun, daß der Feind eine ansehnliche
Verstärckung bekommen hatte, und aus einigen gefangenen Kosacken erfuhr man,
daß er an 13000 Mann angewachsen, und auch Infanterie in ziemlicher Menge
bey sich habe“, - registriert Probst Süßmilch (Wilke, S.27).
Nun benötigt Prinz Württemberg die Unterstützung des Generals von Hülsen, um
das Gleichgewicht wieder herzustellen. Sein kleines Korps verteilt er an den beiden
Spreeufern, sowohl hinter der Zollmauer als auch an den vor der Stadt platzierten
Stellungen, die allerdings, angesichts der Ausdehnung der Stadtbefestigungen, zum
Teil nur schwach besetzt werden können.
28
Von seinem Quartier im Wirtshaus
„Zur neuen Welt“ vor dem Frankfurter Tor im heutigen Friedrichshain schickt er
Eilboten zu General Hülsen aus. Sie erreichen den General am 06.Oktober in
Beelitz. Hülsen befiehlt General von Kleist, mit 6 Bataillonen Infanterie und 12
Schwadronen
Reiterei
noch
am
Abend
des
gleichen
Tages
nach
Berlin
aufzubrechen, er selbst folgt ihm am nächsten Tag mit dem Rest seines Korps.
Hülsens Infanterieregiment von Salmuth befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits
in Potsdam. Von dort wird er von Prinz Württemberg nach Berlin beordert und
arbeitet sich schwer durch die Reihen der Kosaken bevor er die Hauptstadt
29
erreicht.
Noch zu Beginn der Operation fordert Tschernyschew, dem die Reiterei vollständig fehlt, eine
Verstärkung seines Korps bei Fermor. Der französische Verbindungsoffizier im russischen Stab,
Marquis de Montalembert, der Tschernyschew begleitet, wird extra zu diesem Zweck in das
Hauptquartier geschickt. Ihm gelingt es, zwei Kürassier-Regimenter von Fermor zusätzlich zu
bekommen, weit weniger als Tschernyschew anfordert. Außerdem sollen sich ihm die Kosaken unter
Krasnoschtschekow anschließen. Auf Betreiben von Tottleben schickt man sie jedoch zunächst nach
Storkow.
28. Die Hauptkräfte der Verteidiger werden auf den Anhöhen vor dem Hallischen Tor (3
Infanteriebataillone) und in der Gegend der Neuen Welt, zwischen dem Frankfurter Tor und dem AltLandsberger Tor ( 5 Bataillone und 5 Schwadronen unter dem Major Zedmar), aufgestellt.
29. Die 2 Bataillone von Salmuth mit der Bäckerei des Hülsenschen Korps treffen am 06.Oktober in
Potsdam ein. Hier erhalten sie den Befehl des Prinzen von Württemberg, den Marsch unverzüglich
nach Berlin fortzusetzen. Sie werden bei Zehlendorf von der Reiterei Tottlebens attackiert. Dank der
geschickten Führung des Kommandeurs Major Cordier und der Tapferkeit seiner Soldaten, gelingt es
34
Auf der russischen Seite passiert am 05.-06.Oktober nicht viel. Am Abend des
05.Oktober
reitet
Tschernyschew
zu
Tottleben
nach
Köpenick
um
einen
gemeinsamen Operationsplan zu besprechen. Am nächsten Tag unternehmen die
beiden zusammen in Begleitung von Kosaken einen Erkundungsritt auf dem
rechten Spreeufer. Tschernyschew geht, im Vergleich zu Tottleben, viel vorsichtiger
ans Werk. Nach dem er die Kunde über den Misserfolg von Tottleben erhält,
ersucht er bei Fermor erneut um Verstärkung. Nun will er das von Fermor
rausgeschickte Korps des Grafen Panin abwarten, bevor man weitere Schritte
unternimmt. Mittlerweile tauscht er zwei schwere Kanonen und die InfanterieBrigade unter Brigadier Benckendorf (2.Moskauer und Kiewer Infanterieregimente)
gegen ein Husaren-Regiment von Tottleben, um seine Kavallerie zu verstärken.
Die beiden russischen Kommandeure, die nun gemeinsam agieren sollen, repräsentieren grundverschiedene Charaktere. Tschernyschew ist ein junger, 38jähriger,
russischer Hochadliger aus einer einflussreichen Familie. Sein Biograph bezeichnet
ihn als „mürrisch, besonders frühmorgens“, „unzugänglich“, „streng“, „anspruchsvoll“ (Bantys-Kamenskij, Rossijskije generalissimusy..., S. 271). Seine Befehle gibt
er mit leiser Stimme, nicht desto trotz, fürchten ihn seine Untergebenen sehr.
Gleichzeitig kann er mit Fremden oder den Leuten seines Standes sehr umgänglich
sein. Er ist ein berechnender Höfling. Für seine Qualitäten als Hofintrigant spricht
die Tatsache, dass er, der dem Thronfolger und späteren Zaren Petr III. sehr
nahe steht, gleichzeitig die Freundschaft und das Vertrauen der künftigen Zarin
Katharina der Großen genießt. Dies ist ein Spagat, der, angesichts des tiefen
Hasses zwischen den Eheleuten, sonst kaum jemandem gelingt.
30
Im Vergleich mit Tschernyschew ist Tottleben kein ausgezeichneter Diplomat. Er
ist hitzig, großmäulig, reizbar und ein wahrer Meister darin, sich Feinde zu
schaffen. Als notorischer Frauenheld und Prasser führt der 44-jährige Tottleben
„ein unruhiges Leben“ (Hirsching, S.250), das bisher immer nach dem gleichen
dem
Regiment,
alle
Angriffe
der
Kosaken,
die
von
Tottleben
persönlich
angeführt
abzuwehren und sich mit den Verteidigern der Hauptstadt zu vereinigen.
30.
werden,
Zarin Elisaveta beobachtet die, ihrer Meinung nach, „übermäßige Gewandtheit“ des jungen
Höflings mit Argwohn und initiiert seine Versetzung aus dem Hofstaat in das Feldheer.
35
Muster verläuft: Aufstieg, Sturz, Strafverfolgung, Flucht, erneuter Aufstieg, erneuter
Sturz usw.. Nur „mit Hülfe seiner bemerkenswerthen Schlauheit, Dreistigkeit und
Gewandtheit“
(Masslowski,
S.245)
schafft
er
immer
wieder
sich
aus
den
selbstverschuldeten misslichen Lagen zu befreien, die jedem anderen zum ewigen
Verhängnis wären. Seinen „üblen Ruf“ (Hirsching, S. 232) eines Abenteurers
besitzt er folglich verdientermaßen. Dieser Ruf begleitet ihn auch nach Sankt
Petersburg, wo er, der Nachfahre eines thüringischen Geschlechts, kaum sehr viele
einflussreiche Gönner hat.
Nur ein enormer Ehrgeiz ist den beiden Generälen gleichermaßen eigen. Tottleben
sieht „den Augenblick herannahen, der ihn auf den Gipfel der Größe und des Ansehens auf eine Art setzen sollte, die fähig wäre, Europa in Erstaunen zu setzen,
und ihm einen Triumph über eine Menge Feinde zu gewähren“ (Hirsching, S.235).
Tschernyschew hat mit Sicherheit die gleiche Vision. Laut seinem Biograph liebt er
drei Dinge über alles: die Zarin, das Vaterland und der Ruhm (Bantys-Kamenskij,
Rossijskije generalissimusy..., S. 271).
Die persönlichen Unterschiede fallen wegen der ungeklärten Führungsmodalitäten
verstärkt ins Gewicht. Seine Position am Sankt Petersburger Hof und die Tatsache,
dass er der Rangältere von den beiden ist und die größere Truppe befehligt,
geben Tschernyschew das Recht spätestens nach dem Zusammenschluss beider
Korps sich als Haupt des Unternehmens zu verstehen. In seinen Relationen an
das Hauptquartier nutzt er jede Gelegenheit, um seine führende Rolle vor Ort zu
unterstreichen und sich als Weisungsgeber darzustellen. Die Beschlüsse der
Petersburger Konferenz und des Kriegsrates beschränken jedoch seine Aufgabe auf
die Unterstützung bzw. die Deckung des Tottlebischen Korps. Tottleben hat
demnach allen Grund, die Unternehmung als seine eigene zu begreifen und auf
seiner
relativen
Selbständigkeit,
wenn
auch
nicht
auf
seiner
vollkommenen
Handlungsfreiheit, zu bestehen. So keimen die späteren Anfeindungen unter den
um die Ehre des Berlinbezwingers konkurrierenden Generälen.
31
31. Seinen Anspruch auf die Führung der Operation erhebt Tschernyschew gleich zu ihrem Beginn.
Eine der Aufgaben Marquis de Montalembert bei seinem oben erwähnten Besuch des Hauptquartiers
ist, Fermor zu überreden, das Korps von Tottleben Tschernyschew unterzuordnen. Fermor beugt sich
jedoch
dem
Beschluss
der
Sankt
Petersburger
36
Konferenz
und
segnet
somit
endgültig
die
Es gibt an diesen beiden Tagen keine erwähnenswerten Kriegshandlungen, nur
kleine Scharmützel: „Der Feind zeige sich nun von beiden Seiten der Spree, und
war zum Theil bey Strahlow im Walde versteckt, von wannen er öfters bis an die
Thore und Pallisaden streitete, daher man zuweilen Kanonenschüße hörete“
( Wilke, S.27).
Keine Ruhe vor dem Sturm
Am
Dienstag,
dem
07.Oktober,
erleben
die
Berliner
„einen
warmen
und
angstvollen Tag“(Wilke, S. 27). An beiden Spreeufern - und zwar im künftigen
Kreuzberg auf dem Gelände zwischen dem Schlesischen und dem Potsdamer Tor
und im künftigen Friedrichshain zwischen dem Stralauer und dem Frankfurter Tor
bis hin zum Landsberger Tor - flammen den ganzen Tag über kleine Gefechte
auf. Die Bürgerschaft fiebert „von den Thürme und hohen gebäuden“ (Wilke,
Doppelführung des Streifzuges auf russischer Seite. In seinen Berichten, wie beispielsweise im Bericht
an die Kaiserin vom 7.Oktober, spricht Fermor von einer „gemeinschaftlichen Führung“ der Operation
gegen Berlin.
Die Folgen dieser Aufteilung der Führung sind nachhaltig. Zwar beugt sich Tottleben pro forma dem
Anspruch auf den Oberbefehl des rangälteren Generals, gleichzeitig jedoch hält er es nach den
Angaben von Masslowski gar nicht für nötig, die Anweisungen von Fermor seinem direkten
Vorgesetzten mitzuteilen (Masslowski, S.240). Die Trennung von Tschernyschew durch die Spree
ermöglicht
Tottleben
die
Unabhängigkeit
seines
Handelns,
die er
konsequent
anstrebt.
Eine
gemeinschaftliche Führung der Expedition wird unter diesen Prämissen zu einer Fiktion. Vielmehr ist
der Begriff Konkurrenzkampf für die Bezeichnung der Beziehung zwischen den beiden Generälen
zutreffend.
Bemerkenswert, dass später die Führung der Operation Tschernyschew allein zugeschrieben wird.
Derselbe Fermor behauptet in seiner Relation nach der Einnahme Berlins, „dass der Oberbefehlshaber
bei dem ganzen Unternehmen der Generallieutenant Graf Tschernyschew gewesen sei“ (Masslowski,
S.241). Bis heute wird der Streifzug gegen Berlin in Russland vorrangig mit dem Namen
Tschernyschew
in
Verbindung
gebracht.
herausgegebenen Büchern wird der
In
einigen
während
des
Zweiten
Weltkrieges
Name des Deutschen Tottlebens im Zusammenhang mit der
Einnahme Berlins erst gar nicht erwähnt.
37
ebenda) wie im Theater mit.
Am Vormittag erhält Graf Tschernyschew eine Meldung von Lacy. Graf Lacy
berichtet, dass das preußische Korps des Generals von Hülsen sich aus der
südlichen Richtung Berlin nähert und dass er, zusammen mit Tottleben, die
Preußen angreifen will.
Als Tottleben auf den Schauplatz seines misslungenen Sturmes zurückkehrt, findet
er ihn verändert vor. Prinz Württemberg besetzt die von den Russen geräumte
Stellungen
vor dem Hallischen Tor und verstärkt sie durch etwa 60 Kanonen
(nach Einschätzung von Prozorowskij. Prozorowskij, S.67, Tottleben selbst spricht
von mehr, als 20 Kanonen (Korobkov, S. 677) der städtischen Artillerie. Tottleben,
der keine vergleichbare Feuerkraft besitzt, bringt seine schweren Geschütze vor
dem Schlesischen Tor in eine durch den dichten Wald gedeckte Stellung. Seine
Truppen stellt er auf dem Gelände zwischen dem Schlesischen Tor und dem
Potsdamer Tor außer Reichweite der gegnerischen Artillerie auf. Kurz darauf
schließt sich ihm Graf Lacy an. In Begleitung des Kavalleriekonvois, bestehend
hauptsächlich aus Ulanen, reitet Lacy seinem Korps, das noch einen Tagesmarsch
von Berlin entfernt ist, voraus, um mit den Alliierten die Situation vor Ort zu
besprechen. Zusammen mit den Kosaken und Husaren Tottlebens nehmen die
Österreicher gegen 11.00 Uhr in Mariendorf an einem Gefecht mit dem General
Kleist teil, der über Zehlendorf und Steglitz in Richtung Schöneberg einrückt.
Auf die Nachricht vom Herannahen der Preußen hin formiert Tottleben sein Korps
neu in einer Rückwertstellung zwischen Britz und Rixdorf. Er ist noch mit der
Neuaufteilung seiner Truppe beschäftigt, als plötzlich die Vorhut des Korps von
General Kleist in Mariendorf eintrifft. Das sind 12 Schwadronen unter Oberst
Friedrich Wilhelm Gottfried Arnd von Kleist. Blitzartig nimmt Oberst Kleist den
günstigen Augenblick wahr und attackiert die noch im Formieren begriffenen,
desorganisierten
Reihen
der
russischen
Kavallerie.
Sein
wagemutiger
Überraschungsangriff wird zunächst vom Erfolg begleitet: er wirft die zahlenmäßig
überlegene russische Reiterei
zurück und erbeutet vier Kanonen. Doch bald
darauf ist er gezwungen, selber zu flüchten. Vor der Übermacht der vereinten
russisch-österreichischen Kräfte weicht er nach Mariendorf zurück, wo während des
38
Kavalleriegefechts der Rest des Korps von Kleist eintrifft. Die erbeuteten Kanonen
werden im Stich gelassen und fallen erneut in die Hände der Russen. Das Ganze
geschieht so schnell, dass die Infanterie Tottlebens erst gar nicht in die Kämpfe
eingreift.
Von nun an beginnt ein Katze-Maus Spiel zwischen den Generälen Tottleben und
Kleist. General Kleist versucht immer wieder über Tempelhof, Lankwitz und
Schöneberg Berlin zu erreichen, Tottleben hindert ihn daran. Auf beiden Seiten
wird heftig aus allen Kanonen geschossen, doch einem Nahkampf geht man aus
dem Weg. Denn aus Furcht vor der überlegenen feindlichen Kavallerie vermeidet
es General Kleist, die für den Reitereieinsatz geeigneten Ebenen zu betreten. Nach
einer Reihe von komplizierten taktischen Manövern, die nicht zum erwünschten
Erfolg führen, zieht General Kleist seine Truppen nach Giesensdorf zurück. Hier
wird er auf das Gros des Hülsens Korps warten. Die erste Runde gewinnt also
Tottleben nach Punkten.
Die zweite Runde, über die wir im folgenden noch berichten werden, geht jedoch
an seine Gegner: den Truppen der Alliierten gelingt es schließlich nicht, den
Einzug der preußischen Einheiten zu verhindern. Nicht desto trotz erstattet
Tottleben
preußische
eine
Siegesmeldung:
Soldaten
gefangen
er
berichtet
genommen
Tschernyschew,
hat,
darunter
3
dass
er
Offiziere,
200
die
Österreicher sollen 60 Soldaten und einen Offizier gefangen genommen haben. Die
Verluste der Preußen beziffert er in seinem Bericht auf 612 Gefallene (Razgrom...,
S.66). Die Preußen dagegen melden hohe Verluste bei den Russen. Die vier
kurzweilig erbeuteten Kanonen werden immer wieder als Beweis für den Erfolg
der Preußen präsentiert.
Nachdem das Gefecht mit Kleist zu Ende geht, richtet Tottleben seine Kanonen
gegen die Stadt. Berlin wird erneut unter Beschuss genommen. An zwei Stellen
brennt es. Mehr ist nicht zu erreichen, da die beiden schweren Geschütze, die
Tottleben von Tschernyschew erhielt, springen. Die bescheidene Wirkung dieser
zweiten Bombardierung der Stadt wird sowohl in den preußischen, als auch in den
russischen Quellen übereinstimmend bestätigt.
Noch während des Gefechts gehen ein Haus am Hallischen Tor und das Dorf
39
Schöneberg in Flammen auf. Probst Süßmilch macht die Kosaken Tottlebens dafür
verantwortlich: „Mitlerweile zündeten die Kosacken das Dorf Schoenberg von Haus
zu Haus an, daß auch nichts davon stehen geblieben ist“ (Wilke, S.27). In seinem
Kommentar stellt Jürgen Wilke diese eindeutige Schuldzuweisung in Frage (Wilke,
S. 52).
Gegen 14.00 Uhr legt sich das Kanonenfeuer am linken Spreeufer endgültig. Die
Berliner, die die Handlung verfolgen, richten nun ihre Ferngläser in Richtung des
heutigen Friedrichshain: „...da es aber von dieser Seite stille geworden, so ging
das Scharmütziren, auf der anderen Seite der Spree vor dem Straulauer und
Franckfurter bis zum Landsberger Thore fort „ (Wilke, S. 28). The show must go
on.
Am rechten Spreeufer stößt das gegen Lichtenberg und Weißensee heranrückende
Korps Tschernyschews zu den schwach besetzten Vorposten des Prinzen Württemberg westlich von Lichtenberg und zwingt sie zum Rückzug unter Schutz der
städtischen Artillerie. Im Kriegstagebuch des russischen Hauptquartiers wird am
09.Oktober (28.September) 1760 eingetragen:
„Der Rapport des General-Leutnants Graf Tschernyschew vom 27.September mit
der
ausführlichen
Beschreibung
des
am
26.September
stattgefundenen
Scharmützels mit dem Gegner beim Aufschlagen des Lagers vor Berlin erhalten,
und zwar, obwohl auf den Anhöhen vor Berlin, wo das Aufschlagen des Lagers
verordnet wurde, ein kleines Korps des Gegners seine Stellung hatte und Artillerie
für die Verteidigung besaß, wurde von unserer Seite demgegenüber eine Batterie
aufgestellt
gegnerische
und
das
Artillerie
Kanonenfeuern
zum
begann,
Schweigen
dadurch
gebracht,
wurde
sondern
nicht
auch
nur
das
die
ganze
gegnerische Korps ergriff die Flucht, wobei ein Zwölfpfünder, eine Haubitze und
ein Munitionskasten zurückgelassen wurden.
Unsere Batterie wurde vom Artillerie-Major Lavrov befehligt, der hohes Lob dafür
verdient, dass er so geschickt und gewandt aus den aufgestellten Geschützen
gegen den Gegner vorging. In der gleichen Zeit wurde das vor dem linken Flügel
des Lagers befindliche Dorf durch vier Kompanien Grenadiere unter der Führung
von Oberst Labadia besetzt und die Versuche des Gegners, unser Detachement zu
40
vertreiben, wurden durch die geschickte Verteidigung des obengenannten Oberst
immer unterbunden. Fast den ganzen Tag haben unsere Husare und Kosaken mit
der gegnerischen Kavallerie und den Husaren scharmützelt und immer den Gegner
zu seiner Infanterie und in den Schutz der städtischen Artillerie vertrieben, wobei
Oberst Podgoritschani sich ausgezeichnet hat. Gegen fünf Uhr am Nachmittag
wurde die ganze gegnerische Kavallerie, bestehend aus sechs oder sieben
Schwadronen, aufgestellt und begann zu manövrieren, dagegen brach GeneralMajor Gaugreven mit zehn Schwadronen Kürassiere auf, jedoch zog sich der
Gegner, sobald er den Widerstand wahrgenommen hat, sofort unter den Schutz
der Kanonen zurück. Gegen sieben Uhr wurde die Ansammlung der Infanterie und
der Artillerie an der gegenüber liegenden Stadtseite beobachtet, wo der Gegner
seine Regimente aufgestellt und das Kanonenfeuern begonnen hat. Jedoch weil
alle Geschütze auf unserer Seite bereits in Stellung gebracht wurden und in
Betrieb waren, wurde die gegnerische Artillerie zum Schweigen gebracht, und das
aufgestellte Heer zog sich mit erheblichen Verlusten schlagartig zurück. Unsere
Verluste
bestehen
aus
3
getöteten
Grenadieren
und
einem
Kanonier,
4
Grenadieren, 6 Musketieren, 4 Füsilieren. 4 Husaren des Moldauer Regiments sind
verwundet, 3 Kosaken des Brigadiers Krasnoschtschekow, der ebenfalls Mut gezeigt
hat, sind getötet, 5 – verwundet. Vom Gegner wurden eine Haubitze und ein
Munitionskasten mit Geschossen erbeutet, 35 Mann gefangen genommen und
ebensoviele Deserteure, die angegeben haben, dass der Gegner bis zu 400 Mann
verloren hat“ (Razgrom..., S.64ff, Sprache-rus., Übersetzung des Autors).
Probst Süßmilch zeichnet ein anderes Bild des „Scharmützirens“. In der Darstellung
des patriotischen Probst wehrt die zahlenmäßig unterlegene preußische Reiterei
den Feind mehrfach ab: „Sie trieb ... die feindliche Cavallerie etliche mahl
glücklich zurück, ... sie konnte sich aber nicht zu weit wagen, damit nicht die
andere feindliche Hauffen hinter ihren Rücken auf die Stadt etwas unternehmen
möchten“. Die erfolgreichen Vorstöße der Verteidiger konnte man „auch ohne
ferngläser auf das deutlichste“ mitverfolgen (Wilke, S. 28). Auch die sonstigen
Quellen berichten über die Tapferkeit der preußischen Kavallerie: „Unsere Leute
sind voller Muth und halten sich gut“ (Wilke, S.53). Der Verlust von Kanonen wird
jedoch bestätigt. Die Kanonen werden zurückgelassen, da durch das Auffliegen
41
eines Pulverwagens „die Pferde zugleich getötet wurden, sodaß sie nicht vom
Berge herunter gebracht werden können“ ( Granier, S.120).
Das Schauspiel der Reiterei - Kämpfe am 07.Oktober erregt die Zuschauer. Für
den weiteren Verlauf der Ereignisse ist der Ausgang dieser Gefechte jedoch
irrelevant. Wie es Probst Süßmilch vermerkt: „Dieser für Berlin schreckhafte
Dienstag war ... nicht entscheident, und man sähe gegen Abend beide Armeen an
den Orten stehen, wo sie den Morgen gewesen“ (Wilke, S.29). Die Bedeutung
dieses
Tages
in
Bezug
auf
die
Entscheidung
steht
in
einem
anderen
Zusammenhang, der die Erfolge und die Misserfolge der kleinen Kräfteproben
relativiert.
Die Sache geht der Lösung entgegen
Am
07.Oktober
kommt
es
zur
Vereinigung
aller
verfügbaren
Kräfte
zur
Verteidigung der Hauptstadt. Auch der Gegner bekommt Verstärkung und am
nächsten Tag, dem 08.Oktober, schließen sich ihm die restlichen Truppen an. Nun
sind die Antagonisten vollzählig. Mehr Unterstützung haben sie demnächst nicht zu
erwarten.
Es gibt
für
beide
Seiten
keinen
Grund
mehr, die
Entscheidung
aufzuschieben.
Am Abend des 07.Oktober erreicht Hülsen mit seinen Hauptkräften Berlin und
vereint sich mit General Kleist. Es kommt zu keinem Zusammenstoß mit dem
Feind. Auf die Nachricht über seine Ankunft hin besetzen die russischen Einheiten,
unterstützt von den Lacy-Ulanen, die Anhöhen von Tempelhof, auf die er sich
direkt zubewegt.
Jedoch Hülsen, da er die Kräfte der Russen nicht kennt, geht
auf Nummer sicher und macht bei seinem Einzug in die Stadt einen Bogen um
die Höhen. Die russischen Infanteristen des Zweiten Moskauer Regiments unter
Fürst Repnin, die zahlenmäßig unterlegen sind, wagen ebenfalls nicht, das Hülsens
Korps anzugreifen. So kreuzen sich die Gegner in Sichtweite, ohne einen einzigen
Schuss abzufeuern. Hülsen schlägt sein Lager am Hallischen Tor auf. Kurz darauf
reitet Lacy in Begleitung des Konvois zurück zu seinem Korps. Er nutzt seinen
42
kurzen Besuch um u.a. gegen 18.00 Uhr die Stadt im eigenen Namen aufzufordern - erwartungsgemäß ohne Erfolg.
Als Hülsen unbehelligt seine Soldaten nach Berlin bringt, schöpfen die Berliner
neue Hoffnungen: „...da man aber auch zu gleicher Zeit die würckliche Ankunft
des gantzen Corps unter dem General Hülsen erfuhr, so ward man wieder in
etwas beruhiget, und glaubte, daß eine Armee von 16 bis 18000 Mann, die mit
vieler Artillerie versehen, der feindlichen Macht hinlänglichen Wiederstand thun und
Berlin decken würde“ (Wilke, S.30).
Fast zeitgleich mit dem Eintreffen von Hülsens schließen sich 5 Schwadronen
Kürassiere und 6 Kompanien Grenadiere, die Vorhut des Korps von GeneralLeutnant Graf Panin, General Tschernyschew an. Sie führen 6 Geschütze mit. Der
Rest des Korps erreicht Berlin gegen 11 Uhr am Vormittag des nächsten Tages.
Mit seinen 8.000 Mann verstärkt Panin die rechte Flanke des Tschernyschew
Korps. Von nun an sind die Belagerer in der Übermacht. Allein die Russen
verfügen über etwa 28.000 Mann.
Diese Übermacht wird noch erdrückender, als am 08.Oktober, gegen Mittag, in
Mariendorf das österreichische Korps des Grafen Lacy eintrifft. Es besteht aus 8
Infanterie-Regimentern, 2 Grenadier-Bataillonen, 1 Regiment Kroaten, 3
österreichischen und 4 sächsischen Kavallerie-Regimentern, 2 Husaren- und 2
Ulanen-Regimentern. Bei einer Stärke von 16.000 Mann ist Lacys Korps für sich
allein genommen den gesamten Kräften der Verteidiger ebenbürtig.
32
32. Dmitrij Masslowski präzisiert die Aufstellung der Verbündetenkräfte:
„Am 8. Oktober hatten die Verbündeten die Umgegend von Berlin in folgender Ordnung besetzt:
a) Auf dem rechten Flügel:
1. 4 Regimenter Reiterei — vom Luisenbad (Gesundbrunnen, südlich von Pankow) bis Weissensee.
2. Die Infanterie Panin's (4 Regimenter) vereinigte sich nach ihrer Ankunft mit ihrer Avantgarde und
den dort stehenden Kürassieren bei Weissensee.
3. Das Detachement Leontjew's (7 Regimenter Infanterie) nördlich von Lichtenberg.
4. Das Detachement des Majors Lawrow an der Strasse aus Köpenick vor Friedrichsfelde.
43
Denn die Verteidiger haben ebenfalls etwa 16.000 Mann bzw. 26 Bataillone
Infanterie und 41 Schwadrone Kavallerie. Mit diesen bescheidenen Kräften sollen
sie sich nun den 44.000 Soldaten der Alliierten zum Kampf stellen.
33
5. Links davon an der Spree die Kasaken Krassnotschekow's und die slaviano-serbische Schwadron.
b) Auf dem linken Ufer der Spree:
6. Vor dem Kottbuser Thor — das Detachement Totleben's (zwischen Tempelhof und dem
Golmberge westlich von Rixdorf).
7. Die Oesterreicher konzentrirten sich am 8. Oktober bei Lichterfelde, Lacy verzögerte aber die
allgemeine Bewegung seiner Truppen nach dem Thiergarten zu, so dass die Oesterreicher erst dann
die Ausgänge aus dem Brandenburger und zum Theil auch dem Potsdamer Thore eroberten, als die
Kapitulation bereits abgeschlossen war“ (Masslowski, S.246f).
33. In seinem Bericht an Tschernyschew schätzt Tottleben die in Berlin vereinten Truppenverbände
der Verteidiger auf die Gesamtstärke von ca. 20.000 Mann ein ( Razgrom..., S.66).
44
Teil 4: Berlin kapituliert
Die Entscheidung fällt im stürmischen Regen
Seite 46
Die Kapitulation
Seite 51
Die Kapitulationsverhandlungen
Seite 53
Der Einzug der Okkupanten
Seite 55
Die unerwartet friedliche Begegnung
mit dem „fürchterlichsten Feind“
Seite 56
Die Eifersüchteleien
Seite 58
Weitere Ereignisse des denkwürdigen Tages 09.Oktober 1760
Seite 62
Die Kontribution: eine kleine Korrektur
der überlieferten Geschichte
Seite 64
45
Die Entscheidung fällt im stürmischen Regen
Der sintflutartige Regenfall am 08.Oktober, der „Mann und Pferd fast gänzlich
außer Stand setzte, auf denen Füßen sich zu Soutiniren“ (Granier, S. 121), bleibt
allen Beteiligten in Erinnerung. Die Kriegshandlungen kommen fast zum Erliegen.
Nur ein kurzes Gefecht mit einer preußischen Infanterie-Mannschaft, die sich im
Wald zwischen dem Hallischen und dem Kottbusser Tor festzusetzen versucht,
findet an diesem Tag statt: „An dem Cottbußer Thor attaquirten zwar die Feinde
und man führete vier Canonen und kleinen Gewehr auf beyden Theilen jedoch
ohne sonderl. Effect” (Wilke, S.55). Fürst Prozorowskij erinnert sich, dass das
große Aufgebot der Truppe Hülsens von der Position in der Hasenheide versucht,
auf die Stellung Tottlebens zu drängen. Doch Tottleben weicht in Richtung
Köpenick aus und gibt seine Position preis, ohne sich auf ein Gefecht einzulassen.
Die Preußen folgen ihm nicht und kehren zu ihren Batterien zurück: das
stürmische Unwetter verhindert ihre Truppenbewegungen wirksamer, als das
gegnerische Feuer.
Auf beiden Seiten vergeht der Tag mit Vorbereitungen und Beratungen zum
entscheidenden Unternehmen.
Über das, was sich im Kriegsrat im Stabquartier von Tschernyschew abspielt, gibt
es einen einzigen Bericht, der aus den Federn des Marquis de Montalembert
kommt. Nach dem Krieg veröffentlicht der französischer Verbindungsoffizier seine
„Briefe“, die in der deutschen Geschichtsschreibung seit Archenholz ( Archenholz,
Geschichte... S.256) öfter als Quelle benutzt und nie hinterfragt werden. So meint
Herman Granier über die Geschichten, die uns der Marquis erzählt, dass „ wir
(ihm) hierin wohl Glauben schenken dürfen“ ( Granier, S.122 ), ohne allerdings
die Gründe für die besondere Glaubwürdigkeit Montalemberts als Zeuge zu
benennen. In der russischen Geschichtsschreibung wird der Kriegsrat im Lager von
Tschernyschew nie erwähnt. Aus dem Fehlen der alternativen Quellen folgt jedoch
nicht, dass wir jedem Wort Montalemberts gleich Glauben schenken müssen: zu
offensichtlich ist die Absicht des Autors, seine eigene Rolle im Unternehmen
hervorzuheben.
46
In der Darstellung von Montalembert bekommt Tschernyschew, nachdem er über
das
Eintreffen
des
Hülsens
Korps
wird,
benachrichtigt
Angst
wegen
der
exponierten Stellung seiner Truppe. Er befürchtet, dass die vereinigten Kräfte der
Hauptstadtverteidiger, die nach russischer Einschätzung etwa 20000 Mann zählen,
ihn nun attackieren und in Schwierigkeiten bringen können. Außerdem haben seine
Soldaten Brot nur für einen Tag vorrätig. Deshalb verkündet er im Kriegsrat
seinen Plan, sich nach Köpenick zurückzuziehen und dort die Vereinigung mit dem
Lacy-Korps abzuwarten. Ohne die Verstärkung durch das Lacy Korps will er keinen
Vorstoß gegen Berlin riskieren. Alle Anwesenden (Tottleben und Lacy sind nicht
anwesend) stimmen ihm zu. Alle, außer, natürlich, Marquis de Montalembert. Der
Marquis tritt mit einer flammenden Rede vor der Versammlung auf, die wir hier in
der Nacherzählung der Offiziere des preußischen Generalstabs zitieren: „ Der
Marquis... behauptete..., daß ein Rückzug nach Coepenick unbedingt nachteilig
sey, da er den Gegnern gestatte, mit vereinter Kraft auf die Generale Tottleben
und Lascy zu fallen, diese zum Rückzuge zu zwingen, und so die Eroberung von
Berlin ganz zu vereiteln; seiner Meinung nach müsse man daher den Feind
morgen als den 9.Okt. angreifen. Im schlimmsten Falle habe man es mit den
vereinigten preußischen Korps zu thun; die Gute der russischen Truppen verbürge
aber, daß man auch gegen diese Uebermacht das Gefecht so lange würde halten
können, bis die Generale Tottleben und Lascy, von dem Entschlusse zum Angriff
noch heute benachrichtigt, durch einen Angriff auf Berlin den Feind entweder zu
Detaschirungen gezwungen, oder sich der Stadt bemächtigt haben würden.
Entschiede sich dennoch der Erfolg überall für die preußischen Waffen, so sey
dies einer von den überraschenden Fällen, worauf man im Kriege gefaßt seyn
müsse. Was das Brot anbeträfe, so unterliege es keinem Zweifel, daß man, im
Besitz
von
Berlin,
keinen
Mangel
daran
leiden
würde“
(
Geschichte
des
Siebenjährigen Krieges in einer Reihe von Vorlesungen..., S.155f). Und nun
geschieht
ein
Wunder:
nicht
die
Meinung
des
„mürrischen,
besonders
frühmorgens“ Grafen Tschernyschew, vor dem alle anwesenden Offiziere zittern,
sondern die des redegewandten Franzosen, der sich 1789 trotz seiner adligen
Herkunft als Revolutionsredner profilieren wird, kommt durch. Für Donnerstag, den
09.Oktober, wird der Sturm beschlossen.
47
Nach den Angaben von Masslowski hat Tschernyschew einen Auftrag von Fermor,
Berlin zu erstürmen, ohne dabei jedoch etwas zu wagen. Er soll die Situation vor
Ort einschätzen und, wenn das Risiko ihm zu groß erscheint, eine feste Position
annehmen und auf die Verstärkungen warten, „nöthigenfalls auch- aller Truppen
Fermors, der zu seiner Unterstützung zu kommen versprach“ (Masslowski, S.240).
Angenommen, die Angaben Masslowskis, die er ohne Berufung auf irgendwelche
Quellen macht, sind richtig. In diesem Falle wird uns die Frage interessieren, wie
wahrscheinlich ist es, dass Tschernyschew die Erstürmung der Stadt an seiner
Seite für viel zu riskant hält?
Tschernyschew
ist
gewiss
kein
militärisches
Genie,
unter
den
russischen
Zeitgenossen wird er als „Zimmergeneral“ verspottet und in die Geschichte des
Siebenjährigen Krieges, wenn man von der sowjetischen Geschichtsschreibung
absieht, ist er nicht wegen seiner Taten, sondern hauptsächlich dank der
Unterlassung einer Tat eingegangen.
34
Trotzdem fällt es schwer anzunehmen, dass
er die Preußen für so unüberlegt hält, dass er glaubt, sie werden keine Deckung
gegen Tottleben und Lacy zurücklassen und allesamt auf ihn fallen. Und sollte er
daran glauben und die Kräfte des Gegners gewissermaßen überschätzen, so ist es
trotzdem unwahrscheinlich, dass er sich, durch das 8000 Mann starke Panin Korps
verstärkt, für unterlegen hält. Der Wortlaut seiner Sturmdisposition spricht eine
andere Sprache, Graf Tschernyschew zweifelt nicht im geringsten an seiner
momentanen
Überlegenheit:
„In
Anbetracht
von
allen
Umständen
und
Kundschaften komme ich zum Urteil, dass der uns widerstehende Gegner derzeit
nach Kräften unterlegen ist. Sollten wir die Zeit verlieren, so kann er sich
verstärken und uns zum ruhmlosen Abzug zwingen, ohne dass wir unser Vorhaben
verwirklichen. Daher entschloss ich mich, mit Hilfe des Allmächtigen, den Gegner
morgen zu attackieren...“ (Korobkov, S.679, Sprache-rus, Übersetzung des Autors).
34. Ausgerechnet Graf Tschernyschew wird durch seinen Gönner, Zar Peter III., zum Kommandeur
des russischen Korps ernannt, das Friedrich nach dem Friedens- und Freundschaftsvertrag zwischen
Russland und Preußen 1762 für die Fortsetzung des Krieges in Schlesien zur Verfügung gestellt wird.
Nach dem Sturz des exzentrischen Friedrich-Verehrer auf dem moskowitischen Thron fordert die
neue Zarin, Katharina II., ihre Einheiten zurück. Auf Friedrichs Bitte verzögert Tschernyschew den
Abmarsch seines Korps um drei Tage, was Friedrich zu einem politisch und strategisch wichtigen
Sieg über Österreicher bei Burkensdorf entscheidend verhilft.
48
Später
berichtet
Tschernyschew:
"Es
ist
mir
nicht
möglich,
treffend
zu
beschreiben, mit welcher Spannung und Gier unsere Truppen auf diese Attacke
gewartet haben; der Sieg stand jedem im Gesicht geschrieben..." (Kovalevskij )
Der von Tschernyschew verfasste Sturmplan sieht vor, die den Stadtbefestigungen
vorgelagerten Stellungen der Verteidiger gleichzeitig an zwei Stellen zu attackieren:
der rechte Flügel unter dem Kommando des Generals Panin soll die Anhöhen „in
der Nähe von den Mühlen“, wo eine starke Batterie der Verteidiger platziert ist,
einnehmen, die Attacke des linken Flügels unter General Leontjew richtet sich
gegen die rechte Flanke der Verteidigungslinie, „wo heute der Gegner seine
Batterie aufgestellt hat“ (Korobkov, Semiletnjaja vojna, S.679ff). Den Sturm von
Palisaden erwähnt Tschernyschew in seiner Disposition nicht. Es werden keine
Anstalten dafür getroffen. Wahrscheinlich sieht er die Palisaden nicht als ein
ernsthaftes Hindernis, was sie mit Sicherheit auch nicht sind: so halten einige
Abschnitte der Palisaden das stürmische Wetter am 08.Oktober nicht aus und
fallen um (Wilke, S.43). In seinem Plan geht Tschernyschew offensichtlich davon
aus, dass nach der Unterdrückung ihrer Feuerkraft den Verteidigern keine andere
Wahl bleiben wird, als sich zu ergeben. Der Sturm soll um 7.00 Uhr am
09.Oktober beginnen. Das Signal zum Sturm, drei Brandkugelschüsse, soll die
Batterie am linken Flügel des Panin Korps geben.
Es ist nicht bekannt, inwieweit dieser Plan mit Tottleben und Lacy abgestimmt ist.
Es ist sogar nicht klar, ob die beiden Generäle über den bevorstehenden Sturm
auf
das
rechte
Spreeufer
informiert
werden.
Am
08.Oktober
benachrichtigt
Tschernyschew das russische Hauptquartier über sein Anliegen, Berlin am nächsten
Tag zu stürmen, und legt seinem Rapport die durch ihn verfasste Disposition bei.
Am gleichen Tag berichtet Tottleben dem Grafen Fermor über sein Gefecht mit
General Kleist. In diesem umständlichen Bericht wird der morgige Sturm mit
keinem
Wort
erwähnt.
Auch
Fürst
Prozorowski
verrät
mit
keinem
Wort
irgendwelche Vorbereitungen zum Sturm an Tottlebens Seite, obwohl er den
08.Oktober und insbesondere das stürmische Unwetter in seinen Erinnerungen
detailliert beschreibt. Es scheint, als ob Tottlebens Leute und er selbst in die
ehrgeizigen Pläne Tschernyschews erst gar nicht eingeweiht sind. Und über Lacy
wissen wir nur, dass er fest entschlossen ist, gleich nach der Ankunft zum Sturm
49
überzugehen. Dieses Anliegen steht jedoch in keinem Zusammenhang mit dem
Unternehmen von Tschernyschew, er bringt es noch während seines Aufmarsches
zum Ausdruck.
Den Verdacht, dass der General Tschernyschew Berlin im Alleingang erobern will
und so die Lorbeeren des Siegers mit niemandem teilen will, wird man beim
Lesen der Disposition nicht los. Die Konkurrenten Tottleben und Lacy werden in
seinem Sturmplan mit keinem Wort erwähnt. Der Plan ist sehr detailliert. Viele
Kleinigkeiten, die nicht sehr bedeutsam erscheinen, wie, z.B., welche Begleitung
Verwundete bekommen sollen, die noch gehen können, werden akribisch geregelt.
Jedoch wird man vergeblich nach Hinweisen für die Aufrechterhaltung der
Kommunikation mit dem linken Spreeufer in diesem Plan suchen. Mehr noch,
Tschernyschew bricht praktisch die direkte Verbindung zum anderen Ufer ab,
indem er zwei seiner Einheiten, die noch in Köpenick stationiert sind, nach Berlin
beordert, wo sie, eine Meile von der Stadt entfernt, in seiner nächsten Reserve
bleiben sollen.
Unterdessen versammelt sich auch in der belagerten Stadt - im Stabquartier des
Prinzen von Württemberg am Frankfurter Tor - ein Kriegsrat. Das ursprüngliche
Vorhaben des Prinzen, am 09.Oktober, verstärkt durch die Teile des Hülsens
Korps, Tschernyschew auf dem Lichtenberger Feld anzugreifen, wobei Hülsen mit
35
schwächeren Kräften Tottleben in Schach hält,
wird nach dem Auftauchen von
Österreichern verworfen. Es scheint, dass die Verteidiger vom Eintreffen Lacys
völlig überrascht sind. Ihn haben sie entfernter geglaubt und somit erst gar nicht
auf der Rechnung gehabt. Schließlich entscheiden die Generäle, angesichts der
Übermacht des Gegners, Berlin aufzugeben. Es stellt sich heraus, dass Graf
Tschernyschew sich um die Sturmvorbereitung vergebens bemüht hat. Der Sturm
erübrigt sich, die Stadt kapituliert kampflos.
35. Nach der Verstärkung durch einige Einheiten des Hülsens Korps besteht die Truppe des Prinzen
von Württemberg aus 16 Bataillonen Infanterie und 20 Schwadronen Kavallerie. Dem General Hülsen
bleiben 10 Bataillonen und 21 Schwadron. Seine Kräfte hält Prinz von Württemberg für ausreichend,
um zum Angriff auf dem rechten Spreeufer überzugehen und die Russen noch vor dem Eintreffen
der Österreicher zu schlagen.
50
Noch in der Nacht ziehen die Korps des Prinzen Eugen von Württemberg und des
Generals von Hülsen in Richtung Spandau ab. Die Truppen an der Ostseite der
Stadt marschieren außerhalb der Befestigungen um die Stadt herum. Die Truppen
an der Südseite ziehen durch die Innenstadt ab. Am Oranienburger Tor treffen
sich die beiden und der Marsch wird gemeinsam fortgesetzt. Zurück bleiben die
Soldaten der Berliner Garnison, da in den Vorstellungen dieser Zeit ein „Objekt“
der Kapitulation in Form einer militärischen Einheit gegeben sein soll. Gegen 3.00
Uhr wird Tottleben die Kapitulation der Stadt angetragen.
Die Kapitulation
„Alle Berichte „ - schreibt Herman Granier - „geben die Gründe für dies Aufgeben
der Hauptstadt übereinstimmend an, wie sie der König selbst als „wesentliche und
stichhaltige Ueberlegungen“ in seiner „Histoire de la Guerre de sept ans“
zusammengefasst hat: „Der Umfang der Hauptstadt beträgt drei Meilen im
Umkreise; daher ist es unmöglich, daß 16000 Mann eine so ausgedehnte Enceinte,
die weder Außenwerke noch Wälle hat, gegen 20000 Russen (der König rechnet
anscheinend die Division Panin nicht mit) und 18000 Österreicher vertheidigen, die
alles unternehmen konnten, da sie auf nichts Rücksicht zu nehmen brauchten.
Schon begann der Feind Bomben in die Stadt zu werfen. Hätte man bis zum
äußersten gewartet, so liefen die Truppen Gefahr, kriegsgefangen, und die
Hauptstadt, von Grund aus zerstört zu werden“ (Granier, S.121f, siehe auch:
Friedrich der Große, Geschichte des Siebenjährigen Krieges..., S.65).
Die Verteidiger sollen außerdem die Nähe der russischen Hauptarmee, die bereits
bei Landsberg steht, und des 16.000 Mann starken Korps der Reichsarmee unweit
von Berlin, in Treuenbritzen, in Betracht ziehen. Denn davon könnte der Gegner
jeder Zeit weitere Unterstützung bekommen. Wie man sieht, gibt es für die
Entscheidung des Kriegsrates, Berlin aufzugeben, gewichtige Gründe.
Und trotzdem stellen Kritiker seit 1760 diese Entscheidung als überstürzt in Frage.
Durch drei Tatsachen wird diese Meinung untermauert: erstens, Friedrich eilt
51
bereits aus Schlesiens Hauptstadt zur Hilfe, so dass die Verteidiger nur wenige
Tage durchzustehen brauchen; zweitens, die Russen haben nicht vor, die Stadt
dauerhaft zu besetzen, so dass der baldige Abzug der Verbündeten noch vor
Beginn der ganzen Operation eine beschlossene Sache ist; drittens, die Alliierten
sind untereinander uneinig, zerstritten und verfolgen unterschiedliche Interessen.
Unter
diesen
Umständen
hätte
sich
die
Fortsetzung
der
Verteidigung
möglicherweise gelohnt.
Die Kritiker haben Recht bei der Annahme, dass den Verteidigern diese Umstände
bestens bekannt sind. Das ist jedoch nicht der Fall. Sie wissen nicht einmal
Bescheid über den Aufmarsch Friedrichs. Und über die Gegner wissen sie
größtenteils nur das, was ihnen die gefangenen Kosaken verraten können. Und
das ist vermutlich nicht viel, denn die gemeinen Kosaken werden bei den
strategischen Entscheidungen nicht einbezogen. Hätten die Generäle gewusst, dass
ihre Lage doch nicht so aussichtslos ist, so wäre mit großer Wahrscheinlichkeit die
Fortsetzung des Widerstandes beschlossen. Wie das Probst Süßmilch zu einer
anderen
Gelegenheit
formuliert:
„Wenn
man
die
Position,
die
Fehler,
die
Mutlosigen und alle Umstände des Feindes jederzeit wüste, so würden manche
Schlachten und Scharmützel viel entscheidender werden“ (Wilke, S.28).
Bemerkenswert ist, dass für den äußerst schmerzhaften Verlust der Hauptstadt
niemand später zur Rechenschaft gezogen wird, geschweige denn bestraft. Ganz
anders geht der preußische König gegen seine Garnison vor, die am 04.September
1759 in Dresden kapituliert. Dem preußischen Gouverneur in Dresden Grafen von
Schmettau erlegt er eine harte Strafe auf: der Graf wird unehrenhaft aus allen
Diensten entlassen und soll sich, nach einer spöttischen Bemerkung Friedrichs,
noch freuen, dass er seinen Kopf behalten hat. Die Strafe wird verhängt, obwohl
Schmettau die Stadt mit der Einwilligung des Königs aufgibt (Friedrich widerruft
seine
Einwilligung
später,
die
Nachricht
darüber
bekommen
die
Verteidiger
Dresdens jedoch erst nach ihrer Kapitulation).
Möglicherweise erkennt der König, dass die Mitschuld für das Geschehene in Berlin
auf ihn selbst fällt. Denn vor der drohenden Gefahr für seine Hauptstadt wird er
mehrfach gewarnt. Er will jedoch nicht daran glauben, trifft deshalb keinerlei
52
Vorkehrungen und wird schließlich überrascht. So äußert er am 23.September
1760 ungeachtet aller Warnungen seine Überzeugung, „daß die Russen dies Jahr
was recht großes nicht unternehmen, sondern sich mit Fressen, Saufen und
Plündern kontentieren wollen“ (Böthling, S.25). Sogar am 30.September, als der
Streifzug gegen Berlin bereits läuft, hat er „noch Mühe“ daran „zu glauben“
(ebenda). Als er sich schließlich zum Handeln entschließt, ist es schon zu spät.
Zum zweiten ist er möglicherweise deshalb so mild gestimmt, weil er zu dieser
Zeit weitaus größere Sorgen hat, als den kurzweiligen Verlust der Hauptstadt.
Nach der Katastrophe bei Kunersdorf am 12.August 1759, wo die 48.000 Mann
starke Armee des Königs vernichtend geschlagen wird, büßen die Preußen mehrere
große Truppenverbände ein: am 21.November 1759 kapitulieren 15.000 Soldaten
nach der unglücklichen Schlacht von Maxen, nur 13 Tage später ergibt sich das
Detachement des Generalmajors Diericke, am 23 Juni 1760 geht dem König das
12.000 Mann starke Korps des Generalleutnants Heinrich August Freiherr de la
Motte Fouque gänzlich verloren. Infolge dieser herben Rückschläge schrumpft das
preußische Heer. Trotz aller Energie, die Friedrich aufbringt, um die Verluste
wettzumachen,
wird
überschreiten,
gegenüber
seine
Armee
den
nicht
230.000
mehr
Mann
die
bei
110.000
seinen
Mann
-
Gegnern.
Marke
Die
Rekrutierungsquellen der Preußen sind längst ausgeschöpft. Es bleibt nur das
letzte Mittel, nämlich auf Kriegsgefangene zurück zugreifen. Sie werden oftmals
mit Gewalt in den preußischen Dienst gepresst und rächen sich bei jeder
Gelegenheit durch das Überlaufen zum Feind. Auch an Offizieren mangelt es. Die
Sorgen Friedrichs über die Reserven für seine Armee, die ihn zu dieser Zeit
plagen, geben uns die Erklärung für die wahrscheinlichsten Gründe seiner
schweigenden Hinnahme der Kapitulation Berlins. Das Risiko, zwei intakte Korps zu
verlieren, ist ihm unter diesen Umständen zu groß. Berlin kann er zurückerobern,
ohne Soldaten ist jedoch keine Fortsetzung der Kriegsführung möglich.
Die Kapitulationsverhandlungen
Während des Abzugs der preußischen Truppen berät General Rochow das weitere
53
Vorgehen mit den Honoratioren der Stadt. Auf Betreiben vom reichen Berliner
Kaufmann Ernst Gotzkowsky „ward der Entschluß gesetzet, die Stadt dem General
zu übergeben, der sie zuerst aufgefordert, nehmlich dem Rußischen General
Totleben“ (Wilke, S.30f). Entscheidend ist allerdings nicht die Reihenfolge des
Eintreffens der gegnerischen Generäle vor den Toren Berlins: Tottleben ist in der
Stadt kein Unbekannte, viele kennen ihn persönlich, einige waren mit ihm sogar
befreundet. Nicht ohne Grund nimmt die Bürgerschaft an, dass es deshalb leichter
wird, sich mit Tottleben statt mit einem Fremden wie Tschernyschew oder Lacy zu
einigen.
Als Rochows Gesandte, Major Wegner und Rittmeister Wangenheim, mit seinem
Kapitulationsschreiben im Quartier Tottlebens erscheinen, greift dieser sofort zu.
Ohne wenigstens pro forma seine beiden Hauptkonkurrenten in die Verhandlungen
miteinzubeziehen nimmt er die Kapitulation der Hauptstadt an. Das Kriegsglück
und auch im gewissen Sinne die Gerechtigkeit scheinen auf seiner Seite zu
stehen. Denn er und seine Soldaten haben mehr Anstrengungen unternommen
und mehr Opfer gebracht, als die Konkurrenz, damit der Streifzug erfolgreich
endet.
Die Kapitulationsverhandlungen selbst werden in zwei Runden abgehalten. Gegen
4.00 Uhr morgens ist man mit dem Kommandanten Berlins über folgende Punkte
einig:
-Die Garnison sowie alle in der Stadt anwesenden preußischen Militärs (Kranke,
Verwundete usw.) werden zu Kriegsgefangenen erklärt;
-Alle Kriegsvorräte sowie das ganze Eigentum der Stadt werden zur Disposition
des Siegers gestellt;
-Privaten Personen und ihrem Eigentum wird Sicherheit garantiert.
Nachdem die entsprechende Einigung von beiden Seiten unterschrieben wird,
schickt Tottleben seine Eilboten zu Tschernyschew und Lacy. Er stellt die beiden
vor den vollendeten Tatsachen.
Die zweite Runde der Kapitulationsverhandlungen, wo, diesmal mit dem Berliner
54
Magistrat, an erster Stelle über die Kontribution entschieden wird, findet nach dem
Einzug der russischen Einheiten in Berlin statt.
Der Einzug der Okkupanten
Tottlebens Stabs-Offiziere übernachten am 08./09. Oktober in einer Scheune in
der Nähe der Frontlinie. Nach dem stürmischen Regen am Vortag sind sie bis auf
die Knochen nass geworden. Die einzigen Dinge, von denen sie in dieser Nacht
träumen, sind, ihre Kleider zu trocknen und sich zu erwärmen. Doch das soll
ihnen nicht ganz gelingen, denn bereits bei Sonnenaufgang werden sie durch
einen Eilboten von Tottleben aus dem Schlaf gerissen. Der Bote überbringt ihnen
den Befehl, so schnell wie möglich nach Berlin zu gehen, da die Stadt kapituliert
hat.
Oberstleutnant
Burmann
wird
beauftragt,
mit
einem
Bataillon
des
3.
Grenadierregiments die Batterien der Verteidiger vor dem Hallischen Tor zu
übernehmen. Die übrigen Einheiten ziehen gegen 7.00 Uhr durch das Kottbusser
Tor in Berlin ein. Den Einzug der Infanterie befehligt Oberst Maslow, die
Grenadiere führt, da der Brigadier Bachmann schon früher zum Tottleben beordert
ist, Fürst Prozorowskij ein.
Die Kolonnen der Russen marschieren durch die Roß- und die Breite Strasse bis
zum Schlossplatz, wo sie ihre Wachen und die Kanonen um das Schloss postieren.
Zuallererst erblicken sie am Schlossplatz die einsamen Gestalten vom Oberst
Rschewskij mit seinem Trompeter, die gerade angekommen sind, um die Stadt im
Namen des Grafen Tschernyschew aufzufordern.
Am Schlossplatz gibt Tottleben seine Anordnungen an die Truppe bekannt. „Hier
teilte uns Graf Tottleben mit, - erinnert sich Prozorowskij,- dass er den Brigadier
Bachmann zum Kommandanten <Berlins> bestimmt, mir hat er befohlen, PlatzOberstleutnant
36
zu sein. Und obwohl ich es nicht wollte, hat er mir, an erster
36. d.h. Kommandant der Berliner Garnison. Auch über diese personellen Entscheidungen erfährt
Tscher-nyschew erst aus einem Rapport von Tottleben, der ihn vor vollendete Tatsachen stellt.
55
Stelle, weil ich die < Fremd->Sprachen spreche, befohlen, diese Aufgabe zu
übernehmen. Über dies hat er mir die Ehre erwiesen, in dem er gesagt hat, dass
er sich auf mich verlässt und mir den Auftrag erteilt, unsere Wachposten
aufzustellen
und
die
preußischen
abzusetzen,
was
ich
dann
auch
getan
habe“(Prozorowskij, S.69, Sprache-rus., Übersetzung des Autors).
Die unerwartet friedliche Begegnung mit dem „fürchterlichsten Feind“
Das Leben in der belagerten Stadt wird auch ohne die gelegentlichen Bombardierungen zunehmend schwieriger für die Bürger. Die Stadt ist mit
Flüchtlingen aus
dem durch die Russen besetzten Umland überfüllt. So retten sich die Bewohner
von
Rixdorf,
die
böhmischen
Brüder,
bei
ihren
Glaubensbrüdern
in
der
Wilhelmstrasse (Holmes, S.16). Ein Chronist berichtet: „Anno 1760 den 3. october
vormittags um 10 Uhr kam das klägliche Geschrey in der Stadt daß die Russen
schon am Thore waren, zu gleich sähe man die Straßen voll aufgepackte wagen
mit Betten, Kisten und kästen von denen einwohner der Vorstätte so gar daß Vieh
brachten sie in der Stadt wer nur einen Hoff hatte der hatte zu der zeit gewiß
auch Vieh darauf" (Duwe, S.76). Die Versorgung der Stadt wird durch die
Kosaken wesentlich erschwert : „ Die Rußen streiffen biß beynahe am Invaliden
Hause, und machen uns die Zufuhr schwer, so daß alles entsetzlich Theuer wird“
(Wilke, S.53).
Die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung bleibt jedoch gut. Die Bürger
glauben an ihre Verteidiger. Sie besitzen außerdem keine genaue Vorstellung über
die Kräfte der Angreifer, die Nachricht über das zu erwartende Eintreffen des
Dmitrij Masslowski, bedeutender Vertreter der sog. „vaterländischen Schule“ in der russischen
Geschichtsschreibung, für die eine sehr kritische Position in Bezug auf Ausländer im russischen Dienst
charakteristisch ist, verurteilt die Ernennung Bachmanns zum Kommandanten Berlins scharf. Für ihn
ist Bachmann ein „längst von Graf Tottleben erkieste Gehülfe“, „nur der erste und allerkläglichste
Auskundschafter der Sachlage für den Grafen Totteleben“ (Masslowski, S.258).
56
Lacy-Korps wird vor den Berlinern absichtlich geheim gehalten: „Man suchte durch
allerley Vorgeben ... die Annäherung des Oesterreichischen Corps unter dem
General Lasci den Einwohnern der Stadt zu verbergen um nicht die Furcht
derselben zu vergrößern „ (Wilke, S.29).
Die wenigen Nachtschwärmer wundern sich zwar, warum die Soldaten in der
Nacht auf den 09.Oktober aus der Stadt marschieren: “Den gegen Mitternacht fing
unsere Armee an aufzubrechen, und die Bagage defilirte durch die Stadt. Niemand
wüste warum“ (Wilke, S.55). Das Gros der Berliner schläft jedoch in dieser Nacht
seelenruhig
ein:
Unwissenheit>
„Diese
Ungewissheit
<Probst
Süßmilch
meint
hier
die
und Hoffnung war Ursach, daß Berlin sich ruhig zu Bette legte
und auch gröstenteils bis an den Morgen und zwar so lange schliefen, bis die
Rußen die Thore besetzt hatten und einmarschirten“(Wilke, S.30).
Und so ist die Überraschung perfekt: „Donnerstag den 9'en Octobr um 7 Uhr des
Morgens erfuhr die Stadt beym Erwachen, daß Capituliret, und daß die Rußen in
der Stadt waren“ (Wilke, S.31).
Die erste Begegnung mit dem „fürchterlichsten Feind“ gestaltet sich jedoch
unerwartet friedlich: „ Einige der vornehmsten Kaufleute waren vom Magistrat an
das Hallische Thor bestellt, welches zuerst von den Rußen besetzet ward. Der
Rußische zuerst einmarschierende Stabs=Officier befrug sie beym Einmarsch wer
sie wären? Und als sie ihm gesaget, daß sie Kauffleute die vom Magistrat hieher
beordert wären; so machte er ihnen ein höfflich Compliment, bestellte vom
General Tschernischef und Sivers, einen Gruß und Dancksagung, wegen der vielen
Höfflichkeit, so sie bey ihrer Gefangenschaft in Berlin genossen,
37
versicherten sie
auch, daß sie gantz unbesorgt seyn solten und daß der Stadt kein Leid geschehen
38
solte.
Das Compliment und der ruhige Einzug beruhigte auch in der Stadt das
37. Tschernyschew geriet in der Schlacht von Zorndorf in
schnell frei dank dem Gefangenenaustausch.
preußische Gefangenschaft, kommt jedoch
38. „Das also war der erste Schritt des Eintritts des ersten deutsch-russischen Offiziers in Berlin!“, -
ent-rüstet sich Dmitrij Masslowski (Masslowski, S.253). Seine Empörung ist schwer nachvollziehbar.
Was sollte der künftige Berliner Kommandant Bachmann, von dem hier die Rede ist, bei seinem
Einzug in die Stadt tun, um die Prestige seiner Kaiserin zu wahren? Die Stadthonoratioren zu Tode
57
Publicum dergestalt, daß man des Einpackens vergaß, und daß man den bisher so
sehr gefürchteten Feind gelaßen einziehen sehe“ (Wilke, S.31).
Noch vor wenigen Tagen sehen die Einwohner Berlins mit Angst einer ungewissen
Zukunft entgegen. Doch als das befürchtete Unheil über sie tatsächlich kommt,
wird diese Angst durch die Neugier schnell verdrängt. Wissbegierig genießen nun
die Berliner die noch nie da gewesene Vorstellung, den Einzug der russischen
Besatzer in Berlin:“ Alle Fenster und Straßen waren voller Leute, und sahen die
Trouppen ein marschiren“(Wilke, S.55).
Die Eifersüchteleien
Der
09.Oktober
1760
ist
ein
regnerischer,
trüber
Tag.
Im
russischen
Kriegstagebuch wird vermerkt, dass die Nacht sehr windig ist. Genauso düster wie
das Wetter draußen ist die Stimmung unter den Konkurrenten Tottlebens, den
Grafen Tschernyschew und Lacy.
In den frühen Morgenstunden, in denen er laut seinem Biograph üblicherweise
besonders mürrisch wirkt, schickt Graf Tschernyschew Oberstleutnant Rschewskij in
die Stadt, um der Stadt vor dem Sturm seine Aufforderung zur Aufgabe zu
verkünden.
Kaum
verschwindet
der
Parlamentär
aus
den
Augen,
als
Tschernyschew die Meldung Tottlebens über die bereits vollzogene Kapitulation
Berlins erhält. Fürst Prozorowskij erinnert sich, wie die Russen bei Ihrem Einzug in
die Stadt nicht schlecht staunen, Rschewskij samt Trompeter am Schlossplatz
gewahr zu werden.
39
Es ist nicht überliefert, wie der Rschewskij darauf reagiert,
eine unfreiwillig närrische Figur abgeben zu müssen. Dass er das mit Humor tut,
ist nicht ausgeschlossen. Seinem Dienstherren dagegen erscheint die ganze
erschrecken?
39. In der Schilderung von Masslowski begegnet Rschewskij unterwegs einem Boten Tottlebens mit
der Nachricht von der Kapitulation Berlins (Masslowski, S.250). Dass er trotzdem nach Berlin weiter
reitet, obwohl seine Mission sich doch schon erübrigt hat, entbehrt jedem Sinn.
58
Geschichte keineswegs lustig. Die Nachricht, dass er übergegangen ist, verletzt
40
Tschernyschew sehr.
Er wird Tottleben diese Demütigung niemals vergessen.
Indem er die Kapitulation Berlins eigenmächtig entgegen nimmt, nähert sich
Tottleben zwar dem Traum, „ganz Europa in Staunen zu setzen“, doch für einen
hohen Preis. Er zieht sich die gefährliche Feindschaft eines einflussreichen Herren
zu.
Auch in den nächsten Tagen soll das Verhalten Tottlebens Tschernyschew
missfallen: Tottleben, der in der Stadt bekannt ist und viele alte Freunde wieder
trifft, führt sich hier wie ein Hausherr auf und verdrängt somit den Grafen
Tschernyschew völlig aus der Öffentlichkeit. Dem bleibt nicht anderes übrig, als
die Geschäfte in Berlin Tottleben komplett zu überlassen. Zwischen ihm und
Tottleben kommt es zu einem tiefen Zerwürfnis. In den darauf folgenden Tagen
lässt sich Tschernyschew in der Hauptstadt nur vorübergehend blicken, sonst
verkriecht er sich in seinem Quartier im Schloss Friedrichsfelde. Als erster
marschiert er schließlich von Berlin ab.
Wie es scheint, ahnt Tottleben schon zu dieser Zeit, was auf ihn zukommt. Fürst
Prozorowski erzählt: „Wenn Tottleben gegen die Ehre und die Diensttreue
verstoßen hat, so soll es in diesem Fall geschehen. Zu diesem Schluss komme ich
an erster Stelle deshalb, weil als ich ihn mit meinen Rapporten oder wegen der
Parole aufsuchte, so fand ich ihn stets nachdenklich und verlegen vor. Und
obwohl er mit mir freundlich umging und es auch <ab und zu mal> zu
40. Masslowski fällt der Umstand ins Auge, dass nach der Einnahme Berlins ein traditionelles
feierliches Dankgebet nicht abgehalten wird, obwohl „dieser Gebrauch dem Grafen Tschernyschew
wohlbekannt war“. „Wir sind, - schreibt er, geneigt das zum mindesten mit der Ueberraschung zu
erklären, die Graf Tschernyschew und alle wirklichen Russen überkam, als sie von dem frechen
Schritt des Abenteuers <gemeint ist die Annahme der Kapitulation durch Tottleben> Kenntnis
erhielten“ (Masslowski, S.254). Dieses Detail charakterisiert jedoch eher die Tiefe der Enttäuschung,
die Graf Tschernyschew überkommt. Es gibt genug Zeugnisse, dass Graf Tottleben in der Armee
populär ist, die von den „wirklichen Russen“, wie beispielsweise dem Zeitzeugen Andrej Bolotov
(siehe z.B. Brief 84 aus seinen „Briefen für die Nachkommen“), stammen. Auch Fürst Prozorowski,
dem niemand seine Zugehörigkeit zu den „wirklichen Russen“ absprechen kann, liefert mit seinen
Erinnerungen keinerlei Anhaltspunkte für die Behauptung, die „wirklichen Russen“ seien wegen der
Einnahme Berlins durch Tottleben irgendwie enttäuscht gewesen.
59
unterhaltsamen Gesprächen zwischen uns kam, machte er damals oft den Eindruck
eines in Melancholie verfallenen Menschen, er gab unpassende Antworten, auch
was Dienst anbelangt, so pflegte er die Gewohnheit zu sagen: Mach, was du
willst, ich verlasse mich auf dich. Und in der ganzen Zeit unseres fünftägigen
Aufenthaltes dort verließ er sein Zimmer kaum. Sicher hatte er damals eine
gewaltige Auseinandersetzung mit dem Grafen Tschernyschew, der ich seine
Niedergeschlagenheit zuschrieb“(Prozorowskij, S.69, Übersetzung des Autors).
Auch mit den Österreichern kriselt es ständig. Saltykow will später behaupten,
dass die Russen nur wegen der Hinterlistigkeit ihrer damaligen Verbündeten Berlin
räumen mussten. Graf Lacy stammt aus Sankt Petersburg, wo sein Vater, ein
russischer Feldmarschall mit irischen sowie baltisch-deutschen Vorfahren, zum
engsten Kreis der Mitstreiter des bedeutenden Feldherr, Feldmarschall Münnich,
gehört.
41
Seine in Sankt Petersburg verlebte Kindheit macht aus Lacy jedoch
keinen Freund Russlands. Er teilt die allgemeine misstrauische Haltung der
Österreicher gegenüber den russischen Verbündeten.
42
Schon deshalb empfindet er
die Notwendigkeit, sich den russischen Generälen zu beugen und auf ihre
Anweisungen zu achten, als eine Erniedrigung für seine Person. “...ich meinerseits
bin ihrer Gesellschaft (d.h. die Gesellschaft der russischen Offiziere -W.K.) schon
so überdrüssig, daß ich mich um die ganze Welt nicht länger aufhalten würde,
wenn ich nicht der Pflicht wegen thun müsste, -schreibt er an Daun am
41. Der Vater von Lacy will nicht, dass sein Sohn die Karriere der Stellung und dem Einfluss seines
Erzeugers verdankt. Und so schickt er ihn noch als Junge ins Ausland, damit er früh lernt, auf
eigenen Füßen zu stehen.
42. Die Russen betrachtet man generell als eine Art Hilfstruppe, die den Österreichern lediglich
Beistand bei der Rückeroberung Schlesiens leisten soll. Die Grundlage für mehr Vertrauen fehlt. Denn
in Wien ist man über den schlechten Gesundheitszustand der Zarin Elisaveta sowie über die
preußischen Sympathien des Thronfolgers bestens informiert. Dazu kommen die kaum überwindbaren
Interessenkonflikte unter den Verbündeten. Nur aus einer Notlage akzeptieren die Österreicher die
russischen Ansprüche auf die baltischen Gebiete sowie auf Ostpreußen. In Wien ist man nicht
wirklich begeistert, statt der schwachen baltischen Staaten nach der Rückführung Schlesiens Russland
als Grenzland
zu bekommen. Auch in Polen und auf
dem Balkan verfolgen die Alliierten
unterschiedliche Ziele. Diese Umstände machen die österreichisch- russische Allianz zunehmend
brüchig und wirken sich negativ auf die gemeinsame Kriegsführung aus.
60
10.Oktober (Granier, S.124). Er ist außerdem bitter enttäuscht, dass Berlin nicht
im Sturm erobert wurde. Denn dadurch fühlt er sich um die Früchte seines Zuges,
allen voran, um die Ehre des Berlinbezwingers und um die Beute, betrogen.
Graf Lascy lehnt es ab, sich an die von Tottleben ausgehandelten Kapitulationsbedingungen zu halten. Obwohl es vereinbart ist, dass die Soldaten der Besatzer
außerhalb der Stadt stationieren, zieht er mit seiner Truppe in die Innenstadt ein
und macht dort sein Quartier. Gleich am ersten Tag nach der Kapitulation
vertreiben die Österreicher mit Waffengewalt die russischen Wachposten vom
Hallischen Tor. Daraufhin kommt es zwischen den beiden Generälen, Tottleben
und Lacy, beinah zu Handgreiflichkeiten: „Es heißt, daß ... zwischen dem General
Totleben und der Oesterreichischen Generalität sollen vorgefallen seyn starcke
Wortwechsel, wie es denn auch sonst an mercklichen Zeichen der Jalousie nicht
gefehlet hat“ (Wilke, S.32). Lacy weigert sich, die Stadt mit seiner Truppe zu
verlassen, solange seinen Soldaten einen Teil der Kontribution nicht ausgezahlt
wird. Tottleben wendet sich an Tschernyschew als Schiedsrichter im Streit mit den
Österreichern. Der letztere entscheidet, den Österreichern das Hallische Tor und
das Spandauer Tor (laut seinem Rapport an Fermor) zu überlassen. Die anderen
Stadttore werden von den russischen Infanteristen bewacht. Den Soldaten Lacys
werden 50000 Taler ausgezahlt. Infolge des erreichten Kompromisses verlässt die
österreichische Artillerie gegen 14.00 Uhr die Stadt: „ Die Oesterreichische
Artillerie rückte ein, muste aber um 2 Uhr in das Lager zurückkehren, doch muste
die Friedrichsstadt und Neustadt einigen Bateillons Oesterreichem zur Einquartirung
bewilliget werden“ (ebenda). Tottleben bedankt sich bei Tschernyschew für seine
Einmischung indem er eine Beschwerde an Fermor richtet: „Die Österreicher
treiben hier bis zu den Exzessen, die unbeschreiblich sind und die mir mehr
Sorgen bereiten, als der Gegner selbst. Seine Exzellenz Herr General-Leutnant Graf
Tschernyschew steht immer noch eine Meile von hier entfernt. Er hat den
Österreichern zwei Stadttore, Brandenburger und Potsdamer, übergegeben, die sie
nicht verdient haben...“ (Korobkov, S.658, Sprache-rus., Übersetzung des Autors).
Die Berliner leiden zusätzlich wegen der Uneinigkeit zwischen den Alliierten. Aus
einem kindischen Protest gegen seine zweitrangige Stellung unter den Besatzern,
die er im Brief an Daun am 11.Oktober wie folgt beschreibt: „Wir müssen in Berlin
61
nur die Zuschauer abgeben, so zu sagen, die Sklaven Tottlebens, der überall den
Herrn spielt“ (Granier, S.123f), vernachlässigt Lacy sträflich die Disziplin in seiner
Truppe.
Für
Lacys
Untergebenen
gleicht
die
demonstrative
Nachsicht
der
Vorgesetzten einer Einladung „auf privatem Wege die Beute sich zu verschaffen...,
von
der
sie
offiziell
österreichischen
Soldaten
ausgeschlossen
stellen
in
sein
der
(Granier,
sollten“
Stadt,
nach
dem
S.124).
Die
Ausdruck
von
Prozorowskij, einen „gewaltigen Unfug“ an. Sie ziehen, zusammen mit Kosaken,
plündernd durch das Berliner Umland. Insbesondere tun sich dabei, nach einigen
Überlieferungen, die Sachsen hervor. Nachdem ein bestimmtes Maß überschritten
wird,
sieht
sich
Tottleben,
um
die
Ordnung
in
Berlin
wiederherzustellen,
gezwungen, zusätzliche Einheiten in die Stadt mit dem Befehl zu holen, auf die
Österreicher notfalls zu schießen.
Weitere Ereignisse des denkwürdigen Tages 09.Oktober 1760
Die Verfolgung der nach Spandau abziehenden preußischen Truppen übernimmt
auf Befehl von Tschernyschew die Kavallerie des Grafen Panin, der sich einige
Kosakeneinheiten anschließen.
43
Dem Grafen Panin gelingt der größte Coup der
43. Laut seinem Rapport an Fermor befiehlt Tschernyschew die Verfolgung der abziehenden Preußen
noch in der Nacht, nachdem er über die Bewegungen der gegnerischen Truppen Kunde erhält. Erst
danach schickt er seinen Parlamentär in die Stadt. Wenn das stimmt, dann muss die Enttäuschung
Tschernyschews bei der Nachricht, dass er übergegangen wurde, in der Tat sehr tief sein. Denn er
schickt seinen Mann in die, wie er bereits weiß, von ihren Verteidigern verlassene Stadt und soll
dementsprechend sicher glauben, dass dieser mit der unterschriebenen Kapitulation zurückkehrt.
Tschernyschew wird sich mit der Behauptung revanchieren, die Verteidiger haben die Stadt aus
Angst vor ihm und dem durch ihn geplanten Sturm geräumt. In seiner Relation vom 14.Oktober (03.
Oktober) teilt der entsprechend (des)informierte Fermor der Kaiserin Elisaveta mit: „...der Gegner,
der sich in der Stadt Berlin befand, nachdem er die Kunde
über die Absicht ihn anzugreifen und
über die durch Graf Tschernyschew gemeinsam mit dem General-Leutnant Panin gemäß der
Disposition, die ich in
einer Kopie beilege, getroffenen Vorkehrungen vernahm, ist in der Nacht auf
den 23.September nach Spandau retiriert. Deshalb ergab sich die Stadt am gleichen Tag“ (Korobkov,
S.689, Sprache-rus., Übersetzung des Autors). Dieses Märchen wird in Sankt Petersburg für bare
62
ganzen Operation: er greift die Nachhut der Preußen, die von General von Kleist
geführt wird, an und schlägt sie in die Flucht. Es werden ca. Tausend Gefangene
gemacht, darunter 14 Oberoffiziere, einige davon ziemlich bekannt wie der Major
von Dedenroth aus dem Wunsch-Bataillon. Außerdem werden zwei Kanonen und
50 Kutschen samt Pferden erbeutet. Zwei Zwölfpfünder versenken die Preußen
selbst auf der Flucht. „bey der Retraite der Armee ist das Frey bataillon von
Wunsch auf dem Berge hinter dem Invaliden Hause dergestalt in die Enge
gerathen, daß es theils niedergemacht theils gefangen worden. Der Comandeur
deßelben, Major von Tettenroth, wird dabey am meisten bedauert und ist er
gefangen. Auch sind dabey ein Paar hundert Fuß Jäger verlohren gegangen“
(Wilke, S.44). U.a. zeichnet sich in diesem Gefecht erneut der Kosaken-Oberst
Krasnoschtschekow aus.
General-Major Gaugreven erhält den Befehl, einen Posten auf dem Weg nach
Spandau einzurichten, um die Stadt von dieser Seite abzusichern. Graf Lacy
entsendet ein Regiment unter der Führung von Nikolaus Fürst Esterhazy in die
Residenzstadt Potsdam. Die in Potsdam stationierten Österreicher benehmen sich
im Gegensatz zu ihren Berliner Kameraden in dem Maße musterhaft, dass sie und
Lacy dafür mit der Dankbarkeit und den Geschenken der Potsdamer Bürgerschaft
überhäuft werden.
44
Münze genommen. So lesen wir z.B. im Protokoll der Sankt Petersurger Konferenz vom 03.November
(23.Oktober) 1760: „Der Rückzug des Generals von Hülsen aus Berlin nur wegen der Anordnungen,
die Graf Tschernyschew gegen ihn getroffen hat, beweist unbestreitbar, dass unsere Truppen
attackieren können und dass der Gegner viel mehr Angst vor ihrem Angriff hat, als früher, wo er
selbst frech war“ (Korobkov, S.706, Sprache-rus., Übersetzung des Autors).
Der Stolz des Verfassers auf seinen „mit großer Ausführlichkeit“ ausgearbeiteten Plan zum Angriff auf
Berlin, der laut Masslowski als eine Musterdisposition zum Angriff auf feindliche Städte fungieren
sollte (Masslowski, S.248), ist nachvollziehbar. Dass der General von Hülsen nach dem Studieren von
Tschernyschews Dispostion weiche Knien bekommen könnte, ist zwar wenig wahrscheinlich, aber
durchaus denkbar. Unklar ist lediglich, wie und wann es für Hülsen überhaupt möglich wäre, an den
Plan heranzukommen. Denn zu der Zeit, als diese Disposition geschrieben wird, sitzt Hülsen in einem
anderen Kriegsrat. Und nach dem Kriegsrat zieht er sofort weg.
44. Allerdings bleiben in Potsdam nicht nur das Eigentum der Bürger, wie es in der sowjetischen
Geschichtsschreibung
manchmal
behauptet
wird,
63
sondern
auch
die
dortigen
Rüstungsbetriebe
Die Kontribution: eine kleine Korrektur der überlieferten Geschichte
Kontributionen von den eroberten Städten sind zu dieser Zeit ein übliches Mittel
der Schwächung des Gegners: durch sie wird erreicht, dass der Besiegte die
Kriegsführung des Siegers quasi mitfinanziert. Auch eine Ähnlichkeit mit der
Schutzgelderpressung unserer Zeit ist nicht zu übersehen: die Städter sollen sich
von den Plünderungen freikaufen. Graf Hadik kassiert nach seiner Einnahme
Berlins 1757 240.000 Taler vom Berliner Magistrat. Der Appetit der Russen ist
wesentlich kräftiger: Tottleben verlangt zunächst neun, danach, angeblich auf den
Befehl
des
Fermor,
Grafen
vier
Millionen
Taler
Kontribution
von
der
eingenommenen Stadt. Die Summe ist so ungeheuerlich, dass der Berliner
Stadtpräsident Kircheisen vor Schreck die Sprache verliert, die Russen halten ihn
für einen Betrunkenen und wollen ihn auf die Hauptwache führen. Auch der
Berliner Magistrat ist völlig verzweifelt und da kommt ihm der angesehene
Kaufmann
Gotzkowsky,
Porzellanmanufaktur,
die
der
Gründer
später
der
unter
ersten
dem
Berliner
Namen
Bank
und
„Königliche
der
Porzellan
Manufaktur“ (KPM) bekannt wird, zur Hilfe.
Gotzkowsky kümmert sich um die in der Schlacht von Zorndorf gefangenen
russischen
Offiziere.
Dadurch
ist
er
den
Russen
bekannt
und
genießt
ihr
Vertrauen. Das hilft ihm in seiner Vermittlerrolle. Er schafft es, Tottleben, zu dem
er einen engen Kontakt über seinen Adjutanten, Hauptmann von Brinck, aufbaut,
zu überreden, den Befehl von Fermor zu missachten, und sich mit 1,5 Millionen
Talern sowie mit 200.000 Talern „an die Truppe“ zufrieden zu stellen. Der
Berliner Magistrat ist außer sich vor Freude, als er von der Einigung erfährt. Der
Kaufmann Gotzkowsky wird für seinen Verhandlungserfolg von den Stadtvätern wie
verschont. Einer der Anklagepunkte gegen Tottleben bis heute ist, dass er nichts unternommen hat,
um die Potsdamer Waffenfabriken zu vernichten. Ganz abgesehen davon, dass Esterhazy Tottleben
nicht unterstellt ist, entspricht dieses Bild nicht den Tatsachen: „Die Gewehr=Fabrick <in Potsdam>,bezeugt Probst Süßmilch, ist destruiret worden“(Wilke, S.43).
64
ein Retter gefeiert. Sofort werden die 200.000 für die Geschenke an die Truppe
und 0,5 Millionen Taler aus den Kontributionssummen gesammelt und für die
verbleibende Million wird ein Wechsel ausgestellt, wobei Gotzkowsky einen großen
Betrag aus seinem eigenen Vermögen opfert.
So lautet die Legende. Diese schöne Legende über den Kaufmann, der mit seinem
Verhandlungsgeschick Berlin vor der Pleite rettet, das entsprechende Kapitel im
Buch von Georg Duwe z.B. heißt wörtlich: „ Ernst Gotzkowsky bewahrt Berlin vor
dem Schlimmsten“ (Duwe, S.62), ist jedoch möglicherweise korrekturbedürftig.
Denn die Bestätigung, dass es Tottleben tatsächlich befohlen wird, vier Millionen
vom
Berliner
Magistrat
anzufordern,
gibt
es
nicht.
In
den
schriftlichen
Anweisungen an Tottleben nennt Fermor keinen bestimmten Geldbetrag. Dass die
entsprechenden mündlichen Befehle erteilt werden, ist ebenfalls fraglich: im Bericht
an
das
russische
Hauptquartier
über
die
Einnahme
Berlins
beschreibt
Tschernyschew seine Instruktionen, die er Tottleben gegeben hat: „Über die Große
der Kontribution, die ihnen (d.h. Berlinern -W.K.) auferlegt wird, da ich nicht
weniger als 1,5 Millionen Taler zu fordern befahl, erwarte ich einen Rapport...“
( Korobkov, Iz boevogo proslogo..., S.28, Sprache-rus., Übersetzung des Autors).
Kaum denkbar, dass Tschernyschew, von den konkreten Plänen seines Chefs
wissend, den erwarteten Betrag eigenwillig mehr als halbiert. Und sollte er das
doch tun, so wäre eine Beschwerde Tottlebens an Fermor mit Sicherheit die
Folge. Und sie gibt es nicht.
45
Damit ist sehr wahrscheinlich, dass der vermeintliche Verhandlungserfolg des
Berliner Unterhändlers im Grunde genommen kein Erfolg ist, ganz im Gegenteil,
Gotzkowsky wird ausgetrickst.
46
Tottleben blufft, in dem er vier Millionen Taler von
45. Auch Dmitrij Masslowski bestätigt, dass Fermor keinen bestimmten Betrag anordnet. Mehr noch,
nach den Angaben von Masslowski hat Tottleben „offiziell“ bzw. „für Fermor“ zwei (und nicht vier!)
Millionen Taler Kontribution vom Magistrat angefordert (Masslowski, S.255).
46. Die Verdienste Gotzkowskys werden dadurch nicht geschmälert. Als Vermittler zwischen den
Besatzern und den Einwohnern Berlins tut er in diesen Tagen viel, um das Schicksal der letzteren zu
erleichtern. Viele Einwohner der Hauptstadt suchen in seinem Haus Schutz und Hilfe, und er erteilt
sie allen, viele nimmt er in seinem Haus auf. Ihm haben die „Gazettiere“ ihrer Rettung zu
verdanken. Ferner verhindert er die Pläne der Russen, eine zusätzliche Kontribution von der
65
den Stadtvätern verlangt. Er nennt zunächst den unannehmbaren Preis und
bekräftigt seine Forderung mit der Berufung auf einen angeblichen Befehl vom
abwesenden Fermor, um auf diese Weise den erwünschten Betrag sicher auszuhandeln.
Dadurch,
dass
er
zum
Schein
Einsicht
zeigt,
und
die
Kontributionssumme ermäßigt, bricht er keinerlei Anweisungen seiner Vorgesetzten,
47
er hält sich in der Tat strikt an die Vorgabe von Tschernyschew.
jüdischen Bevölkerung der Stadt einzutreiben, wobei die Russen die reichsten jüdischen Kaufleute
Itzig und Ephraim als Geisel nehmen wollen, solange die Kontribution nicht vollständig ausgezahlt
wird. Er rettet einige Fabriken vor der Vernichtung. Er verteilt großzügig Schmiergelder und
Geschenke unter den russischen Generälen, um auf diese Weise seinen Gesuchen mehr Gewicht zu
verleihen. Die beachtlichen Summen, die er dafür ausgibt, stellt er der Stadt später niemals in
Rechnung.
Leider kommt ihm sein Engagement während der Besatzung später teuer zu stehen: um die
Schulden aus den Bürgschaften vor den Russen bezahlen zu können, ist er gezwungen, seine
hervorragende
Sammlung
holländischer
Malerei
an
die
russische
Zarin
Katharina
die
Große
abzutreten. Diese Sammlung bildet heute das Kernstück der Holländer-Sammlung in der Eremitage in
Sankt Petersburg. Und er stirbt wenige Jahre später verarmt. In seiner „Geschichte eines
Patriotischen Kaufmanns" aus dem Jahr 1768 lamentiert er über die Undankbarkeit der Welt: “Dieses
war das Schicksal desjenigen, der so oft vor die Stadt und seine Mitbürger sein Vermögen und
Leben gewaget, und dem man einige Jahre vorher das Zeugniß gegeben hatte, daß es ein Exempel
ohne Exempel wäre, daß ein ehrlicher Mann ohne allen Eigennutz dasjenige ausgestanden und
unternommen, was ich als ein redlicher Patriot für meine Mitbürger ausgestanden und übernommen
hatte. Man würde mich sogar des andern Tages nach dem öffentlichen Gefängniß gebracht haben,
wenn nicht ein redlicher Mann, dem ich niemalen die geringste Gefälligkeit zu erweisen Gelegenheit
gehabt, so großmüthig gehandelt und d i e Bürgschaft bis nach ausgemachter Sache für mich
geleistet hätte. Ich kann diese Geschichte mit Recht aus der alten bekannten Fabel schließen: So
lohnet die Welt" (Duwe, S.71).
47. Die Ermäßigung der Kontributionssumme bezahlt der Berliner Magistrat mit 65875 Talern, von
denen 50000 auf das Konto von Tottleben gehen. Der Rest wird für die Geschenke an Tottlebens
Leute und an Fermor, dem ein mit Brillanten verzierter Stock im Wert von 6000 Talern später
überreicht wird, ausgegeben. General Tottleben war nach der Beschreibung von Hermann Granier ein
Mensch, „der ziemlich skrupellos seinen eigenen Vorteil suchte und zu finden wußte“ (Granier,
S.123). Auf die Vorzüge seiner Stellung in Berlin in diesem Sinne zu verzichten, wäre sicherlich nicht
in seinem Naturell.
66
Teil 5: Die Besatzung
Eine Präventivmaßnahme der psychologischen Kriegsführung:
die Bestrafung der „Gazettiere“
Seite 68
Was in Berlin (nicht) zerstört wurde
Seite 74
General Tottleben in der Rolle des Ordnungshüters
Seite 77
Das Russenbild
Seite 81
Der Abzug der Besatzer
Seite 86
67
Eine Präventivmaßnahme der psychologischen Kriegsführung:
die Bestrafung der „Gazettiere“
Die Kriegspropaganda befindet sich im XVIII. Jahrhundert noch in ihren Windeln.
Sicher vertreten die Kriegsberichterstattungen parteilich die Meinung ihrer eigenen
Seite und der Gegner wird negativ dargestellt. Die strickte Einhaltung dieser
Regeln kontrolliert die Zensur. Sie sorgt, insbesondere in Preußen, unermüdlich
dafür, dass die Zeitungen nur die Dinge veröffentlichen, „welche sich zu unserer
Politique schicken, sonsten aber keine Prahlereien“. Die Publikationen mit einem
für
Preußen
nachteiligen
Inhalt
werden
unterbunden,
„damit
das
Publicum
desabusiret und selbigem keine falsche Impressiones inspiriret, noch selbiges
ohnnötig in Apprehensiones und Vorurtheile gesetzet werden könne“ ( Schort,
S.211). Dennoch besteht zwischen der Überwachung der Presse und ihrem
bewussten Einsatz als Mittel der Gehirnwäsche ein wesentlicher Unterschied. Dank
unserer heutigen Erfahrung, die zwangsweise Bekanntschaft mit den raffiniertesten
Manipulationsmechanismen beinhaltet, merkt man diesen Unterschied beim Lesen
der damaligen Kriegsberichte sofort. Die Zeitungsartikel von damals erscheinen uns
eher harmlos. Es ist für uns schwer nachvollziehbar, was darin die Führung der
russischen
Armee
in
eine
derartige
Aufregung
versetzen
könnte,
dass
sie
beschließt, ein Exempel zu statuieren und die Berliner Journalisten für die
Verbreitung der Verleumdungen über die russischen Militärs hart zu bestrafen.
Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass hinter der Maßnahme nicht die oberste
Militärführung, sondern die beleidigte Person des Generals Tottleben steht und es
sich hier folglich um einen privaten Racheakt geht.
48
Denn gerade dem General
Tottleben widmen die Berliner Zeitungen ihre bösesten Zeilen: er wird als
undankbarer „Avanturier“ (Abenteurer) gebrandmarkt, der gewissenlos all die
48. Wie üblich versteckt sich Tottleben hinter einem Befehl von Fermor. Er berichtet Fermor aus
Berlin am 10.10.1760 zwar , dass er die hiesigen Zeitungsschreiber morgen mit Spießruten bestrafen
wird. Aus dem Kontext seines Rapports kann man jedoch nicht mit Bestimmtheit darauf schließen,
dass die geplante Bestrafung tatsächlich auf den Befehl von Fermor erfolgt (vgl. Korobkov, S. 688).
68
Wohltaten verachtet hat, die er vom preußischen König genoss.
So schreiben die „Berlinische Nachrichten“ am 02.Oktober 1759: „Aus Pommern
und der Neumarck, lauffen posttäglich betrübte Nachrichten von denen Excessen
ein, welche eine gewisser Lieutenant von Brincken, mit ein paar hundert
Cosacken, an den Gräntzen dieser beyden Provintzen angerichtet. Er giebt vor,
von dem General Tottleben, dem bekannten Avanturier, der, nachdem er so viele
unverdiente Gnade von Sr. Königl. Majestät genossen, nunmehro zu Dero Feinden
übergegangen, und sich durch die Verwüstung Ihrer Länder hervor thut, beordert
zu seyn, Pommern und die Neumarck, unter Contribution zu setzen. Unter diesen
Vorwand raubet er aus a l l e n Dörfern, wo er nur hinkommen kan, alles Vieh,
Pferde und Sachen, und sobald ihm Truppen entgegen geschickt werden; so
retiret er sich nach Pohlen. Hiebey werden solche unmenschliche Grausamkeiten
ausgeübet, welche selbst die Feinde nicht werden billigen können.. . “ ( D u w e ,
S . 5 7 ) . Hat der General Tottleben, als er am 03.Oktober „des Morgens im Dorfe
Britz im Predigerhause Caffe getruncken“ hat, zufällig diese alte Zeitung in seinen
gehabt?
Händen
Jedenfalls
vermutet
Probst
Süßmilch,
dass
eben
sie
den
Zeitungsschreibern zum Verhängnis geworden ist: „Die Zeitungs Schreiber wurden
auf den Sonnabend arretiret und solten den Sontag durch 1000 Mann auf dem
neuen Marckt Spieß Ruthen lauffen...Der Cabinets Artickel vorigen Jahres, den
Todleben einen Aventurier genant worden, hat ihnen dieses vermutlich zugezogen“
(S.44f).
49
Am 10.Oktober gegen 17.00 Uhr werden der Buchhändler und der Herausgeber
der
Vossischen
konkurrierenden
Zeitung
Voß
Verlagshauses,
sowie
der
ein
Haude-
Handlungsbevollmächtigter
und
Spenerschen
des
Buchhandlung,
namens Wever inhaftiert und zur russischen Stabswache gebracht. Am nächsten
Morgen wird den Gefangenen die Aufgabe erteilt, eine Aufstellung von sämtlichen
Zeitungsartikeln zu schreiben, die gegen den Russischen Hof sowie die Höfe der
Alliierten in ihren Zeitungen bis dato erschienen. Anhand dieser Aufstellung werden
49. Probst
Süßmilch
schließt
sich
offensichtlich
der
Meinung
an,
die
die
Bestrafung
der
Zeitungsschreiber als kleinlich verurteilt: „Viele urteilten, daß man dergleichen Kleinigkeiten bey einer
glücklich ausgefallenen expedition großmüthig hätte übersehen sollen...“(S.46)
69
die Autoren, der alte, „seit vielen Jahren beständig kränkliche“, Krause und
„Candidatus Theologie“ Coli von der Haude- und Spenerschen Buchhandlung sowie
Kretschmar von der Vossischen Buchhandlung, geholt. Die Arbeitgebervertreter
dürfen danach gehen, die unglücklichen Zeitungsschreiber werden unter die Augen
Tottlebens vorgeführt. „Se. Excellenz...wendete sich lachend zu den Arrestanten
und sagten zu ihnen: Ihr Herren! Ihr habt euch über unsere Expedition lustig
gemacht, man wird euch ein bischen durch die Spitzruthen lauffen lassen, um
euch das kitzelnde Blut abzuzapfen.“ (Duwe, S.56) Es ist bezeichnend, dass
Tottleben, dem die Ehre Ihrer Kaiserlichen Majestät, Zarin Elisaveta, angeblich
dermaßen am Herzen liegt, die Hauptsünde der Zeitungsschreiber demnach in dem
Auslachen seiner Expedition sieht.
Daraufhin brechen die Zeitungsschreiber, die die Feigheit der Intellektuellen aller
Zeiten gegenüber physischer Gewalt und Schmerz teilen, in „vieler tausend“
Tränen aus. Der alte Krause schiebt „seine Perruque etwas zurück“, damit
Tottleben „seine eysgrauen“ Haare erblicken kann (Duwe, S.57). Doch das Flehen
der Unglücklichen, das ein Herz aus Stein zum Schmelzen bringen könnte, macht
auf den Grafen Tottleben keinen Eindruck. Seine Reaktion äußert er mit einem
Befehl gegenüber dem diensthabenden Offizier: „Fort mit ihnen auf die HauptWache“!
Und die Gefangenen werden zur Wache gebracht, wo sie unter den etwa
dreihundert Russen, die wegen unterschiedlicher Dienstverfehlungen, hauptsächlich
wegen der Säuferei, inhaftiert sind und „mit welchen man kein Wort sprechen
konnte“(ebenda), auf ihre Bestrafung warten müssen. Hier versuchen sie sich
gegenseitig damit zu ermutigen, „daß sie wegen der gerechten Sache ihres
Großen Monarchen, ihres geliebten Friederichs, Schmach und Todesangst, ohne ihr
Verschulden, aus stehen müssen.“(ebenda) Doch die erhabenen Gedanken können
sie kaum über die Realität hinweg trösten:“Die blessirten winselten über ihre
Schmertzen, die Besoffenen wurden geknebelt und gebunden, sie brüllten wie das
Vieh, fast alle Stunden geschahen in der Officier Stube Stock-Executiones zu 50 ja
offt zu I00 Schlägen, und der Gestanck von Tobacks Rauche, Branntwein und
andern noch häßlichern Ausdünstungen, war unerträglich“ (ebenda).
70
Unterdessen verbreitet sich in der Stadt die Nachricht über die Inhaftierung der
Zeitungsschreiber. Auch Ernst Gotzkowsky erhält die Kunde davon und eilt
„ nochmals des Abends nach 9 Uhr zu dem Graf von Tottieben, eben als derselbe
zu Bette gehen wollte“ mit der „ängstlichen“ Bitte „diese Leute nicht zu
prostituiren“(Duwe, S.67). „Bedenken und erwegen Ew. Excellenz , - wendet er
sich an den müden Tottleben, einmal diese Handlung, die da vorgenommen
werden soll. Diese Leute sind ganz unschuldig an dem, was in der Zeitung
gestanden haben mag; und welches die Russen so erbittert, haben sie keinen
Antheil. Es hänget das Zeitungswesen nicht bloß von ihrer Willkühr ab, sondern es
muß solches allemal die Censur paßiren; überdieß so sind wir ja alle Menschen,
die stets Fehlern unterworfen sind, und dann so ist auch nicht beständig Krieg,
und die gegenwärtig Lage der Sache kann sich auch gar bald ändern, daß dahero
dieser Vorfall und Beschimpfung an einem oder dem andern rußisch-kaiserlichen
Unterthan, der eben so unschuldig ist wie diese Männer, hinwieder gerächet
werden könnte; sollte sodann rußischer Seits nicht ein solches Verfahren für eine
Grausamkeit betrachtet werden?“(Duwe, S.68).
Mit
seinen
Argumenten
behält
Gotzkowsky
Recht:
sicherlich
über
welche
persönliche Verantwortung der Journalisten kann man in einem Staat reden, wo es
keine Pressefreiheit gibt?
„Auf diese Reden sähe mich der Graf von Tottieben starr an,“ -berichtet
Gotzkowsky. Er müsse „ die Sache noch beschlafen“, lautet seine Antwort, mit der
er den Berliner Unterhändler an diesem Abend entlässt ( ebenda).
Bereits „ um 4 Uhr des angegangenen Morgens“ steht der unermüdliche
Gotzkowsky schon wieder vor dem Bett des Generals. Diesmal versucht er mit den
Schmeicheleien den Grafen von seinem Vorhaben abzureden: <ich> „fragte ihn:
ob, n a c h einer gehaltenen guten Ruhe, ihm ein guter Engel nicht andere, als am
vorhergehenden
Arrestanten
Tag
gehegte,
vor
gegen
hätte?“(ebenda).
eingeflöset
Hauptstadtbezwinger
Gesinnungen
so
viel
Beharrlichkeit,
die
armen
Schließlich
50
er
gibt
unschuldigen
kapituliert
der
Gotzkowsky
seine
50. Gotzkowsky ist nicht der einzige, der sich für die Freilassung der Zeitungsschreiber engagiert,
wohl aber der hartnäckigste Bittsteller.
U.a. setzen sich der kursächsische und königlich polnische
71
endgültige Antwort in dem Sinne, dass er zwar „von seiner habenden Ordre“
„absolut nicht abgehen“ will, „ jedoch wollte er sie dahin moderiren, daß zwar die
Zeitungsschreiber vor die Gasse, welche zum Spitzruthenlaufen bestimmet worden,
geführet, sie aber von dem Laufen selbst pardoniret werden, und sie blos einen
Verweis ihrer anzüglichen Schreibart wegen erhalten sollten.“ (ebenda). Und so
geschieht es später auch.
Unter dessen genießen die inhaftierten Schreiber keine „gute Ruhe“ in dieser
Nacht: „Die Jammernacht zwischen dem 11 ten und dem 12 Octbr.: ward von den
drey Gefangenen unter den fürchterlichsten Gedanken von ihrem Schicksal zurück
gelegt. Des Morgens, kurz nach 7 Uhr öffnete man die Thüre der Officier-Stube
und ein Gefreyter kündigte ihnen an, ihm zu folgen“ (Duwe, S.57). Unter
Bewachung werden sie zum Königlichen Schloss gebracht. Hier, vor dem Portal
des Schlosses, müssen sie lange stehen bleiben: nicht alle von ihnen wollen als
Helden in die Geschichte des Berliner Zeitungswesens eingehen. Der Theologie
Kandidat Coli entscheidet in letzter Minute, dass es doch viel zu viel für ihn wäre,
sogar
„wegen der
gerechten Sache
des Großen Monarchen,
des geliebten
Friederichs“ verprügelt zu werden und überschüttet den begleitenden russischen
Offizier mit seinem tränenden Flehen. Er denunziert den Greis Krause als
Haupttäter und behauptet, „daß er bloß dem alten kränklichen Krausen bey seinen
schwächlichen Umständen im Zeitungs-Wesen an die Hand gehe...“(ebenda)
Schließlich gelingt es ihm sich aus der Sache auszuweinen: er wird zurück zur
Wache geschickt, wo er zu seiner Freude weiterhin „den Gestanck von Tobacks
Rauche“ und die „häßlichen Ausdünstungen“ einatmen darf.
Die beiden anderen Täter sollen nun hinter einem russischen Bataillon bis zu dem
Neumarkt marschieren, wo die Exekution stattfinden soll. Unterwegs spielen sich
rührende Szenen ab: „Auf dem Wege nach den Executions-Platze merckten die
beyden Gefangenen in ihrer Todesangst, daß es in Berlin noch Hertzen giebt, die
durch das Elend der Unglückseligen zärtlich gerührt werden. Die Zuschauer dieses
Trauerspiels in den Fenstern, und auf den Straßen ließen ihr Christliches Mitleiden
durch traurige Mienen, und durch Zusammenschlagung ihrer Hände, deutlich
Resident Sternickel sowie weitere angesehene Bürger dafür ein.
72
spüren“ (Duwe, S.58).
Das Trauerspiel erreicht seinen Höhepunkt in dem Auftritt auf dem Neumarkt. Es
wird eine Gasse formiert, „welche von der Wache auf dem Neuen Markte bis an
das ehemalige Müllerische Hauß reichte, und den Soldaten wurden Spitzruthen
ausgetheilt. Man führte die beyden Gefangenen an den Eingang dieser Gasse. Der
Zeitungs-Verfasser Krause glaubte, daß man ihm, in Betrachtung seines hohen
Alters und seiner kränklichen Umstände, wenigstens verstatten würde, in seiner
gewöhnlichen Kleidung durch die Spießruthen zu gehen, und er machte sich dazu
bereits fertig; allein der Officier rief: Herunter mit den Kleidern und mit den
Hemden! Der Vossische Zeitungs-Verfasser Kretschmar fragte: Ob den auch die
Unterhemden müßten ausgezogen werden, und erhielt zur Antwort: Ja, der gantze
Leib muß entblößt sein! Da der alte Krause wegen des Schreckens, und seiner
schlechten Gesundheit, nicht zeitig genug mit dem Ausziehn fertig werden konnte,
schrye ihm ein Officier zu: Canaille hurtig! Nicht solange gezaudert! Grade zu
dieser Zeit, als die beyden Gefangenen anfingen sich auszuziehen, kündigte ihnen
der commandirende Major den Pardon mit folgenden Worten an: Ihro Majestät die
Kayserin, haben den beyden Arrestanten die Straffe des Spießruthen laufens aus
angestammter Huld allergnädigst erlassen, doch unter der ausdrücklichen Warnung,
sich wohl vorzusehen, daß sie weiter nichts wieder Höchstdieselben schreiben
sollten, weil sonst der Galgen ohnfehlbar ihr Lohn seyn wird“ (ebenda).
Danach finden die feierliche Verbrennung der alten Ausgaben der Berliner Zeitun51
gen,
der Rückmarsch zur Wache über die ganze Stadt statt...usw. bis endlich
„der Herr Major in der Officier-Stube“ „die Arrestanten hinein fordern <ließ> und
sprach zu ihnen: Sie sind völlig frey, und können gehen, wohin sie wollen!
Hiermit endigte sich dieser traurige und schreckliche Aufzug“ (Duwe, S.59).
Anton Kersnowskij, der in seiner „Geschichte der russischen Armee“ diese Episode
streift, meint, dass die Bestrafung der „Gazettiere“ nicht sonderlich wirkungsvoll
51. Bemerkenswert, dass einige Berliner Autoren, deren Werke in Flammen aufgehen, wie z.B. der
von der Bestrafung verschonte Professor Ugli, sich später damit rühmen werden. Für den Professor
ist die Verbrennung der Zeitungen mit seinen Artikeln ein Beweis dafür, wie ernst seine Schriften
von den feindlichen Mächten genommen werden.
73
blieb, denn „Diese Maßnahme hat sie (d.h. Zeitungsschreiber) kaum zu den
besonderen
Russlandliebhaber
gemacht...“(
Kersnowskij,
S.108,
Sprache-rus.,
Übersetzung des Autors). Das sicherlich nicht, dennoch war der Effekt der
Inszenierung, die General Tottleben auf dem Neumarkt in Berlin veranstaltet hat,
gewaltig und von langer Nachwirkung. „Damit hatte sich Tottleben Respekt
verschafft...“,- stellt Manfred Schort fest (Schort, S.280). Sogar nachdem sehr viel
Zeit vergangen ist, sind die Berliner Zeitungsschreiber immer noch zu feige, sich
mit den Kriegsthemen auseinander zu setzen. Selbst die Besetzung Berlins wird
„erst sehr viel später“ in den Zeitungen „überhaupt erwähnt und nur in Form
eines offiziösen Berichts“ (Duwe, S.55). Herman Granier zitiert einen Zeitgenossen,
der diesbezüglich lamentiert: „Es scheint, das wir nicht den Mut haben, von
unserem Unglück zu sprechen" (Granier, S.130). In diesem Sinne hat sich das
Antiverleumdungsverfahren von Tottleben glänzend bewährt.
Was in Berlin (nicht) zerstört wurde
Die Instruktionen, die er bekommen hat, verpflichten Tottleben die Kriegswirtschaft
der
preußischen
Hauptstadt
zu
zerstören.
Er
soll
alle
Waffenlager
und
Rüstungsbetriebe der Stadt gänzlich verwüsten sowie alles, was für die Versorgung
der russischen Armee nötig ist, beschlagnahmen. In Abhängigkeit von der
Abstammung
der
Geschichtsschreiber
werden
General
Tottleben
und
seiner
Besatzungstruppe unterschiedliche Zeugnisse für ihre Zerstörungsarbeit ausgestellt.
Während die Deutschen die Umsicht Tottlebens loben, die darin zum Ausdruck
kommt, „ daß er seine ihm erteilten Befehle mit größter Schonung f ü r die Stadt
und ihrer Bewohner ausführte“ (Duwe, S. 41), sehen die russischen, und
insbesondere die sowjetischen, Historiker in diesem Zusammenhang oft die Zeichen
des Hochverrats.
52
52. Für Dmitrij Masslowski „genügt schon der Hinweis darauf, dass die ganze Bevölkerung Berlins
Totleben stets dankbar blieb“ (Masslowski, S.254) um Tottleben als Saboteur der russischen Sache
anzuprangern. Neben der Geldgier unterstellt er Tottleben auch die Ergebenheit in die Interessen
74
Am 11.Oktober versuchen die Russen, die Pulvermühlen in der Jungfernheide zu
sprengen. Die Sprengung endet in einem Desaster: ein mit ca. vierzig Tonnen
Pulver
beladenes
Sprengungskommando
Trockenlager
fliegt
in
die
Luft
und
das
ganze
fliegt mit. Mehrere Soldaten sterben. Andere erleiden
schwere Verletzungen. Die Wucht der Explosion erschüttert die Stadt. Eine
Scheune geht im Flammen auf. Doch die schwersten Verluste für die Mühlen
selbst entstehen nicht durch diese missglückte Sprengung, sondern durch die
Konfiszierung der bei der Produktion eingesetzten Pferde. Nachdem diese ersetzt
werden, können die Mühlen ihre Arbeit wieder aufnehmen. Das geschieht in etwa
einem Monat nach dem Abzug der Besatzer.
Im Gießhaus werden die Öfen zerstört und die Gießmeister weggeschleppt.
Allerdings vergisst man, die Gesellen mitzunehmen. Mit ihrer Hilfe wird die
Produktion nach etwa zwei Monaten wiederaufgenommen, ein Beweis dafür, dass
die berufliche Ausbildung damals sehr gut gewesen sein soll.
53
Das Gießhaus-
Gebäude wird nicht zerstört: es steht zu nah an den Wohnhäusern und nach dem
unglücklichen Versuch, Pulvermühlen zu sprengen, geht man mit dem Sprengstoff
vorsichtiger um.
Auch die Münze wird nicht zerstört, lediglich die Maschinen werden beschädigt.
Die Beseitigung der Schäden gelingt hier in einer Rekordzeit: schon in weniger als
zwei Wochen nach dem Abzug der Besatzer läuft die Produktion in der Münze
wieder.
Das Zeughaus wird geplündert. Die dort befindlichen Waffen haben schon damals
einen primär musealen Wert. Es ist überliefert, dass der pragmatisch denkende
preußische König, der sich nur für die im Krieg einsetzbaren Waffen interessiert,
die Ausräumung des Zeughauses nicht als großen Verlust empfindet. Auch Fürst
seiner Stammesgenossen, der Deutschen: „wo es irgend einging, beobachtete Tottleben nur die Form
der Ausführung der von ihm erlassenen Verordnungen, wobei er seine eigenen persönlichen und die
deutschen Interessen in den Vordergrund stellte“ (Masslowski, S.257).
53. In seinem Bericht an Fermor über die Verwüstung des Gießhauses prophezeit Tottleben etwas zu
optimistisch, dass „keine einzige Kanone in Berlin in den nächsten zwei Jahren gegossen werden
kann“ (Korobkov, S.693, Sprache-rus. Übersetzung des Autors).
75
Prozorowskij, der kurze Zeit später diese auf zwei Fuhrwerken beladenen Trophäen
nach Sankt Petersburg bringt, ist nicht der besten Meinung über ihren Wert
( Prozorowskij, S. 71), obwohl er für diese Mission und auf Empfehlung von
Tottleben, dessen Name damals beim Hofe sehr hoch im Kurs steht, zum Oberst
befördert wird. Schließlich finden die Gegenstände aus dem Zeughaus ihren Platz
dort, wo sie hingehören, nämlich in Museen: die damals geraubten Fahnen z.B.
sieht man heute in der Peter-und-Paul-Festung in Sankt Petersburg.
Die Mehrzahl der Waffen wird allerdings erst gar nicht mitgenommen, sondern von
den Soldaten an die Bevölkerung verkauft. Auf den Straßen Berlins entsteht ein
reges Handeln, für ganz wenig Geld kann man sogar eine Kanone für den
Haushalt kaufen.
Ebenfalls an die Bevölkerung werden Gegenstände aus den zwei Montierungskammern
und
das
Salz
aus
dem
verkauft.
Salzlager
Es
ist
also
nicht
verwunderlich, dass aus einer relativ kleinen Besatzungstruppe gleich mehrere
hundert
Säufer
bei
der
Hauptwache
(siehe:
landen
die
Geschichte
der
„Gazettiere“): die gemeinen Soldaten sind an diesen Tagen gut bei Kasse.
Nach dem Ende der Besatzung werden die Bürger „durch Trommelschlag“
(Granier, S. 144) aufgefordert, die gekauften Sachen zurückzugeben. Der Kaufpreis
wird
zurückerstattet.
Manche
folgen
Aufforderung,
der
manche-nicht.
Die
entstandenen Schäden halten sich dennoch in Grenzen.
Viel mehr geht durch die Requirierung der Pferde verloren, die Pferde werden von
überall her geholt, so bleibt z.B. das Königliche Schloss unversehrt bis auf den
Marstall, der wird leer geräumt. Auch viele Privatpersonen büßen ihre Pferde,
Gespanne,
Pferdegeschirre
Armeelieferant,
entstandene
dem
Schaden
sein
ein.
ganzes
von
57000
Doch
der
härteste
Fouragemagazin
Talern
wird
Schlag
beschlagnahmt
ihm
nie
trifft
einen
wird.
ersetzt,
da
Der
die
Militärbehörde seine Waren vor der Requisition noch nicht abgenommen hat.
Die
Berliner
Tuchfabrik
und
die
Gold-
und
Silbermanufaktur
rettet
Ernst
Gotzkowsky vor der Zerstörung. Angeblich überzeugt er Tottleben, die Betriebe zu
verschonen, mit dem Argument, dass die Gewinne aus ihnen in ein Waisenhaus in
76
Potsdam fließen und nicht in die königlichen Kassen. Tottleben zeigt sein Herz für
die Waisen und streicht die Unternehmen von der Liste der Betriebe, die „gänzlich
verwüstet“ werden sollen, obwohl beide auch für den Kriegsbedarf produzieren. Es
ist nicht überliefert, ob in diesem Fall neben den Worten auch Schmiergelder
fließen. Der „üble Ruf“ Tottlebens lässt allerdings immer wieder vermuten, dass er
für seine Milde kräftig entlohnt wird: Dmitrij Masslowski hat
beispielsweise
„...keinen Zweifel darüber, dass Tottleben bei seiner Expedition nach Berlin
bedeutende eigene Geldgeschäfte machte...“ (Masslowski, S.257)
Zu den seltsamsten Einfällen der Besatzungsmacht gehört der Versuch, die
Berliner, an die man gerade Kanonen verkauft hat, zu entwaffnen: „kurtz vor
ihrem
Außmarsch
muste
die
Bürgerschaft
ihr
Gewehr
an
den
Lustgarten abgegeben werden...“(Duwe, S.77). Das hat nicht nur
Rußen
im
Murren unter
den Einwohnern hervorgerufen, die nach dem Abzug der Besatzer zurecht
befürchtet haben, den Marodeuren zum Opfer zu fallen. Es ist auch kurz vor dem
Abzug schlicht
nicht realisierbar. Schließlich wird ein Haufen Schrott eingesammelt
und in der Spree versenkt. Kaum sind die Besatzer aus dem Staub, werden die
meisten Gewehre aus dem Wasser geholt und wieder funktionstüchtig gemacht.
Alles in allem verdient die Verwüstungsleistung der Besatzer höchstens die Note
„befriedigend“: nach dem Ende der Besatzung erholt sich die Industrie der Stadt
schnell und es wird weiter fleißig für den Krieg produziert.
General Tottleben in der Rolle des Ordnungshüters
Wie sicher ist das Leben in der eroberten Stadt? Die Instruktionen, die Graf
Tottleben erhalten hat, sowie die Kapitulationsbedingungen verpflichten ihn, für die
Sicherheit der Bürger zu sorgen. Diesen Teil seiner Aufgabe erfüllt der russischer
General viel besser, als den, die Kriegsindustrie der Stadt zu zerstören.
54
Die
54. Als später Tottleben von den Ermittlern in seiner Sache vorgeworfen wird, dass er in Berlin nicht
genug für Ordnung gesorgt hat, unterweist Friedrich seinen Botschafter in Sankt Petersburg ihn von
77
Zeitgenossen
bezeugen
übereinstimmend,
dass
die
Disziplin
in
den
in
der
Hauptstadt stationierten Einheiten der russischen regulären Armee, im Unterschied
zu den Österreichern, auf einem hohen Niveau gehalten wird. „Man lobt allgemein
die Russen vielmehr als die Österreicher,- notiert Graf Lehndorff in seinem
Tagebuch (Lehndorff, S. 133). Und Probst Süßmilch schreibt: „Es ist nicht zu
leugnen, daß an vielen abgelegenen Orten der Stadt, die depudirten sollten
geplündert und in die Häuser eingedrungen seyn, die nicht verschlossen gehalten
wurden. Mann kann es aber nicht auf die Rechnung des Generals Totleben
setzen, weil er gleich überall Wachen ordnete, wo sie verlanget wurden. Indem
nun die Oesterreicher sich einquartiret hatten, unterblieben die Excesse auch nicht,
doch ward auch Hülfe geleistet, so bald Leim entstand, daß also dadurch gröbere
Ausbrüche und allgemeine Plünderungen verhütet wurden. Überhaupt aber zu
sagen, so ist es in dem von den Rußen occupirten Theil ordentlicher zugegangen
als in dem Oesterreichischen...“ (Wilke, S.33).
Auch die Verdienste des neuen Berliner Kommandanten werden nicht vergessen:
„Der Brigadier von Bachmann ward zum commandanten bestellet, der dem auch
ohnentgeltlich Salvegarden abfolgen ließ, so daß deren wol ein paar Tausend
mahlen vertheilet worden seyn, wie denn auch sonst der HE. Brigadier alles
mögliche gethan was zur Erhaltung guter Ordnung nöthig war.“ (Wilke, S.32).
Die Verletzungen der Disziplin werden streng gehandelt, und zwar ohne Rücksicht
auf den Rang des Schuldigen. Auch Offizieren wird keinen Pardon gegeben. „Die
ertappeten Marodeurs sind auch auf das härteste bestrafet worden...,- bezeugt
Probst Süßmilch. Ein anderer Augenzeuge erzählt: „im währenden Außmarsch
nahm ein Ruscher Officier von der Infantery einen Bürger auf der Straße den
Rocklohr von Leibe weg dieser mann meldete es bey den Ruschen CHeft sogleich
wurde dieser Officir auf den Rücken gebunden sein Pferd hinter ihm angebunden,
und auf jeder Seite des Officir einen Hund, angebunden mit dieser Viehischen
begleichtung muste er die gantze Stadt durchgehen, und der Mann bekam seinen
Rocklohr wieder dieses war des Sonntages nachmittags um 4 Uhr...“(Duwe, S.77).
diesem Anklagepunkt zu entlasten.
78
Streng zu den eigenen Soldaten, ist General Tottleben für die Bürgerschaft
zugänglich und zuvorkommend: „Überhaupt muß jedermann die Höfflichkeit des
HE. Generals von Totleben rühmen, wie er denn auch sogleich nach der ersten
Unordnung seine alte Bekanten, selbst unter den Bürgerstande aufsuchte, und sich
gütig gegen sie erklärte“ ( Wilke, S.38).
Dennoch fühlen sich viele Bürger in der Hauptstadt während der Besatzung
unsicher und verlassen ihre Häuser nur, wenn es unbedingt nötig ist. Trotz aller
Beteuerungen des Grafen Tottleben, dass das Leben in Berlin seinen gewöhnten
Lauf weiter gehen kann, als ob nichts passiert ist, bleiben die Kirchen am Sonntag
geschlossen: “Da man aber doch von eintzelnen unartigen Personen Stöhrungen
besorgen muste, niemand auch leicht sein Haus verließ so ward in den meisten
Kirchen der sontägliche Gottesdienst und alles Geläute eingesstellt“ (Wilke, S.38).
Die psychische Belastung, der die Einwohner der okkupierten Stadt ausgesetzt
sind, entlädt sich bei Gelegenheit in
regelrechten Panikattacken. Die unglückliche
Explosion des Pulverlagers, die die Stadt erschüttert, versetzt manche Berliner
wieder in Angst und Schrecken. Darüber erzählt Fürst Prozorowskij in seinen
Erinnerungen folgende Geschichte. Prozorowski wird im Haus eines reichen
französischen
Kaufmanns
„von
den
aus
Frankreich
aus
Glaubensgründen
vertriebenen und in Preußen aufgenommenen Reformatoren, die unter dem Namen
refugee bekannt sind“ „am Platz gegenüber dem königlichen Schloss“ ( vermutlich
an der Schlossfreiheit) einquartiert. Der Besitzer des Hauses ist zu dieser Zeit
geschäftlich abwesend. Seine Frau bleibt allein im Hause und sorgt für ihren
russischen Mieter, der bei ihr in Kost ist. Als Prozorowskij am Tag der Explosion
nach Hause kommt, spielt sich folgende Szene ab: Die Frau des Hausbesitzers
„traf mich auf der Treppe völlig verzweifelt und in Tränen aufgelöst und lud mich
zuerst in ihr Zimmer ein, wo sie mich um zwei Soldaten bat, um sie nach
Friedrichstadt zu begleiten. Ich wunderte mich und sagte ihr, dass ich den Grund
nicht nachvollziehen kann, warum sie ihr Haus verlassen möchte, denn wenn sie
um ihre Sicherheit besorgt ist, so ist doch meine Einquartierung bei ihr die
bestmögliche
Garantie
ihrer
Sicherheit.
Sie
antwortete
lediglich
mit
einem
tränenden Flehen, ihr Leben im Tausch gegen ihr ganzes Hab und Gut zu
verschonen. Obwohl ich ihr sagte, dass ich ihren Besitz nicht brauche, sie bleibt
79
ohnehin gesund und wohlauf. Die Angst hat sie jedoch so gepackt, dass sie sich
mit meinen Zusicherungen nicht zufrieden gab, sie führte mich zum Kruzifix und
bat mich, beteuernd, dass sie mich für einen Christen und ehrlichen Menschen
hält, <vor dem Kruzifix> zu schwören, das sie nicht umgebracht und nicht
verbrannt werden. Dabei bot sie mir andauernd ihren Besitz an. Ich versicherte
ihr mit allen möglichen Beteuerungen, um sie zu beruhigen, dass die Gerüchte,
dass sie umgebracht werden, sich als purer Unsinn erweisen werden. Sie werden
nicht nur am Leben bleiben, sondern es wird auch um ihre Sicherheit gesorgt und
es ist nicht erlaubt, ihnen irgendetwas außer der Kontribution wegzunehmen.
Diese Beteuerungen beruhigten sie schließlich.“(Prozorowskij, S.70, Sprache-rus.
Übersetzung des Autors)
Nur ganz am Ende bekommt das fast perfekte Bild der Disziplin und Ordnung
während der Besatzung ein Paar Kratzer. In der Nacht vom 12 bis auf den 13
Oktober sind die Hauptkräfte der Alliierten bereits weggezogen. Nur eine kleine
russische Einheit unter Hauptmann Schischkow bleibt noch in der Stadt. Die
Deserteure und sich extra von ihren Einheiten entfernten Marodeure machen diese
Nacht in der Stadt zu der unruhigsten während der ganzen Besatzungszeit. Die
zurückgelassene Truppe wird bei ihrem Versuch, die Sicherheit der Bürger zu
gewährleisten etwas überfordert.
Den Berlinern bleibt nur diese einzige Nacht in Erinnerung. Viel schlimmer geht es
den Einwohnern des Berliner Umlandes. Sie sind der marodierenden Soldateska
während der ganzen Zeit der Belagerung und der Besatzung praktisch ausgeliefert.
Die Liste der von den Plünderern heimgesuchten Dörfer ist lang. Nicht nur
Raubdelikte, sondern auch rücksichtsloser Vandalismus werden den Truppen der
Alliierten zur Last gelegt. Die Verwüstung des Charlottenburger Schlosses und des
Schlosses Schönhausen wird Friedrich härter, als sonstige Verluste treffen. Als
Vergeltung
dafür
verordnet
er
die
Zerstörung
des
sächsischen
Schlosses
Hubertusburg, eine Maßnahme, die damals allgemeine Empörung hervorruft. Auch
das Schloss Friedrichsfelde, wo Graf Tschernyschew selbst logiert, ist nach dem
Abzug der russischen Truppen vorerst unbewohnbar.
An den Raubzügen nehmen, neben den Österreichern und den Sachsen, die
80
Irregulären der russischen Armee, die Kosaken und die Husaren, die gemäß den
Kapitulationsbedingungen nicht in der Stadt stationiert sind, teil. Nicht nur Geld
und Sachen werden geraubt, sondern auch das Vieh. Dieses wird später in der
Stadt für wenig Geld verkauft. Die Berliner profitieren gewissermaßen davon, dass
55
das Berliner Umland „bluten soll“ : „Das zusammengetriebene Vieh ...ward für
eine Kleinigkeit an einen jeden ohne Unterschied verkauft, daher es Berlin, noch
zur Zeit nicht daran mangelt“(Süßmilch in: Wilke, S.43 ). Auch sonstiges Raubgut
findet bei den Hauptstädtern einen reißenden Absatz:„bey ihren (d.h. den Russen)
ein Marsch hat mancher genung Profetir von daß Raub Guth welches sie ihr
verkauften“ (Duwe, S.77)
Das Russenbild
Nicht erst mit der Loveparade wird Berlin zur Eventmetropole Deutschlands. Auch
im XVIII. Jahrhundert versammeln sich Mengen von Schaulustigen auf den
Straßen der Hauptstadt, um die großen Ereignisse wie den Einmarsch der Russen
zu feiern:„...der Zulauf der Menschen bey ihren ein und auß Marsch war der
Berlinischen Gewohnheit gleich...“, stellt ein Augenzeuge fest (Duwe, S.77). Und
der Berlinbezwinger General Tottleben erteilt den Berlinern sein Lob für ihre
Freimütigkeit und ihre Wissbegierde: „Übrigens muß man den Berlinern zum
Ruhme nachsagen, daß sie ungemein beherzt sind. Als ich in die Stadt einrückte,
so waren mehr Bürger als Soldaten da, die durch die Glieder der Truppen
ungestört und ganz freimütig spazierten"(Duwe, S.45).
Zuvor hat Berlin die Russen nur vereinzelt in der Menge von Kriegsgefangenen
gesehen, nun kommen sie als Besatzer in die Stadt. In ihrer neuen Rolle sind sie
dafür prädestiniert, von allen Seiten auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden.
55. Der Ausdruck von Georg Duwe, der das entsprechende Kapitel seines Werkes mit dem Titel
versieht „Auch Berlins Umgebung muss bluten“(S.66).
81
Welchen Eindruck machen sie als Menschen auf die neugierigen Hauptstädter? Die
Aufzeichnungen des Probstes Süßmilch sind in diesem Zusammenhang besonders
aufschlussreich. Denn darin bemüht sich der Verfasser, ein Forschergeist und
Mitglied der Akademie der Wissenschaften, unvoreingenommen, objektiv und
kritisch zu urteilen. Das macht seine Beobachtungen zu einem interessanten
Dokument der Kulturgeschichte.
Die auszeichnende Besonderheit der russischen Soldaten, die den Probst besonders
beeindruckt, ist ihre Anspruchslosigkeit: „Dieses fliegende Corps war gantz leicht
equipirret und hatte nur pars compagnie 4 Zelte bey sich. Ich habe selbst viele
Staabs= Officiers gesprochen, die nur ihre Pferde und ein paar Hembden bey sich
hatten. Die Infanterie und Cavallerie hat daher grösten theils beständig unter
freiem Himmel und auf den Steinen bey kalten Winde und vielen Regen, der
schon den 8. Octobr anfieng und bis zum 17ten nicht aufgehöret hat, liegen
müßen. Starcke Märsche haben auch geschehen müßen. Die Vorsorge für den
Unterhalt der Leute habe ich auch nicht so wie bey andern Armeen gefunden“
(Wielke, S.44). Trotz unzureichender Versorgung und katastrophaler Unterbringung
unter dem freien Himmel wirken die gemeinen Soldaten der Besatzer zufrieden.
Sie murren nicht, mehr noch: „Sie waren mit allem zufrieden und danckbar“,
zeichnet Probst Süßmilch auf (ebenda). Die Ausdauer und die Geduld dieser
Menschen
bringt
er
mit
einer
Lebenseinstellung
in
Verbindung,
die
alle
Schicksalsschläge mit einem fatalistischen Glechmut annimmt: „Sie sind gehorsam
aus Gewohnheit bis zu den großen Strapatzen, sie sahen es aber auch wohl ein,
daß die wenigsten von ihnen lebendig in ihr Vaterland könten zu rückkomen“
(ebenda). Als ein Sohn des Zeitalters der Aufklärung kann er diese Einstellung
nicht teilen. Die fatalistische Hinnahme der „Strapatzen“ ist in seinen Augen keine
Tugend,
da
unter
diesen
Strapazen
„
Gesundheit
und
Leben
...sehr
leiden“(ebenda). „Das beste ist noch, daß jeder Soldat einen Mantel und Stiefeln
hat, bey den harten Strapazen ist aber solches nicht genug zur Einhaltung der
Gesundheit“(ebenda).
In
seiner
Darstellung
kommt
die
Missbilligung
des
inhumanen Regime in der russischen Besatzungstruppe unmissverständlich zum
Ausdruck.
82
Mit den gemeinen Soldaten der russischen regulären Armee empfindet Probst Süßmilch Mitleid und eine gewisse menschliche Sympathie: „Ich habe unter der
Infanterie
und
gesprochen,
den
die
Salvegarden,
vielen
meisten
von
einem
mit
denen
natürlichen
ich
und
durch
guten
Dollmetscher
Verstande
und
würeklich auch von einem guten unverdorbenen Hertzen gefunden“ (ebenda). Und
auch das hält er für erwähnenswert: „Viele unter ihnen trincken gar nicht Brand
Wein, wenigstens unter dem Moscowvischen Regiment, deren viele aus Casan,
56
300 Meilen hinter Moscau, gebürtig“ (ebenda).
Ganz anders urteilt er über die Kosaken. Er zweifelt sogar, „ob man die Kosacken
..., ich will nicht sagen zu Christen, sondern nur zu Menschen rechnen könne“
(ebenda). Er beschimpft sie als „Ungeheuer in menschlicher Gestalt“ und als
„ Raubgesindel“. In seiner Schilderung haben die Kosaken bei ihren Beutezügen
durch
das
Berliner
Umland
„
nichts
unterlaßen,
was
die
Unmenschlichkeit
ersonnen, und was der Menschlichkeit ein Grausen und Abscheu verursachen
kann“. Und obwohl er nicht leugnet, dass die Husaren der Russen sowie die
Österreicher und die Sachsen den Kosaken als Plünderer kaum nachstehen, ja sie
57
sogar manchmal übertreffen , sind es immer die Kosaken, denen er seine
bösesten Zeilen widmet.
Seine Abneigung gegenüber dieser Spezies geht soweit, dass er sich in der Rolle
eines freiwilligen Beraters der russischen Armeeführung versucht. Er bemüht sich
nämlich den russischen Generälen Augen darauf zu öffnen, dass die Kosaken der
russischen
Sache
zusammenfassen:
nur
erstens,
schaden.
die
Seine
Kosaken
Argumente
sind
im
kann
Krieg
man
nutzlos,
wie
da
sie
folgt
„zu
ordentlichen Angriffen nicht geübet“ sind; zweitens, durch ihre „Excesse“ bringen
56. Dass die Kasaner keinen Wodka trinken, soll nicht weiter wundern, in der Gegend von Kasan ist
es nicht üblich. Hier leben hauptsächlich Tataren und sie sind Moslems.
57. Vgl.dazu der Bericht des Probst Süßmilch über die Plünderung des Charlottenburger Schlosses:
“Von den Oesterreichern und Sachsen hätte man sich solche Barbareien nimmer vermuthet, die nur
alleine ungezähmten Cosacken ähnlich sehen und auch diese haben jederzeit, so gar vor den bloßen
Bildnißen Sr. Maj. des Königes, Respect bezeuget“(Wilke, S.43).
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sie die reguläre russische Armee in Verruf; drittens, indem sie die ganzen
Landstriche ausplündern, nehmen sie die Versorgungsbasis den eigenen Truppen
weg, so dass „die Rußische Armee niemals eine andere Position nehmen <kann>,
als wo sie .. <im Originaltext unlesbar>, völlig sicher hat, und also die Zufuhr
von weitem bekommen kann. Man kann daher auf ihre Operationen leicht einen
Schluß machen“ (Wilke, S.41). Er bekräftigt seine Argumente mit der Berufung auf
„viele unter den Rußischen Officiers Selbsten sonderlich die Deutschen“, die
„gelegentlich ihr Mitleiden und Abscheu < gegenüber den Kosaken> zu erkennen
gegeben <haben>“ und auf „den gemeinen russischen Soldat“: „Der gemeine
Rußische Soldat schimpft daher selbst sehr auf dieses Raubgesindel, weil er
nirgends etwas findet, wo sie gewesen. Schrecken und Verwüstung geht vor sie
her und begleitet sie“(Wilke, S.44).
Warum sind gerade die Kosaken in Preußen so ungeliebt? Sicherlich nicht nur
deswegen, weil sie Fremde sind: an beiden Seiten kämpfen im Siebenjährigen
Krieg internationale Truppen. Ausländer haben einen gewichtigen Anteil bei den
Preußen, die gegen Kriegsende beinah nur aus den Kriegsgefangenen ihre Truppen
rekrutieren. Im österreichischen Heer gibt es viele Ungarn, Polen, Kroaten,
Vertreter von anderen Balkanvölkern, die russischen Husaren werden aus den
Rumänen, Serben, Kroaten und Montenegriner angeworben. Das Offizierskorps
stammt aus fast allen europäischen Ländern. Die anderen Völkerschaften werden
jedoch viel seltener, als die Kosaken, negativ erwähnt. Sicherlich beteiligen sich
die Kosaken an den Plünderungen. Jedoch sind sie hier nicht allein schuldig. Ihre
„Mitgehülfen“ wie die bereits mehrfach erwähnten Sachsen verdienen sich, speziell
in Berlin, ebenfalls einen üblen Ruf als Plünderer. Die Kroaten brechen sogar die
Gräber der Familie Schwerin auf ihrem Landgut auf und berauben die Toten,
solche Ungeheuerlichkeiten werden den Kosaken nicht angelastet. Und trotzdem
werden ausgerechnet die Kosaken zu dem „Raubgesindel“ schlechthin. Warum?
An der Berliner Expedition nehmen hauptsächlich die Donkosaken teil. Seit eh und
jäh sind die südrussischen Steppen, insbesondere die Donregion, ein Sammelpunkt
für die unruhigen Elemente aus ganz Russland. Die ruhigen Menschen sitzen zu
Hause und beugen sich ohne zu murren dem Joch der Leibeigenschaft und der
Tyrannei der Zarenmacht, dagegen fliehen die unruhigen Geiste davon und
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schlagen sich bis zum Don durch, wo sie sich den Reihen des Kosakentums
anschließen. Die Zaren, denen die Verteidigung ihrer südlichen Grenzen gegen die
wüsten Einfälle der Krimtataren am Herzen liegt, sehen sich von alters her
gezwungen, die Privilegien und die Freiheiten der Kosaken anzuerkennen. Das
Wort „Kosak“ stammt aus dem türkischen und bedeutet „freier Krieger“.
Das Leben in der Steppe unter den Bedingungen des ständigen Kampfes formt
einen besonderen Charakter, der dem Charakter der kriegerischen Nomaden eher
ähnelt als dem Charakter der Einwohner der inneren Provinzen des russischen
Reiches. Die Kosaken leben in einer Art Militärdemokratie und gehorchen ihren frei
gewählten Anführern, die sich, wie der Brigadier Krasnoschtschekow, in endlosen
Beutezügen hervortun. Von Kindheit an üben sie den Umgang mit Waffen und
machen sich die Taktik und die Kriegsbräuche der Nomadenvölker zunutze, die
einem aufgeklärten Europäer des XVIII. Jahrhunderts barbarisch erscheinen:
blitzartige Einfälle, Ausnutzung des Überraschungseffekts, Kriegslist, Flucht in dem
Moment, als der Gegner wieder zu Kräften kommt. Diese Steppenreiter sind
unentbehrlich als Kundschafter, als Verfolger des fliehenden Gegners und vor allem
als
Partisanen
im
feindlichen
Hinterland,
die
Fertigkeiten
des
erfolgreichen
Partisanenkrieges saugen sie mit der Muttermilch ein. Der Artikel, der den
Zeitungsschreibern
zum
wird,
Verhängnis
beschreibt
treffend
die
übliche
Vorgehensweise dieser „freien Krieger“ im Feindesland, wobei sie in diesem Fall
von einem Deutschen, dem Tottlebens Adjutant von Brinck, angeführt werden.
Der Hass gegen die Kosaken entsteht auf Grundlage der Gegensätzlichkeit zweier
Lebensweisen und den daraus resultierenden Kulturtypen, dem Kosakentum und
dem
Preußentum.
Süßmilch,
der
Einen
sogar
den
ordentlichen
preußischen
feindlichen
Mächten
Untertan
einen
wie
der
gebührenden
Probst
Respekt
entgegenbringt, trennt von den Kosaken, die „nicht Päße von der <eigenen>
Generalität und die Salvegarden respectiren“(Wilke, S.41), kulturhistorisch gesehen,
eine abgrundtiefe Kluft. Die Feindseligkeit eines Preußen gegenüber den „freien
Kriegern“ ist der Ausdruck seines Unverständnisses für die Menschen, denen die
heiligsten Werte und die moralischen Tugenden des Preußentums scheinbar
vollkommen fremd sind. Die von den Kosaken verübten Gräueltaten tragen zu
dieser Feindseligkeit bei, jedoch nicht primär.
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Respektvoll erlaubt sich Probst Süßmilch die russische Armeeführung dafür zu
rügen, dass sie auf die „Excesse“ vom „Raubgesindel“ durch die Finger sieht:
„Man solte fast schließen müßen daß es der Rußischen Generalität unmöglich sey,
sie in Zucht und Ordnung zu erhalten, indem nicht nur ihre eigene Empfindung
und Ehre, sondern auch die Armee selbst darunter äuserst leidet, weßhalb bei
andern Armeen von den Befehlshabern äuserst dafür gesorgt wird daß der
Landmann in seinem Eigenthum und bei seiner Arbeit bliebe“.
Der Abzug der Besatzer
Der Spuk der Besatzung dauert nur wenige Tage. Bereits am 10.Oktober erhält
Tschernyschew
die
schnellstmöglich
zu
Anweisung
verlassen
des
und
russischen
zu
der
Hauptquartiers,
Hauptarmee
Berlin
zurückzukehren.
Die
Führung informiert ihn über das Herannahen des preußischen Königs mit einer
Armee, die nach russischen Angaben 70000 Mann zählt. Auch Lacy bekommt eine
entsprechende Meldung des österreichischen Hauptquartiers.
Die Nacht auf den 12.Oktober verbringen die Österreicher unter
freiem Himmel:
General Tottleben hat „sein Wort von sich gegeben“, dass er Berlin erst verlässt,
wenn alle Österreicher bis auf den letzten Mann aus der Stadt verschwinden. Die
ersten österreichischen Soldaten brechen zeitgleich mit Panins Infanterie bereits
mit dem Sonnenaufgang auf, die Reiterei, die den Rückzug der Verbündeten
deckt, folgt ihnen am Abend des 12.Oktober. Am Nachmittag gehen auch die
letzten Verbände der Korps von Tschernyschew und Panin weg. Ihre Route führt
nach Frankfurt und der Weg dorthin wird wegen dem riesigen Troß mit dem
Beutegut
ziemlich
beschwerlich.
Den
Schwanz
der
Kolonnen
bilden
4000
Gefangenen. Hunderte von ihnen flüchten im Chaos des überstürzten Abmarsches
und tauchen kurz nach dem Rückzug der Besatzer in Berlin wieder auf. “Von den
gefangenen Soldaten sind einige hundert wieder zurückgekomen, selbst viele
Rußen, denen es hier beßer gefallen“, lesen wir im Bericht von Süßmilch (Wilke,
S.44).
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Gemäß dem Grundsatz „Der Kapitän geht als letzter vom Schiff“ hält sich Graf
Tottleben länger in Berlin auf, als die anderen hochrangigen Kommandeure der
Besatzer. Sein Rückzug vollzieht sich am späteren Abend des 12.Oktober. In der
Nacht auf den 13.Oktober bleibt von den Besatzern nur eine Salvegarde unter
Hauptmann Schischkow zurück in der Stadt: “Den 12ten Octobris war alles
ausmarschiert außer eine Salvogarde von 200 Mann welche das Schloß deckten.“
(Wilke, S.58). Die Russen ziehen ihre Wachen von den Stadttoren ab. Die Tore
werden
von
der
Bürgerwehr
übernommen.
Allerdings
haben
die
von
der
Bürgerschaft aufgestellten Wachen keinerlei Waffen, da diese zu tragen von der
Besatzungsmacht verboten ist. Somit bleiben sie in dieser Nacht gegen die
Marodeure ziemlich hilflos.
In den früheren Morgenstunden brechen die letzten russischen Soldaten in
Richtung Frankfurt auf. „Der Abzug der letzten Rußen am 13.Oktober ging „Gott
sey Dank ohne besondres ab“ (Granier, S.130). Der Spuk ist vorüber. Nun kann
die Hauptstadt aufatmen und ihre Wunden belecken.
Die Besatzer denken nicht an Rückkehr, sie bemühen sich aus aller Kraft um den
Anschluss an die Hauptarmee, die bereits begonnen hat, auf das rechte Oderufer
überzusetzen. „Gegen Mittag kamen wir nach Fürstenwalde, wo wir einen Rast
eingeplant haben um die Pferde zu füttern, jedoch nachdem wir die Nachricht
erhalten haben, dass der preußische König sich Frankfurt nähert und bereits zwei
Tagesmärsche entfernt von Mühlrose war, brachten wir sofort auf und haben uns
derart beeilt, dass an einem Tag zwölf preußische Meilen zurückgelegt wurden.
Und gegen 7.00 Uhr kamen wir in Frankfurt an, nachdem wir die ganze Nacht
marschierten ohne den Truppen Zeit für die Erholung zu geben. Unter anderem
sind wir unterwegs an vielen zurückgelassenen Teilen des Troßes der Korps von
Tschernyschew
und
Panin
sowie
an
einigen
der
Artillerie
vorbeigegangen“,
berichtet Fürst Prozorowski ( Prozorowski, S.71, Sprache-rus, Übersetzung des
Autors).
Unterdessen marschiert Friedrich, der am 06.Oktober 1760 in Dittmannsdorf im
Waldenburger Bergland seiner Hauptstadt zur Hilfe endlich aufbricht, weiter gen
Berlin. Erst am 15.Oktober bekommt er unterwegs in Groß-Muckro bei Lieberose
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die Nachricht zugleich über die Einnahme und über die Räumung Berlins. Er
schwenkt von seiner Route in Richtung Westen ab. Seine Pläne ändern sich, er
will nun den Österreichern eine entscheidende Schlacht in Sachsen geben. Somit
ist das Kapitel über den Streifzug gegen Berlin endgültig abgeschlossen, es bleibt
nur, die Bilanz daraus zu ziehen.
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