Aktuelle Ausgabe als PDF

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Aktuelle Ausgabe als PDF
Fabrikzeitung 317
Dichtung im Internet
Sweet 17
Von Jurczok 1001
Ursula Rucker, Philly based poet and musician, postet in loser Folge Haikus1 auf Facebook.
Der Zürcher Spoken Word Pionier und Lyrikexperte Jurczok 1001 hat sich mit der Grande
Dame der amerikanischen Spoken Word Szene per Messenger darüber unterhalten.
16. Feb. 2016
Hey Ursula! Rote Fabrik newspaper wants to
dedicate the next issue to poetry in the internet –
for example on facebook. So, I will have some
space for your haikus. And it would be cool to
do a skype interview. Deadline for my text is
march 17. So it would be cool to have some of
your haikus by the end of next week (Feb 28)
and then skype one of the following days. Ok?
One, two, one two, J
Okay, okay. Sounds good!
One, two, one, two :))
Real fly:-)
4. März 2016
Damn. I missed the deadline.
No worry, it’s an internal deadline for me. If you could send me
5-10 of your fav haikus today, it would be dope. And then we will
skype at the beginning of the coming week, ok?
5. März 2016
I travelled to Massachusetts
today. I’ll send haiku tomorrow
(Saturday)
Ok! Good luck!
5. März 2016
I have been diggin’ in the crates: I’ve copied all the haikus I could
find on your Facebook channel, from January till now. I think I’ve
got some «material» to write about. But please send me one of
your fav ever. This is probably not easier. Just make a decision of
the moment! Sweet 17 ;-)
Hahahahaha. I took too damn
long, you took matters into
your own hands! I like that :))
One of my very faves
So which ones did you choose?
I want a man who
would love me even when
my life smells of loss
(that-real-kind-of-love type haiku)
this one I have chosen as well.
then «push button response» because it reflects the medium (fb),
where it is published. This is one point I want to talk about.
push button response.
instant gratification.
we need to slow down.
(slow-the-fuck-down type haiku)
I thought you might have ;))
how about this one?:
suffer the children
the lil black and brown children
in this unsafe place.
(for-Tamir-n’em type-haiku)
I «like» this one too. What’s the grammar of the first line?
I also will take one with repetition (e.g. the one with
«disappointment»). Because in this small space of three
lines, there is certainly a point in making repetition.
disappointment is
a choice. choose something other
than
disappointment.
(choose-well type haiku)
«suffer the children» is from a
bible verse meaning to tolerate and
accept the musings of children...
but the way I use it in that haiku is
a play on words... I really mean
the black and brown children here
in America really do suffer at
the hands of those who hate them.
Thanks for the explanation. I like this one indeed. Very strong.
I like «the disappointment one» too
One thing I want to talk about per skype: Usually haikus describe
moments of / in nature, like snow or a tree etc. to evoke a feeling.
You start with feeling directly. No weaves and seasons.
Okay. Yes. Cool.
I have so many, it’s hard to choose.
I love this one:
Admitting that you
are lonely is not weakness
but just humanness.
(truth type haiku)
I haven’t seen this one.
Yeah, also very pure.
choose harder, send more!
what about skyping now?
I wish I could. I’m in a hotel room
with three children :))
I’ll do some more research
cool! yes, take your time.
...Another question I have in mind is about the medium: Do you
write these haikus «for» the medium facebook or do you write
them «anyway»? Do you think of another medium of publication,
e.g. a book of haikus? Or do you think fb is the «right» medium
for this short form of poetry? – Hear you soon.
11. März 2016 Oh... I never answered your question
about why I write haikus. I’ve really
come to love writing them. It’s like a
meditation... like taking a little cleansing breath.
Ursula Rucker hat mit ‹Supa Sista› (2001) und ‹Ma’at Mama› (2006)
zwei wegweisende Alben herausgegeben. Zahlreiche Featurings,
u. a. für das legendäre Album ‹Phrenology› der Hip Hop Gruppe
The Roots. www.myspace.com/ursularucker
Jurczok 1001 hat für seine spartenübergreifende Performance
«Spoken Beats» den Förderpreis des Kantons Zürich erhalten.
Zuletzt erschien von ihm die EP ‹All die Jahr› (2014).
www.jurczok1001.ch
Rucker und Jurczok verkörpern beide eine sehr musikalische Form von Spoken Word.
Am 14. April treten sie solo und mit einem kurzen gemeinsamen Set im Clubraum der Roten Fabrik auf.
Haiku ist eine japanische Gedichtform, traditionell aus 17
Silben bestehend. «Im japanischen Urtext besteht ein Haiku
aus drei Wortgruppen, die zusammen nicht mehr als siebzehn
Silben umfassen; die Verteilung der Silbenzahl auf die Wortgruppen ist fünf-sieben-fünf.» S.115, Dietrich Krusche, Haiku.
Japanische Gedichte. dtv Klassik, München, 1994.
1
Twitter Bots als poetische Intervention
Von Andreas Bülhoff
«Das Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken», drückte
Nietzsche 1882 in die Tasten seiner neu erworbenen Mallig-Hansen
Schreibkugel. Eine Wasserstandsmeldung von der materiellen
Seite des Schreibens. Die Geschichte der Schreibtechniken, von
simplen distinkten Zeichenreihen zu komplexeren Schriftsprachen, heißt das, ist auch eine Geschichte der Schreibtechnologien,
die neue Formen der Organisation und Speicherung von
Symbolreihen ermöglichen. Die Arithmetik wäre ohne grafische
Realisation, Zeichengebrauch und technologischen Fortschritt
ebenso wenig denkbar wie der nouveau roman oder Kanye Wests
letzter Twitterrage.
Wie sieht das heute aus? Wie verändert sich unsere Sprache,
durch Google, iPhone, YouTube, durch Social Media, Microsoft Word oder pdf. Aber noch grundsätzlicher: Computer sind
in ihrem Kern Textmaschinen. Was bedeutet das für unseren
Sprachgebrauch? Der konzeptuelle Autor Kenneth Goldsmith
formuliert das so: «What we take to be graphics, sounds, and
motion in our screen world is merely a thin skin under which
resides miles and miles of language.» Wir leben in einer Welt
der Schriftsysteme, notierter und operationalisierbarer Sprache.
Die technischen Strukturen, in denen wir uns an unseren
Computern lesend und schreibend bewegen, strukturieren unser
Lesen und Schreiben. Bewusst oder unbewusst nutzen wir
dabei Sprachen, formulieren Text während unter der Oberfläche
unserer Tastatur Textmassen mitlaufen, mitschreiben, Schreiben
ermöglichen und limitieren.
Die ausführbaren Sprachsysteme, die als Software unsere Computer steuern, weisen dabei im Kern ideologische Züge auf. Sie
vermitteln auf der einen Seite sehr explizit durch logische Befehle
mit der Maschine in Form technischer Transkodierung, auf
der anderen Seite aber verschleiern sie diese Vermittlung und ihre
Bedingungen, um eine leichtere, störungsfreie Interaktion zu
ermöglichen. «What is software», fragt die Medientheoretikerin
Wendy Chun, «if not the very effort of making something explicit, or making something intangible visible, while at the same
time rendering the visible (such as the machine) invisible?»
Der Erfolg einer Medientechnologie wird eben auch daran gemessen, wie sehr sie es schafft zu Gunsten störungsfreier Kommunikation in den Hintergrund zu treten. Und mit ihr der
ideologische Rahmen, den sie setzt.
Übersteigert wird diese conditio des Digital Age von weiter
um sich greifenden Formen der Automatisierung. So ziemlich
die Hälfte des Traffic im Internet wird von Bots produziert:
von Webcrawlern für Suchmaschinen, Datenerhebungen und
analysen jeglicher Art, Überwachung, Spam usw. Bots verkörpern als Programme jene Doppelvalenz aus nachvollziehbarer,
logischer Instruktion und verdeckter, im Hintergrund agierender Automatisierung. Goldsmith ist einer der Autor_innen,
die an prominenter Stelle darüber nachdenken, welche Rolle
Kunst und speziell sprachbasierte Kunst unter diesen Bedingungen spielen soll. Seine Argumentation sieht zeitgemäße poetische Praxis als Visualisierung oder Verfremdung ideologischer
Strukturen durch Ent- bzw. Rekontextualisierung von Text.
Hierdurch sollen Aspekte des jeweiligen soziokulturellen Framings sichtbar werden. Wenn Goldsmith Wetter-, Verkehrsoder Sportberichte einer bestimmten Radiostation über einen
festgelegten Zeitraum transkribiert und als literarische Werke
herausbringt, thematisiert das, neben Fragen des Kunstbetriebs,
vor allem Formen und Verfahren des medialen Sprachgebrauchs,
speziell, der Sprache und Inhalte solcher Radioberichte. Und
es wird auch deutlich, wie die technischen Voraussetzungen des
Radios die Sprache der Berichte mitkonstruieren.
Eine aktive und weniger von kulturpolitischen Kontroversen
bestimmte Diskussion dieser Themen findet auf Twitter in Form
von Twitterbots statt. Twitterbots nutzen Profile des Kurznachrichtendienstes für regelmäßige, automatisierte Interaktionen.
Es gibt Bots, die zu Werbezwecken automatisch followen, replyen oder auf andere Weise Links promoten, ebenso wie Bots,
die Nutzern bei der Organisation und Übersicht ihrer Follower
helfen. Es gibt Bots, die offiziell Wahlkämpfe führen oder solche,
die als Nutzer getarnt versuchen Meinungen zu beeinflussen.
Ebenso gibt es Kollektive, die versuchen Bots auf Twitter zu
indentifizieren und auszuschalten. Besonders interessant aber,
und um diese soll es im Folgenden gehen, sind Bots, die nach
bestimmten festgelegten Regeln auf Twitter posten. In ihnen
schneiden sich auf einzigartige Weise Verfahren des Conceptual
Writing, generativer Dichtung, Code Literatur und Digitaler
Poesie im kollektiven, performativen und sozialen Rahmen einer
Social Media Plattform.
vermeintlich objektive Faktizität einer Nachricht auszeichnet.
Dagegen wählt @AndNowImagine als Material gerade jene Form
von Social Media Nachricht, in der subjektive Privatheit, Empathie und Aufmerksamkeitsstreben forciert werden.
Diese zufälligen Kombination haben häufig surreale Sätze zur
Folge. Und natürlich sind die Tweets meist auf eine sehr direkte
Weise verstörend oder witzig. Aber sie weisen auch über diese
unmittelbaren Affekte hinaus. Denn, indem sie einen bestimmten
Sprachgebrauch mechanisch doppeln, werden die Normen und
Funktionsweisen dieser Sprachbereiche sichtbar. Die Fragilität
ihrer Strukturen tritt durch die irritierende Rekontextualisierung
hervor. Diese Bots decken Ideologien von Nachrichtensprachen
auf, indem sie sie durch Rekombination ad absurdum führen.
Wie @AndNowImagine wählen viele Bots Twitter selbst als
Korpus für ihre Textgenerierung. Es gibt eine Reihe von Bots,
die dabei klassische poetische Verfahren anwenden. Am prominentesten wohl Ranjit Bhatnagars @pentametron, der Nachrichten retweetet, die einen pentametrischen Rhythmus und
als Abschluss ein entsprechendes Reimwort aufweisen, sodass
sich immer eine Gruppe von Retweets zu einem klassischen
Sonett zusammenfügen lässt. Ähnlich elegant geht auch
@accidental575 von Cameron Spencer vor. Sein Bot durchsucht
Twitter nach Posts, die genau die nötige Silbenzahl eines
Haikus aufweisen, und retweetet sie mit eingeschobenen Zeilenbrüchen in der klassischen japanischen Gedichtform. Solche
Bots finden Verfahren klassischer Poesie als ephemere, aber alltägliche Sprachpraxis in der Textflut von Twitter. Sie überbrücken die Kluft zwischen traditionellen Kurztextformen einer
«hohen» Literatur und dem vermeintlich inhalts- und stilarmen
Textgebrauch in Social Media und schließen sie in ihren kollektiv
geschriebenen Anthologie-Timelines kurz. Sie machen sichtbar, wie maschinell Poesie und wie poetisch die Textmaschine
Twitter sein kann.
@the_ephemerides und @rom_txt greifen bei der Suche nach
poetischen Interferenzen dagegen auf externes Wortmaterial
zurück. Allison Perrishs wunderbarer Bot @the_ephemerides
nutzt als Textkorpus Bücher über Astrologie und die Erforschung des Ozeans aus dem vorletzten Jahrhundert. Diese Texte
werden zu Gedichten rekombiniert, die von der Erforschung
und Deutung des Unbekannten handeln und diese Erforschung
selbst als maschinengesteuerte Sondierung des Wortmaterials
vollziehen. Dazu postet der Bot Bilder von Planeten, die von
Nasa-Sonden aufgenommen wurden, und erzeugt poetischexistenzialistische Bild-Text-Kombinationen. @rom_txt von Zach
Whalen sondiert dagegen den Code alter Arcade-Games
und postet zufällig daraus ausgewählte Textfragmente. Das Textmaterial der ROMs, Chips, auf denen die Games gespeichert
sind, enthält ebenso die auf den Screens angezeigte Sprache der
Spiele wie deren Quellcode und mischt sie zu Texten die auf
eigenartige Weise zwischen visueller Poesie, dadaistischem Noise
und Computerspiel-Sprache flackern.
ROM TXT @rom_txt 18. März
TAKE A BATH^
\] MCMCII ATLUS LTD[
THANK YOU FOR YOUR
PLAYING [
QIKEAA
- #sassault (TurboGrafx 16)
Beide Bots erzeugen ähnlich enigmatische Kurztexte, so sehr
sie sich auch im Stil ihres Outputs unterscheiden. Sie sind auf der
Suche nach dem, was «dahinter» liegt, nach dem Übergang von
Nicht-verstehen und Verstehen. Im Falle von @the_ephemerides
durch ein stärker semantisch gesteuertes Vorgehen, bei @rom_txt
durch einen Fokus auf das Wortmaterial selbst.
Die bisher besprochenen Twitterbots rekontextualisieren Sprache
und legen Teile der sie konstituierenden ideologischen Strukturen
als fortlaufende Projekte frei. Ein wesentlicher Reiz aber besteht
in der Infiltrierung dieses Vorgehens in die Social-Media-Sprachumgebung von Twitter. Folgt man als User einer Reihe dieser
Bots, wird die individualisierte Timeline regelmäßig durchbrochen
And Now Imagine @AndNowImagine 3 Std.
Imagine stuff you’d like to happen. Now
imagine your family being kidnapped or
murdered and then expected to entertain
Zwei beliebte Bots sind @TwoHeadlines von Darius Kazemi und
@AndNowImagine von Ivy Baumgarten. Beide wählen aus
einem festgelegten Kontext zufällig je zwei Phrasen aus, die miteinander kombiniert und als neuer Tweet gepostet werden.
@TwoHeadlines greift auf Schlagzeilen von Google News zurück,
@AndNowImagine durchsucht Twitter selbst nach Tweets, die
mit dem Wort «imagine» eingeleitet werden. Auf der einen Seite
fällt die Wahl also auf einen Sprachgebrauch, der sich wesentlich
durch Aufmerksamkeitsbündelung, durch die Knappheit und
von poetischer, dysfunktionaler Sprache. Der ereigniseifernde,
aber meist leidlich ereignisarme Tweetfluss gerät ins Stocken,
die Timeline selbst wird zum Ort poetischen Intervention. Hier
flackert für einen kurzen Moment der technologische und
soziokulturelle Rahmen von Twitter auf.
Finden diese Mikrointerventionen vor allem auf Ebene des
Sprachmaterials statt, weisen die folgenden Beispiele in einem
stärker politischen Maße darüber hinaus. @congressedits
von Ed Summers bspw. registriert anonyme Bearbeitungen auf
Wikipedia, die von einer IP Adresse des US Congress vorgenommen wurden, und postet einen Nachweis auf Twitter. Es ist
die Ironie dieses Spiels mit Kontrolle, des US Congress gegenüber Wikipedia und des Versuchs von @congressedits sie zurück
zu erlangen, dass die Mehrheit der Bearbeitungen Korrekturen
von Komma- oder Formulierungsfehlern sind und gerade nicht
jene politische Sprengkraft besitzen, die man bei dem Konzept
des Bots vermuten würde. Auch @RedScareBot simuliert einen
Kontrollmechanismus, indem er als McCarthy-Bot Twitter
auf sozialistische Trigger-Wörter (wie «communist», «marx»
usw.) durchsucht und diese retweetet. Sein All-Seeing-Eye führt
vor wie simpel und zugleich erschreckend nichtssagend eine
solche Datenakkumulation ist. Der Überwachunsmechanismus
von @RedScareBot findet kommunistische Spione eben in jedem
Winkel von Twitter!
Robot J. McCarthy @RedScareBot 13. Nov. 2015
Oh noes, Socialism RT @abblemeng: @Ricky_Vaugn99
@Nuclearcherries
REMOVE MARXIST
REMOVE KEBAB
Noch beklemmender verkörpert Gregor Weichbrodts @futur_
news das Gefühl eines totalitären, deterministischen Ausgeliefertseins. Der Bot ändert die Zeitformen des Tagesschau-RSS-Feeds
ins Futur und speist sie in das Twitternetzwerk. Dort erscheinen sie als Bildunterschriften unter schwarz-weißen Filmstills von
Nachrichtensprecher_innen, als kämen sie direkt aus Orwells
1984 oder der Twilight Zone.
nachrichten futur @ futur_news 4 Std.
Mercedes-Pilot Nico Rosberg
wird das erste Saisonrennen
der Formel 1 gewinnen
Nur dass die Ereignisse hier nicht fiktional sind, sie finden
statt, haben stattgefunden, werden stattgefunden gehabt haben.
Und bei einem regelmäßigen Besuch von Twitter wird der Bot
tatsächlich zu einem prophetischen Nachrichtensprecher, wenn
die Überprüfung einer Nachricht aus gesicherter Quelle dem
Posting des Bots erst nachträglich folgt. Die Irritation, die dabei
entsteht, ermöglicht eine Reflexion über die Aktualitätsgier von
Medienberichterstattung und über den ambivalenten Status von
Twitter als Nachrichtendienst. Zugleich wird die vermeintlich
mündige Nachrichten- und Informationsbeschaffung im Internet
als Ausgeliefertsein gegenübern den Quellen entlarvt.
Twitterbots irritieren. Sie treten als Automaten in ein für Menschen
eingerichtetes soziales Nachrichtenspiel ein und visualisieren
oder verklären sprachliche Strukturen gerade durch ihr nichtmenschliches Handeln. In ihren besten Momenten praktizieren
sie eine Poesie der Demystifikation von Sprachtechnologien,
von Sprachkritik als Ideologiekritik und unterbrechen eingespielte,
verkrustete Denk- und Sprechformen. Allerdings weisen sie
in ihrem Vorgehen auch regelmäßig über diese Funktionen poetischer Intervention hinaus und generieren neue Ausdrucksformen. Sie zeigen, dass kulturelle Praktiken nicht bloß das
Vögelchen im technikdeterministischen Goldkäfig sind, sondern
im eigentlichen Sinne welterzeugend und damit hochgradig
politisch.
Andreas Bülhoff ist Redakteur bei den Magazinen randnummer
und Der Greif. Er schreibt und veröffentlicht Gedichte und promoviert zur experimentellen Poesie der Gegenwart.
Der klügste Mensch im Facebook
Von Aboud Saeed
Ich bin der klügste
Mensch im Facebook.
Wenn Besuch kommt,
stellt mich meine Mutter
so vor: «Das ist Aboud,
mein Jüngster. Er ist der
klügste Mensch im
Facebook.»
Kommt schon, blamieren wir uns / Lasst uns darüber schreiben, was
wir verstecken, über das, wovor wir Angst haben.
Los, schreibt, was ihr unter diesen schönen sauberen Kleidern verbergt.
Schreibt über die Socken in euren glänzenden Schuhen.
Schreibt, was in euren empfangenen und gesendeten Nachrichten steht.
Meine Dame, erzähl mir vom letzten großen Streit, den du
mit deinem Ehemann hattest.
Mein Bruder, erzähl mir, wie dein kleiner Sohn zu Hause gelernt hat,
den Diktator zu verfluchen.
Schreibt mir, wie und wann ihr das letzte Mal gegen eine Wand gepisst habt.
Schreibt alles…
Dann werde ich euch erzählen, wie ich versuche, meiner Mutter
das Rauchen beizubringen.
Und wie ich mit meinem salafistischen Nachbar, der mich zu sich nach
Hause zum Abendessen eingeladen hatte, gebetet habe – ohne mich
vorher zu waschen.
Ich bewegte lautlos meine Lippen und tat so, als läse ich die Fatiha-Sure.
Ich sagte nur: «Amen». Laut und selbstbewusst.
Mögen wir uns in diesem Raum hier so fühlen, als stünden wir am Tag
des Jüngsten Gerichts vor Gott, ohne Verleugnung, ohne Buße, ohne
Aufschub und Reue.
Um fünf Uhr Nachmittag war meine Schicht in der Werkstatt zu Ende / Ich streifte meinen Arbeitskittel ab und rannte
los / Alle drehten sich nach mir um, als ich rannte / Ein paar
fingen an, hinter mir herzurennen, weil sie dachten, ich renne
ins Paradies / Kinder rannten mir hinterher, weil sie glaubten,
ein Flugzeug sei irgendwo in der Stadt aufgrund eines technischen Fehlers notgelandet / Hunderte von Hunden rannten
mir hinterher / Sicherheitsbeamte rannten mir hinterher, weil
sie dachten, ich sei aus dem Gefängnis ausgebrochen / Feuerwehrautos dachten, es gäbe einen Brand / Rettungswagen / Die
Intellektuellen, die im Café gesessen hatten / Der Konditor / Die Verräter und Mörder – tausend Mörder waren es, und alle
waren sie hinter mir her.
Als ich zu Hause ankam / drehte ich mich zu ihnen um,
und sagte: «Alles, was los ist, ist, dass meine Freundin gerade
online ist.»
Ich stelle mich mir als großen Facebook-Diktator vor und wie
ich eines Tages fallen werde, wie jeder Tyrann fallen muss.
Das Szenario nach dem Fall stelle ich mir folgendermaßen vor:
— Enorme Menschenmassen,
die aus meinen FacebookFreunden bestehen, stürmen
mein Profil und plündern es
Dieser trägt einen meiner Texte auf seinen Schultern und läuft
mit ihm davon / Jener nimmt meine Freundinnen als Geiseln /
während andere wiederum alles, was ich geschrieben habe,
zusammenraffen und auf den Straßen aufhäufen / wie man Heuhaufen macht, um es dann mit dem billigsten / Feuerzeug anzuzünden / — Meinen Namen und mein Profilbild wird man die
Straße entlangschleifen / wie man die Statue Saddam Husseins
im Irak geschleift hat / — Einer meiner Freunde, wahrscheinlich
ein Dichter, wird / vor Freude jubelnd durch die Straßen stolzieren / eines meiner Fotos in seiner Hand und in der anderen
einen Schuh, mit dem er auf das Foto eindrischt. / Während meine
Freundin, völlig ahnungslos und ohne / einen blassen Schimmer, eine Pressekonferenz abhält, in der sie sagt: «Wir haben sie
belagert und fertig gemacht, diese ungläubigen Marionetten
des Kolonialismus!»
Ich bin in Berlin ein Schriftsteller, in Syrien war ich ein Schmied.
Das ist ziemlich absurd, meine Mutter versteht es bis heute
nicht. Auch nicht meine syrischen Freunde, die mich dort immer
nur als Schmied kannten und inzwischen auch hier sind.
Einmal wurde ich eingeladen, in einem Buchladen in der Ohlauer
Straße zu lesen. Auf dem Weg zur Lesung übte ich in der
U-Bahn. Meine Freundin begleitete mich und half mir, indem
sie die Blätter ordnete, die Zeit im Auge behielt und mir
zuhörte. Irgendwann sagte sie: «Wir sind spät dran. Bestimmt
warten schon alle auf dich. Wir müssen uns beeilen.»
Wie ein Fernsehprediger ergriff ich das Mikrofon und sagte: «Na,
na, na, Moment mal!», als Auftakt zur Lesung und gleichzeitig
als Signal an meine Freunde, mit dem Essen aufzuhören. Keiner
hörte mir zu. Angesichts eines Stücks Käsekuchen verblasst alle
Poesie. Mein ganzes Leben lang schon spreche ich mit meinen
Freunden, meinen Geschwistern, meiner Mutter, meinem Lehrer,
den Sicherheitskräften, ohne dass mir je einer von ihnen dabei
ins Gesicht sieht. Jeder, der mich hört, dreht mir den Rücken zu.
Nichts hat sich verändert. Ein Loser bleibt immer ein Loser,
selbst wenn er nach China auswandert. Vierzig Minuten Lesung,
kein Applaus, keine auf mich gerichteten Augen, meine Texte
schmetterten hohl gegen das Glas der großen Auslagenfenster,
die sie zurückwarfen und gegen meinen Kopf knallen ließen, wie
Klaviernoten in einem menschenleeren Saal. Und meine zwei
Freunde saßen mit vor der Brust verschränkten Armen da, und
vor Schläfrigkeit fielen ihnen fast die Augen zu.
Nicht all meine Lesungen in Berlin sind so originell verlaufen.
In den meisten Fällen hatte ich bisher das Glück, viele interessierte Zuhörer vor mir sitzen zu haben.
Aboud Saeed wurde 1983 geboren und lebt derzeit mit politischem Asyl in Berlin. Bis November 2013 lebte er in Manbidsch,
einer Kleinstadt im Norden Syriens in der Nähe von Aleppo.
Er arbeitete als Schmied und eröffnete zu Beginn der syrischen
Revolution im Frühjahr 2011 ein Facebook-Konto. Eine Auswahl
seiner Statusmeldungen in der Übersetzung von Sandra Hetzl
erschien 2013 unter dem Titel ‹Der klügste Mensch im Facebook›
im E-Book-Verlag mikrotext als seine erste eigenständige
Veröffentlichung. Sie wurde seitdem ins Englische und Spanische
übersetzt, für zwei Hörspielfassungen bearbeitet und 2015 als
Theaterstück am Ballhaus Naunynstr. in Berlin inszeniert. Sein
zweites Buch, die Kurzgeschichtensammlung ‹Lebensgroßer
Newsticker› erschien 2015 bei mikrotext und als Buch bei
Spector Books. Aboud Saeed ist seit November 2015 Vice-Kolumnist und seit Februar 2016 auch bei der taz.
Im ersten Teil sind Ausschnitte aus ‹Der klügste Mensch
im Facebook›.
Wir liefen herum auf der Suche nach dem Buchladen, in dem
ich lesen sollte, und rauchten im Gehen einen Joint gegen das
Lampenfieber. Plötzlich hörten wir die Stimme von Sandra, der
Übersetzerin: «Aboud! Wir sind hier!» Sie stand vor dem
Buchladen, in Begleitung eines Freundes, den sie zufällig unterwegs aufgegabelt hatte. «Entschuldigt bitte unsere Verspätung.»
«Ach was, Aboud, es ja ist niemand hier. Außer der Buchhändlerin und diesem Freund von mir, den ich gerade spontan
eingeladen habe.» «Nein! Wo sind denn die Menschenmassen?
Die kommen bestimmt noch!» Eine halbe Stunde verging,
während wir vor dem Eingang auf dem Gehweg warteten.
Ein weiterer Joint gegen die Enttäuschung. Da kam die Buchhändlerin, tätschelte mir die Schulter und sagte: «Keine Sorge,
Aboud. Wir sind ja hier. Wir werden dir leidenschaftlich
zuhören.»
Ich bin ein Schriftsteller, und ein Schriftsteller sitzt nicht
vor weniger als vierzig Zuhörern, hörst du?! Ein Schriftsteller,
ehrenwerte Dame, ein Schriftsteller! Warte nur ab, du!
Ich begann, Passanten anzuquatschen.
«Hallo, ich habe hier eine Lesung!
Komm, höre dir meine Texte an!
Jeder kann kommen, Eintritt ist frei!
Komm nur, komm!»
«Geehrtes Fräulein, ich habe hier Gedichte über Liebe und
Verrat, gratis, grandiose Gedichte, spannende Gedichte!» «Bitte
sehr meine Dame. Sie haben sich aber gut gehalten! Ich bin ein
Dichter, bitte sehr. Ihren Hund können sie natürlich auch mitbringen. Wie heißt er denn? Ich werde ihn verewigen, ihn in
meine Gedichte aufnehmen. Treten Sie ein!» «Huhu, liebe Kinder,
kommt her! Ich bin zwar ein Dichter, aber immer noch ein richtiger Kindskopf.» «Herr Straßenfeger, kommen Sie nur. Ich bin
derjenige, der die Mülltüten vor der Wohnung meiner Freundin
gestohlen hat, um ihre Sachen zu durchforsten.» «Kommt nur,
ihr Verrückten, ihr Obdachlosen, kommt, ihr Geringverdienenden.»
«Ich bin ein mieser Schriftsteller, aber manchmal sagen selbst
miese Schriftsteller die Wahrheit.»
All meine Versuche scheiterten. Da fielen mir zwei Freunde ein,
die auch aus meiner Stadt in Syrien stammen und jetzt in Berlin
wohnen. Ich rief sie an und befahl ihnen, sofort zu kommen.
Ich, Sandra und ihr Freund betraten den Buchladen. Die Buchhändlerin rückte die Stühle zurecht und begann, den Anwesenden Wein einzuschenken. Schließlich kamen meine zwei Freunde.
Sie taten so, als seien sie ganz spontan gekommen, als aufrichtig
interessierte Leser. Sie setzten sich in die letzte Reihe, die zugleich
auch die erste war.
Die Buchhändlerin fragte sie: «Was wollt ihr trinken?» «Was
gibt’s denn?» «Red Wine, Beer, Coffee, Tea und Kuchen.»
«Dann wollen wir Red Wine und Kuchen.»
Vom Übersetzen
Von Sandra Hetzl
Ich war acht Jahre alt, als meine Mutter mit ihrem damaligen
italienischen Lebensgefährten zusammenkam. Er war verwitwet
und hatte zwei Kinder, die etwa in meinem Alter waren. Für
die Dauer ihrer Beziehung von 1988 bis 1996 fügten wir uns zu
einer Art Familie zusammen. Dabei pendelten wir ständig
zwischen München und Imola und eine Zeit lang ging ich sogar
in Italien auf die Grundschule. All das hatte den Nebeneffekt,
dass ich Italienisch lernte und plötzlich alles doppelt hatte: zwei
Leben, zwei Freundeskreise, zwei Fernsehprogramme, zwei
Wohnblocks, zwei Realitäten mit je anderen Regeln. Meine Spielkameraden in Italien etwa fanden es überaus seltsam, dass ich
Second-Hand-Klamotten trug und ein Mädchen war, das auf
Bäume kletterte. Ich wiederum konnte wenig damit anfangen,
dass die Mädchen dort mit neun Jahren schon kleine Ladys waren,
die mich dissten, weil ich keine Ahnung von Markenkleidung
hatte. Allerdings fühlte ich mich dann wieder total geschmeichelt,
als ich in der dritten Klasse an meiner italienischen Grundschule
plötzlich lauter Verehrer hatte, die mir in der Pause Liebesbriefe
zusteckten. In meinem deutschen Grundschulumfeld war
das Interesse am anderen Geschlecht irgendwie noch lange nicht
angekommen, man fand sich, soweit ich mich erinnern kann,
gegenseitig eher doof und Liebe ekelig. Aber auch später gehörte
ich auf dem von Blondschöpfen dominierten Gymnasium
nie – wie damals in Italien – zu den «Gefragten». In Deutschland
machten sich meine Mitschüler einmal über mich lustig, weil
ich, wenn ich «nein» sagen wollte, nicht meinen Kopf schüttelte,
sondern mit der Zunge schnalzte. Es war mir unsagbar peinlich,
als mir in jenem Moment bewusst wurde, dass das nicht alle
Menschen auf der Erde so machten.
Im Auto in Italien lief immer
Fabrizio De Andrés Album
«Il viaggio».
Ich war elf oder zwölf, und als ich anfing, seine Texte halbwegs zu
verstehen, war ich gleichzeitig irritiert und fasziniert: Da war
etwas Rätselhaftes, Unerhörtes, Düsteres und Anziehendes an
De Andrés Texten, etwas das viele Fragen aufwarf und eine
Sehnsucht erzeugte, wie die kleinen geheimen Welten, die ich mir
als Kind unter schattigen Büschen vorstellte. De André sang
in unheimlichen, poetischen Bildern von Dingen, von denen die
Erwachsenen um mich herum nicht sprachen, die aber eindeutig ihrer und nicht meiner Kinderwelt zuzuordnen waren: von
Krieg, Selbstmord, Prostitution und Liebe. Das war meine erste
bewusste Begegnung mit so etwas wie Erwachsenenliteratur, also
mit Texten jenseits von Benjamin Blümchen, der «Unendlichen
Geschichte» und Astrid Lindgren. Diese Kassette hatte natürlich
nicht ich besorgt, auch nicht meine Mutter oder ihr Freund,
sondern seine Tochter. Ich hatte nämlich das Glück, in meinem
italienischen Leben etwas wie eine große Schwester zu haben,
denn sie war drei Jahre älter als ich, schon in der Pubertät und zu
jener Zeit in einer Hippie-Phase, der ich viel zu verdanken habe.
Der erste literarische Text, den ich je übersetzt habe, war ein
Songtext jener Kassette: La città vecchia, die alte Stadt. Es geht
um ein verrufenes Hafenviertel in Genua. «Verschlägt es dich
zu den Hängen, runter zu den alten Molen, zu jener dichten,
salzgeschwängerten, von Gerüchen schweren Luft, wirst du dort
Diebe und Mörder finden und jenen seltsamen Kerl, der seine
Mutter an einen Zwerg verkauft hat.»
Besonders der Teil mit dem Zwerg hat mich damals schwer
beeindruckt. Ich übersetzte den Song für meine beste Kindheitsfreundin Annika ins Deutsche. Ich weiß noch genau, wie ich
ihr die deutsche Übersetzung mit einer grünen Tinte, die nach
Moschus duftete, auf einen Brief schrieb. (Die Tinte hatte ich mir
mit meiner «Viertelt-Schwester», wie ich sie nannte, auf einem
Hippie-Markt in Bologna gekauft.) Annika war zu jener Zeit mein
wichtigster Gesprächspartner. Dennoch war mein italienisches
Leben für sie immer nur ein erzähltes, und das meiste blieb auf
frustrierende Weise unvermittelbar. Immer blieb alles gefangen
in der einen Welt und Sprache, und konnte nur mit den Menschen
auf der jeweiligen Seite geteilt werden. Und weil ich diese
Trennung als schmerzhaft empfand, waren diese Übersetzung und
viele weitere Übersetzungen für Freunde in späteren Jahren
Versuche von mir, die Wand zwischen zwei Welten zu perforieren.
Weil alles andere den Rahmen sprengen würde, spule ich jetzt
23 Jahre vor, ins Jahr 2016. Heute wohne ich in Beirut und
übersetze und vermittle arabische Literatur, und nach wie vor
habe ich das Bedürfnis, mit anderen Leuten Dinge zu teilen,
die ich toll finde, die aber für die anderen unsichtbar sind, weil
sie in einer anderen Sprache existieren. Erst durch Übersetzungen werden sie sichtbar.
Beim Übersetzen aus dem Arabischen kommt für mich aber
noch etwas anderes hinzu: Dafür, dass der arabische Sprachraum, der sich über 25 Länder mit vielen Metropolen erstreckt,
nur einen Katzensprung übers Mittelmeer entfernt liegt, ist der
Kontakt zwischen ihm und Europa nämlich skandalös dünn.
Ich behaupte, dass die arabische Welt für den durchschnittlichen
Schweizer, Deutschen oder sonstigen Europäer kulturell
gefühlt viel weiter weg ist als beispielsweise Japan. Was objektiv
betrachtet völliger Unsinn ist, aber kein Wunder, denn das Wort
«arabisch», welches eigentlich wie «italienisch» in erster Linie
eine Sprachbezeichnung ist, wird ständig als Synonym für alles
Mögliche benutzt: von «islamisch» über «rückständig» bis hin
zu «aggressiv», wenn Männer gemeint sind, oder «unterdrückt»,
wenn es sich um Frauen handelt. Mal ganz abgesehen von der
Ungenauigkeit solcher Vermengungen, denen zufolge dann ein
muslimischer Chinese ja auch ein Araber sein müsste, oder
arabische Christen und Juden als Oxymoron erscheinen, obwohl
es sie schon viel länger gibt als europäische, da das Zentrum beider Regionen im Nahen und Mittleren Osten lag, lange bevor
«Europa» überhaupt christianisiert war und seine Juden verfolgte.
Während die Rede vom «jüdisch-christlichen Abendland»,
eigentlich ein Paradox ist, geht sie vielen trotzdem leicht von den
Lippen. Wobei das Wort «Ungenauigkeit» in diesem Fall viel
zu schwach ist. Wie nennt man das, wenn einer sagt, dass er eine
Rakete zum Mond schießen wird, dann aber einfach in den
Himmel zielt, weil es ja «eh alles das Gleiche ist», und am Ende
trifft er die Sonne? Ist das noch Ungenauigkeit, oder ist das
schon verrückt? Europas kulturelle Identität scheint sich in diesen Tagen vor allem aus der krampfhaften Abgrenzung zu
dem, was als «arabisch» erscheint, abzuleiten. Es scheint banal:
Menschen, die Arabisch sprechen, lieben und trauern, stehen
links oder rechts, sind mehr oder weniger gebildet, arm oder
reich, haben Probleme mit korrupten Politikern oder der Müllabfuhr – genau wie Menschen, die Italienisch oder Deutsch
sprechen. Doch sie repräsentieren das Andere, das Fremde.
Vor diesem Hintergrund gilt die arabische Sprache auch als viel
exotischer und schwieriger, als sie objektiv betrachtet eigentlich
ist. Das hat zur Folge, dass Arabisch-Übersetzer im Positiven wie
auch im Negativen den Status seltener Experten einer fremdartigen, in exotischen Ländern gesprochenen Nischensprache
genießen was bezüglich der sechstgrößten Sprache der Welt,
die von Europas unmittelbaren Nachbarn gesprochen wird, wirklich ein bisschen absurd ist. Arabische Literatur hat in Europa
auch deswegen immer noch einen Nischenstatus. Arabische
Literatur bedeutet Bücher für speziell an der Region Interessierte,
Bücher für werdende «Nahostexperten» oder «Orient»-Fans.
Deswegen habe ich mit einigen Mitstreitern aus der Verlagsbranche das Kollektiv 10/11 gegründet: ein Labor für zeitgenössische arabische Literatur. Wir wollen dazu beitragen, den Fluss
von Ideen, Narrativen, Texten und Informationen über dieses
bisschen Mittelmeer hinweg zu verstärken, indem wir Texte von
vor allem jungen arabischen Autoren und Autorinnen an den
europäischen Literaturbetrieb vermitteln. Im Sommer 2012 habe
ich die Facebookposts des Syrers Aboud Saeed entdeckt,
nach einem Verlag dafür gesucht und schließlich den großartigen
Berliner eBook-Verlag mikrotext gefunden.
So entstand Saeeds erfolgreiches Debüt ‹Der klügste Mensch
im Facebook›, und er konnte
nach Deutschland kommen.
Inzwischen ist er eine der prominentesten Stimmen junger arabischer Literatur in Europa. Das, was die bisherigen 10/11-Autoren
Aboud Saeed, Assaf Alassaf und Rasha Abbas von dem abhebt,
was man üblicherweise von arabischen Autoren erwartet, ist ein
gewisser Pop-Gestus, der bei jedem von ihnen anders ausfällt
und die Tatsache, dass sie über aktuelle Themen auf eine aktuelle
Weise schreiben, wie zum Beispiel Flucht, Krieg, Gentrifizierung
und den Berlin-Hype.
Manchmal wünsche ich mir allerdings Heere von Übersetzern,
die die ganze Zeit einfach alles übersetzen würden, Deutsches ins
Arabische, Arabisches ins Deutsche. Damit alles Versäumte
aufgeholt wird, und man reden und reden würde, wie alte Freunde,
die sich jahrhundertelang aus den Augen verloren haben.
Selbst wenn das bedeuten würde, dass ich meinen Job verliere.
Sandra Hetzl wurde 1980 in München geboren und lebt in Beirut
und Berlin. Sie studierte an der UdK Visual Culture Studies,
ist Literaturübersetzerin aus dem Arabischen und macht Videoinstallationen. Außerdem ist sie der Kopf hinter 10/11. 10/11
versteht sich als Labor für experimentelle Formen arabischer
Literatur. 10/11 macht Texte junger arabischer Autoren – oftmals
gewonnen aus den Tiefen des www – zugänglich für den internationalen Literaturbetrieb und will einen dynamischen Austausch
erzeugen.
Internetgedichte
Von Tristan Marquardt
im posteingang. unnerreichbar für den körper mails,
die der blick abholt. vier gewissen versinken in meinem,
zwei finger scrollen in tiefsee. kein all, das dem andern
gleicht, und keines sich selbst. es ist spät, mails sind
rückschluss auf nichts. als hieße schreiben, es schneit.
stimmen bei skype. strecke wird dauer. kein tool gegen
die grobheit, nie auf das, was man sieht, zu schauen. echtes
verlangen nach echten hirn-w-lan-schranken. ich träume,
das beendete gespräch schläft in einem endlosen kabel.
ich geh raus, reiß die straße auf, um zu löschen, wo ich log.
auftauchen, streams. firmen auf festland, augen
auf niemands besitz. driften in mechanismen. zählen
die farben in zonen, die grau sind. noch ist jetzt.
mein blick das ungeschriebenste gesetz. nächster tab,
artikel in wikis, durch die ich mich schlage. 2010,
auflösung der niederländischen antillen. zwei gliedstaaten (curaçao, sint maarten) erhalten (.cw, .sx) neue
domains. datenwinde schleifen datenberg. müll, gesichtet
im meer. getrieben von strömung bilden sich inseln. ich
schließe die augen. das geschaute entsorgt die erinnerung.
dokus auf plattformen, ferner kamm, wo gebirge liegt,
beendet seinen aufenthalt im ungefilmten gebiet.
glasfaserleitung jagt mich durch die prärie. gedanke,
clips schneller zu schauen, als sie laufen, nimmt mich
gefangen. luft, fahrtwind fast, unkommentiert. x-fach
gefallen, folgt solchem drang. dass zeit kein zustand
ist. speichern kein vorgang zur erhaltung des walds.
clips zu musik. was liebe, klickanzahl, katapultiert.
ob jemand weiß, zu wieviel prozent das netz aus
wasser besteht. frage ans gewissen, die maschine.
erstes unscharfes bild, das um den globus geht, tippt geschichte.
das internet landet
auf dem mond.
reisen heißt, sich selbst als anhang einer
mail zu verschicken, die reise heißt.
Tristan Marquardt, geb. 1987 in Göttingen, lebt in München und
Zürich. Sein Debütband ‹das amortisiert sich nicht› erschien
2013 bei kookbooks. Er ist Mitglied des Berliner Lyrikkollektivs
G13. Er ist als Übersetzer tätig, aus dem Mittelhochdeutschen.
Anm. der Red.: Diese letzten drei Sätze
sind Fragmente von weiteren Texten.
Googlism für: ebook
Von Nikola Richter
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Dem E-Book über das Angeln ist noch eine Checkliste für das Anbringen eines Köders auf dem Haken hinzuzufügen.
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Ein E-Book ist eine Acrobat-Datei, über den Contentserver des Unternehmens verarbeitet und lesbar über den E-Book-Reader des Unternehmens.
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Ein E-Book ist im PDF-Format und kann von Benutzern auf allen Computer-Plattformen gelesen werden.
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Ein E-Book wird in Echtzeit veröffentlicht.
Ein E-Book ist nicht mehr in der Netlibrary ebook reader lesbar.
Ein E-Book ist eine elektronische Version eines gedruckten Buches.
Ein E-Book ist als ausführbare Datei formatiert.
Ein E-Book ist.
Ein E-Book ist kein Ernährungsplan.
Ein E-Book wird zuerst geöffnet.
E-Book-Manifest, erstellt mit kollektivem und algorhythmischem Wissen: Auf der Webseite
www.googlism.com wurde das Wort «ebook» in das Suchfeld eingegeben. Googlism ist ein «fun
tool», benutzbar seit 2002, entwickelt von Paul Cherry und programmiert von Chris Morton,
die wissen wollten, was Google wirklich über bestimmte Dinge, Personen, Themen weiß. Natürlich
weiß Google dies nicht wirklich, sondern Google zeigt, was andere Menschen wissen und welche
Inhalte sie auf ihren Webseiten eingestellt haben. Damit ist Googlism ein Programm, um digitale
konzeptuelle Literatur zu erstellen. Googlism gehört nicht zum Unternehmen Google. Protipp:
eigenen Namen eingeben.
Die deutsche Version wurde erstellt von Google Translate, aber
sprachlich angepasst von Nikola Richter. Alle Sätze, bis auf den
ersten und den letzten, die auf Deutsch nicht mit der klassischen
Definitionsphrase «ist» bildbar waren, sind herausgefallen.
Nikola Richter gründete 2013 den Verlag mikrotext, der vor
allem Original-E-Books, aber auch einige gedruckte Titel, von
deutschsprachigen und internationalen Autoren veröffentlicht.
2014 wurde sie für ihre Arbeit mit dem Young Excellence Award
des Börsenvereins des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Sie
ist Kuratorin der Electric Book Fair, sitzt im Beirat der Konferenz future!publish und in der Jury für die durch die City Tax
geförderten Projekte des Berliner Senats.