der russisch-österreichische Überfall auf Berlin
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der russisch-österreichische Überfall auf Berlin
Wladimir Kusnezow Fünf Tage in der Hand des fürchterlichsten Feindes Die Geschichte des russisch-österreichischen Überfalls auf Berlin im Herbst 1760 unter Einbeziehung sowohl deutscher, als auch russischer Quellen sowie unter besonderer Berücksichtigung der Ereignisse im heutigen Stadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg Am 3.Oktober 1760 erscheinen die russischen Truppen unter dem Kommando des Grafen Tottleben vor dem Kottbusser Tor. Der erste Angriff wird zurückgeschlagen, doch am 9.Oktober kapituliert die Stadt vor der Übermacht des Gegners und wird eingenommen. Die Besatzer räumen Berlin am 13.Oktober, nachdem sie eine Kontribution kassiert haben. Militärisch bedeutungslos, ruft die Einnahme der preußischen Hauptstadt eine breite politische Resonanz hervor. Im Zweiten Weltkrieg wird diese Episode des Siebenjährigen Krieges durch die sowjetische Partei- und Staatsführung propagandistisch ausgenutzt. Inhalt Vorwort Seite 2 Teil 1. Vorausgegangene Ereignisse Seite 4 Teil 2. Über den verunglückten Versuch, die Stadt im Flug zu erobern Seite 21 Teil 3: Berlin wehrt sich Seite 31 Teil 4: Berlin kapituliert Seite 45 Teil 5: Die Besatzung Seite 67 Teil 6: Die Nachwirkung Seite 87 Literaturverzeichnis Seite 1 Vorwort Der Siebenjährige Krieg (1756-1763) geht auch als Dritter Schlesischer Krieg und als zweiter Weltkrieg (nach dem Spanischen Erbfolgekrieg) in die Geschichte ein. Er wird in Mitteleuropa, Nordamerika, Indien, Karibik und auf den Weltmeeren geführt, wobei alle damaligen Großmächte und viele kleinere und mittlere Staaten sich an den kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligen. Wenn es für Frankreich und England hauptsächlich um ihre Überseekolonien geht, steht der Konflikt um Schlesien zwischen Preußen und Österreich im Mittelpunkt des Krieges in Europa. Die Rückeroberung Schlesiens, das an Preußen infolge des Zweiten Schlesischen Krieges (1740-1748) verloren wurde, ist das erklärte Kriegsziel der Kaiserin MariaTheresia und des Wiener Hofes. Die Preußen bekommen Unterstützung von England, Österreich ist mit Frankreich und Russland verbündet. Für den dritten Partner im Bunde, Russland, geht es dabei um die Expansion gen Westen. Die Russen verkünden ihr starkes Interesse an Ostpreußen. Neben diesen Plänen der Vergrößerung ihres Herrschaftsgebietes, gibt es für die Zarin Elisaveta auch rein persönliche Motive, einen Krieg gegen Preußen zu führen. Für seine Scherze wie den, dass er nun mit drei Weibern zu tun hat, Maria-Theresia, Elisaveta und Madame Pompadour (Mätresse des französischen Königs Ludwig XV), hasst sie den preußischen König von ganzem Herzen so wie es nur eine beleidigte Frau tun kann. Die Tiefe ihres Hasses wird Friedrich noch zu spüren bekommen, erst der Tod der Zarin im Jahre 1761 befreit ihn aus einer äußerst kritischen Lage, wo schon niemand mehr an die Rettung 1 Preußens glaubt. 1. Kammerherr der preußischen Königin Graf Ernst Ahasverus Heinrich von Lehndorff notiert am 31.Januar 1762 in seinem Tagebuch: „Nachdem alle Hoffnungen, den König glücklich aus all den Krisen hervorgehen zu sehen, zuschanden geworden sind, kommt ein plötzlicher Hoffnungsstrahl durch den Tod der Kaiserin von Rußland. Diese Fürstin, gegen den König persönlich erbittert, hatte ihm den Untergang geschworen, indem sie sich für die Witze rächen wollte, die der König zu unserem Unglück über sie gemacht hatte. Ihr Vorhaben war ihr auch so gut geglückt, daß die Russen im Besitze von Preußen, Pommern, Kolberg, eines Teiles der Neumark und mit einer 2 Der Krieg in Europa beginnt mit einem präventiven Schlag Preußens gegen das mit Österreich verbündete Sachsen. Am 29.August 1756 marschiert Friedrich in Sachsen ein. Kurze Zeit später kapituliert die sächsische Armee und wird gefangen genommen. Diesem Ereignis folgen viele große und kleine Schlachten, ruhmreiche Siege und vernichtende Niederlagen, harte Schicksalsschläge und unglaubliche Rettungswunder. Nachdem Hunderttausende Soldaten ihr Leben auf den Schlachtfeldern des Krieges verlieren und weitere Hunderttausende zu Krüppel gemacht werden, Hunderte von Städten und Ortschaften geplündert, abgebrannt oder entvölkert werden, wird am 15.Februar 1763 auf der Hubertusburg ein Friedensvertrag zwischen Preußen und seinen Gegnern geschlossen, der den Vorkriegs- Status quo wiederherstellt. 2 Für den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte ist dieser Vertrag von enormer Bedeutung, denn seitdem etabliert sich Preußen endgültig im Kreise der europäischen Großmächte. Im Herbst 1760 ist allerdings der preußische König noch meilenweit von der Verwirklichung dieses seines Ziels entfernt. Kurz zuvor wird er bei Kunersdorf von den Russen und Österreichern derart vernichtend geschlagen, dass sein Heer sich vorübergehend völlig auflöst. Und nun wird seine Hauptstadt von den Feinden eingenommen und geplündert. Die kurzzeitige Besetzung Berlins bringt zwar keine Wende im Kriegsverlauf, militärisch gesehen bleibt sie lediglich eine unwichtige Episode des Siebenjährigen Krieges. Und trotzdem ist die Geschichte dieser Besetzung spannend, lehrreich und in vielerlei Hinsicht aktuell, was wir im folgenden zu zeigen vermögen. beträchtlichen Armee in Schlesien nächstes Frühjahr zum letzten Schlage ausholen konnten; da trat zu unserem Glück der Tod dazwischen. Ihr Land verliert in ihr eine gute Herrscherin, aber wir gewinnen sicherlich dabei“ (Lehndorff, S.141). Moral aus der Geschichte: Mach niemals Witze über die Frauen! 2. Und so kommentiert Graf Lehndorff den Friedensvertrag: „Somit hat alle unsere Not ein Ende. Wenn man nun aber bedenkt, welche unzähligen Opfer dieser Krieg gefordert hat, wieviel Provinzen verwüstet, wieviel Familien ruiniert worden sind, und das alles, um die Herrscher in dem status quo ante zu sehen, so möchte man über den Wahnwitz der Menschheit laut aufschreien“ (Lehdorff, S.146). 3 Teil 1. Vorausgegangene Ereignisse Das Glück ist dem Kühnen hold: Der berühmte Husarenritt des Grafen Hadik Seite 5 Aus der Vorgeschichte des Streifzuges 1760 Seite 8 Der Plan Seite 10 Die Anweisungen Seite 11 Der Aufmarsch Seite 14 Mit Zittern und Zagen Seite 15 Mit Ehrgeiz und Eifer Seite 17 Mit Mut und Tat Seite 18 4 Das Glück ist dem Kühnen hold: Der berühmte Husarenritt des Grafen Hadik Berlin wird während des Siebenjährigen Krieges zwei Mal besetzt. Beide Male handelt es sich um lokale, überfallartige Operationen, die im Rahmen der Alliiertenstrategie untergeordnete militärische Ziele verfolgen. Hermann Granier wundert sich darüber, dass auf die für die Generalität des XIX Jahrhunderts selbstverständliche Idee, durch die Besetzung der gegnerischen Hauptstadt den Widerstand des Feindes entscheidend zu brechen und den Krieg zu gewinnen, im XVIII Jahrhundert scheinbar niemand gekommen ist (Granier, S.113). Im Oktober 1757 entsenden die Österreicher ein kleines Expeditionskorps unter dem Kommando des Grafen Hadik zum Überfall auf Berlin. General Hadik bricht am 11.Oktober 1757 mit 2000 Mann Infanterie sowie mit etwa 1400 Kürassieren und Husaren in Elsterwerda auf. Er führt 4 Geschütze mit sich. In Elsterwerda lässt er General Kleefeld mit einem kleinen Truppenverband und 2 Geschützen zur Rückendeckung zurück. 100 - nach anderen Angaben 300 - Husaren mit ausgesuchten Pferden erhalten den Auftrag, sich um die reibungslose Kommunikation zwischen den beiden Generälen zu kümmern. In einem Eilmarsch, bei dem seine Kavallerie für die damalige Zeit unglaubliche 50 Meilen und die Infanterie 32 Meilen täglich zurücklegen, erreicht er am 15.Oktober 1757 Königs-Wusterhausen. Um unentdeckt zu bleiben, biegt seine Hauptkolonne in der Dunkelheit der Nacht am 16.Oktober von der Straße ab und erreicht das Berliner Schlesische Tor durch den Wald. Graf Hadik schickt einen Trompeter in die Stadt mit einer Forderung in Höhe von 300.000 Taler. Da dieser Forderung vom Berliner Magistrat nicht entsprochen wird, beginnt der Sturm, der zuerst auf das Schlesische Tor und auf die Spreebrücke gerichtet ist. Am Ufer der Stralauer Vorstadt gehen etwa 300 Verteidiger in Stellung. Sie geraten unter Kanonenfeuer. Eine der Kugeln zerschmettert die Kette der Zugbrücke, die Brücke fällt herab. Die Österreicher dringen sofort ein und überwältigen die Soldaten der Berliner Garnison. Das 5 Schlesische Tor wird eingenommen. Zwei preußische Bataillone, die in den Straßen der Köpenicker Vorstadt Stellung beziehen, werden in wenigen Minuten völlig aufgerieben. Etwa 300 bis 400 preußische Infanteristen, die das Kotbusser Tor verteidigen sollten, ergreifen panisch die Flucht - noch bevor sie mit dem Feind in Berührung kommen. Die österreichischen Husaren holen sie ein und mähen sie buchstäblich nieder. Einige der Flüchtenden nehmen sie gefangen. Auf einem offenen Gelände wie dem Köpenicker Feld kann ein Infanterist einem Berittenen kaum entlaufen. Die Angreifer stoßen auf keinen nennenswerten Widerstand, obwohl die Berliner Garnison unter ihrem Kommandanten General von Rochow über wesentlich mehr Kräfte als Hadik verfügt. Die Königin rettet sich nach Spandau und mit ihr flüchtet der Rest der Berliner Garnison. Die Österreicher rücken nicht in die Stadt vor, sie bleiben in der Köpenicker Vorstadt stehen. Unter ihnen sind einige ehemalige Berliner, sie plündern gezielt die Ihnen bekannten reichen Häuser vor dem Stralauer Tor und in der Lindenstraße am Rondel. Hadik erneuert seine Forderung nach Kontribution. Um weitere Plünderungen zu vermeiden, zahlt der Berliner Magistrat diesmal bereitwillig 215.000 Taler „Brandsteuer“ sowie 25.000 sog. „Douceur-Gelder“ „an die Truppe“. In der Nacht zum 17. Oktober verlässt Hadik Berlin. Sein von Friedrich mit starken Truppen ausgerüsteter Verfolger, Fürst Moritz von Dessau, befindet sich zeitgleich nur einen zweistündigen Fußmarsch von der Stadt entfernt. Erst als die Gefahr vorüber ist, lässt sich der Kommandant der Berliner Garnison wieder in der Stadt blicken. Er wird von der Menge der aufgebrachten Berliner bedrängt, beleidigt und mit Steinen beworfen. Nur unter militärischem Schutz kann er, mit Kot bedeckt, sein Haus erreichen. Noch Tage später halten fünfzig Husaren vor dem Haus des Generals von Rochow Wache, „da das Volk noch immer in äußerst gereizter Stimmung gegen ihn ist.“ (Lehndorff, S. 94). 3 Trotzdem bleibt von Rochow nach seiner Blamage weiter im Amt, teils wegen des 3. “Man beschuldigt ihn eines geheimen Einverständnisses mit dem Feinde, - notiert Graf Lehdorff in seinem Tagebuch, kurz, man traut ihm jede Schändlichkeit zu. Man tut ihm aber unrecht. Sein ganzer Fehler besteht darin, daß ihn der Himmel mit recht wenig Verstand, aber viel Hochmut und recht viel Geiz begabt hat, weshalb er niemand zu Rate gezogen und keinen Groschen ausgegeben hat, um die Stärke des Feindes auszukundschaften. 6 Personalmangels in der preußischen Militärverwaltung, wie wir es heute bezeichnen würden, teils dank der Fürsprache einer Person, die dem preußischen König nahe 4 steht. Sein Biograph verteidigt ihn später mit dem Argument: “Er hatte...nicht den Befehl, sich zu halten, sondern nur den die königl. Familie zu retten. Diese brachte er nach Spandau in Sicherheit, nachdem er jede Kapitulation verweigert habe...“ ( Zedlitz-Neukirch, S.429) Offensichtlich irrt sich die Menge der geplünderten Bürger, als sie den General mit Steinen statt Lobgesängen bei seiner Rückkehr aus Spandau empfängt. Militärisch ist der Streifzug von Hadik kaum von Bedeutung. Nicht desto trotz hinterlässt er einen überwältigenden Eindruck bei den Zeitgenossen, u.a. auch bei Friedrich. Nachdem Friedrich am 13. Oktober 1757 die Nachricht über die Bewegung des Feindes in Richtung Berlin erhält, verliert er seine Gelassenheit völlig. Er zieht sich am Abend zurück, seine Begleitung beobachtet durch die Fenster seines Quartiers, wie er stundenlang mit dramatischsten Gesten Verse aus Racines Tragödie Mithridates deklamiert. Der legendäre Husarenritt offenbart die Verwundbarkeit Preußens sowie die mangelnde Sicherheit seiner Hauptstadt. In einer Zeit, in der das vorsichtige Manövrieren mit großen Truppenverbänden zum Alpha und Omega der Kunst der Kriegsführung erhoben wird, diese Truppen auf ein kompliziertes System der Versorgung durch Depots und Magazine angewiesen sind und sich deshalb nur schleppend bewegen, bringt der Streifzug die Vorteile der Schnelligkeit und des Überraschungsangriffs an den Tag. Außerdem hat er wie alle Dummköpfe den Befehl des Königs zu sehr nach dem Buchstaben ausgeführt. Seine Majestät hatte befohlen, daß die Garnison, falls der Feind sich der Stadt nähere, der Königin zur Bedeckung dienen solle; der König konnte aber nicht voraussehen, daß der Kommandant ein solcher Tropf sein würde, die Hauptstadt des Landes in die Gewalt der Österreicher fallen zu lassen, wenn diese nur 1000 Mann stark wären, während unsere Garnison 4 500 Mann zählte“ (Lehdorff, S.91) 4. Kommentar des Grafen Lehndorff: „Alle Welt ist aufs höchste erstaunt, daß der König den Kommandanten wieder in sein Amt eingesetzt hat; die ganze Stadt ist darüber in Verzweiflung“ (Lehdorff, S.94). 7 Der Jubel des Wiener Hofes bei der Nachricht über die Erstürmung Berlins ist grenzenlos: Graf Hadik wird zum Ritter des Gross-Kreuzes des Maria-TheresienOrden, das lediglich zwanzig Mal in der ganzen Geschichte Österreichs verliehen wird. Es ist vorauszusehen, dass seine Tat früher oder später Nachahmer findet. Aus der Vorgeschichte des Streifzuges 1760 Die Überlegungen, einen erneuten Überfall a la Hadik auf Berlin zu verüben, stellen die Alliierten seit 1758 mehrfach an. Endgültig beschließt den Aufmarsch die Sankt Petersburger Konferenz, eine russische Einrichtung mit gleichen 5 Funktionen wie der Wiener Hofkriegsrat, Mitte September 1760. Entsprechend der Weisung der Konferenz wird im Feldlager der russischen Armee im schlesischen Carolat(h) (heute Siedlisko in Polen) am 21.September 1760 (am 10.September nach dem damals in Russland geltenden Julianischen Kalender) der Kriegsrat einberufen. Dieser Kriegsrat unter Vorsitz des Grafen von Fermor 6 legt am 5. Dmitrij Masslowski fügt hinzu, „dass die Frage über die Expedition nach Berlin im Prinzip bereits 1758 durch die Konferenz in Aussicht genommen war. Ssaltykow wollte sie bereits gleich nach der Schlacht von Paltzig zur Ausführung bringen, so dass im Hauptquartier schon alle Daten „zur Organisation der „Expedition" vorhanden waren“ (Masslowski, S.229). 6. Der ehemalige Oberbefehlshaber der russischen Feldarmee Graf Wilhelm von Fermor, ein russischer General englischer Abstammung, übernimmt am 12.September 1760 erneut den Oberbefehl über die russischen Streitkräfte in Schlesien und Ostpreußen, da sein Amtsnachfolger, Graf Pjotr Saltykow, „an Hypochondrie“ schwer erkrankt und somit vorübergehend dienstuntauglich ist. Am 11.September geht die entsprechende Meldung nach Sankt Petersburg, wo bereits am 28.September der offizielle Nachfolger Saltykows, Feldmarschall Graf Alexander Buturlin, präsentiert wird. Die provisorische Führung des Grafen Fermor dauert etwa einen Monat. Der Streifzug gegen Berlin fällt fast komplett in diese Zeit. Der erkrankte Saltykow, der, obwohl de facto nicht mehr an der Führung beteiligt, de jure bis zum 28.September im Amt bleibt, signiert in dieser Zeit einige wichtige Dokumente der Armee wie z.B. die Relation an die Zarin am 26.September (15.September)1760 8 über die Entsendung des 22.September den Aufmarschplan fest, der am 26.September in den Anweisungen Fermors an General Tottleben weiter konkretisiert wird. Der Beschluss des Kriegsrates erwähnt das nachdrückliche Bemühen des österreichischen Militärbevollmächtigten im russischen Hauptquartier, Baron Thomas Plunkett, um die Operation gegen Berlin. Der österreichische Generalleutnant, in dessen Adern irisches Blut fließt, fasst seine Argumente für den Streifzug in einer schriftlichen „Pro Memoria“ zusammen, die er am 22.September dem Kriegsrat vorliegt (Korobkov, Semiletnjaja vojna, S.659). In Wien heißt man die Entscheidung der Sankt Petersburger Konferenz über den Aufmarsch gegen Berlin willkommen. Man wünscht endlich eine Wende in einem Kriegsverlauf, der sich für die Österreicher zu einem Patt zu entwickeln droht. Der österreichische Oberbefehlshaber Feldmarschall Daun wird mit seinen Truppen von Friedrich in eine Gebirgsregion gedrängt, wo er kaum Möglichkeiten zum Manövrieren hat. Der erfolgreiche Schlag gegen seine Hauptstadt soll Friedrich veranlassen, preußische Truppen in Schlesien zu teilen, dementsprechend den Druck auf Daun zu verringern und dem Feldmarschall die Gelegenheit für die entscheidende Schlacht geben. Sollte das nicht gelingen, so will man dem Gegner zumindest großen materiellen Schaden zufügen, denn Berlin ist für die Versorgung der preußischen Armee von großer Bedeutung. Die Hauptstadt Preußens verspricht leichte Beute: Die Berliner Garnison besteht 1760 lediglich aus 1200 -1500 Mann verschiedener Waffengattungen - eine zu7 sammengewürfelte Truppe nach der Beschreibung der Zeitzeugen. Sie untersteht immer noch dem Kommando des Generals von Rochow, der sich 1757 nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat. Die Befestigungen von Berlin werden zwar in Tottlebenschen Korps nach Berlin (Korobkov, Semiletnjaja vojna, SS.652-655). Im Zusammenhang mit dem Führungswechsel an der Spitze der russischen Armee gehen die Gerüchte, dass Saltykow seinen Verstand verloren hat, doch in Wirklichkeit leidet er am heftigen Fieber. Auf dem Wege der Besserung übernimmt er am 10.Oktober 1760 erneut das Kommando, solange sich der frischernannte Befehlshaber Buturlin der Armee nicht anschließt. 7. Die Berliner Garnison besteht zu dieser Zeit aus 3 Bataillonen Garnisontruppen und 50 Stadthusaren. 9 den Vorkriegszeiten erneuert, der Umbau dient jedoch nicht militärischen, sondern vorwiegend Überwachungszwecken, was auch der Name „Berliner Zollmauer“ verrät. Einer dauerhaften Belagerung bzw. einer massiven Bombardierung werden sie nicht standhalten. 8 Der König hat sein Feldlager im Schlesischen Gebirge und kann wegen der Entfernung nicht so schnell zur Rettung seiner Hauptstadt kommen. Die weiteren preußischen Verbände, die sich unweit von Berlin befinden, sind verhältnismäßig klein und scheinen fest gebunden zu sein: das Korps des Generals Johann Dietrich von Hülsen steht in Torgau gegen die Reichsarmee, das Korps des Prinzen Friedrich Eugen von Württemberg hat in Pommern mit den Schweden zu tun. Der Plan Der Plan der russischen Führung sieht vor, Berlin mit den leichten Truppen unter dem Kommando des aus Kursachsen stammenden russischen Generals Gottlob Curt Heinrich Graf von Tottleben anzugreifen. Tottleben gilt als ein fähiger und tapferer Kommandeur, kurz vor dem Streifzug auf Berlin erhält er den AlexanderNewski-Orden für „seine Bravour und gute Disposition“ ( Granier, S.114) in einem Gefecht mit der Nachhut des Prinzen Heinrich von Preußen in Schlesien am 27.August 1760. Berlin und die Umgebung kennt er aus eigener Erfahrung, da er früher eine Zeit lang in der Stadt lebt. Die Unterstützung, die er braucht, erhält Tottleben von dem zweiten russischen Korps unter dem General Graf Zachar Tschernyschew sowie von dem 8 .“Auf dem linken Spreeufer umschloß die Stadt eine aus des Großen Kurfürsten Zeit stammende Mauer, die nach der üblen Erfahrung von 1757 bis zum Spreeufer am Oberbaum, der Stromsperre beim Eintritt der Spree in die Stadt, ergänzt war; auch waren vor den Thoren leichte Erdwerke, Fleschen, angelegt worden... Auf dem rechten Spreeufer, etwa in der Richtung der heutigen Linienstraße, lief nur ein Palisadenzaun um die Stadt, die also eigentlich als offen gelten musste und nur gegen einen Handstreich zu halten war“ (Granier, SS. 114f). 10 österreichischen Korps des Grafen Lacy, die ihm in einer Entfernung nach Berlin folgen. Gleichzeitig rückt die Hauptarmee nach, sie verlässt ihr Feldlager in Carolat und marschiert in Richtung Frankfurt/Oder. In den Plan eingeweiht, reicht Tottleben einen Denkschrift mit seinen allgemeinen Erwägungen über die Ausführung der Expedition beim Hauptquartier ein. Offensichtlich dient ihm dabei der Streifzug von Hadik als Vorbild, denn er meint, „dass die Hauptbürgschaft des Erfolges der ihm übertragenen Unternehmung sich mehr in Abhängigkeit von „der Schnelligkeit und der richtigen Zeit als von der Stärke der Reiterei" befände, desgleichen von „der Heimlichkeit des Marsches" und schliesslich „von der Unterbrechung aller derjenigen Verbindungen, welche der Feind auf verschiedenen Wegen mit Berlin unterhielte" (Masslowski, S.228). Weiterhin erwägt er die Verstärkung seines Korps durch 2 Dragoner-Regimenter, 2000 Grenadiere zu Pferde und etwas reitende Artillerie. Was die Verpflegung der Truppe angeht, so will er seine Leute „durch die Mittel des Landes“ versorgen. Die Beteiligung Tschernyschews an der geplanten Expedition nimmt er ohne besondere Freude zur Kenntnis. Ihn will er entfernter haben, um die Früchte seines Zuges mit niemandem teilen zu müssen. Deshalb „meinte Totleben, für Tschernyschew „würde es angemessen sein" über Krossen nach Frankfurt zu marschiren und von dort auf der Strasse nach Berlin nur eine Brigade Infanterie zu schicken, auf die sich die Truppen des Expeditionsdetachements nöthigenfalls beim Rückmarsch basiren könnten“ (Masslowski, S.229) Die Anweisungen Offensichtlich glauben sowohl die Konferenz, als auch die Führung der russischen Feldarmee, dass die Preußen keine Lehre aus der „üblen Erfahrung von 1757“ gezogen haben: die Erwägungen Tottlebens werden in den endgültigen Anweisungen von Fermor fast im Verhältnis 1:1 umgesetzt. Der einzige wesentliche Unterschied besteht darin, dass das Korps von Tschernyschew nicht nach Frankfurt, wie es Tottleben lieb wäre, sondern von Beuthen über Freistadt, 11 Christianstadt, Sommerfeld nach Guben und Beeskow geschickt wird. „Auf diese Weise hatten beide Detachements bis Guben“ zwar „verschiedene Wege einzuschlagen,“ dennoch „von Guben sollte das Korps Tschernysehew's direkt hinter marschiren, Totleben um ihn im Nothfalle unterstützen zu können“ (Masslowski, S.229). 9 Das Detachement von Tottleben soll aus drei Husaren-, drei Kosaken- und zwei Dragoner-Regimenten sowie vier Grenadierbataillonen und einer Artillerie-Einheit mit 19 Geschützen ( Einhörner und (Korobkov, Semiletnjaja vojna, S. 660). 10 Schuwalowsche Haubitze ) bestehen Demnach geht Fermor davon aus, dass für die Einnahme und die Plünderung Berlins Kräfte genügen, die sich nicht wesentlich von Hadiks Kräften unterscheiden. Auf Hadiks Ritt als Vorbild für das 9. Detachement (mil.) ist eine kleinere Truppenabteilung, die aus dem Verband eines größeren Heer- körpers zur Lösung einer selbständigen Kriegsaufgabe abgezweigt ist. 10. In der Literatur wird allgemein die Beschreibung des Tottleben Korps aus dem Werk des Oberst (später General) Masslowski ( Masslowski, S.230) über den Siebenjährigen Krieg übernommen. Die einzigen Ein-wände der Kritiker gelten den Zahlen, die Masslowski aufführt. So findet Herman Granier, dass die Berechnungen Masslowskis nicht verlässlich sind, der Mannschaftsbestand ist viel zu niedrig bewertet ( Granier, S. 143). Laut Masslowski führt Tottleben die folgenden Truppenteile ein: -drei Husarenregimentern: Moldawisches, Kroatisches und Serbisches Regiment, die von den Obersten Podgoritschani, Tswetanowitsch (Zwätnikowitsch) und Tekeli geführt werden ( insgesamt ca. 1000 Mann); -fünf Kosakenregimenter unter Kosaken-Obersten Popov I. und Popov II., Turoverov, A.Lukovkin, B.Lukovkin (insgesamt ca. 1400 Kosaken); -1200 Grenadiere des Brigadiers Melgunow (Rigaer und Sankt Petersburger Regimenter von Grenadieren zu Pferd); -1800 Grenadiere des Brigadiers Bachmann (vier Grenadierbataillone, geführt von Oberst Maslov, Oberstleutnant Fürst Prozorovski, Oberstleutnant Burmann und Major Patkul); -eine Artillerieeinheit unter Oberstleutnant Glebow mit insgesamt 15 Geschützen. Tottleben selbst spricht dagegen von nur drei Kosakenregimentern, nämlich von Lukovkin (ohne Initialen), Turoverov und Popov, und beziffert die Bachmanns Grenadiere auf 2.000 Mann. 12 ganze Unternehmen nimmt Fermor in seinen Anweisungen offen Bezug, er wünscht Tottleben Lob und Ehre verdienen, wie die der Reichsgeneral Hadik geerntet hat (Korobkov, Semiletnjaja vojna, S. 661). Tottleben wird viel Entscheidungsfreiheit eingeräumt: er soll „ den Streifzug nach eigenem Ermessen so führen und mit solcher Schnelligkeit <marschieren>, die nach Ihrer (d.h. Tottlebens ) Meinung angemessen ist, um die Ihnen (d.h. Tottleben) anvertrauten Menschen und Pferde nicht zu entkräften und eine glückliche Expedition zu ermöglichen“ (Korobkov, Semiletnjaja vojna, S.660-661, Sprache-russ., Übersetzung des Autors). Die Deckung durch die Korps von Tschernyschew und Lacy sowie ferner durch die russische Armee, die in Richtung Frankfurt rückt, wird als eine reine Vorsichtsmassnahme dargestellt. Fermor geht offensichtlich davon aus, dass Berlin nur durch Tottlebens Korps eingenommen wird und zwar noch bevor die Berliner Garnison Verstärkung von außerhalb erreichen wird. Erst nach dem Verlassen der preußischen Hauptstadt soll sich Tottleben dem Tschernyschew Korps anschließen, um auf seinem Rückzug von den aus Magdeburg und Torgau zur Verstärkung nach Berlin entsandten gegnerischen Truppen nicht überrascht zu werden. Die Aufgaben Tottlebens nach der Einnahme der preußischen Hauptstadt formuliert Fermor in den Punkten drei und fünf seiner Anweisungen folgendermaßen: „ Drittens. Bei Ihrem (d.h. Tottlebens) Einzug in Berlin wird nachdrücklich empfohlen, <Folgendes> ohne Verzögerung in die Tat umzusetzen, und zwar, von der Stadt einen beträchtlichen Geldbetrag als Kontribution zu verlangen und für das, was <sie> nicht in der Lage sind <gleich> zu zahlen, eine durch die ganze Stadt unterschriebene Bürgschaft mit der festgelegten Frist, zu der sie bezahlen müssen, anzufordern sowie < für die Tilgungsgewährleistung> zwei Personen <von Rang> und einige Vertreter der Kaufleute auszuwählen und sie als Geisel zu nehmen; <es Kanonengießereien, wird alle nachdrücklich Magazine, empfohlen> Waffen- und dortige Tuchfabriken Waffenlager, gänzlich zu verwüsten und aus allem, was für die Versorgung <unserer> Armee dringend notwendig ist, Nutzen zu ziehen, hier scheint die Ankündigung ausreichen, dass sowohl der Stadt als auch der Bürgerschaft keinen Schaden zugefügt wird, wenn 13 die Forderungen <der Besatzer> schnell und ohne Ausreden erfüllt werden, ansonsten wird die gerechte Vergeltung für alle durch den preußischen König in Sachsen, insbesondere in Leipzig, begangenen Gräueltaten geübt und das muss dann tatsächlich geschehen. Fünftens. Die übrigen Einzelheiten werden Ihnen (d.h.Tottleben) nicht vorgeschrieben, es wird sich auf Ihre Umsicht eines erfahrenen Generals verlassen, besonders wird empfohlen, eine strenge Disziplin in der Mannschaft zu halten und niemandem von den Einheimischen auf Ihrem Marsch und in Berlin Verletzungen und Verwüstungen zu zufügen und die schädliche Säuferei nicht zu zulassen, sondern sie dadurch zu unterbinden, dass Ihre ganze Mannschaft stets in Bereitschaft gehalten wird, um den Marodeuren die Möglichkeit zu rauben, sich <von der Störungen Truppe> zu für Ihnen die entfernen und anvertraute somit irgendwelchen Aufgabe Schaden einzurichten...“ bzw. (Korobkov, Semiletnjaja vojna, S.661, Sprache-russ., Übersetzung des Autors). Der Aufmarsch Der Befehl und die Anweisungen von Fermor erhält Tottleben am 26.September (15.September) 1760 in der Nähe von Glogau in Schlesien, wo er mit seinem aus vier Husaren- und fünf Kosakenregimentern bestehenden Korps das Feldlager bezieht. Noch am gleichen Abend stoßen der Brigadier Bachmann mit zweitausend Grenadieren, der Brigadier Melgunow mit zwei Regimentern von Grenadieren zu Pferde und der Kosakenregimenter Oberstleutnant und ein Glebow mit seiner Husarenregiment lässt zu ihm. Zwei Tottleben, wie ihm Artillerie vorgeschrieben, bei der Hauptarmee zurück. Mit dem Rest der vereinten Truppe bricht er am 27.September auf. Über Sorau und Guben, wo er lange Verschnaufpausen einlegt, um die Pferde und Kutschen für seine Infanterie und Artillerie aufzutreiben und sich mit den Quartiermeistern von Tschernyschew, die diese Gegend noch vor ihm heimgesucht haben, zu streiten, erreicht er am 30.September Beeskow. Hier gibt er seinen Soldaten 14 einen Rasttag anlässlich des Geburtstages des russischen Großfürsten Paul. Am 02.Oktober trifft er endlich in Königs-Wusterhausen ein. Tschernyschew, der zeitgleich mit Tottleben in Beuthen aufbricht, erreicht am gleichen Tag, dem 02.Oktober 1760, Fürstenwalde. Auch das Lacy Korps befindet sich bereits im Anmarsch, wovon Graf Fermor am 30.September benachrichtigt wird. Aus seinem Feldlager in Waldenburg marschiert Lacy durch die Lausitz gen Berlin. Unterwegs erhält Tottleben die falsche Kundschaft, dass der General von Hülsen mit seinem Korps nur wenige Meilen entfernt bei Beelitz steht. In Besorgnis um den Ausgang seines Unternehmens wendet er sich an Tschernyschew mit der Bitte um Verstärkung. Dieses und die anderen Vorkommnisse seines Marsches werden später von den sowjetischen Geschichtsschreibern unter die Lupe genommen und als belastende Indizien ausgelegt, um den Deutschen Tottleben des Verrats an der russischen Sache zu bezichtigen. In ihrer Darstellung sabotiert Tottleben den Befehl, in dem er in böser Absicht den Aufmarsch auf Berlin verzögert. Das sehen die Zeitzeugen offensichtlich anders. Was speziell die Berliner Bürgerschaft angeht, so wäre sie damals sicherlich froh, wenn die Verdächtigungen der sowjetischen Historiker einen wahren Kern hätten. Denn für die Berliner geht alles im Gegenteil viel zu schnell. Mit Zittern und Zagen In der lebendigen Darstellung von seinen Erlebnissen im Herbst 1760 schildert Probst Süßmilch, wie die Berliner die Nachricht über die heranrückenden russischen Truppen, die „uns einen Besuch zu drohen schienen“(Wilke, S.19), wahrnehmen: „...so entstand Dienstags, den 30ten Septembr die erste Furcht aus der Nachricht von der Ankunft des Totlebischen Korps, so sich von Glogau über Grünberg Grossen und Guben herunter ziehen solte. Mittwochs den 1ten Oktobr ward die Stadt noch mehr allarmiret als man hörete daß sich schon Cosacken Partheien zu Storckau 6 Meilen von hier eingefunden, den Abend ward man 15 wieder beruhiget...“(ebenda). Die Beruhigung macht sich nach einem Gerücht über die „sicheren Briefe aus Soldin“ breit, mit der Nachricht, dass General Werner mit einem 3650-Mann starken Korps seine Route von Kolberg auf Berlin verlegt, um Tottleben in den Rücken zu fallen und ihn so an seinem Vormarsch zu hindern. Man glaubt auch, dass Prinz von Württemberg sein Vorhaben gegen die Schweden abbricht, um den Berlinern zur Hilfe zu kommen. Am nächsten Tag hatten „das Posthaus und die Policey“ „verschiedene Leute zu recognosciren ausgeschickt und man vernahm, so viel, daß Cosacken schon dißeit Wusterhausen bis gegen Rhudow eine Meile von hier gestreiffet“(Wilke, S.21). Die Berliner sehen sich nun endgültig „der Gefahr des fürchterlichsten Feindes ausgesetzt“(ebenda). Die Russen nimmt man zu dieser Zeit in Mittel- und Westeuropa als Exoten wahr: die russischen Truppen feiern erst im Siebenjährigen Krieg ihr Debüt auf westeuropäischen Kriegsschauplätzen. Die Angst vor dem unbekannten Feind aus der „Tatarey“, dessen Sprache man nicht versteht, ist groß. Insbesondere die irregulären Truppen der Russen, Kosaken und Kalmücken, beeindrucken die Einheimischen durch ihre fremde Erscheinung. In ganz Europa verbreiten sich während des Krieges „die Gräuelmärchen von den bärtigen asiatischen Horden, die Frauen das Herz herausrissen und den Leib aufschlitzen, die Gefangene grausam folterten und nach Schnapsorgien Lustmorde verübten.“ (Klaus J. Gröper: Die Geschichte der Kosaken, Bertelsmannverlag, Mün-chen 1976, S.306). Ein russischer Kundschafter berichtet 1758 aus Berlin u.a. über seine Gespräche mit Berlinern: schon damals urteilen sie über die Kosaken, die seien nur für Plünderungen gut 11 (Korobkov, Semiletnjaja vojna, S.300). Nun rückt die nähere Bekanntschaft mit diesen Räuberbanden in greifbare Nähe. Und so steigt die Anspannung bei den Berlinern von Tag zu Tag, man schwankt zwischen Verzweifelung und Hoffnungen auf eine wunderbare Rettung. In der in Aufregung versetzten Stadt brodelt die Gerüchteküche. In ihrer Unruhe 11. Vgl. dazu die Äußerung von Probst Süßmilch:“ Die Kosacken sind ein tollkühner Haufen, die zwar bey Schlachten wenig oder gar nichts zur Entscheidung beitragen können, die aber doch wegen der Flüchtigkeit ihrer Pferde hinter einem Heer und durch ihre Mordbrennerey, manchen Schrecken und Verwirrung anrichten können. Es sind wohl ausgewachsene und starcke Kerl, die zwar verwegen und flüchtig, aber zu ordentlichen Angriffen nicht geübet. “ (Wilke, S.29 ). 16 sind die Berliner geneigt, den wildesten Spekulationen Glauben zu schenken: „Man nimt in solchen Fällen alles zu Hilfe, was einige Beruhigung geben könne. Man will auch nicht glauben, was den Trost rauben kann. Man hielt es für ohnmöglich, daß die Residentz sollte können abandoniret werden, und glaubte auch noch mehr, und schmeichelte sich daß von Schlesien aus etwas hinter dem General Totleben her würde seyn geschreitet worden“(ebenda). Und der General Tottleben höchstpersönlich raubt den Berlinern ihre letzten Hoffnungen, zeitgleich mit dem mit Zittern und Zagen erwarteten Auftauchen von Kosaken vor den Toren der Stadt erfahren die Berliner, dass „er des Morgens im Dorfe Britz im Predigerhause Caffe getruncken, und beym Abschied soll gesaget haben: Diesen Abend muß Berlin in meinen Händen seyn. Und als repliciret worden, daß man sage, der Printz von Würtenberg sollte zum Siccurs kommen, soll er gesagt haben: das weiß ich besser, daß es nicht seyn könne, der Pr. liefert morgen den Schweden eine Bateille, und fliegen kann er nicht“(Wilke, S.23). Mit Ehrgeiz und Eifer Tottleben, der in der Schnelligkeit und dem Ausnutzen des Überraschungsvorteils zurecht die besten Voraussetzungen für den Erfolg seiner Unternehmung sieht, lässt die Infanterie in Königs-Wusterhausen zurück. Die zurückgelassenen Teile seines Korps rücken zu ihm nach und nach im Laufe des Tages, und eilt, nur von der leichten Reiterei umgeben, nach Berlin. Ausgerechnet am 03.Oktober, dem künftigen Tag der Deutschen Einheit, (22. September nach dem Julianischen Kalender), erblicken seine Kosaken von den Rollbergen vor dem Kottbusser Tor 12 die Stadtmauer der preußischen Hauptstadt. 12. Die Infanterie Tottlebens erreicht Fürstenwalde erst gegen Mitternacht, wo ihr eine Verschnaufpause gegönnt wird. Mit Tagesanbruch entsendet Tottleben die kroatischen Husaren unter Tswetanowitsch nach Potsdam um die Stadt einzunehmen, sie kehren jedoch bald „ unverrichteter Sache“ zurück. Danach bricht er gegen Berlin auf. Seine Vorhut bilden die Kosaken von Turowerow. 17 „Es war ein überaus schöner Tag, den aber den schwülen Tagen im Julius ähnlich, die oft plötzlich einen Orcan mit sich führen. Etwan gegen 10 Uhr entstand in den Straßen eine Furchtvolle Bewegung und raunen und es hieß: die Kosacken sind schon vor dem Thor, dem Hallischen und Ricksdorfer, es war auch leider! mehr als zu wahr...“,- berichtet Probst Süßmilch ( Wilke, S.21) Man kann mit einem gewissen Grad an Wahrscheinlichkeit annehmen, dass der russische General, im Gegensatz zu den Einheimischen, an diesem Tag bestens gelaunt ist. Denn für Tottleben ist das möglicherweise der Augenblick der späten Genugtuung: er lebt früher in Berlin, bewirbt sich für den Dienst in der preußischen Armee, der preußische König weist ihn jedoch zurück. Nun kann er Friedrich endlich vor Augen führen, dass auf einen Mann wie ihn zu verzichten, ein verhängnisvoller Fehler war. Sofort schickt er seinen Parlamentär, Leutnant Tschernyschew, mit der Aufgabeforderung in die Stadt. Kurze Zeit später überbringt ihm dieser eine unerwartet forsche Antwort. So schildert Tottleben die Ereignisse an diesem Tag in seiner 1761 gedruckten „Relation“: »... und rückte den 3ten October, Vormittags um 10 Uhr, in aller Stille vor Berlin; ich glaubte mich dieser Stadt sogleich zu bemeistern, weil ich erfahren, daß die Besatzung schwach wäre, und aus lauter Deserteuers bestände; ich ließ daher die Stadt sogleich auffordern, welches dem Mittags um 12 Uhr geschähe, allein der Trompeter wurde nicht in die Stadt gebracht, und anstatt der geforderten 9 Millionen bekam er die unvermuthete Antwort, Pulver und Bley stünde uns zu Diensten, man würde sich bis auf den letzten Mann wehren«.(Wilke, S.48) Mit Mut und Tat General von Rochow erhält als erster die Meldung über die Bewegung der Russen in Richtung Berlin, lange bevor diese Neuigkeit zu den anderen Berlinern durchsickert. Er ist ein ordentlicher Verwaltungsangestellter. Das Zeug zum Ihnen folgen die übrigen leichten Reiter, angeführt von Tottleben selbst und die Nachhut aus den Grenadieren zu Pferde. 18 Kriegsgeneral hat er jedoch nicht. Hermann Granier zitiert einen Zeugen, der beschreibt, wie der Rochow nach dem Erhalt der verhängnisvollen Nachricht „wie vom Blitzstrahl getroffen“ Tage lang herumläuft „ohne daß der Grund verlautete, so daß man in der Stadt besorgte, dem Könige sei ein Unglück zugestoßen “(Granier, s.114). Er schreibt hastig verzweifelte Briefe an Prinz von Württemberg, fleht ihn um Hilfe an. In seinen Briefen nach Magdeburg äußert er die Hoffnung, dass er noch zehn Tage hat und dann kann sich die Lage ändern, d.h. er hofft, wie auch die gemeinen Berliner, auf ein Wunder. Diese Hoffnung wollen ihm die Feinde allerdings nicht erfüllen. Und als es soweit ist - Tottleben vor den Toren Berlins steht und die Stadt zur Aufgabe auffordert, - ist es Rochows erster Antrieb, abzumarschieren und die Residenzstadt erneut im Stich zu lassen. 13 Zu seinem Glück ist er diesmal nicht allein, sondern von den Männern der Tat umgeben. Sie retten den General vor einer erneuten Blamage, indem sie die Sache der Verteidigung in die eigenen Hände nehmen. In März 1758 ernennt Friedrich den damals 73-jährigen Feldmarschall Hans von Lehwald zum Gouverneur Berlins. Das ist ein Posten ohne klare Vollmacht bzw. deutlich definiertem Aufgabenbereich, denn durch die Ernennung verfolgt Friedrich lediglich das Ziel, dem alten verdienten General so etwas wie eine Sinekure zu erschaffen. Doch für die Stadt wird die Anwesenheit des erfahrenen Kriegers zum großen Vorteil. Gleichfalls glücklich ist für die Berliner der Umstand, dass eine Reihe von kriegserprobten preußischen Generälen, und, allen voran, der berühmte Kavallerie-General Friedrich Wilhelm Freiherr von Seydlitz-Kurzbach, sich zu dieser Zeit in Berlin aufhalten, um ihre Verletzungen und Krankheiten zu kurieren. General Seydlitz diktiert die entschlossene Antwort an Tottleben. Mit dabei sind, neben Rochow und Lehwald, Friedrich Markgraf von Brandenburg-Schwedt und Karl David Kircheisen, Polizei-Direktor und Stadt-Präsident. Unmittelbar danach reitet Seydlitz mit den Stadthusaren auf eine Erkundung des Feindes aus, während Lehwald sich zu den zunächst bedrohten Stadttoren, dem Köpenicker, dem 13. „Wegen Unzulänglichkeit der zu Gebot stehenden Vertheidigungs=Mittel hielt er (Rochow) er dem Wohle der Stadt am angemessensten, sie zu verlassen, und ihr Schicksal der Großmuth des Feindes anheimzustellen...“ (Geschichte des Siebenjährigen Krieges in einer Reihe von Vorlesungen..., S.147). 19 Kottbusser und dem Hallischen Tor, begibt, um die notwendigen Anstalten zu ihrer Verteidigung zu treffen. Er wird von den Generälen Rupert Scipio von Lentulus und Karl Gottfried von Knobloch tatkräftig unterstützt. Die Soldaten der Berliner Garnison werden auf ihre Posten verteilt, Kanonen in die Fleschen 14 geführt, Schießgerüste für die Verteidiger errichtet. Nun mögen die Russen kommen. 14. Als Flesche (frz. fleche = „Pfeil“) wird ein Festungswerk bezeichnet, das aus zwei in einem ausspringenden Winkel zusammenlaufenden Facen (d.h. die dem Angreifer zugekehrten Seiten eines Werkes) besteht. Die Flesche zählt zu den Vorwerken einer Festung und wird üblicherweise einer Bastionsspitze vorgelagert, um eine zusätzliche Feuertage zu schaffen (Festungsbau). 20 Teil 2. Über den verunglückten Versuch, die Stadt im Flug zu erobern Über die entsetzliche Menge von Bomben und anderen brennenden Dingen sowie über die Schäden, die Kreuzberg durch die Feuerkugeln erlitten hat Seite 22 Action! Seite 24 Katerstimmung Seite 28 21 Über die entsetzliche Menge von Bomben und anderen brennenden Dingen sowie über die Schäden, die Kreuzberg durch die Feuerkugeln erlitten hat Gegen 14.00 Uhr beginnt das Bombardement der Stadt. Die Verteidiger schießen aus den vor den Stadttoren platzierten Kanonen zurück: “ Von unserem Flekken oder kleinen Bastionen an den Thoren ward redlich geantwortet...“(Wilke, S.23). Laut Tottlebens Bericht an Fermor (Korobkov, Semiletnjaja vojna, S.673) ordnet er zunächst an, die Ziele in der Stadtmitte wie das königliche Schloss und das Gießhaus von der Position in der Hasenheide zu beschießen (Granier präzisiert die Stellung seiner Batterie: sie befindet sich „hinter dem „Johannisstich“, dem Gebäude der Tempelherren“ (Granier, S.117). Zu dieser Zeit stehen Tottleben, entsprechend dem Bericht, drei schwere Kanonen zur Verfügung, die bereits aus Wusterhausen eingetroffen sind. Diese erste Bombardierung bleibt nahezu wirkungslos: „Die beiden ersten Bomben wurden forciret und es fiel die eine auf den Schloß=Platz, nahe bei den Fiacres, die alle aus einander sprengeten, die andere in ein Haus zwischen der Roß und Lappstraße. Viele und die meisten fielen auf den Werder sonderlich auf den Spittelmarckt und in den Gartens am alten Stadt=Graben hinter dem Hospital und dem Predi-ger=Hause (gemeint ist das Filial von St.Petri, St.Getrauden, mit seinem Hospital Predigerhaus, siehe: Wilke, S.48). Die Friedrichstadt bekam die anderen und viele Häuser wurden beschädiget, es ward aber nirgends gezündet. Es waren theils Haubitz Granaten theils Bomben von 40 bis 50 Pfund. Es können wohl einige Hundert hereingeworfen seyn. Drey Personen sind blessiret. Die gantze Sache machte wenig Ein-druck auf die Gemüther der Bürger, die Straßen blieben voll Menschen. Es dauerte dieses häufige Schiessen drey Stunden bis 5 Uhr, aber ohne Wirckung“ (Wilke, S.23). Nach 17.00 Uhr herrscht wieder Stille: „Von 5 bis 9 Uhr geschahen nur dann und wann Schüße, und zwar von uns auf die anfallende Kosacken Partheien“( ebenda). In dieser Zeit bringt Tottleben die zweite Batterie an den Weinbergen in Stellung. Somit forciert er seine Vorbereitungen zum Sturm: „Am späteren Abend habe ich 22 meine Batterien verändert und befohlen, schwere Geschütze an den Bergen vor dem Tor nach Brandenburg (gemeint ist wahrscheinlich das Potsdamer Tor-W.K.) in Stellung zu bringen. Die Deserteure aus der Stadt haben einstimmig erklärt, dass in stationiert der Stadt sind, wenig welche Kavallerie aus und russischen, lediglich drei sächsischen Infanterie-Bataillone und französischen Kriegsgefangenen bestehen. Diese hatten angeblich die Absicht, ihre Waffen beim ersten geblasenen Alarm niederzulegen. Daher entschloss ich mich in der vergangenen Nacht die beiden Stadttore, sowohl das Brandenburger, als auch das Kotbusser Tor, gewaltsam einzunehmen. Sobald die Batterien auf den erwähnten Bergen, von denen ich die ganze Stadt von dieser Seite bombardieren konnte, aufgestellt waren, befahl ich alle schweren Geschütze hinzufahren, und am späten Nachmittag um zehn Uhr begann die Bombardierung ...“( Aus dem Rapport von Tottleben an Fermor vom 04.Oktober (23.September)1760, Korobkov, Semiletnjaja vojna, S.673, Sprache-russ., Übersetzung des Autors). Der spätabendliche Beschuss richtet sich an erster Stelle gegen die Stadttore, die gestürmt werden sollen: „Des Abends gleich nach dem Schlag von 9. Uhr fing das feindliche Feuer aus Kanonen und Haubitzen gedoppelt an, und ward mit aller möglichen Heftigkeit bis 3/4 auf 12 Uhr fortgesetzet. Bomben, Feuer Kugeln, glüende Kugeln, Schuwalowsche ovale und unsrer Artillerie, noch unbekante Bomben und andere brennende Dinge wurden in entsetzlicher Menge geworffen, mehr als man sich aus so wenig Geschütz hätte vorstellen sollen. Um 10 Uhr ging am Hallischen Thor das Feuer an zweyen Orten zugleich auf; Aller guten Feuer=Anstalten ohnerachtet konte es doch nicht gelöschet werden, weil der noch ungeübte Bürger nicht so an das Löschen konte gebracht werden, und weil gleich ein Fuhrmann beym Waßerfahren mit zwey Pferden getödtet ward. Das Wetter war aber gantz stille und die Gegend, wo es brante, weitläuftig daher man auch darüber in der Stadt nicht sehr unruhig ward. Es ist im Hinter=Gebäude am Rondehl, und eines im Anfang der Friedrichsstraße abgebrandt“,- berichtet Probst Süßmilch ( Wilke, S.23). Andere Zeitzeugen beschreiben die erheblichen Zerstörungen, welche die Beschießung im späteren Stadtbezirk Kreuzberg angerichtet hat: „Die Häuser in der Linden Straße im Rondel <heute Mehringplatz> und verschiedenen andern Straßen 23 sind sehr beschädiget und zerschmettert auch finden sich daß sie würeklich Bomben geworffen wovon ich heute noch eine gesehen, welche noch nicht crepiret war“ ( Wilke, S.52) „...die Haubitz=Granaten und Bomben flohen durch die ganze Friedrichstraße bis zur Jäger-Brücke, ja sogar in die Brüderstraße bey der Petrikirche, die Häuser am Hallischen Thore wurden mit Kanonen und Schuwalow=Kugeln sehr beschädigt, nach 10 Uhr sahe man an zwey Orten in der Lindenstraße Feuer aufgehen...“ (Granier, S.118) Nach diesem feurigen Vorspiel bricht der mit Spannung erwartete Sturm los. Action! „Endlich aber gegen 11 Uhr ging der Sturm selbst an, “-berichtet Probst Süßmilch, -„ den man schon immer vermuthet hatte. Etwas Infanterie und abgeseßene Dragoner und Kosacken drungen an und zwar mit einem greßlichen Geschrey, welches man nebst vielen eintzelnen Schüßen aus dem kleinen Gewehr bei stiller Nacht mitten in der Stadt auf dem Boden der Häuser hören konnte. Gestehe es, daß diese halbe Stunde bis nach halb 12 Uhr mir die fürchterlichste gewesen, weil ich nach Kriegs= Gebrauch eine Plünderung und andere excesse besorgte, wenn es Ihnen gelingen sollte, in die Stadt zu dringen“ (Wilke, S.24). 15 Der Angriff richtet sich gegen drei Tore: das Kottbusser ( Rixdorfer) Tor, das Hallische Tor (Rondel) und das Potsdamer Tor (Schafbrücke). Die Nacht ist hell, was den Verteidigern zugute kommt, da die Angreifer, vom Mondschein beleuchtet, vortreffliche Ziele bieten. Es wird heftig gefeuert: der Statistiker Süßmilch errechnet, dass die Verteidiger innerhalb 30-45 Minuten 20 Patronen pro Gewehr verschießen. Die bedrohlichste Situation entsteht am Hallischen Tor, weil da „wegen der nahe an den Thoren liegenden Gärten und Zäune konte der Feind sich nahe heran schleichen, und dann mit Gewalt eindringen“ (Wilke, S. 24-25). 15. Später erfährt Süßmilch von den russischen Offizieren, dass den Mannschaften der Angreifer tatsächlich die Plünderung der Stadt versprochen wird (Wilke, S.24). 24 Hier versammeln sich schließlich fast alle Anführer: Feldmarschall Lehwald, der zuvor die Verteidigung am Kottbusser Tor organisiert; General Knobloch vom Potsdamer Tor, General Seydlitz und der Berliner Kommandant General Rochow. Ihre Truppe besteht aus 150 Mann des Itzenpilz- Bataillons. Die Bürgerschaft verspricht zuvor ihren Beschützern eine reichliche Belohnung, die sie später auch erhalten: jeder Soldat bekommt fünf Taler und „einen Überfluß an Lebensmitteln“ (Wilke, S.24) und die Investition rentiert sich: die Männer der Garnison zeichnen sich in dieser Nacht durch Standhaftigkeit und Tapferkeit aus. Sie werden auch durch das Vorbild ihrer Kommandeure angefeuert, die wie die gemeinen Soldaten mit der Waffe in der Hand kämpfen. Der 75-jähriger Lehwald verlässt seinen Wachposten auch nachdem der Angriff zurückgeschlagen wird nicht. Und er hat seinen Posten immer dort, wo es am gefährlichsten ist. In den nächsten Tagen werden die mutigen Verteidiger mit Lob überhäuft: „ Den Guten Muth und die Courage welche die wenige Manschafften ... beweisen kann nicht genugsam gerühmet werden“ (Wilke, S.53). „Unser braves Garnison Regiment,- schreibt Süßmilch, blieb ... im steten Feuer, sowol von dem Bastion als Echafaut in der Stadt, die Officiers blieben in contenance, und der erfahrenenen Generals Aufsicht und Ermunterung trug unter göttlichem Beystand sehr vieles bey“(Wilke, S. 24). Und der General Rochow bezeugt, „daß keiner ist zurückgetreten, sondern wie brave Kerls gethan, der Feind war nicht weiter davon entfernt, als 36 Schritt, und so haben wir gegen einander gefeuert“ (Granier, 16 S.118). 16. Die Dankbarkeitsäußerungen der Bürgerschaft, die zweifelsohne aufrichtig gemeint sind, kann man endlos zitieren: „...dem Feldmarschall Lehwaldt und dem General Seydlitz hat man zu ihrem eigenen Ruhm zu danken, daß die Stadt erhalten worden“ ( Granier, S.120). „Alles, was bisjetzt geschehen, streist ans Wunderbare, und der Entschluß allein, eine solche Großstadt wie Berlin mit 3 schwachen Bataillonen zu vertheidigen, erscheint ... groß und der Erfolg staunenswerth“ (ebenda). Es wäre ungewöhnlich, wenn die Lobpreisung in diesem Ausmaß vom niemanden mit Neid gesehen wird. Kommandant Rochow weist dem Feldmarschall Lehwald in einem Streit am nächsten Tag dessen Platz zu, indem er ihn daran erinnert, dass der Feldmarschall bisher noch kein Gouverneurspatent von Friedrich hat. Und das macht er in einer so gemeinen Form, dass der alte Soldat „die Nacht kein Auge zugethan und sich vorgesetzet hat, heute noch wegzugehen“(Granier, S.120). 25 Auf der anderen, der geschlagenen Seite, gibt es wenig Anlass zur Freude. Den Angriff gegen das Hallische Tor führt der damals 28jährige Oberstleutnant und spätere russische Feldmarschall Fürst Prozorowskij, an. In seinen Erinnerungen erzählt er: „Und am Abend wurden wir zum Sturm angesetzt. Oberst Burmann <sollte> vom Kottbusser Tor nach rechts, gegen das Tor, das Klein Frankfurt genannt wird, <vorstoßen>, Major Patkul gegen das Kottbusser Tor, und ich <bekam den Auftrag> das Hallische Tor in Front <unserer> Batterie anzugreifen. Jeder von uns hatte 300 Mann, ein Dragoner- Schwadron und zwei Regimentsgeschütze... Mit mir waren in diesem Gefecht alles Grenadiere des Ersten Grenadier Regiments, um die ich eben ersucht habe, da ich in diesem Regiment Oberstleutnant war. So gingen wir zum Sturm über. Zur allgemeinen Unzufriedenheit wird erzählt, dass Herr Burmann nicht ankam, er fand, dass der Weg wegen Morasts unpassierbar ist und kehrte zurück. Patkul sollte bei seinem Angriff einen kleinen Fluss über die Brücke passieren, die sich in der Reichweite der Batterie am Stadttor befand. Beim Heranrücken hat er einige Schüsse aus den Kanonen abgefeuert, und so den Feind provoziert, ihm zu antworten. Dadurch wurde er gestoppt bzw. deswegen hielt er es für unmöglich, seinen Marsch fortzusetzen, blieb schließlich stehen und kehrte zurück. Ich rückte jedoch, nichts von diesem Vorfall wissend, so leise und nah an das Tor, dass < mir >die Wache zuzurufen begann. Ich schob die Geschütze vor, feuerte auf die Batterie am Tor und stieß in großen Schritten direkt gegen die Batterie vor, jedoch als ich am Graben ankam, geriet ich in schweren Beschuss von der Batterie und über die Mauer, von den Schießgerüsten. Inzwischen setzte Oberstleutnant Glebow die Bauten am Tor mehrfach in Brand, sie wurden jedoch immer gelöscht. Und da es um diese Zeit vom Kanonen- und Gewehrfeuern des Gegners so hell geworden ist, konnte ich den mit Wasser gefüllten Graben, den 17 Contreeskarpe, innen durch die steile Palisaden-Wand verkleidet..., vor mir sehen. Ich habe das Wasser mit meinem Degen sondiert, und fand, dass es sehr tief und breit ist, weshalb ich in diesem Fall nichts weiter unternehmen konnte. Ich 17. Contreescarpe nennt man die äußere Grabenböschung (Festungsbau) 26 verlor, verwundet und getötet, alle Offiziere bis auf einen Leutnant und 150 Soldaten. 18 Mir selbst jedoch war nur der Hut in einem Winkel durch den hinteren Rand durchgeschossen, die Kugel trat zwischen dem Ohr und der Schläfe heraus. Also flüchtete ich mit den anderen in Deckung einer kleine Holzbude, die zum Glück dort stand. Hier stieß - inmitten des Feuers - der Rittmeister des Sankt Petersburger Dragoner Regiments Kowitsch mit seinem Schwadron zu mir. Ich befahl ihm jedoch, nicht näher zu rücken, damit seine Leute und Pferde nicht unnötig der Gefahr ausgesetzt werden, sondern in einer Entfernung anhalten, damit er mich bei meinem Rückzug von diesem Tor, solange ich unsere Batterien auf dem nah liegenden Berg nicht erreiche, decken konnte. Das war schon deshalb erforderlich, weil ich auf dem Rückweg nicht nur durch meine Verwundeten, sondern auch durch die <mitgenommenen Leichen der> Gefallenen belastet war. Mehr noch, da die Fuhrwerke mit Pferden in diesem Fall wegfielen oder verschwanden, mussten die Grenadiere die Geschütze selbst ziehen. Mit Sonnenaufgang kam ich im Lager an. Kurze Zeit später sind wir von Berlin weggezogen...“ (Prozorowskij, S.65f, Sprache-russ., Übersetzung des Autors). Diese Beschreibung bezeugt, dass der Angriff nicht mit der deutschen Gründlichkeit vorbereitet ist, obwohl ein Deutscher die Angreifer befehligt: die Wege sind nicht ausgekundschaftet, die russischen Soldaten haben keine Vorrichtungen um den Graben zu überwinden etc. Man kann dem Urteil des österreichischen Feldmarschalls Brühl Recht geben, der am 11.Oktober 1760 in Warschau schreibt, “...daß Tottleben etwas zu hitzig und voreilig zu Werke gegangen sein mag...“ (Granier, S.143). 19 18. Nach den Angaben von Dmitrij Masslowski, der sich auf einen Bericht von Bachmann stütz, verliert Prozorowski 92 Mann, von Patkul, Nachfahre eines berühmten livländischen Staatsmannes, dagegen, keinen einzigen Soldaten (siehe: Masslowski, S.236 ). „Das Fehlen aller Verluste bei dem Datachement Patkul’s,- schreibt Masslowski, lässt darauf schliessen, dass derselbe überhaupt nicht zum Sturm auf das Kottbusser Thor vorgegangen ist“ (ebenda). Weder die offiziellen Berichte noch die russischen Autoren erwähnen das Kommando von Burmann, offensichtlich wegen dem kläglichen Ausfall seines Unterneh-mens. 19. Nach Meinung Masslowskis, der die Person des Grafen Tottleben sehr kritisch beurteilt, scheitert die Erstürmung Berlins an der „Unfähigkeit, Unentschlossenheit und Furchtsamkeit Tottlebens bei 27 Katerstimmung Noch in der Nacht des 04.Oktobers muss General Tottleben einsehen, dass der Versuch, Preußens Hauptstadt im Fluge zu erobern, gescheitert ist. 20 Der Tag, der so schön begann, endet in einem Desaster: »Diese Nacht kam so theuer zu stehen, daß wir mehr denn 700 Todte und noch mehr verwundete zähleten, und ich selbst hatte bey den Stürmen mein Pferd unter dem Leibe verlohren«, 21 berichtet er in seiner veröffentlichen „Relation“ ( Wilke, S. 49). Noch bis etwa drei Uhr nachts ballert er wuterfüllt weiter auf die Stadt - solange die Vorräte an Kugeln reichen, danach jedoch muss er aufbrechen und die dieser Gelegenheit fast als an Verrath streifend“(Masslowski, S.239). Im Gegenteil zu dem Urteil des Feldmarschalls Brühl bezichtigt Masslowski Tottleben des Zeitverlustes „von mehr als einen Tag“: „Die Kunst Totleben’s musste gerade darin bestehen, durch einen schnellen Anfall die Berliner zu verblüffen (was ja auch geschah) und, ehe sie zur Besinnung kommen konnten, wenigstens ein Thor zu erobern oder eine Bresche in die Mauern zu legen... und nicht die Steingebäude, wohl aber die Thore zu bombardieren... “(Masslowski, S.238f). Statt dessen tut Tottleben „lauter unnütze und fehlerhafte Dinge“(ebenda) wie die Errichtung von zwei Batterien sowie die Bombardierung des Königlichen Schlosses und schenkt dementsprechend den Verteidigern Zeit, sich auf die Abwehr des Sturms gründlich vorzubereiten. 20. Die Schuld für den Misserfolg seines Sturms will Tottleben später dem Grafen Tschernyschew geben, der ihm auf seine Bitten keine Verstärkungen geschickt hat. Anhand der detaillierten Analyse von Tottlebens Argumentation kommt Dmitrij Masslowski zu dem Schluss, dass sie keinerlei Kritik standhält (siehe: Masslowski, S.236ff). 21. Jürgen Wilke bezichtigt Tottlebens gedruckte „Relation“ der maßlosen Übertreibung: keine von den Zahlen, die Tottleben aufführt ( 9 Millionen Kontributionsforderung, 6500 am 03. Oktober auf Berlin abgefeuerte Geschosse, 700 Mann Verlust infolge des missglückten Sturms usw. usf.), meint Wilke, findet ihre Bestätigung in den sonstigen Quellen (Wilke, S.49). In diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant, die Angaben der „Relation“ mit Tottlebens Bericht an Fermor vom 04.Oktober zu vergleichen: hier beziffert er seine Verluste auf insgesamt 86 Mann, davon 61 Verwundeten (Korobkov, Semiletnjaja vojna, S.675), d.h. diesmal untertreibt er wahrscheinlich stark. Die Kritik Wilkes, generell richtig, trifft jedoch in einem Punkt nicht zu: die Forderung einer Kontribution in Höhe von 9 Millionen Talern wird vom Graf Lehndorff in dessen Tagebüchern bestätigt ( Lehndorff. S.131). 28 Stellung räumen, da er die Kunde von der Ankunft des Korps des Prinzen von Württemberg erhält. Tottlebens Artillerie ist nach dem nächtlichen Bombardement in einem desolaten Zustand. Wegen der Entfernung zu den Zielen in der Stadt werden die Kanonen verstärkt mit Pulver geladen, nur drei von ihnen - laut seinem Bericht an Fermor (Korobkov, Semiletnjaja vojna, S.674) - halten die Nacht aus. 22 Dazu kommen die Schwierigkeiten mit der Versorgung. Die Soldaten, wie er Fermor berichtet, haben seit drei Tagen kein Brot erhalten (ebenda) und da der Versuch, sein Korps auf Kosten der eroberten Stadt zu ernähren, scheitert, muss er schleunigst alternative Versorgungswege für die Truppe erschließen. Und, schließlich, glaubt Tottleben möglicherweise tatsächlich an „Hülsens Eingreifen..., das ihn zwischen zwei Feuer bringen würde“ ( Granier, S.119, in seinem Bericht an Fermor erwähnt Tottleben allerdings diese Befürchtungen nicht), wenn er in seiner Stellung vor Berlin bleibt. Unter diesen Umständen entscheidet Tottleben nach Köpenick zu gehen. Das Städtchen Köpenick bietet durch seine Brücken die Möglichkeit, sowohl den Anschluss an das heranrückende Korps von Tschernyschew, „mit dessen Hilfe allein noch die Einnahme Berlins zu erwarten war“ (ebenda), als auch zum linken Spreeufer aufrecht zu erhalten. Gegen 11 Uhr bricht er auf, 23 zurück bleiben nur einige Hunderte leichte Reiter unter Turowerow und Tswetanowitsch, die sich in den darauffolgenden Tagen mit der preußischen Kavallerie scharmützeln. Unterwegs vereiteln seine Kosaken den verspäteten Versuch der Preußen, Brücken zu beseitigen: „Hier haben wir eine Mannschaft, die eine Spreebrücke bewacht hat, einen Offizier mit vierzig oder fünfzig Soldaten, der bereits das Stroh herangeschleppt hat um die Brücke niederzubrennen, gefangen genommen. Die Kosaken hinderten ihn daran ...indem sie ihm in den Rücken gefallen sind, 22. Nach den Berechnungen von Masslowski soll Tottleben in dieser Nacht insgesamt 8 Geschütze einbüsst haben (Masslowski, S.236). 23. Das fliegende Detachement gegen Köpenick, das aus einem Kommando der Grenadiere und den Grenadieren zu Pferde mit zwei schweren Geschützen besteht, wird von Tottleben persönlich angeführt. Zuvor wird Bachmann zur Rekognoszierung rausgeschickt. Melgunow schließen den beiden nach und nach an. 29 Die übrigen Kräfte unter weshalb er gezwungen war, sich zu ergeben,“ - erinnert Prozorowskij (Prozorowskij, S.66, Sprache-russ., Übersetzung des Autors). Doch diese kleinen Erfolge können die Katerstimmung des Grafen Tottleben nicht beseitigen. Er ist zutiefst frustriert: die Lorbeeren des Hauptstadtbezwingers, die er unbedingt vor seinem Konkurrenten Graf Tschernyschew erhalten will, rücken in weite Ferne. Nun reagiert er seine nachvollziehbare Enttäuschung an den Köpenickern ab. Martin Küster verweist in seiner Beschreibung der Einnahme von Köpenick durch die russischen Truppen auf Johann Gottfried Beneke, damals Oberprediger der Köpenicker St.-Laurentius- Gemeinde: „ Durch Beneke wissen wir: Tottlebens Artilleristen hatten vor Berlin ihre Munition bis auf zehn Kugeln verschossen. Diesen Rest verwendete der General nun am Abend des 4. Oktober gegen Köpenick. Das erste Geschoss flog weit über das Städtchen hinaus und setzte eine Scheune in Brand. Die nächsten sechs durchschlugen Ziegeldächer, zündeten jedoch nicht. Der achte Schuss ließ ein Militärobjekt in Flammen aufgehen: Pferdestall und Fouragedepot der in Köpenick stationierten berittenen königlichen Feldjäger, von denen ein Leutnant und 36 Mann anwesend waren. Jetzt ergab sich die Stadt.„ (Küster) Und die Augenzeugen, die den Einzug der Tottleben-Truppen in Köpenick verfolgen, berichten, dass der General „mit gewaltigem Zorn“ (ebenda) in die Stadt kommt. Doch die Köpenicker wissen sich zu helfen: der Ruf des Generals als notorischer Schürzenjäger ist ihnen aus der vergangenen Zeit bestens bekannt. Und so quartieren sie den General und seine Maitresse bei der schönsten Witwe des Städtchens ein. Ein angenehmer Abend in der Damengesellschaft bewirkt Wunder: am nächsten Tag wird General Tottleben zur Milde in Person und der Bürgermeister von Köpenick zu seinem besten Freund. Diese hübsche Anekdote erzählt uns Martin Küster. 30 Teil 3: Berlin wehrt sich Des Guten zu viel getan Seite 32 Das Blatt wendet sich erneut Seite 33 Keine Ruhe vor dem Sturm Seite 37 Die Sache geht der Lösung entgegen Seite 42 31 Des Guten zu viel getan Gottlob, dass die Berliner sich nicht allein auf die weiblichen Reize verlassen müssen: sie haben nämlich bessere Beschützer. Noch in den früheren Morgenstunden des 04.Oktober rückt die Kavallerie des Prinzen von Württemberg (Provinzial-Husaren, Plettenberg- und Württemberg-Dragoner) in die Stadt ein. Gegen 13.00 Uhr folgt ihr die Infanterie. Durch die verzweifelten Briefe Rochows alarmiert, muss der Prinz auf seinen Plan, die Schweden anzugreifen, unter den gegebenen Umständen verzichten. Er lässt eine kleine Truppe zur Deckung gegen die Schweden zurück und eilt mit einem 5000 - 6000 Mann starken Korps nach Berlin. 24 Fliegen kann er allerdings nicht, dafür zeigen seine Soldaten wahre Wunder an Ausdauer in einem höchst strapaziösen Marsch. Sie erreichen die Stadt, völlig erschöpft, gerade im richtigen Moment. Nach den stürmischen Erlebnissen der vergangenen Nacht feiern sie die Berliner “wie vom Himmel gesandte Erreter“ (Archenholz, S. 256). „Die Hertzen,- atmet Probst Süßmilch auf, wurden etwas erleichtert...“ (Wilke, S.25f ). Der Berliner Magistrat organisiert sofort die großzügige Verpflegung der Soldaten, er stellt ihnen Unmengen von Fleisch, Bier und Schnaps zur Verfügung. 25 Diese „fast allzu reichliche“ (Archenholz) Fütterung ist allerdings auch der Grund, warum die Soldaten nicht gleich einsetzbar sind. Als gegen Mittag ein großes Aufgebot der Württembergs Kavallerie auf die Russen losgeht, kämpfen die Reiter nicht so sehr gegen den Feind, sondern gegen die Müdigkeit. Es gelingt ihnen 24. Prinz Württemberg setzt 7 Schwadronen Kavallerie und 9 Bataillonen Infanterie in Marsch auf Berlin. Zurück bleiben 2 Bataillonen Infanterie, 10 Schwadronen Kavallerie und 200 Husaren von Zieten unter dem Kommando vom Oberst Belling. Diese Kräfte reichen nur, um die Schweden zu beobachten (Geschichte des Siebenjährigen Krieges in einer Reihe von Vorlesungen..., S.149). 25. „...in aller möglichen Geschwindigkeit wurde eine große Anzahl Ochsen geschlachtet, viele hundert Tonnen Bier und Brandtwein, ingleichen viele tausend Brodte angeschafft und in das Opernhaus gebracht, aus welchen denn nicht allein mehr beredtes Corps bey seiner Ankunlt, sondern auch während der Zeit, daß selbigen mit den Russen vor dem Thor scharmuzierte, und bis zu seinem Abzug unterhalten worden.“ ( Aus den Erinnerungen von Gotzkowsky, in: Duwe, S.63) 32 gerade mal zwei Kosaken zu fassen, der Rest weicht vor der Nase der preußischen Reiterei nach Köpenick aus. Gleich nach dem Abzug der Preußen erlauben sich die Kosaken die Frechheit, in Rixdorf, direkt vor den Toren der Stadt, erneut aufzutauchen. Nach diesem „beeindruckenden“ Ergebnis der Stärkedemonstration verzichtet Prinz von Württemberg auf weitere Experimente und gibt seinen Männern einen Ruhetag. 26 Er verkündet jedoch, dass er fest entschlossen sei, am 06.Oktober, nachdem seine Soldaten den Rausch ausschlafen haben, „dem Feinde auf den Hals zu gehen“ (Granier, S.119). Das Blatt wendet sich erneut Sein Versprechen wird er nicht einlösen. Am Abend den 05.Oktober zeigen sich die ersten Soldaten des Tschernyschew Korps 27 auf dem rechten Spreeufer. Durch 26. Herman Granier verrät uns ein interessantes Detail: im Korps des Prinzen von Württemberg dient zu dieser Zeit ein Sohn von Tottleben. Erst nach Berlin reicht er dem Prinzen seine Bitte um Beurlaubung ein (Granier, S.143). Tottlebens eigener Bruder, Oswald Lebrecht von Tottleben, ist ebenfalls bei den Preußen im Range eines Oberstleutnants (Duwe, S.273). 27. Das Tschernyschew Korps besteht aus den folgenden Truppenteilen: -4er Grenadier Regiment; -2er Moskauer Infanterie Regiment; -Kiewer Infanterie Regiment; -Vjatkaer Infanterie Regiment; -Sankt Petersburger Infanterie Regiment; -Nevaer Infanterie Regiment; -Vyborger Infanterie Regiment mit der Gesamtstärke von ungefähr 12.000 Mann. 33 das Eintreffen der Hauptkräfte der Russen wendet sich das Blatt erneut zu Ungunsten der Verteidiger. „ Man sähe nun, daß der Feind eine ansehnliche Verstärckung bekommen hatte, und aus einigen gefangenen Kosacken erfuhr man, daß er an 13000 Mann angewachsen, und auch Infanterie in ziemlicher Menge bey sich habe“, - registriert Probst Süßmilch (Wilke, S.27). Nun benötigt Prinz Württemberg die Unterstützung des Generals von Hülsen, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Sein kleines Korps verteilt er an den beiden Spreeufern, sowohl hinter der Zollmauer als auch an den vor der Stadt platzierten Stellungen, die allerdings, angesichts der Ausdehnung der Stadtbefestigungen, zum Teil nur schwach besetzt werden können. 28 Von seinem Quartier im Wirtshaus „Zur neuen Welt“ vor dem Frankfurter Tor im heutigen Friedrichshain schickt er Eilboten zu General Hülsen aus. Sie erreichen den General am 06.Oktober in Beelitz. Hülsen befiehlt General von Kleist, mit 6 Bataillonen Infanterie und 12 Schwadronen Reiterei noch am Abend des gleichen Tages nach Berlin aufzubrechen, er selbst folgt ihm am nächsten Tag mit dem Rest seines Korps. Hülsens Infanterieregiment von Salmuth befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Potsdam. Von dort wird er von Prinz Württemberg nach Berlin beordert und arbeitet sich schwer durch die Reihen der Kosaken bevor er die Hauptstadt 29 erreicht. Noch zu Beginn der Operation fordert Tschernyschew, dem die Reiterei vollständig fehlt, eine Verstärkung seines Korps bei Fermor. Der französische Verbindungsoffizier im russischen Stab, Marquis de Montalembert, der Tschernyschew begleitet, wird extra zu diesem Zweck in das Hauptquartier geschickt. Ihm gelingt es, zwei Kürassier-Regimenter von Fermor zusätzlich zu bekommen, weit weniger als Tschernyschew anfordert. Außerdem sollen sich ihm die Kosaken unter Krasnoschtschekow anschließen. Auf Betreiben von Tottleben schickt man sie jedoch zunächst nach Storkow. 28. Die Hauptkräfte der Verteidiger werden auf den Anhöhen vor dem Hallischen Tor (3 Infanteriebataillone) und in der Gegend der Neuen Welt, zwischen dem Frankfurter Tor und dem AltLandsberger Tor ( 5 Bataillone und 5 Schwadronen unter dem Major Zedmar), aufgestellt. 29. Die 2 Bataillone von Salmuth mit der Bäckerei des Hülsenschen Korps treffen am 06.Oktober in Potsdam ein. Hier erhalten sie den Befehl des Prinzen von Württemberg, den Marsch unverzüglich nach Berlin fortzusetzen. Sie werden bei Zehlendorf von der Reiterei Tottlebens attackiert. Dank der geschickten Führung des Kommandeurs Major Cordier und der Tapferkeit seiner Soldaten, gelingt es 34 Auf der russischen Seite passiert am 05.-06.Oktober nicht viel. Am Abend des 05.Oktober reitet Tschernyschew zu Tottleben nach Köpenick um einen gemeinsamen Operationsplan zu besprechen. Am nächsten Tag unternehmen die beiden zusammen in Begleitung von Kosaken einen Erkundungsritt auf dem rechten Spreeufer. Tschernyschew geht, im Vergleich zu Tottleben, viel vorsichtiger ans Werk. Nach dem er die Kunde über den Misserfolg von Tottleben erhält, ersucht er bei Fermor erneut um Verstärkung. Nun will er das von Fermor rausgeschickte Korps des Grafen Panin abwarten, bevor man weitere Schritte unternimmt. Mittlerweile tauscht er zwei schwere Kanonen und die InfanterieBrigade unter Brigadier Benckendorf (2.Moskauer und Kiewer Infanterieregimente) gegen ein Husaren-Regiment von Tottleben, um seine Kavallerie zu verstärken. Die beiden russischen Kommandeure, die nun gemeinsam agieren sollen, repräsentieren grundverschiedene Charaktere. Tschernyschew ist ein junger, 38jähriger, russischer Hochadliger aus einer einflussreichen Familie. Sein Biograph bezeichnet ihn als „mürrisch, besonders frühmorgens“, „unzugänglich“, „streng“, „anspruchsvoll“ (Bantys-Kamenskij, Rossijskije generalissimusy..., S. 271). Seine Befehle gibt er mit leiser Stimme, nicht desto trotz, fürchten ihn seine Untergebenen sehr. Gleichzeitig kann er mit Fremden oder den Leuten seines Standes sehr umgänglich sein. Er ist ein berechnender Höfling. Für seine Qualitäten als Hofintrigant spricht die Tatsache, dass er, der dem Thronfolger und späteren Zaren Petr III. sehr nahe steht, gleichzeitig die Freundschaft und das Vertrauen der künftigen Zarin Katharina der Großen genießt. Dies ist ein Spagat, der, angesichts des tiefen Hasses zwischen den Eheleuten, sonst kaum jemandem gelingt. 30 Im Vergleich mit Tschernyschew ist Tottleben kein ausgezeichneter Diplomat. Er ist hitzig, großmäulig, reizbar und ein wahrer Meister darin, sich Feinde zu schaffen. Als notorischer Frauenheld und Prasser führt der 44-jährige Tottleben „ein unruhiges Leben“ (Hirsching, S.250), das bisher immer nach dem gleichen dem Regiment, alle Angriffe der Kosaken, die von Tottleben persönlich angeführt abzuwehren und sich mit den Verteidigern der Hauptstadt zu vereinigen. 30. werden, Zarin Elisaveta beobachtet die, ihrer Meinung nach, „übermäßige Gewandtheit“ des jungen Höflings mit Argwohn und initiiert seine Versetzung aus dem Hofstaat in das Feldheer. 35 Muster verläuft: Aufstieg, Sturz, Strafverfolgung, Flucht, erneuter Aufstieg, erneuter Sturz usw.. Nur „mit Hülfe seiner bemerkenswerthen Schlauheit, Dreistigkeit und Gewandtheit“ (Masslowski, S.245) schafft er immer wieder sich aus den selbstverschuldeten misslichen Lagen zu befreien, die jedem anderen zum ewigen Verhängnis wären. Seinen „üblen Ruf“ (Hirsching, S. 232) eines Abenteurers besitzt er folglich verdientermaßen. Dieser Ruf begleitet ihn auch nach Sankt Petersburg, wo er, der Nachfahre eines thüringischen Geschlechts, kaum sehr viele einflussreiche Gönner hat. Nur ein enormer Ehrgeiz ist den beiden Generälen gleichermaßen eigen. Tottleben sieht „den Augenblick herannahen, der ihn auf den Gipfel der Größe und des Ansehens auf eine Art setzen sollte, die fähig wäre, Europa in Erstaunen zu setzen, und ihm einen Triumph über eine Menge Feinde zu gewähren“ (Hirsching, S.235). Tschernyschew hat mit Sicherheit die gleiche Vision. Laut seinem Biograph liebt er drei Dinge über alles: die Zarin, das Vaterland und der Ruhm (Bantys-Kamenskij, Rossijskije generalissimusy..., S. 271). Die persönlichen Unterschiede fallen wegen der ungeklärten Führungsmodalitäten verstärkt ins Gewicht. Seine Position am Sankt Petersburger Hof und die Tatsache, dass er der Rangältere von den beiden ist und die größere Truppe befehligt, geben Tschernyschew das Recht spätestens nach dem Zusammenschluss beider Korps sich als Haupt des Unternehmens zu verstehen. In seinen Relationen an das Hauptquartier nutzt er jede Gelegenheit, um seine führende Rolle vor Ort zu unterstreichen und sich als Weisungsgeber darzustellen. Die Beschlüsse der Petersburger Konferenz und des Kriegsrates beschränken jedoch seine Aufgabe auf die Unterstützung bzw. die Deckung des Tottlebischen Korps. Tottleben hat demnach allen Grund, die Unternehmung als seine eigene zu begreifen und auf seiner relativen Selbständigkeit, wenn auch nicht auf seiner vollkommenen Handlungsfreiheit, zu bestehen. So keimen die späteren Anfeindungen unter den um die Ehre des Berlinbezwingers konkurrierenden Generälen. 31 31. Seinen Anspruch auf die Führung der Operation erhebt Tschernyschew gleich zu ihrem Beginn. Eine der Aufgaben Marquis de Montalembert bei seinem oben erwähnten Besuch des Hauptquartiers ist, Fermor zu überreden, das Korps von Tottleben Tschernyschew unterzuordnen. Fermor beugt sich jedoch dem Beschluss der Sankt Petersburger 36 Konferenz und segnet somit endgültig die Es gibt an diesen beiden Tagen keine erwähnenswerten Kriegshandlungen, nur kleine Scharmützel: „Der Feind zeige sich nun von beiden Seiten der Spree, und war zum Theil bey Strahlow im Walde versteckt, von wannen er öfters bis an die Thore und Pallisaden streitete, daher man zuweilen Kanonenschüße hörete“ ( Wilke, S.27). Keine Ruhe vor dem Sturm Am Dienstag, dem 07.Oktober, erleben die Berliner „einen warmen und angstvollen Tag“(Wilke, S. 27). An beiden Spreeufern - und zwar im künftigen Kreuzberg auf dem Gelände zwischen dem Schlesischen und dem Potsdamer Tor und im künftigen Friedrichshain zwischen dem Stralauer und dem Frankfurter Tor bis hin zum Landsberger Tor - flammen den ganzen Tag über kleine Gefechte auf. Die Bürgerschaft fiebert „von den Thürme und hohen gebäuden“ (Wilke, Doppelführung des Streifzuges auf russischer Seite. In seinen Berichten, wie beispielsweise im Bericht an die Kaiserin vom 7.Oktober, spricht Fermor von einer „gemeinschaftlichen Führung“ der Operation gegen Berlin. Die Folgen dieser Aufteilung der Führung sind nachhaltig. Zwar beugt sich Tottleben pro forma dem Anspruch auf den Oberbefehl des rangälteren Generals, gleichzeitig jedoch hält er es nach den Angaben von Masslowski gar nicht für nötig, die Anweisungen von Fermor seinem direkten Vorgesetzten mitzuteilen (Masslowski, S.240). Die Trennung von Tschernyschew durch die Spree ermöglicht Tottleben die Unabhängigkeit seines Handelns, die er konsequent anstrebt. Eine gemeinschaftliche Führung der Expedition wird unter diesen Prämissen zu einer Fiktion. Vielmehr ist der Begriff Konkurrenzkampf für die Bezeichnung der Beziehung zwischen den beiden Generälen zutreffend. Bemerkenswert, dass später die Führung der Operation Tschernyschew allein zugeschrieben wird. Derselbe Fermor behauptet in seiner Relation nach der Einnahme Berlins, „dass der Oberbefehlshaber bei dem ganzen Unternehmen der Generallieutenant Graf Tschernyschew gewesen sei“ (Masslowski, S.241). Bis heute wird der Streifzug gegen Berlin in Russland vorrangig mit dem Namen Tschernyschew in Verbindung gebracht. herausgegebenen Büchern wird der In einigen während des Zweiten Weltkrieges Name des Deutschen Tottlebens im Zusammenhang mit der Einnahme Berlins erst gar nicht erwähnt. 37 ebenda) wie im Theater mit. Am Vormittag erhält Graf Tschernyschew eine Meldung von Lacy. Graf Lacy berichtet, dass das preußische Korps des Generals von Hülsen sich aus der südlichen Richtung Berlin nähert und dass er, zusammen mit Tottleben, die Preußen angreifen will. Als Tottleben auf den Schauplatz seines misslungenen Sturmes zurückkehrt, findet er ihn verändert vor. Prinz Württemberg besetzt die von den Russen geräumte Stellungen vor dem Hallischen Tor und verstärkt sie durch etwa 60 Kanonen (nach Einschätzung von Prozorowskij. Prozorowskij, S.67, Tottleben selbst spricht von mehr, als 20 Kanonen (Korobkov, S. 677) der städtischen Artillerie. Tottleben, der keine vergleichbare Feuerkraft besitzt, bringt seine schweren Geschütze vor dem Schlesischen Tor in eine durch den dichten Wald gedeckte Stellung. Seine Truppen stellt er auf dem Gelände zwischen dem Schlesischen Tor und dem Potsdamer Tor außer Reichweite der gegnerischen Artillerie auf. Kurz darauf schließt sich ihm Graf Lacy an. In Begleitung des Kavalleriekonvois, bestehend hauptsächlich aus Ulanen, reitet Lacy seinem Korps, das noch einen Tagesmarsch von Berlin entfernt ist, voraus, um mit den Alliierten die Situation vor Ort zu besprechen. Zusammen mit den Kosaken und Husaren Tottlebens nehmen die Österreicher gegen 11.00 Uhr in Mariendorf an einem Gefecht mit dem General Kleist teil, der über Zehlendorf und Steglitz in Richtung Schöneberg einrückt. Auf die Nachricht vom Herannahen der Preußen hin formiert Tottleben sein Korps neu in einer Rückwertstellung zwischen Britz und Rixdorf. Er ist noch mit der Neuaufteilung seiner Truppe beschäftigt, als plötzlich die Vorhut des Korps von General Kleist in Mariendorf eintrifft. Das sind 12 Schwadronen unter Oberst Friedrich Wilhelm Gottfried Arnd von Kleist. Blitzartig nimmt Oberst Kleist den günstigen Augenblick wahr und attackiert die noch im Formieren begriffenen, desorganisierten Reihen der russischen Kavallerie. Sein wagemutiger Überraschungsangriff wird zunächst vom Erfolg begleitet: er wirft die zahlenmäßig überlegene russische Reiterei zurück und erbeutet vier Kanonen. Doch bald darauf ist er gezwungen, selber zu flüchten. Vor der Übermacht der vereinten russisch-österreichischen Kräfte weicht er nach Mariendorf zurück, wo während des 38 Kavalleriegefechts der Rest des Korps von Kleist eintrifft. Die erbeuteten Kanonen werden im Stich gelassen und fallen erneut in die Hände der Russen. Das Ganze geschieht so schnell, dass die Infanterie Tottlebens erst gar nicht in die Kämpfe eingreift. Von nun an beginnt ein Katze-Maus Spiel zwischen den Generälen Tottleben und Kleist. General Kleist versucht immer wieder über Tempelhof, Lankwitz und Schöneberg Berlin zu erreichen, Tottleben hindert ihn daran. Auf beiden Seiten wird heftig aus allen Kanonen geschossen, doch einem Nahkampf geht man aus dem Weg. Denn aus Furcht vor der überlegenen feindlichen Kavallerie vermeidet es General Kleist, die für den Reitereieinsatz geeigneten Ebenen zu betreten. Nach einer Reihe von komplizierten taktischen Manövern, die nicht zum erwünschten Erfolg führen, zieht General Kleist seine Truppen nach Giesensdorf zurück. Hier wird er auf das Gros des Hülsens Korps warten. Die erste Runde gewinnt also Tottleben nach Punkten. Die zweite Runde, über die wir im folgenden noch berichten werden, geht jedoch an seine Gegner: den Truppen der Alliierten gelingt es schließlich nicht, den Einzug der preußischen Einheiten zu verhindern. Nicht desto trotz erstattet Tottleben preußische eine Siegesmeldung: Soldaten gefangen er berichtet genommen Tschernyschew, hat, darunter 3 dass er Offiziere, 200 die Österreicher sollen 60 Soldaten und einen Offizier gefangen genommen haben. Die Verluste der Preußen beziffert er in seinem Bericht auf 612 Gefallene (Razgrom..., S.66). Die Preußen dagegen melden hohe Verluste bei den Russen. Die vier kurzweilig erbeuteten Kanonen werden immer wieder als Beweis für den Erfolg der Preußen präsentiert. Nachdem das Gefecht mit Kleist zu Ende geht, richtet Tottleben seine Kanonen gegen die Stadt. Berlin wird erneut unter Beschuss genommen. An zwei Stellen brennt es. Mehr ist nicht zu erreichen, da die beiden schweren Geschütze, die Tottleben von Tschernyschew erhielt, springen. Die bescheidene Wirkung dieser zweiten Bombardierung der Stadt wird sowohl in den preußischen, als auch in den russischen Quellen übereinstimmend bestätigt. Noch während des Gefechts gehen ein Haus am Hallischen Tor und das Dorf 39 Schöneberg in Flammen auf. Probst Süßmilch macht die Kosaken Tottlebens dafür verantwortlich: „Mitlerweile zündeten die Kosacken das Dorf Schoenberg von Haus zu Haus an, daß auch nichts davon stehen geblieben ist“ (Wilke, S.27). In seinem Kommentar stellt Jürgen Wilke diese eindeutige Schuldzuweisung in Frage (Wilke, S. 52). Gegen 14.00 Uhr legt sich das Kanonenfeuer am linken Spreeufer endgültig. Die Berliner, die die Handlung verfolgen, richten nun ihre Ferngläser in Richtung des heutigen Friedrichshain: „...da es aber von dieser Seite stille geworden, so ging das Scharmütziren, auf der anderen Seite der Spree vor dem Straulauer und Franckfurter bis zum Landsberger Thore fort „ (Wilke, S. 28). The show must go on. Am rechten Spreeufer stößt das gegen Lichtenberg und Weißensee heranrückende Korps Tschernyschews zu den schwach besetzten Vorposten des Prinzen Württemberg westlich von Lichtenberg und zwingt sie zum Rückzug unter Schutz der städtischen Artillerie. Im Kriegstagebuch des russischen Hauptquartiers wird am 09.Oktober (28.September) 1760 eingetragen: „Der Rapport des General-Leutnants Graf Tschernyschew vom 27.September mit der ausführlichen Beschreibung des am 26.September stattgefundenen Scharmützels mit dem Gegner beim Aufschlagen des Lagers vor Berlin erhalten, und zwar, obwohl auf den Anhöhen vor Berlin, wo das Aufschlagen des Lagers verordnet wurde, ein kleines Korps des Gegners seine Stellung hatte und Artillerie für die Verteidigung besaß, wurde von unserer Seite demgegenüber eine Batterie aufgestellt gegnerische und das Artillerie Kanonenfeuern zum begann, Schweigen dadurch gebracht, wurde sondern nicht auch nur das die ganze gegnerische Korps ergriff die Flucht, wobei ein Zwölfpfünder, eine Haubitze und ein Munitionskasten zurückgelassen wurden. Unsere Batterie wurde vom Artillerie-Major Lavrov befehligt, der hohes Lob dafür verdient, dass er so geschickt und gewandt aus den aufgestellten Geschützen gegen den Gegner vorging. In der gleichen Zeit wurde das vor dem linken Flügel des Lagers befindliche Dorf durch vier Kompanien Grenadiere unter der Führung von Oberst Labadia besetzt und die Versuche des Gegners, unser Detachement zu 40 vertreiben, wurden durch die geschickte Verteidigung des obengenannten Oberst immer unterbunden. Fast den ganzen Tag haben unsere Husare und Kosaken mit der gegnerischen Kavallerie und den Husaren scharmützelt und immer den Gegner zu seiner Infanterie und in den Schutz der städtischen Artillerie vertrieben, wobei Oberst Podgoritschani sich ausgezeichnet hat. Gegen fünf Uhr am Nachmittag wurde die ganze gegnerische Kavallerie, bestehend aus sechs oder sieben Schwadronen, aufgestellt und begann zu manövrieren, dagegen brach GeneralMajor Gaugreven mit zehn Schwadronen Kürassiere auf, jedoch zog sich der Gegner, sobald er den Widerstand wahrgenommen hat, sofort unter den Schutz der Kanonen zurück. Gegen sieben Uhr wurde die Ansammlung der Infanterie und der Artillerie an der gegenüber liegenden Stadtseite beobachtet, wo der Gegner seine Regimente aufgestellt und das Kanonenfeuern begonnen hat. Jedoch weil alle Geschütze auf unserer Seite bereits in Stellung gebracht wurden und in Betrieb waren, wurde die gegnerische Artillerie zum Schweigen gebracht, und das aufgestellte Heer zog sich mit erheblichen Verlusten schlagartig zurück. Unsere Verluste bestehen aus 3 getöteten Grenadieren und einem Kanonier, 4 Grenadieren, 6 Musketieren, 4 Füsilieren. 4 Husaren des Moldauer Regiments sind verwundet, 3 Kosaken des Brigadiers Krasnoschtschekow, der ebenfalls Mut gezeigt hat, sind getötet, 5 – verwundet. Vom Gegner wurden eine Haubitze und ein Munitionskasten mit Geschossen erbeutet, 35 Mann gefangen genommen und ebensoviele Deserteure, die angegeben haben, dass der Gegner bis zu 400 Mann verloren hat“ (Razgrom..., S.64ff, Sprache-rus., Übersetzung des Autors). Probst Süßmilch zeichnet ein anderes Bild des „Scharmützirens“. In der Darstellung des patriotischen Probst wehrt die zahlenmäßig unterlegene preußische Reiterei den Feind mehrfach ab: „Sie trieb ... die feindliche Cavallerie etliche mahl glücklich zurück, ... sie konnte sich aber nicht zu weit wagen, damit nicht die andere feindliche Hauffen hinter ihren Rücken auf die Stadt etwas unternehmen möchten“. Die erfolgreichen Vorstöße der Verteidiger konnte man „auch ohne ferngläser auf das deutlichste“ mitverfolgen (Wilke, S. 28). Auch die sonstigen Quellen berichten über die Tapferkeit der preußischen Kavallerie: „Unsere Leute sind voller Muth und halten sich gut“ (Wilke, S.53). Der Verlust von Kanonen wird jedoch bestätigt. Die Kanonen werden zurückgelassen, da durch das Auffliegen 41 eines Pulverwagens „die Pferde zugleich getötet wurden, sodaß sie nicht vom Berge herunter gebracht werden können“ ( Granier, S.120). Das Schauspiel der Reiterei - Kämpfe am 07.Oktober erregt die Zuschauer. Für den weiteren Verlauf der Ereignisse ist der Ausgang dieser Gefechte jedoch irrelevant. Wie es Probst Süßmilch vermerkt: „Dieser für Berlin schreckhafte Dienstag war ... nicht entscheident, und man sähe gegen Abend beide Armeen an den Orten stehen, wo sie den Morgen gewesen“ (Wilke, S.29). Die Bedeutung dieses Tages in Bezug auf die Entscheidung steht in einem anderen Zusammenhang, der die Erfolge und die Misserfolge der kleinen Kräfteproben relativiert. Die Sache geht der Lösung entgegen Am 07.Oktober kommt es zur Vereinigung aller verfügbaren Kräfte zur Verteidigung der Hauptstadt. Auch der Gegner bekommt Verstärkung und am nächsten Tag, dem 08.Oktober, schließen sich ihm die restlichen Truppen an. Nun sind die Antagonisten vollzählig. Mehr Unterstützung haben sie demnächst nicht zu erwarten. Es gibt für beide Seiten keinen Grund mehr, die Entscheidung aufzuschieben. Am Abend des 07.Oktober erreicht Hülsen mit seinen Hauptkräften Berlin und vereint sich mit General Kleist. Es kommt zu keinem Zusammenstoß mit dem Feind. Auf die Nachricht über seine Ankunft hin besetzen die russischen Einheiten, unterstützt von den Lacy-Ulanen, die Anhöhen von Tempelhof, auf die er sich direkt zubewegt. Jedoch Hülsen, da er die Kräfte der Russen nicht kennt, geht auf Nummer sicher und macht bei seinem Einzug in die Stadt einen Bogen um die Höhen. Die russischen Infanteristen des Zweiten Moskauer Regiments unter Fürst Repnin, die zahlenmäßig unterlegen sind, wagen ebenfalls nicht, das Hülsens Korps anzugreifen. So kreuzen sich die Gegner in Sichtweite, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern. Hülsen schlägt sein Lager am Hallischen Tor auf. Kurz darauf reitet Lacy in Begleitung des Konvois zurück zu seinem Korps. Er nutzt seinen 42 kurzen Besuch um u.a. gegen 18.00 Uhr die Stadt im eigenen Namen aufzufordern - erwartungsgemäß ohne Erfolg. Als Hülsen unbehelligt seine Soldaten nach Berlin bringt, schöpfen die Berliner neue Hoffnungen: „...da man aber auch zu gleicher Zeit die würckliche Ankunft des gantzen Corps unter dem General Hülsen erfuhr, so ward man wieder in etwas beruhiget, und glaubte, daß eine Armee von 16 bis 18000 Mann, die mit vieler Artillerie versehen, der feindlichen Macht hinlänglichen Wiederstand thun und Berlin decken würde“ (Wilke, S.30). Fast zeitgleich mit dem Eintreffen von Hülsens schließen sich 5 Schwadronen Kürassiere und 6 Kompanien Grenadiere, die Vorhut des Korps von GeneralLeutnant Graf Panin, General Tschernyschew an. Sie führen 6 Geschütze mit. Der Rest des Korps erreicht Berlin gegen 11 Uhr am Vormittag des nächsten Tages. Mit seinen 8.000 Mann verstärkt Panin die rechte Flanke des Tschernyschew Korps. Von nun an sind die Belagerer in der Übermacht. Allein die Russen verfügen über etwa 28.000 Mann. Diese Übermacht wird noch erdrückender, als am 08.Oktober, gegen Mittag, in Mariendorf das österreichische Korps des Grafen Lacy eintrifft. Es besteht aus 8 Infanterie-Regimentern, 2 Grenadier-Bataillonen, 1 Regiment Kroaten, 3 österreichischen und 4 sächsischen Kavallerie-Regimentern, 2 Husaren- und 2 Ulanen-Regimentern. Bei einer Stärke von 16.000 Mann ist Lacys Korps für sich allein genommen den gesamten Kräften der Verteidiger ebenbürtig. 32 32. Dmitrij Masslowski präzisiert die Aufstellung der Verbündetenkräfte: „Am 8. Oktober hatten die Verbündeten die Umgegend von Berlin in folgender Ordnung besetzt: a) Auf dem rechten Flügel: 1. 4 Regimenter Reiterei — vom Luisenbad (Gesundbrunnen, südlich von Pankow) bis Weissensee. 2. Die Infanterie Panin's (4 Regimenter) vereinigte sich nach ihrer Ankunft mit ihrer Avantgarde und den dort stehenden Kürassieren bei Weissensee. 3. Das Detachement Leontjew's (7 Regimenter Infanterie) nördlich von Lichtenberg. 4. Das Detachement des Majors Lawrow an der Strasse aus Köpenick vor Friedrichsfelde. 43 Denn die Verteidiger haben ebenfalls etwa 16.000 Mann bzw. 26 Bataillone Infanterie und 41 Schwadrone Kavallerie. Mit diesen bescheidenen Kräften sollen sie sich nun den 44.000 Soldaten der Alliierten zum Kampf stellen. 33 5. Links davon an der Spree die Kasaken Krassnotschekow's und die slaviano-serbische Schwadron. b) Auf dem linken Ufer der Spree: 6. Vor dem Kottbuser Thor — das Detachement Totleben's (zwischen Tempelhof und dem Golmberge westlich von Rixdorf). 7. Die Oesterreicher konzentrirten sich am 8. Oktober bei Lichterfelde, Lacy verzögerte aber die allgemeine Bewegung seiner Truppen nach dem Thiergarten zu, so dass die Oesterreicher erst dann die Ausgänge aus dem Brandenburger und zum Theil auch dem Potsdamer Thore eroberten, als die Kapitulation bereits abgeschlossen war“ (Masslowski, S.246f). 33. In seinem Bericht an Tschernyschew schätzt Tottleben die in Berlin vereinten Truppenverbände der Verteidiger auf die Gesamtstärke von ca. 20.000 Mann ein ( Razgrom..., S.66). 44 Teil 4: Berlin kapituliert Die Entscheidung fällt im stürmischen Regen Seite 46 Die Kapitulation Seite 51 Die Kapitulationsverhandlungen Seite 53 Der Einzug der Okkupanten Seite 55 Die unerwartet friedliche Begegnung mit dem „fürchterlichsten Feind“ Seite 56 Die Eifersüchteleien Seite 58 Weitere Ereignisse des denkwürdigen Tages 09.Oktober 1760 Seite 62 Die Kontribution: eine kleine Korrektur der überlieferten Geschichte Seite 64 45 Die Entscheidung fällt im stürmischen Regen Der sintflutartige Regenfall am 08.Oktober, der „Mann und Pferd fast gänzlich außer Stand setzte, auf denen Füßen sich zu Soutiniren“ (Granier, S. 121), bleibt allen Beteiligten in Erinnerung. Die Kriegshandlungen kommen fast zum Erliegen. Nur ein kurzes Gefecht mit einer preußischen Infanterie-Mannschaft, die sich im Wald zwischen dem Hallischen und dem Kottbusser Tor festzusetzen versucht, findet an diesem Tag statt: „An dem Cottbußer Thor attaquirten zwar die Feinde und man führete vier Canonen und kleinen Gewehr auf beyden Theilen jedoch ohne sonderl. Effect” (Wilke, S.55). Fürst Prozorowskij erinnert sich, dass das große Aufgebot der Truppe Hülsens von der Position in der Hasenheide versucht, auf die Stellung Tottlebens zu drängen. Doch Tottleben weicht in Richtung Köpenick aus und gibt seine Position preis, ohne sich auf ein Gefecht einzulassen. Die Preußen folgen ihm nicht und kehren zu ihren Batterien zurück: das stürmische Unwetter verhindert ihre Truppenbewegungen wirksamer, als das gegnerische Feuer. Auf beiden Seiten vergeht der Tag mit Vorbereitungen und Beratungen zum entscheidenden Unternehmen. Über das, was sich im Kriegsrat im Stabquartier von Tschernyschew abspielt, gibt es einen einzigen Bericht, der aus den Federn des Marquis de Montalembert kommt. Nach dem Krieg veröffentlicht der französischer Verbindungsoffizier seine „Briefe“, die in der deutschen Geschichtsschreibung seit Archenholz ( Archenholz, Geschichte... S.256) öfter als Quelle benutzt und nie hinterfragt werden. So meint Herman Granier über die Geschichten, die uns der Marquis erzählt, dass „ wir (ihm) hierin wohl Glauben schenken dürfen“ ( Granier, S.122 ), ohne allerdings die Gründe für die besondere Glaubwürdigkeit Montalemberts als Zeuge zu benennen. In der russischen Geschichtsschreibung wird der Kriegsrat im Lager von Tschernyschew nie erwähnt. Aus dem Fehlen der alternativen Quellen folgt jedoch nicht, dass wir jedem Wort Montalemberts gleich Glauben schenken müssen: zu offensichtlich ist die Absicht des Autors, seine eigene Rolle im Unternehmen hervorzuheben. 46 In der Darstellung von Montalembert bekommt Tschernyschew, nachdem er über das Eintreffen des Hülsens Korps wird, benachrichtigt Angst wegen der exponierten Stellung seiner Truppe. Er befürchtet, dass die vereinigten Kräfte der Hauptstadtverteidiger, die nach russischer Einschätzung etwa 20000 Mann zählen, ihn nun attackieren und in Schwierigkeiten bringen können. Außerdem haben seine Soldaten Brot nur für einen Tag vorrätig. Deshalb verkündet er im Kriegsrat seinen Plan, sich nach Köpenick zurückzuziehen und dort die Vereinigung mit dem Lacy-Korps abzuwarten. Ohne die Verstärkung durch das Lacy Korps will er keinen Vorstoß gegen Berlin riskieren. Alle Anwesenden (Tottleben und Lacy sind nicht anwesend) stimmen ihm zu. Alle, außer, natürlich, Marquis de Montalembert. Der Marquis tritt mit einer flammenden Rede vor der Versammlung auf, die wir hier in der Nacherzählung der Offiziere des preußischen Generalstabs zitieren: „ Der Marquis... behauptete..., daß ein Rückzug nach Coepenick unbedingt nachteilig sey, da er den Gegnern gestatte, mit vereinter Kraft auf die Generale Tottleben und Lascy zu fallen, diese zum Rückzuge zu zwingen, und so die Eroberung von Berlin ganz zu vereiteln; seiner Meinung nach müsse man daher den Feind morgen als den 9.Okt. angreifen. Im schlimmsten Falle habe man es mit den vereinigten preußischen Korps zu thun; die Gute der russischen Truppen verbürge aber, daß man auch gegen diese Uebermacht das Gefecht so lange würde halten können, bis die Generale Tottleben und Lascy, von dem Entschlusse zum Angriff noch heute benachrichtigt, durch einen Angriff auf Berlin den Feind entweder zu Detaschirungen gezwungen, oder sich der Stadt bemächtigt haben würden. Entschiede sich dennoch der Erfolg überall für die preußischen Waffen, so sey dies einer von den überraschenden Fällen, worauf man im Kriege gefaßt seyn müsse. Was das Brot anbeträfe, so unterliege es keinem Zweifel, daß man, im Besitz von Berlin, keinen Mangel daran leiden würde“ ( Geschichte des Siebenjährigen Krieges in einer Reihe von Vorlesungen..., S.155f). Und nun geschieht ein Wunder: nicht die Meinung des „mürrischen, besonders frühmorgens“ Grafen Tschernyschew, vor dem alle anwesenden Offiziere zittern, sondern die des redegewandten Franzosen, der sich 1789 trotz seiner adligen Herkunft als Revolutionsredner profilieren wird, kommt durch. Für Donnerstag, den 09.Oktober, wird der Sturm beschlossen. 47 Nach den Angaben von Masslowski hat Tschernyschew einen Auftrag von Fermor, Berlin zu erstürmen, ohne dabei jedoch etwas zu wagen. Er soll die Situation vor Ort einschätzen und, wenn das Risiko ihm zu groß erscheint, eine feste Position annehmen und auf die Verstärkungen warten, „nöthigenfalls auch- aller Truppen Fermors, der zu seiner Unterstützung zu kommen versprach“ (Masslowski, S.240). Angenommen, die Angaben Masslowskis, die er ohne Berufung auf irgendwelche Quellen macht, sind richtig. In diesem Falle wird uns die Frage interessieren, wie wahrscheinlich ist es, dass Tschernyschew die Erstürmung der Stadt an seiner Seite für viel zu riskant hält? Tschernyschew ist gewiss kein militärisches Genie, unter den russischen Zeitgenossen wird er als „Zimmergeneral“ verspottet und in die Geschichte des Siebenjährigen Krieges, wenn man von der sowjetischen Geschichtsschreibung absieht, ist er nicht wegen seiner Taten, sondern hauptsächlich dank der Unterlassung einer Tat eingegangen. 34 Trotzdem fällt es schwer anzunehmen, dass er die Preußen für so unüberlegt hält, dass er glaubt, sie werden keine Deckung gegen Tottleben und Lacy zurücklassen und allesamt auf ihn fallen. Und sollte er daran glauben und die Kräfte des Gegners gewissermaßen überschätzen, so ist es trotzdem unwahrscheinlich, dass er sich, durch das 8000 Mann starke Panin Korps verstärkt, für unterlegen hält. Der Wortlaut seiner Sturmdisposition spricht eine andere Sprache, Graf Tschernyschew zweifelt nicht im geringsten an seiner momentanen Überlegenheit: „In Anbetracht von allen Umständen und Kundschaften komme ich zum Urteil, dass der uns widerstehende Gegner derzeit nach Kräften unterlegen ist. Sollten wir die Zeit verlieren, so kann er sich verstärken und uns zum ruhmlosen Abzug zwingen, ohne dass wir unser Vorhaben verwirklichen. Daher entschloss ich mich, mit Hilfe des Allmächtigen, den Gegner morgen zu attackieren...“ (Korobkov, S.679, Sprache-rus, Übersetzung des Autors). 34. Ausgerechnet Graf Tschernyschew wird durch seinen Gönner, Zar Peter III., zum Kommandeur des russischen Korps ernannt, das Friedrich nach dem Friedens- und Freundschaftsvertrag zwischen Russland und Preußen 1762 für die Fortsetzung des Krieges in Schlesien zur Verfügung gestellt wird. Nach dem Sturz des exzentrischen Friedrich-Verehrer auf dem moskowitischen Thron fordert die neue Zarin, Katharina II., ihre Einheiten zurück. Auf Friedrichs Bitte verzögert Tschernyschew den Abmarsch seines Korps um drei Tage, was Friedrich zu einem politisch und strategisch wichtigen Sieg über Österreicher bei Burkensdorf entscheidend verhilft. 48 Später berichtet Tschernyschew: "Es ist mir nicht möglich, treffend zu beschreiben, mit welcher Spannung und Gier unsere Truppen auf diese Attacke gewartet haben; der Sieg stand jedem im Gesicht geschrieben..." (Kovalevskij ) Der von Tschernyschew verfasste Sturmplan sieht vor, die den Stadtbefestigungen vorgelagerten Stellungen der Verteidiger gleichzeitig an zwei Stellen zu attackieren: der rechte Flügel unter dem Kommando des Generals Panin soll die Anhöhen „in der Nähe von den Mühlen“, wo eine starke Batterie der Verteidiger platziert ist, einnehmen, die Attacke des linken Flügels unter General Leontjew richtet sich gegen die rechte Flanke der Verteidigungslinie, „wo heute der Gegner seine Batterie aufgestellt hat“ (Korobkov, Semiletnjaja vojna, S.679ff). Den Sturm von Palisaden erwähnt Tschernyschew in seiner Disposition nicht. Es werden keine Anstalten dafür getroffen. Wahrscheinlich sieht er die Palisaden nicht als ein ernsthaftes Hindernis, was sie mit Sicherheit auch nicht sind: so halten einige Abschnitte der Palisaden das stürmische Wetter am 08.Oktober nicht aus und fallen um (Wilke, S.43). In seinem Plan geht Tschernyschew offensichtlich davon aus, dass nach der Unterdrückung ihrer Feuerkraft den Verteidigern keine andere Wahl bleiben wird, als sich zu ergeben. Der Sturm soll um 7.00 Uhr am 09.Oktober beginnen. Das Signal zum Sturm, drei Brandkugelschüsse, soll die Batterie am linken Flügel des Panin Korps geben. Es ist nicht bekannt, inwieweit dieser Plan mit Tottleben und Lacy abgestimmt ist. Es ist sogar nicht klar, ob die beiden Generäle über den bevorstehenden Sturm auf das rechte Spreeufer informiert werden. Am 08.Oktober benachrichtigt Tschernyschew das russische Hauptquartier über sein Anliegen, Berlin am nächsten Tag zu stürmen, und legt seinem Rapport die durch ihn verfasste Disposition bei. Am gleichen Tag berichtet Tottleben dem Grafen Fermor über sein Gefecht mit General Kleist. In diesem umständlichen Bericht wird der morgige Sturm mit keinem Wort erwähnt. Auch Fürst Prozorowski verrät mit keinem Wort irgendwelche Vorbereitungen zum Sturm an Tottlebens Seite, obwohl er den 08.Oktober und insbesondere das stürmische Unwetter in seinen Erinnerungen detailliert beschreibt. Es scheint, als ob Tottlebens Leute und er selbst in die ehrgeizigen Pläne Tschernyschews erst gar nicht eingeweiht sind. Und über Lacy wissen wir nur, dass er fest entschlossen ist, gleich nach der Ankunft zum Sturm 49 überzugehen. Dieses Anliegen steht jedoch in keinem Zusammenhang mit dem Unternehmen von Tschernyschew, er bringt es noch während seines Aufmarsches zum Ausdruck. Den Verdacht, dass der General Tschernyschew Berlin im Alleingang erobern will und so die Lorbeeren des Siegers mit niemandem teilen will, wird man beim Lesen der Disposition nicht los. Die Konkurrenten Tottleben und Lacy werden in seinem Sturmplan mit keinem Wort erwähnt. Der Plan ist sehr detailliert. Viele Kleinigkeiten, die nicht sehr bedeutsam erscheinen, wie, z.B., welche Begleitung Verwundete bekommen sollen, die noch gehen können, werden akribisch geregelt. Jedoch wird man vergeblich nach Hinweisen für die Aufrechterhaltung der Kommunikation mit dem linken Spreeufer in diesem Plan suchen. Mehr noch, Tschernyschew bricht praktisch die direkte Verbindung zum anderen Ufer ab, indem er zwei seiner Einheiten, die noch in Köpenick stationiert sind, nach Berlin beordert, wo sie, eine Meile von der Stadt entfernt, in seiner nächsten Reserve bleiben sollen. Unterdessen versammelt sich auch in der belagerten Stadt - im Stabquartier des Prinzen von Württemberg am Frankfurter Tor - ein Kriegsrat. Das ursprüngliche Vorhaben des Prinzen, am 09.Oktober, verstärkt durch die Teile des Hülsens Korps, Tschernyschew auf dem Lichtenberger Feld anzugreifen, wobei Hülsen mit 35 schwächeren Kräften Tottleben in Schach hält, wird nach dem Auftauchen von Österreichern verworfen. Es scheint, dass die Verteidiger vom Eintreffen Lacys völlig überrascht sind. Ihn haben sie entfernter geglaubt und somit erst gar nicht auf der Rechnung gehabt. Schließlich entscheiden die Generäle, angesichts der Übermacht des Gegners, Berlin aufzugeben. Es stellt sich heraus, dass Graf Tschernyschew sich um die Sturmvorbereitung vergebens bemüht hat. Der Sturm erübrigt sich, die Stadt kapituliert kampflos. 35. Nach der Verstärkung durch einige Einheiten des Hülsens Korps besteht die Truppe des Prinzen von Württemberg aus 16 Bataillonen Infanterie und 20 Schwadronen Kavallerie. Dem General Hülsen bleiben 10 Bataillonen und 21 Schwadron. Seine Kräfte hält Prinz von Württemberg für ausreichend, um zum Angriff auf dem rechten Spreeufer überzugehen und die Russen noch vor dem Eintreffen der Österreicher zu schlagen. 50 Noch in der Nacht ziehen die Korps des Prinzen Eugen von Württemberg und des Generals von Hülsen in Richtung Spandau ab. Die Truppen an der Ostseite der Stadt marschieren außerhalb der Befestigungen um die Stadt herum. Die Truppen an der Südseite ziehen durch die Innenstadt ab. Am Oranienburger Tor treffen sich die beiden und der Marsch wird gemeinsam fortgesetzt. Zurück bleiben die Soldaten der Berliner Garnison, da in den Vorstellungen dieser Zeit ein „Objekt“ der Kapitulation in Form einer militärischen Einheit gegeben sein soll. Gegen 3.00 Uhr wird Tottleben die Kapitulation der Stadt angetragen. Die Kapitulation „Alle Berichte „ - schreibt Herman Granier - „geben die Gründe für dies Aufgeben der Hauptstadt übereinstimmend an, wie sie der König selbst als „wesentliche und stichhaltige Ueberlegungen“ in seiner „Histoire de la Guerre de sept ans“ zusammengefasst hat: „Der Umfang der Hauptstadt beträgt drei Meilen im Umkreise; daher ist es unmöglich, daß 16000 Mann eine so ausgedehnte Enceinte, die weder Außenwerke noch Wälle hat, gegen 20000 Russen (der König rechnet anscheinend die Division Panin nicht mit) und 18000 Österreicher vertheidigen, die alles unternehmen konnten, da sie auf nichts Rücksicht zu nehmen brauchten. Schon begann der Feind Bomben in die Stadt zu werfen. Hätte man bis zum äußersten gewartet, so liefen die Truppen Gefahr, kriegsgefangen, und die Hauptstadt, von Grund aus zerstört zu werden“ (Granier, S.121f, siehe auch: Friedrich der Große, Geschichte des Siebenjährigen Krieges..., S.65). Die Verteidiger sollen außerdem die Nähe der russischen Hauptarmee, die bereits bei Landsberg steht, und des 16.000 Mann starken Korps der Reichsarmee unweit von Berlin, in Treuenbritzen, in Betracht ziehen. Denn davon könnte der Gegner jeder Zeit weitere Unterstützung bekommen. Wie man sieht, gibt es für die Entscheidung des Kriegsrates, Berlin aufzugeben, gewichtige Gründe. Und trotzdem stellen Kritiker seit 1760 diese Entscheidung als überstürzt in Frage. Durch drei Tatsachen wird diese Meinung untermauert: erstens, Friedrich eilt 51 bereits aus Schlesiens Hauptstadt zur Hilfe, so dass die Verteidiger nur wenige Tage durchzustehen brauchen; zweitens, die Russen haben nicht vor, die Stadt dauerhaft zu besetzen, so dass der baldige Abzug der Verbündeten noch vor Beginn der ganzen Operation eine beschlossene Sache ist; drittens, die Alliierten sind untereinander uneinig, zerstritten und verfolgen unterschiedliche Interessen. Unter diesen Umständen hätte sich die Fortsetzung der Verteidigung möglicherweise gelohnt. Die Kritiker haben Recht bei der Annahme, dass den Verteidigern diese Umstände bestens bekannt sind. Das ist jedoch nicht der Fall. Sie wissen nicht einmal Bescheid über den Aufmarsch Friedrichs. Und über die Gegner wissen sie größtenteils nur das, was ihnen die gefangenen Kosaken verraten können. Und das ist vermutlich nicht viel, denn die gemeinen Kosaken werden bei den strategischen Entscheidungen nicht einbezogen. Hätten die Generäle gewusst, dass ihre Lage doch nicht so aussichtslos ist, so wäre mit großer Wahrscheinlichkeit die Fortsetzung des Widerstandes beschlossen. Wie das Probst Süßmilch zu einer anderen Gelegenheit formuliert: „Wenn man die Position, die Fehler, die Mutlosigen und alle Umstände des Feindes jederzeit wüste, so würden manche Schlachten und Scharmützel viel entscheidender werden“ (Wilke, S.28). Bemerkenswert ist, dass für den äußerst schmerzhaften Verlust der Hauptstadt niemand später zur Rechenschaft gezogen wird, geschweige denn bestraft. Ganz anders geht der preußische König gegen seine Garnison vor, die am 04.September 1759 in Dresden kapituliert. Dem preußischen Gouverneur in Dresden Grafen von Schmettau erlegt er eine harte Strafe auf: der Graf wird unehrenhaft aus allen Diensten entlassen und soll sich, nach einer spöttischen Bemerkung Friedrichs, noch freuen, dass er seinen Kopf behalten hat. Die Strafe wird verhängt, obwohl Schmettau die Stadt mit der Einwilligung des Königs aufgibt (Friedrich widerruft seine Einwilligung später, die Nachricht darüber bekommen die Verteidiger Dresdens jedoch erst nach ihrer Kapitulation). Möglicherweise erkennt der König, dass die Mitschuld für das Geschehene in Berlin auf ihn selbst fällt. Denn vor der drohenden Gefahr für seine Hauptstadt wird er mehrfach gewarnt. Er will jedoch nicht daran glauben, trifft deshalb keinerlei 52 Vorkehrungen und wird schließlich überrascht. So äußert er am 23.September 1760 ungeachtet aller Warnungen seine Überzeugung, „daß die Russen dies Jahr was recht großes nicht unternehmen, sondern sich mit Fressen, Saufen und Plündern kontentieren wollen“ (Böthling, S.25). Sogar am 30.September, als der Streifzug gegen Berlin bereits läuft, hat er „noch Mühe“ daran „zu glauben“ (ebenda). Als er sich schließlich zum Handeln entschließt, ist es schon zu spät. Zum zweiten ist er möglicherweise deshalb so mild gestimmt, weil er zu dieser Zeit weitaus größere Sorgen hat, als den kurzweiligen Verlust der Hauptstadt. Nach der Katastrophe bei Kunersdorf am 12.August 1759, wo die 48.000 Mann starke Armee des Königs vernichtend geschlagen wird, büßen die Preußen mehrere große Truppenverbände ein: am 21.November 1759 kapitulieren 15.000 Soldaten nach der unglücklichen Schlacht von Maxen, nur 13 Tage später ergibt sich das Detachement des Generalmajors Diericke, am 23 Juni 1760 geht dem König das 12.000 Mann starke Korps des Generalleutnants Heinrich August Freiherr de la Motte Fouque gänzlich verloren. Infolge dieser herben Rückschläge schrumpft das preußische Heer. Trotz aller Energie, die Friedrich aufbringt, um die Verluste wettzumachen, wird überschreiten, gegenüber seine Armee den nicht 230.000 mehr Mann die bei 110.000 seinen Mann - Gegnern. Marke Die Rekrutierungsquellen der Preußen sind längst ausgeschöpft. Es bleibt nur das letzte Mittel, nämlich auf Kriegsgefangene zurück zugreifen. Sie werden oftmals mit Gewalt in den preußischen Dienst gepresst und rächen sich bei jeder Gelegenheit durch das Überlaufen zum Feind. Auch an Offizieren mangelt es. Die Sorgen Friedrichs über die Reserven für seine Armee, die ihn zu dieser Zeit plagen, geben uns die Erklärung für die wahrscheinlichsten Gründe seiner schweigenden Hinnahme der Kapitulation Berlins. Das Risiko, zwei intakte Korps zu verlieren, ist ihm unter diesen Umständen zu groß. Berlin kann er zurückerobern, ohne Soldaten ist jedoch keine Fortsetzung der Kriegsführung möglich. Die Kapitulationsverhandlungen Während des Abzugs der preußischen Truppen berät General Rochow das weitere 53 Vorgehen mit den Honoratioren der Stadt. Auf Betreiben vom reichen Berliner Kaufmann Ernst Gotzkowsky „ward der Entschluß gesetzet, die Stadt dem General zu übergeben, der sie zuerst aufgefordert, nehmlich dem Rußischen General Totleben“ (Wilke, S.30f). Entscheidend ist allerdings nicht die Reihenfolge des Eintreffens der gegnerischen Generäle vor den Toren Berlins: Tottleben ist in der Stadt kein Unbekannte, viele kennen ihn persönlich, einige waren mit ihm sogar befreundet. Nicht ohne Grund nimmt die Bürgerschaft an, dass es deshalb leichter wird, sich mit Tottleben statt mit einem Fremden wie Tschernyschew oder Lacy zu einigen. Als Rochows Gesandte, Major Wegner und Rittmeister Wangenheim, mit seinem Kapitulationsschreiben im Quartier Tottlebens erscheinen, greift dieser sofort zu. Ohne wenigstens pro forma seine beiden Hauptkonkurrenten in die Verhandlungen miteinzubeziehen nimmt er die Kapitulation der Hauptstadt an. Das Kriegsglück und auch im gewissen Sinne die Gerechtigkeit scheinen auf seiner Seite zu stehen. Denn er und seine Soldaten haben mehr Anstrengungen unternommen und mehr Opfer gebracht, als die Konkurrenz, damit der Streifzug erfolgreich endet. Die Kapitulationsverhandlungen selbst werden in zwei Runden abgehalten. Gegen 4.00 Uhr morgens ist man mit dem Kommandanten Berlins über folgende Punkte einig: -Die Garnison sowie alle in der Stadt anwesenden preußischen Militärs (Kranke, Verwundete usw.) werden zu Kriegsgefangenen erklärt; -Alle Kriegsvorräte sowie das ganze Eigentum der Stadt werden zur Disposition des Siegers gestellt; -Privaten Personen und ihrem Eigentum wird Sicherheit garantiert. Nachdem die entsprechende Einigung von beiden Seiten unterschrieben wird, schickt Tottleben seine Eilboten zu Tschernyschew und Lacy. Er stellt die beiden vor den vollendeten Tatsachen. Die zweite Runde der Kapitulationsverhandlungen, wo, diesmal mit dem Berliner 54 Magistrat, an erster Stelle über die Kontribution entschieden wird, findet nach dem Einzug der russischen Einheiten in Berlin statt. Der Einzug der Okkupanten Tottlebens Stabs-Offiziere übernachten am 08./09. Oktober in einer Scheune in der Nähe der Frontlinie. Nach dem stürmischen Regen am Vortag sind sie bis auf die Knochen nass geworden. Die einzigen Dinge, von denen sie in dieser Nacht träumen, sind, ihre Kleider zu trocknen und sich zu erwärmen. Doch das soll ihnen nicht ganz gelingen, denn bereits bei Sonnenaufgang werden sie durch einen Eilboten von Tottleben aus dem Schlaf gerissen. Der Bote überbringt ihnen den Befehl, so schnell wie möglich nach Berlin zu gehen, da die Stadt kapituliert hat. Oberstleutnant Burmann wird beauftragt, mit einem Bataillon des 3. Grenadierregiments die Batterien der Verteidiger vor dem Hallischen Tor zu übernehmen. Die übrigen Einheiten ziehen gegen 7.00 Uhr durch das Kottbusser Tor in Berlin ein. Den Einzug der Infanterie befehligt Oberst Maslow, die Grenadiere führt, da der Brigadier Bachmann schon früher zum Tottleben beordert ist, Fürst Prozorowskij ein. Die Kolonnen der Russen marschieren durch die Roß- und die Breite Strasse bis zum Schlossplatz, wo sie ihre Wachen und die Kanonen um das Schloss postieren. Zuallererst erblicken sie am Schlossplatz die einsamen Gestalten vom Oberst Rschewskij mit seinem Trompeter, die gerade angekommen sind, um die Stadt im Namen des Grafen Tschernyschew aufzufordern. Am Schlossplatz gibt Tottleben seine Anordnungen an die Truppe bekannt. „Hier teilte uns Graf Tottleben mit, - erinnert sich Prozorowskij,- dass er den Brigadier Bachmann zum Kommandanten <Berlins> bestimmt, mir hat er befohlen, PlatzOberstleutnant 36 zu sein. Und obwohl ich es nicht wollte, hat er mir, an erster 36. d.h. Kommandant der Berliner Garnison. Auch über diese personellen Entscheidungen erfährt Tscher-nyschew erst aus einem Rapport von Tottleben, der ihn vor vollendete Tatsachen stellt. 55 Stelle, weil ich die < Fremd->Sprachen spreche, befohlen, diese Aufgabe zu übernehmen. Über dies hat er mir die Ehre erwiesen, in dem er gesagt hat, dass er sich auf mich verlässt und mir den Auftrag erteilt, unsere Wachposten aufzustellen und die preußischen abzusetzen, was ich dann auch getan habe“(Prozorowskij, S.69, Sprache-rus., Übersetzung des Autors). Die unerwartet friedliche Begegnung mit dem „fürchterlichsten Feind“ Das Leben in der belagerten Stadt wird auch ohne die gelegentlichen Bombardierungen zunehmend schwieriger für die Bürger. Die Stadt ist mit Flüchtlingen aus dem durch die Russen besetzten Umland überfüllt. So retten sich die Bewohner von Rixdorf, die böhmischen Brüder, bei ihren Glaubensbrüdern in der Wilhelmstrasse (Holmes, S.16). Ein Chronist berichtet: „Anno 1760 den 3. october vormittags um 10 Uhr kam das klägliche Geschrey in der Stadt daß die Russen schon am Thore waren, zu gleich sähe man die Straßen voll aufgepackte wagen mit Betten, Kisten und kästen von denen einwohner der Vorstätte so gar daß Vieh brachten sie in der Stadt wer nur einen Hoff hatte der hatte zu der zeit gewiß auch Vieh darauf" (Duwe, S.76). Die Versorgung der Stadt wird durch die Kosaken wesentlich erschwert : „ Die Rußen streiffen biß beynahe am Invaliden Hause, und machen uns die Zufuhr schwer, so daß alles entsetzlich Theuer wird“ (Wilke, S.53). Die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung bleibt jedoch gut. Die Bürger glauben an ihre Verteidiger. Sie besitzen außerdem keine genaue Vorstellung über die Kräfte der Angreifer, die Nachricht über das zu erwartende Eintreffen des Dmitrij Masslowski, bedeutender Vertreter der sog. „vaterländischen Schule“ in der russischen Geschichtsschreibung, für die eine sehr kritische Position in Bezug auf Ausländer im russischen Dienst charakteristisch ist, verurteilt die Ernennung Bachmanns zum Kommandanten Berlins scharf. Für ihn ist Bachmann ein „längst von Graf Tottleben erkieste Gehülfe“, „nur der erste und allerkläglichste Auskundschafter der Sachlage für den Grafen Totteleben“ (Masslowski, S.258). 56 Lacy-Korps wird vor den Berlinern absichtlich geheim gehalten: „Man suchte durch allerley Vorgeben ... die Annäherung des Oesterreichischen Corps unter dem General Lasci den Einwohnern der Stadt zu verbergen um nicht die Furcht derselben zu vergrößern „ (Wilke, S.29). Die wenigen Nachtschwärmer wundern sich zwar, warum die Soldaten in der Nacht auf den 09.Oktober aus der Stadt marschieren: “Den gegen Mitternacht fing unsere Armee an aufzubrechen, und die Bagage defilirte durch die Stadt. Niemand wüste warum“ (Wilke, S.55). Das Gros der Berliner schläft jedoch in dieser Nacht seelenruhig ein: Unwissenheit> „Diese Ungewissheit <Probst Süßmilch meint hier die und Hoffnung war Ursach, daß Berlin sich ruhig zu Bette legte und auch gröstenteils bis an den Morgen und zwar so lange schliefen, bis die Rußen die Thore besetzt hatten und einmarschirten“(Wilke, S.30). Und so ist die Überraschung perfekt: „Donnerstag den 9'en Octobr um 7 Uhr des Morgens erfuhr die Stadt beym Erwachen, daß Capituliret, und daß die Rußen in der Stadt waren“ (Wilke, S.31). Die erste Begegnung mit dem „fürchterlichsten Feind“ gestaltet sich jedoch unerwartet friedlich: „ Einige der vornehmsten Kaufleute waren vom Magistrat an das Hallische Thor bestellt, welches zuerst von den Rußen besetzet ward. Der Rußische zuerst einmarschierende Stabs=Officier befrug sie beym Einmarsch wer sie wären? Und als sie ihm gesaget, daß sie Kauffleute die vom Magistrat hieher beordert wären; so machte er ihnen ein höfflich Compliment, bestellte vom General Tschernischef und Sivers, einen Gruß und Dancksagung, wegen der vielen Höfflichkeit, so sie bey ihrer Gefangenschaft in Berlin genossen, 37 versicherten sie auch, daß sie gantz unbesorgt seyn solten und daß der Stadt kein Leid geschehen 38 solte. Das Compliment und der ruhige Einzug beruhigte auch in der Stadt das 37. Tschernyschew geriet in der Schlacht von Zorndorf in schnell frei dank dem Gefangenenaustausch. preußische Gefangenschaft, kommt jedoch 38. „Das also war der erste Schritt des Eintritts des ersten deutsch-russischen Offiziers in Berlin!“, - ent-rüstet sich Dmitrij Masslowski (Masslowski, S.253). Seine Empörung ist schwer nachvollziehbar. Was sollte der künftige Berliner Kommandant Bachmann, von dem hier die Rede ist, bei seinem Einzug in die Stadt tun, um die Prestige seiner Kaiserin zu wahren? Die Stadthonoratioren zu Tode 57 Publicum dergestalt, daß man des Einpackens vergaß, und daß man den bisher so sehr gefürchteten Feind gelaßen einziehen sehe“ (Wilke, S.31). Noch vor wenigen Tagen sehen die Einwohner Berlins mit Angst einer ungewissen Zukunft entgegen. Doch als das befürchtete Unheil über sie tatsächlich kommt, wird diese Angst durch die Neugier schnell verdrängt. Wissbegierig genießen nun die Berliner die noch nie da gewesene Vorstellung, den Einzug der russischen Besatzer in Berlin:“ Alle Fenster und Straßen waren voller Leute, und sahen die Trouppen ein marschiren“(Wilke, S.55). Die Eifersüchteleien Der 09.Oktober 1760 ist ein regnerischer, trüber Tag. Im russischen Kriegstagebuch wird vermerkt, dass die Nacht sehr windig ist. Genauso düster wie das Wetter draußen ist die Stimmung unter den Konkurrenten Tottlebens, den Grafen Tschernyschew und Lacy. In den frühen Morgenstunden, in denen er laut seinem Biograph üblicherweise besonders mürrisch wirkt, schickt Graf Tschernyschew Oberstleutnant Rschewskij in die Stadt, um der Stadt vor dem Sturm seine Aufforderung zur Aufgabe zu verkünden. Kaum verschwindet der Parlamentär aus den Augen, als Tschernyschew die Meldung Tottlebens über die bereits vollzogene Kapitulation Berlins erhält. Fürst Prozorowskij erinnert sich, wie die Russen bei Ihrem Einzug in die Stadt nicht schlecht staunen, Rschewskij samt Trompeter am Schlossplatz gewahr zu werden. 39 Es ist nicht überliefert, wie der Rschewskij darauf reagiert, eine unfreiwillig närrische Figur abgeben zu müssen. Dass er das mit Humor tut, ist nicht ausgeschlossen. Seinem Dienstherren dagegen erscheint die ganze erschrecken? 39. In der Schilderung von Masslowski begegnet Rschewskij unterwegs einem Boten Tottlebens mit der Nachricht von der Kapitulation Berlins (Masslowski, S.250). Dass er trotzdem nach Berlin weiter reitet, obwohl seine Mission sich doch schon erübrigt hat, entbehrt jedem Sinn. 58 Geschichte keineswegs lustig. Die Nachricht, dass er übergegangen ist, verletzt 40 Tschernyschew sehr. Er wird Tottleben diese Demütigung niemals vergessen. Indem er die Kapitulation Berlins eigenmächtig entgegen nimmt, nähert sich Tottleben zwar dem Traum, „ganz Europa in Staunen zu setzen“, doch für einen hohen Preis. Er zieht sich die gefährliche Feindschaft eines einflussreichen Herren zu. Auch in den nächsten Tagen soll das Verhalten Tottlebens Tschernyschew missfallen: Tottleben, der in der Stadt bekannt ist und viele alte Freunde wieder trifft, führt sich hier wie ein Hausherr auf und verdrängt somit den Grafen Tschernyschew völlig aus der Öffentlichkeit. Dem bleibt nicht anderes übrig, als die Geschäfte in Berlin Tottleben komplett zu überlassen. Zwischen ihm und Tottleben kommt es zu einem tiefen Zerwürfnis. In den darauf folgenden Tagen lässt sich Tschernyschew in der Hauptstadt nur vorübergehend blicken, sonst verkriecht er sich in seinem Quartier im Schloss Friedrichsfelde. Als erster marschiert er schließlich von Berlin ab. Wie es scheint, ahnt Tottleben schon zu dieser Zeit, was auf ihn zukommt. Fürst Prozorowski erzählt: „Wenn Tottleben gegen die Ehre und die Diensttreue verstoßen hat, so soll es in diesem Fall geschehen. Zu diesem Schluss komme ich an erster Stelle deshalb, weil als ich ihn mit meinen Rapporten oder wegen der Parole aufsuchte, so fand ich ihn stets nachdenklich und verlegen vor. Und obwohl er mit mir freundlich umging und es auch <ab und zu mal> zu 40. Masslowski fällt der Umstand ins Auge, dass nach der Einnahme Berlins ein traditionelles feierliches Dankgebet nicht abgehalten wird, obwohl „dieser Gebrauch dem Grafen Tschernyschew wohlbekannt war“. „Wir sind, - schreibt er, geneigt das zum mindesten mit der Ueberraschung zu erklären, die Graf Tschernyschew und alle wirklichen Russen überkam, als sie von dem frechen Schritt des Abenteuers <gemeint ist die Annahme der Kapitulation durch Tottleben> Kenntnis erhielten“ (Masslowski, S.254). Dieses Detail charakterisiert jedoch eher die Tiefe der Enttäuschung, die Graf Tschernyschew überkommt. Es gibt genug Zeugnisse, dass Graf Tottleben in der Armee populär ist, die von den „wirklichen Russen“, wie beispielsweise dem Zeitzeugen Andrej Bolotov (siehe z.B. Brief 84 aus seinen „Briefen für die Nachkommen“), stammen. Auch Fürst Prozorowski, dem niemand seine Zugehörigkeit zu den „wirklichen Russen“ absprechen kann, liefert mit seinen Erinnerungen keinerlei Anhaltspunkte für die Behauptung, die „wirklichen Russen“ seien wegen der Einnahme Berlins durch Tottleben irgendwie enttäuscht gewesen. 59 unterhaltsamen Gesprächen zwischen uns kam, machte er damals oft den Eindruck eines in Melancholie verfallenen Menschen, er gab unpassende Antworten, auch was Dienst anbelangt, so pflegte er die Gewohnheit zu sagen: Mach, was du willst, ich verlasse mich auf dich. Und in der ganzen Zeit unseres fünftägigen Aufenthaltes dort verließ er sein Zimmer kaum. Sicher hatte er damals eine gewaltige Auseinandersetzung mit dem Grafen Tschernyschew, der ich seine Niedergeschlagenheit zuschrieb“(Prozorowskij, S.69, Übersetzung des Autors). Auch mit den Österreichern kriselt es ständig. Saltykow will später behaupten, dass die Russen nur wegen der Hinterlistigkeit ihrer damaligen Verbündeten Berlin räumen mussten. Graf Lacy stammt aus Sankt Petersburg, wo sein Vater, ein russischer Feldmarschall mit irischen sowie baltisch-deutschen Vorfahren, zum engsten Kreis der Mitstreiter des bedeutenden Feldherr, Feldmarschall Münnich, gehört. 41 Seine in Sankt Petersburg verlebte Kindheit macht aus Lacy jedoch keinen Freund Russlands. Er teilt die allgemeine misstrauische Haltung der Österreicher gegenüber den russischen Verbündeten. 42 Schon deshalb empfindet er die Notwendigkeit, sich den russischen Generälen zu beugen und auf ihre Anweisungen zu achten, als eine Erniedrigung für seine Person. “...ich meinerseits bin ihrer Gesellschaft (d.h. die Gesellschaft der russischen Offiziere -W.K.) schon so überdrüssig, daß ich mich um die ganze Welt nicht länger aufhalten würde, wenn ich nicht der Pflicht wegen thun müsste, -schreibt er an Daun am 41. Der Vater von Lacy will nicht, dass sein Sohn die Karriere der Stellung und dem Einfluss seines Erzeugers verdankt. Und so schickt er ihn noch als Junge ins Ausland, damit er früh lernt, auf eigenen Füßen zu stehen. 42. Die Russen betrachtet man generell als eine Art Hilfstruppe, die den Österreichern lediglich Beistand bei der Rückeroberung Schlesiens leisten soll. Die Grundlage für mehr Vertrauen fehlt. Denn in Wien ist man über den schlechten Gesundheitszustand der Zarin Elisaveta sowie über die preußischen Sympathien des Thronfolgers bestens informiert. Dazu kommen die kaum überwindbaren Interessenkonflikte unter den Verbündeten. Nur aus einer Notlage akzeptieren die Österreicher die russischen Ansprüche auf die baltischen Gebiete sowie auf Ostpreußen. In Wien ist man nicht wirklich begeistert, statt der schwachen baltischen Staaten nach der Rückführung Schlesiens Russland als Grenzland zu bekommen. Auch in Polen und auf dem Balkan verfolgen die Alliierten unterschiedliche Ziele. Diese Umstände machen die österreichisch- russische Allianz zunehmend brüchig und wirken sich negativ auf die gemeinsame Kriegsführung aus. 60 10.Oktober (Granier, S.124). Er ist außerdem bitter enttäuscht, dass Berlin nicht im Sturm erobert wurde. Denn dadurch fühlt er sich um die Früchte seines Zuges, allen voran, um die Ehre des Berlinbezwingers und um die Beute, betrogen. Graf Lascy lehnt es ab, sich an die von Tottleben ausgehandelten Kapitulationsbedingungen zu halten. Obwohl es vereinbart ist, dass die Soldaten der Besatzer außerhalb der Stadt stationieren, zieht er mit seiner Truppe in die Innenstadt ein und macht dort sein Quartier. Gleich am ersten Tag nach der Kapitulation vertreiben die Österreicher mit Waffengewalt die russischen Wachposten vom Hallischen Tor. Daraufhin kommt es zwischen den beiden Generälen, Tottleben und Lacy, beinah zu Handgreiflichkeiten: „Es heißt, daß ... zwischen dem General Totleben und der Oesterreichischen Generalität sollen vorgefallen seyn starcke Wortwechsel, wie es denn auch sonst an mercklichen Zeichen der Jalousie nicht gefehlet hat“ (Wilke, S.32). Lacy weigert sich, die Stadt mit seiner Truppe zu verlassen, solange seinen Soldaten einen Teil der Kontribution nicht ausgezahlt wird. Tottleben wendet sich an Tschernyschew als Schiedsrichter im Streit mit den Österreichern. Der letztere entscheidet, den Österreichern das Hallische Tor und das Spandauer Tor (laut seinem Rapport an Fermor) zu überlassen. Die anderen Stadttore werden von den russischen Infanteristen bewacht. Den Soldaten Lacys werden 50000 Taler ausgezahlt. Infolge des erreichten Kompromisses verlässt die österreichische Artillerie gegen 14.00 Uhr die Stadt: „ Die Oesterreichische Artillerie rückte ein, muste aber um 2 Uhr in das Lager zurückkehren, doch muste die Friedrichsstadt und Neustadt einigen Bateillons Oesterreichem zur Einquartirung bewilliget werden“ (ebenda). Tottleben bedankt sich bei Tschernyschew für seine Einmischung indem er eine Beschwerde an Fermor richtet: „Die Österreicher treiben hier bis zu den Exzessen, die unbeschreiblich sind und die mir mehr Sorgen bereiten, als der Gegner selbst. Seine Exzellenz Herr General-Leutnant Graf Tschernyschew steht immer noch eine Meile von hier entfernt. Er hat den Österreichern zwei Stadttore, Brandenburger und Potsdamer, übergegeben, die sie nicht verdient haben...“ (Korobkov, S.658, Sprache-rus., Übersetzung des Autors). Die Berliner leiden zusätzlich wegen der Uneinigkeit zwischen den Alliierten. Aus einem kindischen Protest gegen seine zweitrangige Stellung unter den Besatzern, die er im Brief an Daun am 11.Oktober wie folgt beschreibt: „Wir müssen in Berlin 61 nur die Zuschauer abgeben, so zu sagen, die Sklaven Tottlebens, der überall den Herrn spielt“ (Granier, S.123f), vernachlässigt Lacy sträflich die Disziplin in seiner Truppe. Für Lacys Untergebenen gleicht die demonstrative Nachsicht der Vorgesetzten einer Einladung „auf privatem Wege die Beute sich zu verschaffen..., von der sie offiziell österreichischen Soldaten ausgeschlossen stellen in sein der (Granier, sollten“ Stadt, nach dem S.124). Die Ausdruck von Prozorowskij, einen „gewaltigen Unfug“ an. Sie ziehen, zusammen mit Kosaken, plündernd durch das Berliner Umland. Insbesondere tun sich dabei, nach einigen Überlieferungen, die Sachsen hervor. Nachdem ein bestimmtes Maß überschritten wird, sieht sich Tottleben, um die Ordnung in Berlin wiederherzustellen, gezwungen, zusätzliche Einheiten in die Stadt mit dem Befehl zu holen, auf die Österreicher notfalls zu schießen. Weitere Ereignisse des denkwürdigen Tages 09.Oktober 1760 Die Verfolgung der nach Spandau abziehenden preußischen Truppen übernimmt auf Befehl von Tschernyschew die Kavallerie des Grafen Panin, der sich einige Kosakeneinheiten anschließen. 43 Dem Grafen Panin gelingt der größte Coup der 43. Laut seinem Rapport an Fermor befiehlt Tschernyschew die Verfolgung der abziehenden Preußen noch in der Nacht, nachdem er über die Bewegungen der gegnerischen Truppen Kunde erhält. Erst danach schickt er seinen Parlamentär in die Stadt. Wenn das stimmt, dann muss die Enttäuschung Tschernyschews bei der Nachricht, dass er übergegangen wurde, in der Tat sehr tief sein. Denn er schickt seinen Mann in die, wie er bereits weiß, von ihren Verteidigern verlassene Stadt und soll dementsprechend sicher glauben, dass dieser mit der unterschriebenen Kapitulation zurückkehrt. Tschernyschew wird sich mit der Behauptung revanchieren, die Verteidiger haben die Stadt aus Angst vor ihm und dem durch ihn geplanten Sturm geräumt. In seiner Relation vom 14.Oktober (03. Oktober) teilt der entsprechend (des)informierte Fermor der Kaiserin Elisaveta mit: „...der Gegner, der sich in der Stadt Berlin befand, nachdem er die Kunde über die Absicht ihn anzugreifen und über die durch Graf Tschernyschew gemeinsam mit dem General-Leutnant Panin gemäß der Disposition, die ich in einer Kopie beilege, getroffenen Vorkehrungen vernahm, ist in der Nacht auf den 23.September nach Spandau retiriert. Deshalb ergab sich die Stadt am gleichen Tag“ (Korobkov, S.689, Sprache-rus., Übersetzung des Autors). Dieses Märchen wird in Sankt Petersburg für bare 62 ganzen Operation: er greift die Nachhut der Preußen, die von General von Kleist geführt wird, an und schlägt sie in die Flucht. Es werden ca. Tausend Gefangene gemacht, darunter 14 Oberoffiziere, einige davon ziemlich bekannt wie der Major von Dedenroth aus dem Wunsch-Bataillon. Außerdem werden zwei Kanonen und 50 Kutschen samt Pferden erbeutet. Zwei Zwölfpfünder versenken die Preußen selbst auf der Flucht. „bey der Retraite der Armee ist das Frey bataillon von Wunsch auf dem Berge hinter dem Invaliden Hause dergestalt in die Enge gerathen, daß es theils niedergemacht theils gefangen worden. Der Comandeur deßelben, Major von Tettenroth, wird dabey am meisten bedauert und ist er gefangen. Auch sind dabey ein Paar hundert Fuß Jäger verlohren gegangen“ (Wilke, S.44). U.a. zeichnet sich in diesem Gefecht erneut der Kosaken-Oberst Krasnoschtschekow aus. General-Major Gaugreven erhält den Befehl, einen Posten auf dem Weg nach Spandau einzurichten, um die Stadt von dieser Seite abzusichern. Graf Lacy entsendet ein Regiment unter der Führung von Nikolaus Fürst Esterhazy in die Residenzstadt Potsdam. Die in Potsdam stationierten Österreicher benehmen sich im Gegensatz zu ihren Berliner Kameraden in dem Maße musterhaft, dass sie und Lacy dafür mit der Dankbarkeit und den Geschenken der Potsdamer Bürgerschaft überhäuft werden. 44 Münze genommen. So lesen wir z.B. im Protokoll der Sankt Petersurger Konferenz vom 03.November (23.Oktober) 1760: „Der Rückzug des Generals von Hülsen aus Berlin nur wegen der Anordnungen, die Graf Tschernyschew gegen ihn getroffen hat, beweist unbestreitbar, dass unsere Truppen attackieren können und dass der Gegner viel mehr Angst vor ihrem Angriff hat, als früher, wo er selbst frech war“ (Korobkov, S.706, Sprache-rus., Übersetzung des Autors). Der Stolz des Verfassers auf seinen „mit großer Ausführlichkeit“ ausgearbeiteten Plan zum Angriff auf Berlin, der laut Masslowski als eine Musterdisposition zum Angriff auf feindliche Städte fungieren sollte (Masslowski, S.248), ist nachvollziehbar. Dass der General von Hülsen nach dem Studieren von Tschernyschews Dispostion weiche Knien bekommen könnte, ist zwar wenig wahrscheinlich, aber durchaus denkbar. Unklar ist lediglich, wie und wann es für Hülsen überhaupt möglich wäre, an den Plan heranzukommen. Denn zu der Zeit, als diese Disposition geschrieben wird, sitzt Hülsen in einem anderen Kriegsrat. Und nach dem Kriegsrat zieht er sofort weg. 44. Allerdings bleiben in Potsdam nicht nur das Eigentum der Bürger, wie es in der sowjetischen Geschichtsschreibung manchmal behauptet wird, 63 sondern auch die dortigen Rüstungsbetriebe Die Kontribution: eine kleine Korrektur der überlieferten Geschichte Kontributionen von den eroberten Städten sind zu dieser Zeit ein übliches Mittel der Schwächung des Gegners: durch sie wird erreicht, dass der Besiegte die Kriegsführung des Siegers quasi mitfinanziert. Auch eine Ähnlichkeit mit der Schutzgelderpressung unserer Zeit ist nicht zu übersehen: die Städter sollen sich von den Plünderungen freikaufen. Graf Hadik kassiert nach seiner Einnahme Berlins 1757 240.000 Taler vom Berliner Magistrat. Der Appetit der Russen ist wesentlich kräftiger: Tottleben verlangt zunächst neun, danach, angeblich auf den Befehl des Fermor, Grafen vier Millionen Taler Kontribution von der eingenommenen Stadt. Die Summe ist so ungeheuerlich, dass der Berliner Stadtpräsident Kircheisen vor Schreck die Sprache verliert, die Russen halten ihn für einen Betrunkenen und wollen ihn auf die Hauptwache führen. Auch der Berliner Magistrat ist völlig verzweifelt und da kommt ihm der angesehene Kaufmann Gotzkowsky, Porzellanmanufaktur, die der Gründer später der unter ersten dem Berliner Namen Bank und „Königliche der Porzellan Manufaktur“ (KPM) bekannt wird, zur Hilfe. Gotzkowsky kümmert sich um die in der Schlacht von Zorndorf gefangenen russischen Offiziere. Dadurch ist er den Russen bekannt und genießt ihr Vertrauen. Das hilft ihm in seiner Vermittlerrolle. Er schafft es, Tottleben, zu dem er einen engen Kontakt über seinen Adjutanten, Hauptmann von Brinck, aufbaut, zu überreden, den Befehl von Fermor zu missachten, und sich mit 1,5 Millionen Talern sowie mit 200.000 Talern „an die Truppe“ zufrieden zu stellen. Der Berliner Magistrat ist außer sich vor Freude, als er von der Einigung erfährt. Der Kaufmann Gotzkowsky wird für seinen Verhandlungserfolg von den Stadtvätern wie verschont. Einer der Anklagepunkte gegen Tottleben bis heute ist, dass er nichts unternommen hat, um die Potsdamer Waffenfabriken zu vernichten. Ganz abgesehen davon, dass Esterhazy Tottleben nicht unterstellt ist, entspricht dieses Bild nicht den Tatsachen: „Die Gewehr=Fabrick <in Potsdam>,bezeugt Probst Süßmilch, ist destruiret worden“(Wilke, S.43). 64 ein Retter gefeiert. Sofort werden die 200.000 für die Geschenke an die Truppe und 0,5 Millionen Taler aus den Kontributionssummen gesammelt und für die verbleibende Million wird ein Wechsel ausgestellt, wobei Gotzkowsky einen großen Betrag aus seinem eigenen Vermögen opfert. So lautet die Legende. Diese schöne Legende über den Kaufmann, der mit seinem Verhandlungsgeschick Berlin vor der Pleite rettet, das entsprechende Kapitel im Buch von Georg Duwe z.B. heißt wörtlich: „ Ernst Gotzkowsky bewahrt Berlin vor dem Schlimmsten“ (Duwe, S.62), ist jedoch möglicherweise korrekturbedürftig. Denn die Bestätigung, dass es Tottleben tatsächlich befohlen wird, vier Millionen vom Berliner Magistrat anzufordern, gibt es nicht. In den schriftlichen Anweisungen an Tottleben nennt Fermor keinen bestimmten Geldbetrag. Dass die entsprechenden mündlichen Befehle erteilt werden, ist ebenfalls fraglich: im Bericht an das russische Hauptquartier über die Einnahme Berlins beschreibt Tschernyschew seine Instruktionen, die er Tottleben gegeben hat: „Über die Große der Kontribution, die ihnen (d.h. Berlinern -W.K.) auferlegt wird, da ich nicht weniger als 1,5 Millionen Taler zu fordern befahl, erwarte ich einen Rapport...“ ( Korobkov, Iz boevogo proslogo..., S.28, Sprache-rus., Übersetzung des Autors). Kaum denkbar, dass Tschernyschew, von den konkreten Plänen seines Chefs wissend, den erwarteten Betrag eigenwillig mehr als halbiert. Und sollte er das doch tun, so wäre eine Beschwerde Tottlebens an Fermor mit Sicherheit die Folge. Und sie gibt es nicht. 45 Damit ist sehr wahrscheinlich, dass der vermeintliche Verhandlungserfolg des Berliner Unterhändlers im Grunde genommen kein Erfolg ist, ganz im Gegenteil, Gotzkowsky wird ausgetrickst. 46 Tottleben blufft, in dem er vier Millionen Taler von 45. Auch Dmitrij Masslowski bestätigt, dass Fermor keinen bestimmten Betrag anordnet. Mehr noch, nach den Angaben von Masslowski hat Tottleben „offiziell“ bzw. „für Fermor“ zwei (und nicht vier!) Millionen Taler Kontribution vom Magistrat angefordert (Masslowski, S.255). 46. Die Verdienste Gotzkowskys werden dadurch nicht geschmälert. Als Vermittler zwischen den Besatzern und den Einwohnern Berlins tut er in diesen Tagen viel, um das Schicksal der letzteren zu erleichtern. Viele Einwohner der Hauptstadt suchen in seinem Haus Schutz und Hilfe, und er erteilt sie allen, viele nimmt er in seinem Haus auf. Ihm haben die „Gazettiere“ ihrer Rettung zu verdanken. Ferner verhindert er die Pläne der Russen, eine zusätzliche Kontribution von der 65 den Stadtvätern verlangt. Er nennt zunächst den unannehmbaren Preis und bekräftigt seine Forderung mit der Berufung auf einen angeblichen Befehl vom abwesenden Fermor, um auf diese Weise den erwünschten Betrag sicher auszuhandeln. Dadurch, dass er zum Schein Einsicht zeigt, und die Kontributionssumme ermäßigt, bricht er keinerlei Anweisungen seiner Vorgesetzten, 47 er hält sich in der Tat strikt an die Vorgabe von Tschernyschew. jüdischen Bevölkerung der Stadt einzutreiben, wobei die Russen die reichsten jüdischen Kaufleute Itzig und Ephraim als Geisel nehmen wollen, solange die Kontribution nicht vollständig ausgezahlt wird. Er rettet einige Fabriken vor der Vernichtung. Er verteilt großzügig Schmiergelder und Geschenke unter den russischen Generälen, um auf diese Weise seinen Gesuchen mehr Gewicht zu verleihen. Die beachtlichen Summen, die er dafür ausgibt, stellt er der Stadt später niemals in Rechnung. Leider kommt ihm sein Engagement während der Besatzung später teuer zu stehen: um die Schulden aus den Bürgschaften vor den Russen bezahlen zu können, ist er gezwungen, seine hervorragende Sammlung holländischer Malerei an die russische Zarin Katharina die Große abzutreten. Diese Sammlung bildet heute das Kernstück der Holländer-Sammlung in der Eremitage in Sankt Petersburg. Und er stirbt wenige Jahre später verarmt. In seiner „Geschichte eines Patriotischen Kaufmanns" aus dem Jahr 1768 lamentiert er über die Undankbarkeit der Welt: “Dieses war das Schicksal desjenigen, der so oft vor die Stadt und seine Mitbürger sein Vermögen und Leben gewaget, und dem man einige Jahre vorher das Zeugniß gegeben hatte, daß es ein Exempel ohne Exempel wäre, daß ein ehrlicher Mann ohne allen Eigennutz dasjenige ausgestanden und unternommen, was ich als ein redlicher Patriot für meine Mitbürger ausgestanden und übernommen hatte. Man würde mich sogar des andern Tages nach dem öffentlichen Gefängniß gebracht haben, wenn nicht ein redlicher Mann, dem ich niemalen die geringste Gefälligkeit zu erweisen Gelegenheit gehabt, so großmüthig gehandelt und d i e Bürgschaft bis nach ausgemachter Sache für mich geleistet hätte. Ich kann diese Geschichte mit Recht aus der alten bekannten Fabel schließen: So lohnet die Welt" (Duwe, S.71). 47. Die Ermäßigung der Kontributionssumme bezahlt der Berliner Magistrat mit 65875 Talern, von denen 50000 auf das Konto von Tottleben gehen. Der Rest wird für die Geschenke an Tottlebens Leute und an Fermor, dem ein mit Brillanten verzierter Stock im Wert von 6000 Talern später überreicht wird, ausgegeben. General Tottleben war nach der Beschreibung von Hermann Granier ein Mensch, „der ziemlich skrupellos seinen eigenen Vorteil suchte und zu finden wußte“ (Granier, S.123). Auf die Vorzüge seiner Stellung in Berlin in diesem Sinne zu verzichten, wäre sicherlich nicht in seinem Naturell. 66 Teil 5: Die Besatzung Eine Präventivmaßnahme der psychologischen Kriegsführung: die Bestrafung der „Gazettiere“ Seite 68 Was in Berlin (nicht) zerstört wurde Seite 74 General Tottleben in der Rolle des Ordnungshüters Seite 77 Das Russenbild Seite 81 Der Abzug der Besatzer Seite 86 67 Eine Präventivmaßnahme der psychologischen Kriegsführung: die Bestrafung der „Gazettiere“ Die Kriegspropaganda befindet sich im XVIII. Jahrhundert noch in ihren Windeln. Sicher vertreten die Kriegsberichterstattungen parteilich die Meinung ihrer eigenen Seite und der Gegner wird negativ dargestellt. Die strickte Einhaltung dieser Regeln kontrolliert die Zensur. Sie sorgt, insbesondere in Preußen, unermüdlich dafür, dass die Zeitungen nur die Dinge veröffentlichen, „welche sich zu unserer Politique schicken, sonsten aber keine Prahlereien“. Die Publikationen mit einem für Preußen nachteiligen Inhalt werden unterbunden, „damit das Publicum desabusiret und selbigem keine falsche Impressiones inspiriret, noch selbiges ohnnötig in Apprehensiones und Vorurtheile gesetzet werden könne“ ( Schort, S.211). Dennoch besteht zwischen der Überwachung der Presse und ihrem bewussten Einsatz als Mittel der Gehirnwäsche ein wesentlicher Unterschied. Dank unserer heutigen Erfahrung, die zwangsweise Bekanntschaft mit den raffiniertesten Manipulationsmechanismen beinhaltet, merkt man diesen Unterschied beim Lesen der damaligen Kriegsberichte sofort. Die Zeitungsartikel von damals erscheinen uns eher harmlos. Es ist für uns schwer nachvollziehbar, was darin die Führung der russischen Armee in eine derartige Aufregung versetzen könnte, dass sie beschließt, ein Exempel zu statuieren und die Berliner Journalisten für die Verbreitung der Verleumdungen über die russischen Militärs hart zu bestrafen. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass hinter der Maßnahme nicht die oberste Militärführung, sondern die beleidigte Person des Generals Tottleben steht und es sich hier folglich um einen privaten Racheakt geht. 48 Denn gerade dem General Tottleben widmen die Berliner Zeitungen ihre bösesten Zeilen: er wird als undankbarer „Avanturier“ (Abenteurer) gebrandmarkt, der gewissenlos all die 48. Wie üblich versteckt sich Tottleben hinter einem Befehl von Fermor. Er berichtet Fermor aus Berlin am 10.10.1760 zwar , dass er die hiesigen Zeitungsschreiber morgen mit Spießruten bestrafen wird. Aus dem Kontext seines Rapports kann man jedoch nicht mit Bestimmtheit darauf schließen, dass die geplante Bestrafung tatsächlich auf den Befehl von Fermor erfolgt (vgl. Korobkov, S. 688). 68 Wohltaten verachtet hat, die er vom preußischen König genoss. So schreiben die „Berlinische Nachrichten“ am 02.Oktober 1759: „Aus Pommern und der Neumarck, lauffen posttäglich betrübte Nachrichten von denen Excessen ein, welche eine gewisser Lieutenant von Brincken, mit ein paar hundert Cosacken, an den Gräntzen dieser beyden Provintzen angerichtet. Er giebt vor, von dem General Tottleben, dem bekannten Avanturier, der, nachdem er so viele unverdiente Gnade von Sr. Königl. Majestät genossen, nunmehro zu Dero Feinden übergegangen, und sich durch die Verwüstung Ihrer Länder hervor thut, beordert zu seyn, Pommern und die Neumarck, unter Contribution zu setzen. Unter diesen Vorwand raubet er aus a l l e n Dörfern, wo er nur hinkommen kan, alles Vieh, Pferde und Sachen, und sobald ihm Truppen entgegen geschickt werden; so retiret er sich nach Pohlen. Hiebey werden solche unmenschliche Grausamkeiten ausgeübet, welche selbst die Feinde nicht werden billigen können.. . “ ( D u w e , S . 5 7 ) . Hat der General Tottleben, als er am 03.Oktober „des Morgens im Dorfe Britz im Predigerhause Caffe getruncken“ hat, zufällig diese alte Zeitung in seinen gehabt? Händen Jedenfalls vermutet Probst Süßmilch, dass eben sie den Zeitungsschreibern zum Verhängnis geworden ist: „Die Zeitungs Schreiber wurden auf den Sonnabend arretiret und solten den Sontag durch 1000 Mann auf dem neuen Marckt Spieß Ruthen lauffen...Der Cabinets Artickel vorigen Jahres, den Todleben einen Aventurier genant worden, hat ihnen dieses vermutlich zugezogen“ (S.44f). 49 Am 10.Oktober gegen 17.00 Uhr werden der Buchhändler und der Herausgeber der Vossischen konkurrierenden Zeitung Voß Verlagshauses, sowie der ein Haude- Handlungsbevollmächtigter und Spenerschen des Buchhandlung, namens Wever inhaftiert und zur russischen Stabswache gebracht. Am nächsten Morgen wird den Gefangenen die Aufgabe erteilt, eine Aufstellung von sämtlichen Zeitungsartikeln zu schreiben, die gegen den Russischen Hof sowie die Höfe der Alliierten in ihren Zeitungen bis dato erschienen. Anhand dieser Aufstellung werden 49. Probst Süßmilch schließt sich offensichtlich der Meinung an, die die Bestrafung der Zeitungsschreiber als kleinlich verurteilt: „Viele urteilten, daß man dergleichen Kleinigkeiten bey einer glücklich ausgefallenen expedition großmüthig hätte übersehen sollen...“(S.46) 69 die Autoren, der alte, „seit vielen Jahren beständig kränkliche“, Krause und „Candidatus Theologie“ Coli von der Haude- und Spenerschen Buchhandlung sowie Kretschmar von der Vossischen Buchhandlung, geholt. Die Arbeitgebervertreter dürfen danach gehen, die unglücklichen Zeitungsschreiber werden unter die Augen Tottlebens vorgeführt. „Se. Excellenz...wendete sich lachend zu den Arrestanten und sagten zu ihnen: Ihr Herren! Ihr habt euch über unsere Expedition lustig gemacht, man wird euch ein bischen durch die Spitzruthen lauffen lassen, um euch das kitzelnde Blut abzuzapfen.“ (Duwe, S.56) Es ist bezeichnend, dass Tottleben, dem die Ehre Ihrer Kaiserlichen Majestät, Zarin Elisaveta, angeblich dermaßen am Herzen liegt, die Hauptsünde der Zeitungsschreiber demnach in dem Auslachen seiner Expedition sieht. Daraufhin brechen die Zeitungsschreiber, die die Feigheit der Intellektuellen aller Zeiten gegenüber physischer Gewalt und Schmerz teilen, in „vieler tausend“ Tränen aus. Der alte Krause schiebt „seine Perruque etwas zurück“, damit Tottleben „seine eysgrauen“ Haare erblicken kann (Duwe, S.57). Doch das Flehen der Unglücklichen, das ein Herz aus Stein zum Schmelzen bringen könnte, macht auf den Grafen Tottleben keinen Eindruck. Seine Reaktion äußert er mit einem Befehl gegenüber dem diensthabenden Offizier: „Fort mit ihnen auf die HauptWache“! Und die Gefangenen werden zur Wache gebracht, wo sie unter den etwa dreihundert Russen, die wegen unterschiedlicher Dienstverfehlungen, hauptsächlich wegen der Säuferei, inhaftiert sind und „mit welchen man kein Wort sprechen konnte“(ebenda), auf ihre Bestrafung warten müssen. Hier versuchen sie sich gegenseitig damit zu ermutigen, „daß sie wegen der gerechten Sache ihres Großen Monarchen, ihres geliebten Friederichs, Schmach und Todesangst, ohne ihr Verschulden, aus stehen müssen.“(ebenda) Doch die erhabenen Gedanken können sie kaum über die Realität hinweg trösten:“Die blessirten winselten über ihre Schmertzen, die Besoffenen wurden geknebelt und gebunden, sie brüllten wie das Vieh, fast alle Stunden geschahen in der Officier Stube Stock-Executiones zu 50 ja offt zu I00 Schlägen, und der Gestanck von Tobacks Rauche, Branntwein und andern noch häßlichern Ausdünstungen, war unerträglich“ (ebenda). 70 Unterdessen verbreitet sich in der Stadt die Nachricht über die Inhaftierung der Zeitungsschreiber. Auch Ernst Gotzkowsky erhält die Kunde davon und eilt „ nochmals des Abends nach 9 Uhr zu dem Graf von Tottieben, eben als derselbe zu Bette gehen wollte“ mit der „ängstlichen“ Bitte „diese Leute nicht zu prostituiren“(Duwe, S.67). „Bedenken und erwegen Ew. Excellenz , - wendet er sich an den müden Tottleben, einmal diese Handlung, die da vorgenommen werden soll. Diese Leute sind ganz unschuldig an dem, was in der Zeitung gestanden haben mag; und welches die Russen so erbittert, haben sie keinen Antheil. Es hänget das Zeitungswesen nicht bloß von ihrer Willkühr ab, sondern es muß solches allemal die Censur paßiren; überdieß so sind wir ja alle Menschen, die stets Fehlern unterworfen sind, und dann so ist auch nicht beständig Krieg, und die gegenwärtig Lage der Sache kann sich auch gar bald ändern, daß dahero dieser Vorfall und Beschimpfung an einem oder dem andern rußisch-kaiserlichen Unterthan, der eben so unschuldig ist wie diese Männer, hinwieder gerächet werden könnte; sollte sodann rußischer Seits nicht ein solches Verfahren für eine Grausamkeit betrachtet werden?“(Duwe, S.68). Mit seinen Argumenten behält Gotzkowsky Recht: sicherlich über welche persönliche Verantwortung der Journalisten kann man in einem Staat reden, wo es keine Pressefreiheit gibt? „Auf diese Reden sähe mich der Graf von Tottieben starr an,“ -berichtet Gotzkowsky. Er müsse „ die Sache noch beschlafen“, lautet seine Antwort, mit der er den Berliner Unterhändler an diesem Abend entlässt ( ebenda). Bereits „ um 4 Uhr des angegangenen Morgens“ steht der unermüdliche Gotzkowsky schon wieder vor dem Bett des Generals. Diesmal versucht er mit den Schmeicheleien den Grafen von seinem Vorhaben abzureden: <ich> „fragte ihn: ob, n a c h einer gehaltenen guten Ruhe, ihm ein guter Engel nicht andere, als am vorhergehenden Arrestanten Tag gehegte, vor gegen hätte?“(ebenda). eingeflöset Hauptstadtbezwinger Gesinnungen so viel Beharrlichkeit, die armen Schließlich 50 er gibt unschuldigen kapituliert der Gotzkowsky seine 50. Gotzkowsky ist nicht der einzige, der sich für die Freilassung der Zeitungsschreiber engagiert, wohl aber der hartnäckigste Bittsteller. U.a. setzen sich der kursächsische und königlich polnische 71 endgültige Antwort in dem Sinne, dass er zwar „von seiner habenden Ordre“ „absolut nicht abgehen“ will, „ jedoch wollte er sie dahin moderiren, daß zwar die Zeitungsschreiber vor die Gasse, welche zum Spitzruthenlaufen bestimmet worden, geführet, sie aber von dem Laufen selbst pardoniret werden, und sie blos einen Verweis ihrer anzüglichen Schreibart wegen erhalten sollten.“ (ebenda). Und so geschieht es später auch. Unter dessen genießen die inhaftierten Schreiber keine „gute Ruhe“ in dieser Nacht: „Die Jammernacht zwischen dem 11 ten und dem 12 Octbr.: ward von den drey Gefangenen unter den fürchterlichsten Gedanken von ihrem Schicksal zurück gelegt. Des Morgens, kurz nach 7 Uhr öffnete man die Thüre der Officier-Stube und ein Gefreyter kündigte ihnen an, ihm zu folgen“ (Duwe, S.57). Unter Bewachung werden sie zum Königlichen Schloss gebracht. Hier, vor dem Portal des Schlosses, müssen sie lange stehen bleiben: nicht alle von ihnen wollen als Helden in die Geschichte des Berliner Zeitungswesens eingehen. Der Theologie Kandidat Coli entscheidet in letzter Minute, dass es doch viel zu viel für ihn wäre, sogar „wegen der gerechten Sache des Großen Monarchen, des geliebten Friederichs“ verprügelt zu werden und überschüttet den begleitenden russischen Offizier mit seinem tränenden Flehen. Er denunziert den Greis Krause als Haupttäter und behauptet, „daß er bloß dem alten kränklichen Krausen bey seinen schwächlichen Umständen im Zeitungs-Wesen an die Hand gehe...“(ebenda) Schließlich gelingt es ihm sich aus der Sache auszuweinen: er wird zurück zur Wache geschickt, wo er zu seiner Freude weiterhin „den Gestanck von Tobacks Rauche“ und die „häßlichen Ausdünstungen“ einatmen darf. Die beiden anderen Täter sollen nun hinter einem russischen Bataillon bis zu dem Neumarkt marschieren, wo die Exekution stattfinden soll. Unterwegs spielen sich rührende Szenen ab: „Auf dem Wege nach den Executions-Platze merckten die beyden Gefangenen in ihrer Todesangst, daß es in Berlin noch Hertzen giebt, die durch das Elend der Unglückseligen zärtlich gerührt werden. Die Zuschauer dieses Trauerspiels in den Fenstern, und auf den Straßen ließen ihr Christliches Mitleiden durch traurige Mienen, und durch Zusammenschlagung ihrer Hände, deutlich Resident Sternickel sowie weitere angesehene Bürger dafür ein. 72 spüren“ (Duwe, S.58). Das Trauerspiel erreicht seinen Höhepunkt in dem Auftritt auf dem Neumarkt. Es wird eine Gasse formiert, „welche von der Wache auf dem Neuen Markte bis an das ehemalige Müllerische Hauß reichte, und den Soldaten wurden Spitzruthen ausgetheilt. Man führte die beyden Gefangenen an den Eingang dieser Gasse. Der Zeitungs-Verfasser Krause glaubte, daß man ihm, in Betrachtung seines hohen Alters und seiner kränklichen Umstände, wenigstens verstatten würde, in seiner gewöhnlichen Kleidung durch die Spießruthen zu gehen, und er machte sich dazu bereits fertig; allein der Officier rief: Herunter mit den Kleidern und mit den Hemden! Der Vossische Zeitungs-Verfasser Kretschmar fragte: Ob den auch die Unterhemden müßten ausgezogen werden, und erhielt zur Antwort: Ja, der gantze Leib muß entblößt sein! Da der alte Krause wegen des Schreckens, und seiner schlechten Gesundheit, nicht zeitig genug mit dem Ausziehn fertig werden konnte, schrye ihm ein Officier zu: Canaille hurtig! Nicht solange gezaudert! Grade zu dieser Zeit, als die beyden Gefangenen anfingen sich auszuziehen, kündigte ihnen der commandirende Major den Pardon mit folgenden Worten an: Ihro Majestät die Kayserin, haben den beyden Arrestanten die Straffe des Spießruthen laufens aus angestammter Huld allergnädigst erlassen, doch unter der ausdrücklichen Warnung, sich wohl vorzusehen, daß sie weiter nichts wieder Höchstdieselben schreiben sollten, weil sonst der Galgen ohnfehlbar ihr Lohn seyn wird“ (ebenda). Danach finden die feierliche Verbrennung der alten Ausgaben der Berliner Zeitun51 gen, der Rückmarsch zur Wache über die ganze Stadt statt...usw. bis endlich „der Herr Major in der Officier-Stube“ „die Arrestanten hinein fordern <ließ> und sprach zu ihnen: Sie sind völlig frey, und können gehen, wohin sie wollen! Hiermit endigte sich dieser traurige und schreckliche Aufzug“ (Duwe, S.59). Anton Kersnowskij, der in seiner „Geschichte der russischen Armee“ diese Episode streift, meint, dass die Bestrafung der „Gazettiere“ nicht sonderlich wirkungsvoll 51. Bemerkenswert, dass einige Berliner Autoren, deren Werke in Flammen aufgehen, wie z.B. der von der Bestrafung verschonte Professor Ugli, sich später damit rühmen werden. Für den Professor ist die Verbrennung der Zeitungen mit seinen Artikeln ein Beweis dafür, wie ernst seine Schriften von den feindlichen Mächten genommen werden. 73 blieb, denn „Diese Maßnahme hat sie (d.h. Zeitungsschreiber) kaum zu den besonderen Russlandliebhaber gemacht...“( Kersnowskij, S.108, Sprache-rus., Übersetzung des Autors). Das sicherlich nicht, dennoch war der Effekt der Inszenierung, die General Tottleben auf dem Neumarkt in Berlin veranstaltet hat, gewaltig und von langer Nachwirkung. „Damit hatte sich Tottleben Respekt verschafft...“,- stellt Manfred Schort fest (Schort, S.280). Sogar nachdem sehr viel Zeit vergangen ist, sind die Berliner Zeitungsschreiber immer noch zu feige, sich mit den Kriegsthemen auseinander zu setzen. Selbst die Besetzung Berlins wird „erst sehr viel später“ in den Zeitungen „überhaupt erwähnt und nur in Form eines offiziösen Berichts“ (Duwe, S.55). Herman Granier zitiert einen Zeitgenossen, der diesbezüglich lamentiert: „Es scheint, das wir nicht den Mut haben, von unserem Unglück zu sprechen" (Granier, S.130). In diesem Sinne hat sich das Antiverleumdungsverfahren von Tottleben glänzend bewährt. Was in Berlin (nicht) zerstört wurde Die Instruktionen, die er bekommen hat, verpflichten Tottleben die Kriegswirtschaft der preußischen Hauptstadt zu zerstören. Er soll alle Waffenlager und Rüstungsbetriebe der Stadt gänzlich verwüsten sowie alles, was für die Versorgung der russischen Armee nötig ist, beschlagnahmen. In Abhängigkeit von der Abstammung der Geschichtsschreiber werden General Tottleben und seiner Besatzungstruppe unterschiedliche Zeugnisse für ihre Zerstörungsarbeit ausgestellt. Während die Deutschen die Umsicht Tottlebens loben, die darin zum Ausdruck kommt, „ daß er seine ihm erteilten Befehle mit größter Schonung f ü r die Stadt und ihrer Bewohner ausführte“ (Duwe, S. 41), sehen die russischen, und insbesondere die sowjetischen, Historiker in diesem Zusammenhang oft die Zeichen des Hochverrats. 52 52. Für Dmitrij Masslowski „genügt schon der Hinweis darauf, dass die ganze Bevölkerung Berlins Totleben stets dankbar blieb“ (Masslowski, S.254) um Tottleben als Saboteur der russischen Sache anzuprangern. Neben der Geldgier unterstellt er Tottleben auch die Ergebenheit in die Interessen 74 Am 11.Oktober versuchen die Russen, die Pulvermühlen in der Jungfernheide zu sprengen. Die Sprengung endet in einem Desaster: ein mit ca. vierzig Tonnen Pulver beladenes Sprengungskommando Trockenlager fliegt in die Luft und das ganze fliegt mit. Mehrere Soldaten sterben. Andere erleiden schwere Verletzungen. Die Wucht der Explosion erschüttert die Stadt. Eine Scheune geht im Flammen auf. Doch die schwersten Verluste für die Mühlen selbst entstehen nicht durch diese missglückte Sprengung, sondern durch die Konfiszierung der bei der Produktion eingesetzten Pferde. Nachdem diese ersetzt werden, können die Mühlen ihre Arbeit wieder aufnehmen. Das geschieht in etwa einem Monat nach dem Abzug der Besatzer. Im Gießhaus werden die Öfen zerstört und die Gießmeister weggeschleppt. Allerdings vergisst man, die Gesellen mitzunehmen. Mit ihrer Hilfe wird die Produktion nach etwa zwei Monaten wiederaufgenommen, ein Beweis dafür, dass die berufliche Ausbildung damals sehr gut gewesen sein soll. 53 Das Gießhaus- Gebäude wird nicht zerstört: es steht zu nah an den Wohnhäusern und nach dem unglücklichen Versuch, Pulvermühlen zu sprengen, geht man mit dem Sprengstoff vorsichtiger um. Auch die Münze wird nicht zerstört, lediglich die Maschinen werden beschädigt. Die Beseitigung der Schäden gelingt hier in einer Rekordzeit: schon in weniger als zwei Wochen nach dem Abzug der Besatzer läuft die Produktion in der Münze wieder. Das Zeughaus wird geplündert. Die dort befindlichen Waffen haben schon damals einen primär musealen Wert. Es ist überliefert, dass der pragmatisch denkende preußische König, der sich nur für die im Krieg einsetzbaren Waffen interessiert, die Ausräumung des Zeughauses nicht als großen Verlust empfindet. Auch Fürst seiner Stammesgenossen, der Deutschen: „wo es irgend einging, beobachtete Tottleben nur die Form der Ausführung der von ihm erlassenen Verordnungen, wobei er seine eigenen persönlichen und die deutschen Interessen in den Vordergrund stellte“ (Masslowski, S.257). 53. In seinem Bericht an Fermor über die Verwüstung des Gießhauses prophezeit Tottleben etwas zu optimistisch, dass „keine einzige Kanone in Berlin in den nächsten zwei Jahren gegossen werden kann“ (Korobkov, S.693, Sprache-rus. Übersetzung des Autors). 75 Prozorowskij, der kurze Zeit später diese auf zwei Fuhrwerken beladenen Trophäen nach Sankt Petersburg bringt, ist nicht der besten Meinung über ihren Wert ( Prozorowskij, S. 71), obwohl er für diese Mission und auf Empfehlung von Tottleben, dessen Name damals beim Hofe sehr hoch im Kurs steht, zum Oberst befördert wird. Schließlich finden die Gegenstände aus dem Zeughaus ihren Platz dort, wo sie hingehören, nämlich in Museen: die damals geraubten Fahnen z.B. sieht man heute in der Peter-und-Paul-Festung in Sankt Petersburg. Die Mehrzahl der Waffen wird allerdings erst gar nicht mitgenommen, sondern von den Soldaten an die Bevölkerung verkauft. Auf den Straßen Berlins entsteht ein reges Handeln, für ganz wenig Geld kann man sogar eine Kanone für den Haushalt kaufen. Ebenfalls an die Bevölkerung werden Gegenstände aus den zwei Montierungskammern und das Salz aus dem verkauft. Salzlager Es ist also nicht verwunderlich, dass aus einer relativ kleinen Besatzungstruppe gleich mehrere hundert Säufer bei der Hauptwache (siehe: landen die Geschichte der „Gazettiere“): die gemeinen Soldaten sind an diesen Tagen gut bei Kasse. Nach dem Ende der Besatzung werden die Bürger „durch Trommelschlag“ (Granier, S. 144) aufgefordert, die gekauften Sachen zurückzugeben. Der Kaufpreis wird zurückerstattet. Manche folgen Aufforderung, der manche-nicht. Die entstandenen Schäden halten sich dennoch in Grenzen. Viel mehr geht durch die Requirierung der Pferde verloren, die Pferde werden von überall her geholt, so bleibt z.B. das Königliche Schloss unversehrt bis auf den Marstall, der wird leer geräumt. Auch viele Privatpersonen büßen ihre Pferde, Gespanne, Pferdegeschirre Armeelieferant, entstandene dem Schaden sein ein. ganzes von 57000 Doch der härteste Fouragemagazin Talern wird Schlag beschlagnahmt ihm nie trifft einen wird. ersetzt, da Der die Militärbehörde seine Waren vor der Requisition noch nicht abgenommen hat. Die Berliner Tuchfabrik und die Gold- und Silbermanufaktur rettet Ernst Gotzkowsky vor der Zerstörung. Angeblich überzeugt er Tottleben, die Betriebe zu verschonen, mit dem Argument, dass die Gewinne aus ihnen in ein Waisenhaus in 76 Potsdam fließen und nicht in die königlichen Kassen. Tottleben zeigt sein Herz für die Waisen und streicht die Unternehmen von der Liste der Betriebe, die „gänzlich verwüstet“ werden sollen, obwohl beide auch für den Kriegsbedarf produzieren. Es ist nicht überliefert, ob in diesem Fall neben den Worten auch Schmiergelder fließen. Der „üble Ruf“ Tottlebens lässt allerdings immer wieder vermuten, dass er für seine Milde kräftig entlohnt wird: Dmitrij Masslowski hat beispielsweise „...keinen Zweifel darüber, dass Tottleben bei seiner Expedition nach Berlin bedeutende eigene Geldgeschäfte machte...“ (Masslowski, S.257) Zu den seltsamsten Einfällen der Besatzungsmacht gehört der Versuch, die Berliner, an die man gerade Kanonen verkauft hat, zu entwaffnen: „kurtz vor ihrem Außmarsch muste die Bürgerschaft ihr Gewehr an den Lustgarten abgegeben werden...“(Duwe, S.77). Das hat nicht nur Rußen im Murren unter den Einwohnern hervorgerufen, die nach dem Abzug der Besatzer zurecht befürchtet haben, den Marodeuren zum Opfer zu fallen. Es ist auch kurz vor dem Abzug schlicht nicht realisierbar. Schließlich wird ein Haufen Schrott eingesammelt und in der Spree versenkt. Kaum sind die Besatzer aus dem Staub, werden die meisten Gewehre aus dem Wasser geholt und wieder funktionstüchtig gemacht. Alles in allem verdient die Verwüstungsleistung der Besatzer höchstens die Note „befriedigend“: nach dem Ende der Besatzung erholt sich die Industrie der Stadt schnell und es wird weiter fleißig für den Krieg produziert. General Tottleben in der Rolle des Ordnungshüters Wie sicher ist das Leben in der eroberten Stadt? Die Instruktionen, die Graf Tottleben erhalten hat, sowie die Kapitulationsbedingungen verpflichten ihn, für die Sicherheit der Bürger zu sorgen. Diesen Teil seiner Aufgabe erfüllt der russischer General viel besser, als den, die Kriegsindustrie der Stadt zu zerstören. 54 Die 54. Als später Tottleben von den Ermittlern in seiner Sache vorgeworfen wird, dass er in Berlin nicht genug für Ordnung gesorgt hat, unterweist Friedrich seinen Botschafter in Sankt Petersburg ihn von 77 Zeitgenossen bezeugen übereinstimmend, dass die Disziplin in den in der Hauptstadt stationierten Einheiten der russischen regulären Armee, im Unterschied zu den Österreichern, auf einem hohen Niveau gehalten wird. „Man lobt allgemein die Russen vielmehr als die Österreicher,- notiert Graf Lehndorff in seinem Tagebuch (Lehndorff, S. 133). Und Probst Süßmilch schreibt: „Es ist nicht zu leugnen, daß an vielen abgelegenen Orten der Stadt, die depudirten sollten geplündert und in die Häuser eingedrungen seyn, die nicht verschlossen gehalten wurden. Mann kann es aber nicht auf die Rechnung des Generals Totleben setzen, weil er gleich überall Wachen ordnete, wo sie verlanget wurden. Indem nun die Oesterreicher sich einquartiret hatten, unterblieben die Excesse auch nicht, doch ward auch Hülfe geleistet, so bald Leim entstand, daß also dadurch gröbere Ausbrüche und allgemeine Plünderungen verhütet wurden. Überhaupt aber zu sagen, so ist es in dem von den Rußen occupirten Theil ordentlicher zugegangen als in dem Oesterreichischen...“ (Wilke, S.33). Auch die Verdienste des neuen Berliner Kommandanten werden nicht vergessen: „Der Brigadier von Bachmann ward zum commandanten bestellet, der dem auch ohnentgeltlich Salvegarden abfolgen ließ, so daß deren wol ein paar Tausend mahlen vertheilet worden seyn, wie denn auch sonst der HE. Brigadier alles mögliche gethan was zur Erhaltung guter Ordnung nöthig war.“ (Wilke, S.32). Die Verletzungen der Disziplin werden streng gehandelt, und zwar ohne Rücksicht auf den Rang des Schuldigen. Auch Offizieren wird keinen Pardon gegeben. „Die ertappeten Marodeurs sind auch auf das härteste bestrafet worden...,- bezeugt Probst Süßmilch. Ein anderer Augenzeuge erzählt: „im währenden Außmarsch nahm ein Ruscher Officier von der Infantery einen Bürger auf der Straße den Rocklohr von Leibe weg dieser mann meldete es bey den Ruschen CHeft sogleich wurde dieser Officir auf den Rücken gebunden sein Pferd hinter ihm angebunden, und auf jeder Seite des Officir einen Hund, angebunden mit dieser Viehischen begleichtung muste er die gantze Stadt durchgehen, und der Mann bekam seinen Rocklohr wieder dieses war des Sonntages nachmittags um 4 Uhr...“(Duwe, S.77). diesem Anklagepunkt zu entlasten. 78 Streng zu den eigenen Soldaten, ist General Tottleben für die Bürgerschaft zugänglich und zuvorkommend: „Überhaupt muß jedermann die Höfflichkeit des HE. Generals von Totleben rühmen, wie er denn auch sogleich nach der ersten Unordnung seine alte Bekanten, selbst unter den Bürgerstande aufsuchte, und sich gütig gegen sie erklärte“ ( Wilke, S.38). Dennoch fühlen sich viele Bürger in der Hauptstadt während der Besatzung unsicher und verlassen ihre Häuser nur, wenn es unbedingt nötig ist. Trotz aller Beteuerungen des Grafen Tottleben, dass das Leben in Berlin seinen gewöhnten Lauf weiter gehen kann, als ob nichts passiert ist, bleiben die Kirchen am Sonntag geschlossen: “Da man aber doch von eintzelnen unartigen Personen Stöhrungen besorgen muste, niemand auch leicht sein Haus verließ so ward in den meisten Kirchen der sontägliche Gottesdienst und alles Geläute eingesstellt“ (Wilke, S.38). Die psychische Belastung, der die Einwohner der okkupierten Stadt ausgesetzt sind, entlädt sich bei Gelegenheit in regelrechten Panikattacken. Die unglückliche Explosion des Pulverlagers, die die Stadt erschüttert, versetzt manche Berliner wieder in Angst und Schrecken. Darüber erzählt Fürst Prozorowskij in seinen Erinnerungen folgende Geschichte. Prozorowski wird im Haus eines reichen französischen Kaufmanns „von den aus Frankreich aus Glaubensgründen vertriebenen und in Preußen aufgenommenen Reformatoren, die unter dem Namen refugee bekannt sind“ „am Platz gegenüber dem königlichen Schloss“ ( vermutlich an der Schlossfreiheit) einquartiert. Der Besitzer des Hauses ist zu dieser Zeit geschäftlich abwesend. Seine Frau bleibt allein im Hause und sorgt für ihren russischen Mieter, der bei ihr in Kost ist. Als Prozorowskij am Tag der Explosion nach Hause kommt, spielt sich folgende Szene ab: Die Frau des Hausbesitzers „traf mich auf der Treppe völlig verzweifelt und in Tränen aufgelöst und lud mich zuerst in ihr Zimmer ein, wo sie mich um zwei Soldaten bat, um sie nach Friedrichstadt zu begleiten. Ich wunderte mich und sagte ihr, dass ich den Grund nicht nachvollziehen kann, warum sie ihr Haus verlassen möchte, denn wenn sie um ihre Sicherheit besorgt ist, so ist doch meine Einquartierung bei ihr die bestmögliche Garantie ihrer Sicherheit. Sie antwortete lediglich mit einem tränenden Flehen, ihr Leben im Tausch gegen ihr ganzes Hab und Gut zu verschonen. Obwohl ich ihr sagte, dass ich ihren Besitz nicht brauche, sie bleibt 79 ohnehin gesund und wohlauf. Die Angst hat sie jedoch so gepackt, dass sie sich mit meinen Zusicherungen nicht zufrieden gab, sie führte mich zum Kruzifix und bat mich, beteuernd, dass sie mich für einen Christen und ehrlichen Menschen hält, <vor dem Kruzifix> zu schwören, das sie nicht umgebracht und nicht verbrannt werden. Dabei bot sie mir andauernd ihren Besitz an. Ich versicherte ihr mit allen möglichen Beteuerungen, um sie zu beruhigen, dass die Gerüchte, dass sie umgebracht werden, sich als purer Unsinn erweisen werden. Sie werden nicht nur am Leben bleiben, sondern es wird auch um ihre Sicherheit gesorgt und es ist nicht erlaubt, ihnen irgendetwas außer der Kontribution wegzunehmen. Diese Beteuerungen beruhigten sie schließlich.“(Prozorowskij, S.70, Sprache-rus. Übersetzung des Autors) Nur ganz am Ende bekommt das fast perfekte Bild der Disziplin und Ordnung während der Besatzung ein Paar Kratzer. In der Nacht vom 12 bis auf den 13 Oktober sind die Hauptkräfte der Alliierten bereits weggezogen. Nur eine kleine russische Einheit unter Hauptmann Schischkow bleibt noch in der Stadt. Die Deserteure und sich extra von ihren Einheiten entfernten Marodeure machen diese Nacht in der Stadt zu der unruhigsten während der ganzen Besatzungszeit. Die zurückgelassene Truppe wird bei ihrem Versuch, die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten etwas überfordert. Den Berlinern bleibt nur diese einzige Nacht in Erinnerung. Viel schlimmer geht es den Einwohnern des Berliner Umlandes. Sie sind der marodierenden Soldateska während der ganzen Zeit der Belagerung und der Besatzung praktisch ausgeliefert. Die Liste der von den Plünderern heimgesuchten Dörfer ist lang. Nicht nur Raubdelikte, sondern auch rücksichtsloser Vandalismus werden den Truppen der Alliierten zur Last gelegt. Die Verwüstung des Charlottenburger Schlosses und des Schlosses Schönhausen wird Friedrich härter, als sonstige Verluste treffen. Als Vergeltung dafür verordnet er die Zerstörung des sächsischen Schlosses Hubertusburg, eine Maßnahme, die damals allgemeine Empörung hervorruft. Auch das Schloss Friedrichsfelde, wo Graf Tschernyschew selbst logiert, ist nach dem Abzug der russischen Truppen vorerst unbewohnbar. An den Raubzügen nehmen, neben den Österreichern und den Sachsen, die 80 Irregulären der russischen Armee, die Kosaken und die Husaren, die gemäß den Kapitulationsbedingungen nicht in der Stadt stationiert sind, teil. Nicht nur Geld und Sachen werden geraubt, sondern auch das Vieh. Dieses wird später in der Stadt für wenig Geld verkauft. Die Berliner profitieren gewissermaßen davon, dass 55 das Berliner Umland „bluten soll“ : „Das zusammengetriebene Vieh ...ward für eine Kleinigkeit an einen jeden ohne Unterschied verkauft, daher es Berlin, noch zur Zeit nicht daran mangelt“(Süßmilch in: Wilke, S.43 ). Auch sonstiges Raubgut findet bei den Hauptstädtern einen reißenden Absatz:„bey ihren (d.h. den Russen) ein Marsch hat mancher genung Profetir von daß Raub Guth welches sie ihr verkauften“ (Duwe, S.77) Das Russenbild Nicht erst mit der Loveparade wird Berlin zur Eventmetropole Deutschlands. Auch im XVIII. Jahrhundert versammeln sich Mengen von Schaulustigen auf den Straßen der Hauptstadt, um die großen Ereignisse wie den Einmarsch der Russen zu feiern:„...der Zulauf der Menschen bey ihren ein und auß Marsch war der Berlinischen Gewohnheit gleich...“, stellt ein Augenzeuge fest (Duwe, S.77). Und der Berlinbezwinger General Tottleben erteilt den Berlinern sein Lob für ihre Freimütigkeit und ihre Wissbegierde: „Übrigens muß man den Berlinern zum Ruhme nachsagen, daß sie ungemein beherzt sind. Als ich in die Stadt einrückte, so waren mehr Bürger als Soldaten da, die durch die Glieder der Truppen ungestört und ganz freimütig spazierten"(Duwe, S.45). Zuvor hat Berlin die Russen nur vereinzelt in der Menge von Kriegsgefangenen gesehen, nun kommen sie als Besatzer in die Stadt. In ihrer neuen Rolle sind sie dafür prädestiniert, von allen Seiten auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden. 55. Der Ausdruck von Georg Duwe, der das entsprechende Kapitel seines Werkes mit dem Titel versieht „Auch Berlins Umgebung muss bluten“(S.66). 81 Welchen Eindruck machen sie als Menschen auf die neugierigen Hauptstädter? Die Aufzeichnungen des Probstes Süßmilch sind in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich. Denn darin bemüht sich der Verfasser, ein Forschergeist und Mitglied der Akademie der Wissenschaften, unvoreingenommen, objektiv und kritisch zu urteilen. Das macht seine Beobachtungen zu einem interessanten Dokument der Kulturgeschichte. Die auszeichnende Besonderheit der russischen Soldaten, die den Probst besonders beeindruckt, ist ihre Anspruchslosigkeit: „Dieses fliegende Corps war gantz leicht equipirret und hatte nur pars compagnie 4 Zelte bey sich. Ich habe selbst viele Staabs= Officiers gesprochen, die nur ihre Pferde und ein paar Hembden bey sich hatten. Die Infanterie und Cavallerie hat daher grösten theils beständig unter freiem Himmel und auf den Steinen bey kalten Winde und vielen Regen, der schon den 8. Octobr anfieng und bis zum 17ten nicht aufgehöret hat, liegen müßen. Starcke Märsche haben auch geschehen müßen. Die Vorsorge für den Unterhalt der Leute habe ich auch nicht so wie bey andern Armeen gefunden“ (Wielke, S.44). Trotz unzureichender Versorgung und katastrophaler Unterbringung unter dem freien Himmel wirken die gemeinen Soldaten der Besatzer zufrieden. Sie murren nicht, mehr noch: „Sie waren mit allem zufrieden und danckbar“, zeichnet Probst Süßmilch auf (ebenda). Die Ausdauer und die Geduld dieser Menschen bringt er mit einer Lebenseinstellung in Verbindung, die alle Schicksalsschläge mit einem fatalistischen Glechmut annimmt: „Sie sind gehorsam aus Gewohnheit bis zu den großen Strapatzen, sie sahen es aber auch wohl ein, daß die wenigsten von ihnen lebendig in ihr Vaterland könten zu rückkomen“ (ebenda). Als ein Sohn des Zeitalters der Aufklärung kann er diese Einstellung nicht teilen. Die fatalistische Hinnahme der „Strapatzen“ ist in seinen Augen keine Tugend, da unter diesen Strapazen „ Gesundheit und Leben ...sehr leiden“(ebenda). „Das beste ist noch, daß jeder Soldat einen Mantel und Stiefeln hat, bey den harten Strapazen ist aber solches nicht genug zur Einhaltung der Gesundheit“(ebenda). In seiner Darstellung kommt die Missbilligung des inhumanen Regime in der russischen Besatzungstruppe unmissverständlich zum Ausdruck. 82 Mit den gemeinen Soldaten der russischen regulären Armee empfindet Probst Süßmilch Mitleid und eine gewisse menschliche Sympathie: „Ich habe unter der Infanterie und gesprochen, den die Salvegarden, vielen meisten von einem mit denen natürlichen ich und durch guten Dollmetscher Verstande und würeklich auch von einem guten unverdorbenen Hertzen gefunden“ (ebenda). Und auch das hält er für erwähnenswert: „Viele unter ihnen trincken gar nicht Brand Wein, wenigstens unter dem Moscowvischen Regiment, deren viele aus Casan, 56 300 Meilen hinter Moscau, gebürtig“ (ebenda). Ganz anders urteilt er über die Kosaken. Er zweifelt sogar, „ob man die Kosacken ..., ich will nicht sagen zu Christen, sondern nur zu Menschen rechnen könne“ (ebenda). Er beschimpft sie als „Ungeheuer in menschlicher Gestalt“ und als „ Raubgesindel“. In seiner Schilderung haben die Kosaken bei ihren Beutezügen durch das Berliner Umland „ nichts unterlaßen, was die Unmenschlichkeit ersonnen, und was der Menschlichkeit ein Grausen und Abscheu verursachen kann“. Und obwohl er nicht leugnet, dass die Husaren der Russen sowie die Österreicher und die Sachsen den Kosaken als Plünderer kaum nachstehen, ja sie 57 sogar manchmal übertreffen , sind es immer die Kosaken, denen er seine bösesten Zeilen widmet. Seine Abneigung gegenüber dieser Spezies geht soweit, dass er sich in der Rolle eines freiwilligen Beraters der russischen Armeeführung versucht. Er bemüht sich nämlich den russischen Generälen Augen darauf zu öffnen, dass die Kosaken der russischen Sache zusammenfassen: nur erstens, schaden. die Seine Kosaken Argumente sind im kann Krieg man nutzlos, wie da sie folgt „zu ordentlichen Angriffen nicht geübet“ sind; zweitens, durch ihre „Excesse“ bringen 56. Dass die Kasaner keinen Wodka trinken, soll nicht weiter wundern, in der Gegend von Kasan ist es nicht üblich. Hier leben hauptsächlich Tataren und sie sind Moslems. 57. Vgl.dazu der Bericht des Probst Süßmilch über die Plünderung des Charlottenburger Schlosses: “Von den Oesterreichern und Sachsen hätte man sich solche Barbareien nimmer vermuthet, die nur alleine ungezähmten Cosacken ähnlich sehen und auch diese haben jederzeit, so gar vor den bloßen Bildnißen Sr. Maj. des Königes, Respect bezeuget“(Wilke, S.43). 83 sie die reguläre russische Armee in Verruf; drittens, indem sie die ganzen Landstriche ausplündern, nehmen sie die Versorgungsbasis den eigenen Truppen weg, so dass „die Rußische Armee niemals eine andere Position nehmen <kann>, als wo sie .. <im Originaltext unlesbar>, völlig sicher hat, und also die Zufuhr von weitem bekommen kann. Man kann daher auf ihre Operationen leicht einen Schluß machen“ (Wilke, S.41). Er bekräftigt seine Argumente mit der Berufung auf „viele unter den Rußischen Officiers Selbsten sonderlich die Deutschen“, die „gelegentlich ihr Mitleiden und Abscheu < gegenüber den Kosaken> zu erkennen gegeben <haben>“ und auf „den gemeinen russischen Soldat“: „Der gemeine Rußische Soldat schimpft daher selbst sehr auf dieses Raubgesindel, weil er nirgends etwas findet, wo sie gewesen. Schrecken und Verwüstung geht vor sie her und begleitet sie“(Wilke, S.44). Warum sind gerade die Kosaken in Preußen so ungeliebt? Sicherlich nicht nur deswegen, weil sie Fremde sind: an beiden Seiten kämpfen im Siebenjährigen Krieg internationale Truppen. Ausländer haben einen gewichtigen Anteil bei den Preußen, die gegen Kriegsende beinah nur aus den Kriegsgefangenen ihre Truppen rekrutieren. Im österreichischen Heer gibt es viele Ungarn, Polen, Kroaten, Vertreter von anderen Balkanvölkern, die russischen Husaren werden aus den Rumänen, Serben, Kroaten und Montenegriner angeworben. Das Offizierskorps stammt aus fast allen europäischen Ländern. Die anderen Völkerschaften werden jedoch viel seltener, als die Kosaken, negativ erwähnt. Sicherlich beteiligen sich die Kosaken an den Plünderungen. Jedoch sind sie hier nicht allein schuldig. Ihre „Mitgehülfen“ wie die bereits mehrfach erwähnten Sachsen verdienen sich, speziell in Berlin, ebenfalls einen üblen Ruf als Plünderer. Die Kroaten brechen sogar die Gräber der Familie Schwerin auf ihrem Landgut auf und berauben die Toten, solche Ungeheuerlichkeiten werden den Kosaken nicht angelastet. Und trotzdem werden ausgerechnet die Kosaken zu dem „Raubgesindel“ schlechthin. Warum? An der Berliner Expedition nehmen hauptsächlich die Donkosaken teil. Seit eh und jäh sind die südrussischen Steppen, insbesondere die Donregion, ein Sammelpunkt für die unruhigen Elemente aus ganz Russland. Die ruhigen Menschen sitzen zu Hause und beugen sich ohne zu murren dem Joch der Leibeigenschaft und der Tyrannei der Zarenmacht, dagegen fliehen die unruhigen Geiste davon und 84 schlagen sich bis zum Don durch, wo sie sich den Reihen des Kosakentums anschließen. Die Zaren, denen die Verteidigung ihrer südlichen Grenzen gegen die wüsten Einfälle der Krimtataren am Herzen liegt, sehen sich von alters her gezwungen, die Privilegien und die Freiheiten der Kosaken anzuerkennen. Das Wort „Kosak“ stammt aus dem türkischen und bedeutet „freier Krieger“. Das Leben in der Steppe unter den Bedingungen des ständigen Kampfes formt einen besonderen Charakter, der dem Charakter der kriegerischen Nomaden eher ähnelt als dem Charakter der Einwohner der inneren Provinzen des russischen Reiches. Die Kosaken leben in einer Art Militärdemokratie und gehorchen ihren frei gewählten Anführern, die sich, wie der Brigadier Krasnoschtschekow, in endlosen Beutezügen hervortun. Von Kindheit an üben sie den Umgang mit Waffen und machen sich die Taktik und die Kriegsbräuche der Nomadenvölker zunutze, die einem aufgeklärten Europäer des XVIII. Jahrhunderts barbarisch erscheinen: blitzartige Einfälle, Ausnutzung des Überraschungseffekts, Kriegslist, Flucht in dem Moment, als der Gegner wieder zu Kräften kommt. Diese Steppenreiter sind unentbehrlich als Kundschafter, als Verfolger des fliehenden Gegners und vor allem als Partisanen im feindlichen Hinterland, die Fertigkeiten des erfolgreichen Partisanenkrieges saugen sie mit der Muttermilch ein. Der Artikel, der den Zeitungsschreibern zum wird, Verhängnis beschreibt treffend die übliche Vorgehensweise dieser „freien Krieger“ im Feindesland, wobei sie in diesem Fall von einem Deutschen, dem Tottlebens Adjutant von Brinck, angeführt werden. Der Hass gegen die Kosaken entsteht auf Grundlage der Gegensätzlichkeit zweier Lebensweisen und den daraus resultierenden Kulturtypen, dem Kosakentum und dem Preußentum. Süßmilch, der Einen sogar den ordentlichen preußischen feindlichen Mächten Untertan einen wie der gebührenden Probst Respekt entgegenbringt, trennt von den Kosaken, die „nicht Päße von der <eigenen> Generalität und die Salvegarden respectiren“(Wilke, S.41), kulturhistorisch gesehen, eine abgrundtiefe Kluft. Die Feindseligkeit eines Preußen gegenüber den „freien Kriegern“ ist der Ausdruck seines Unverständnisses für die Menschen, denen die heiligsten Werte und die moralischen Tugenden des Preußentums scheinbar vollkommen fremd sind. Die von den Kosaken verübten Gräueltaten tragen zu dieser Feindseligkeit bei, jedoch nicht primär. 85 Respektvoll erlaubt sich Probst Süßmilch die russische Armeeführung dafür zu rügen, dass sie auf die „Excesse“ vom „Raubgesindel“ durch die Finger sieht: „Man solte fast schließen müßen daß es der Rußischen Generalität unmöglich sey, sie in Zucht und Ordnung zu erhalten, indem nicht nur ihre eigene Empfindung und Ehre, sondern auch die Armee selbst darunter äuserst leidet, weßhalb bei andern Armeen von den Befehlshabern äuserst dafür gesorgt wird daß der Landmann in seinem Eigenthum und bei seiner Arbeit bliebe“. Der Abzug der Besatzer Der Spuk der Besatzung dauert nur wenige Tage. Bereits am 10.Oktober erhält Tschernyschew die schnellstmöglich zu Anweisung verlassen des und russischen zu der Hauptquartiers, Hauptarmee Berlin zurückzukehren. Die Führung informiert ihn über das Herannahen des preußischen Königs mit einer Armee, die nach russischen Angaben 70000 Mann zählt. Auch Lacy bekommt eine entsprechende Meldung des österreichischen Hauptquartiers. Die Nacht auf den 12.Oktober verbringen die Österreicher unter freiem Himmel: General Tottleben hat „sein Wort von sich gegeben“, dass er Berlin erst verlässt, wenn alle Österreicher bis auf den letzten Mann aus der Stadt verschwinden. Die ersten österreichischen Soldaten brechen zeitgleich mit Panins Infanterie bereits mit dem Sonnenaufgang auf, die Reiterei, die den Rückzug der Verbündeten deckt, folgt ihnen am Abend des 12.Oktober. Am Nachmittag gehen auch die letzten Verbände der Korps von Tschernyschew und Panin weg. Ihre Route führt nach Frankfurt und der Weg dorthin wird wegen dem riesigen Troß mit dem Beutegut ziemlich beschwerlich. Den Schwanz der Kolonnen bilden 4000 Gefangenen. Hunderte von ihnen flüchten im Chaos des überstürzten Abmarsches und tauchen kurz nach dem Rückzug der Besatzer in Berlin wieder auf. “Von den gefangenen Soldaten sind einige hundert wieder zurückgekomen, selbst viele Rußen, denen es hier beßer gefallen“, lesen wir im Bericht von Süßmilch (Wilke, S.44). 86 Gemäß dem Grundsatz „Der Kapitän geht als letzter vom Schiff“ hält sich Graf Tottleben länger in Berlin auf, als die anderen hochrangigen Kommandeure der Besatzer. Sein Rückzug vollzieht sich am späteren Abend des 12.Oktober. In der Nacht auf den 13.Oktober bleibt von den Besatzern nur eine Salvegarde unter Hauptmann Schischkow zurück in der Stadt: “Den 12ten Octobris war alles ausmarschiert außer eine Salvogarde von 200 Mann welche das Schloß deckten.“ (Wilke, S.58). Die Russen ziehen ihre Wachen von den Stadttoren ab. Die Tore werden von der Bürgerwehr übernommen. Allerdings haben die von der Bürgerschaft aufgestellten Wachen keinerlei Waffen, da diese zu tragen von der Besatzungsmacht verboten ist. Somit bleiben sie in dieser Nacht gegen die Marodeure ziemlich hilflos. In den früheren Morgenstunden brechen die letzten russischen Soldaten in Richtung Frankfurt auf. „Der Abzug der letzten Rußen am 13.Oktober ging „Gott sey Dank ohne besondres ab“ (Granier, S.130). Der Spuk ist vorüber. Nun kann die Hauptstadt aufatmen und ihre Wunden belecken. Die Besatzer denken nicht an Rückkehr, sie bemühen sich aus aller Kraft um den Anschluss an die Hauptarmee, die bereits begonnen hat, auf das rechte Oderufer überzusetzen. „Gegen Mittag kamen wir nach Fürstenwalde, wo wir einen Rast eingeplant haben um die Pferde zu füttern, jedoch nachdem wir die Nachricht erhalten haben, dass der preußische König sich Frankfurt nähert und bereits zwei Tagesmärsche entfernt von Mühlrose war, brachten wir sofort auf und haben uns derart beeilt, dass an einem Tag zwölf preußische Meilen zurückgelegt wurden. Und gegen 7.00 Uhr kamen wir in Frankfurt an, nachdem wir die ganze Nacht marschierten ohne den Truppen Zeit für die Erholung zu geben. Unter anderem sind wir unterwegs an vielen zurückgelassenen Teilen des Troßes der Korps von Tschernyschew und Panin sowie an einigen der Artillerie vorbeigegangen“, berichtet Fürst Prozorowski ( Prozorowski, S.71, Sprache-rus, Übersetzung des Autors). Unterdessen marschiert Friedrich, der am 06.Oktober 1760 in Dittmannsdorf im Waldenburger Bergland seiner Hauptstadt zur Hilfe endlich aufbricht, weiter gen Berlin. Erst am 15.Oktober bekommt er unterwegs in Groß-Muckro bei Lieberose 87 die Nachricht zugleich über die Einnahme und über die Räumung Berlins. Er schwenkt von seiner Route in Richtung Westen ab. Seine Pläne ändern sich, er will nun den Österreichern eine entscheidende Schlacht in Sachsen geben. Somit ist das Kapitel über den Streifzug gegen Berlin endgültig abgeschlossen, es bleibt nur, die Bilanz daraus zu ziehen. 88