53–64 Harald Welzer Schön unscharf. Über die Konjunktur der

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53–64 Harald Welzer Schön unscharf. Über die Konjunktur der
Nr.1 Januar/Februar 2004
Hamburger Institut für Sozialforschung
Beilage zum Mittelweg 36
Literatur
53–64 Harald Welzer Schön unscharf. Über die Konjunktur
der Familien- und Generationenromane
Harald Welzer;
Sabine Moller;
Karoline Tschuggnall,
»Opa war kein Nazi.«
Nationalsozialismus
und Holocaust im
Familiengedächtnis.
Frankfurt am Main
(2002), Fischer
Taschenbuch Verlag.
Die Erinnerungskultur der Bundesrepublik ist ein fragiles Gebilde, das sich in einem
beständigen Selbstvergewisserungsprozeß befindet. Das wird immer dann deutlich,
wenn eher absurde Verstörungsanlässe wie etwa die Frage, ob ein Unternehmen der
DEGUSSA -Gruppe einen Anti-Graffiti-Anstrich für das Berliner Holocaust-Denkmal liefern dürfe, zu heftigen Eruptionen in der Erinnerungslandschaft führen.
Zudem ist in den letzten Jahren sichtbar geworden, daß in der Sphäre privaten Erinnerns ein ganz anderes Bild von der Vergangenheit gepflegt wird als im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik. Während die kollektive Erinnerung den Holocaust und die nationalsozialistischen Verbrechen ins Zentrum stellt, kreist die private
Erinnerung der Familien um das Leiden der Angehörigen am Krieg, um mühseliges
Überleben in schlechten Zeiten und um die persönliche Integrität in düsterer Zeit
(Welzer et al. 2002). Daß diese Version von Geschichte auch auf kultureller Ebene anschlußfähig bleibt, zeigt nicht nur die unablässige Folge von Fernseh-Features über
NS-Thematiken und, neuerdings, über Nachkriegswunder, sondern ganz besonders
auch der enorme Publikumserfolg einiger Bücher in den letzten Jahren – angefangen
beim Vorleser von Bernhard Schlink über den Krebsgang von Günter Grass bis hin
zum Bombenkriegsepos Der Brand von Jörg Friedrich oder zu den Aufzeichnungen
der Anonyma über die Massenvergewaltigungen im Berlin des Zusammenbruchs. Ich
vermute, daß diese Publikationen gerade deshalb so auflagenstark sind, weil sie der
gefühlten Geschichte der Bundesbürger viel näher stehen als die autoritative Erzählung über die Vernichtung der europäischen Juden und die anderen Verbrechen des
»Dritten Reiches«.
Unscharfe Bilder
Günter Grass,
Im Krebsgang.
Mittelweg 36 1/2004
Göttingen 2002,
Steidl Verlag.
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Die beiden Vektoren »eigenes Leiden« und »fremdes Leiden« spannen auch jenen
Raum auf, in dem sich die einschlägigen literarischen Neuerscheinungen der vergangenen Jahre situieren. »All die Jahre lang«, meditiert Günter Grass’ Ich-Erzähler
Paul Pokriefke in der Novelle Im Krebsgang, »in denen ich freiberuflich längere Artikel für Naturzeitschriften, etwa über den biodynamischen Gemüseanbau und Umweltschäden im deutschen Wald, auch Bekenntnishaftes zum Thema ›Nie wieder
Auschwitz‹ geliefert habe, gelang es mir, die Umstände meiner Geburt auszusparen.«
(Grass 2002, S. 32) Diese Umstände – die vielen hunderttausend Leserinnen und
Leser der Untergangsnovelle wissen es – verweisen auf die Versenkung der »Wilhelm
Literaturbeilage
W. G. Sebald,
Austerlitz.
Frankfurt am Main
(2002), Fischer
Taschenbuch Verlag.
Daniel J. Goldhagen,
Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche
und der Holocaust,
Berlin 1996, Siedler
Verlag.
Mittelweg 36 1/2004
Bernhard Schlink,
Der Vorleser.
Zürich 1997,
Diogenes Verlag.
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Gustloff«, fällt die Geburt des Ich-Erzählers doch mit dem Tod all derer zusammen,
die nach dem Einschlag eines russischen Torpedos mit der versenkten »Gustloff« untergegangen sind.
In dieser verdichteten Passage, in der gewiß nicht zufällig die lässige Bemerkung
über das »Bekenntnishafte zum Thema Auschwitz« fällt, entwirft Günter Grass ein
Ursprungsereignis der Nachkriegsgesellschaft, das nicht im Tun, sondern jetzt im Erleiden liegt – womit sich ein Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik ankündigt, die bis dato eben durch das Gebot »Nie wieder Auschwitz«
definiert war.
Während Paul Pokriefke seine Herkunft gleich zu Beginn der Novelle freilegt,
hat ein anderer Protagonist eines fast zeitgleich erschienenen Romans ungleich
größere Schwierigkeiten, den Hintergrund seines Lebens zu erhellen: »Seit meiner
Kindheit und Jugend, so hob er schließlich an, indem er wieder herblickte zu mir,
habe ich nicht gewußt, wer ich in Wahrheit bin. Von meinem heutigen Standpunkt
aus sehe ich natürlich, daß allein mein Name und die Tatsache, daß mir dieser Name
bis in mein fünfzehntes Jahr vorenthalten geblieben war, mich auf die Spur meiner
Herkunft hätte bringen müssen, doch ist mir in der letztvergangenen Zeit auch klargeworden, weshalb eine meiner Denkfähigkeit vor- oder übergeordnete und offenbar
irgendwo in meinem Gehirn mit der größten Umsicht waltende Instanz mich immer
vor meinem eigenen Geheimnis bewahrt und systematisch davon abgehalten hat, die
naheliegendsten Schlüsse zu ziehen.« (Sebald 2002, S. 68)
Jacques Austerlitz, so erfährt der Leser des letzten Romans von W. G. Sebald nach
und nach, entging als in Prag lebendes jüdisches Kind der Vernichtung durch eine
gerade noch rechtzeitige Verschickung nach Irland. Seine physische Existenz wurde
auf diese Weise gerettet, freilich um den Preis, daß er sich fast sein ganzes Leben lang
über seine Identität und seine Geschichte täuschte, keine Vorstellung davon hatte,
worauf seine lebenslange Melancholie und sein tiefes Gefühl der Unzugehörigkeit
zu anderen Menschen eigentlich zurückging. Ein geraubtes Leben läßt sich durch ein
Ursprungsereignis nicht wiederaneignen, die Anknüpfung an die Geschichte nicht
wiederherstellen. Die Prosaarbeiten von Sebald und Grass entstehen etwa zur selben
Zeit und markieren die zwei Pole jener bemerkenswerten Konjunktur von Romanen
über die NS-Vergangenheit und den Holocaust, über Krieg und Vertreibung, über
Schuld und intergenerationelle Verstrickung, die der Buchmarkt seit einigen Jahren
verzeichnet.
Die Wiedereinführung dieses thematischen Zusammenhangs in die Bestsellerliteratur reicht freilich weiter zurück als auf Günter Grass’ Initiative. Nicht zuletzt
wird es die Goldhagen-Debatte Mitte der 90er Jahre gewesen sein, die eine Initialzündung für die Thematisierung einer generationenübergreifenden Verstrickung in
den Schuldzusammenhang der nationalsozialistischen Verbrechen lieferte. Es ist gewiß auch kein Zufall, daß Goldhagens eigene Hypothese, der zufolge ein »eliminatorischer Antisemitismus« das Kollektiv der deutschen »Weltanschauungstäter« motiviert habe, ihrerseits als intergenerationelle Bringschuld zustande kam: Daniel
Goldhagen (1995) jedenfalls hat das umstrittene Buch seinem »Vater und Lehrer«,
dem Historiker Erich Goldhagen, gewidmet und in Interviews auch verschiedentlich
darauf hingewiesen, daß er dessen Arbeit fortsetze.
Den literarischen Anstoß lieferte ohne Frage Bernhard Schlink, dem im
Vorleser eine bestsellertaugliche Darstellung der Schuldthematik gelang, die ihrer-
Literaturbeilage
Ulla Hahn,
Unscharfe Bilder.
München 2003,
Mittelweg 36 1/2004
DVA.
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seits ein tradiertes Narrativ aufnahm und in einen intergenerationellen Zusammenhang stellte. Dieses Narrativ besteht in der Rekonstruktion des schuldlos Schuldigwerdens, eine dank mehrerer Jahrzehnte bundesrepublikanischer Vergangenheitsbewältigung modernisierte Version der Zuckmayerschen Figur vom »Teufels
General«. Schlinks Romanhandlung wird durch die Auseinandersetzung eines
Angehörigen der 68er-Generation mit einer Holocaust-Täterin getragen, die einen signifikanten Bruch mit der bis dato üblichen anklagenden Haltung gegenüber der
Tätergeneration markiert.
Die Konstruktion des Romans zentriert sich um die Beziehung eines jungen
Mannes zu einer deutlich älteren Frau, von der sich später herausstellt, sie sei Wächterin in einem Konzentrationslager gewesen. Der Clou aber besteht darin, daß diese
Frau namens Hanna eine Analphabetin ist, was in dem gegen sie angestrengten Prozeß zur Folge hat, daß Hanna mehr Schuld auf sich lädt, als ihr tatsächlich zukommt
(Schlink 1997, S. 124). Später im Gefängnis lernt Hanna unter dem fürsorgenden Einfluß des jungen Ich-Erzählers lesen und hinterläßt, nachdem sie sich unmittelbar vor
ihrer Entlassung das Leben nimmt, eine Gefängniszelle voller Bücher zum Thema:
»Primo Levi, Elie Wiesel, Tadeusz Borowski, Jean Amery – die Literatur der Opfer
neben den autobiographischen Aufzeichnungen von Rudolf Höß, Hannah Arendts
Bericht über Eichmann in Jerusalem und wissenschaftlicher Literatur über Konzentrationslager.« (1995, S. 193) Das in der Haft verdiente Geld überweist der Protagonist
»unter ihrem Namen der Jewish League Against Illiteracy« (1997, S. 207).
Mit dieser bemerkenswerten Parabel folgt Schlink in verblüffender Weise dem
offiziellen Nachkriegsumgang mit der Schuld: ein hingenommenes, letztlich aber doch
uneingestandenes Schuldgefühl, als sei man im Zustand des Volksgenossen gleichsam
illiterat gewesen, ein musterschülerhaftes Aufarbeiten der Vergangenheit und schließlich die Wiedergutmachungszahlung – wobei die Pointe darin liegt, daß die jüdische
Vereinigung gegen Analphabetismus das Geld bekommt, als falle es ausgerechnet in die
Zuständigkeit der Juden, bei anderen für den Grad an Bildung und Aufklärung zu sorgen, der ihnen einsichtig macht, warum sie jene nicht umbringen sollen.
Schlinks Vorleser zielt also auf eine Versöhnung, in der die 68er ihren Frieden
mit der Tätergeneration schließen, weil sie nicht nur deren schuldhafte Verstrickung,
sondern auch ihr ernsthaftes Bemühen anerkennen, aus der durch sie zu verantwortenden Geschichte zu lernen. Verwandelt sich eine Täterin dabei unterderhand zum
Opfer, ist diese Metamorphose symptomatisch.
Der Roman Unscharfe Bilder von Ulla Hahn (2003) gehorcht demselben Narrativ. Eine Lehrerin, ebenfalls aus der Generation der 68er, entdeckt auf einem Foto
in der Ausstellung »Verbrechen im Osten« ihren Vater Musbach. Obwohl er, inzwischen als Pensionär in einem komfortablen Seniorenheim lebend, sein Berufsleben
als Studienrat dem rastlosen Bemühen verschrieb, den Nachkriegsgenerationen die
Schrecken der NS-Vergangenheit nahezubringen, bricht die Tochter zur Suche nach
der väterlichen Schuld, vor allem aber nach seinem persönlichen Schuldempfinden
auf. Ihren Vater unterzieht sie einem langen, nicht zuletzt den Leser quälenden Verhör (»›Sag doch gleich: dann knalltet ihr die ab!‹, warf die Tochter bitter dazwischen«
(Hahn 2003, S. 80), in dessen Verlauf neben einer konsalikesken Affäre zwischen dem
Landser Musbach und einer Partisanin die Geschichte der väterlichen Untat erzählt
wird. Offenbar spielte sie sich zufällig in ebender Situation ab, in der ein Fotograf
auf den Auslöser seines Apparates gedrückt hatte. Musbach war auf Geheiß seines
Literaturbeilage
Mittelweg 36 1/2004
ehemaligen Mitschülers und nunmehrigen Vorgesetzten Katsch befohlen worden,
einen Kriegsgefangenen zu erschießen: »Ich tat wie mir befohlen. Hielt in die Richtung, wo der Mann stand. Zog ab. Der Schuß ging los. (...) Ich sackte zusammen.
›Verdammter Idiot!‹ hörte ich noch. Dann verlor ich das Bewußtsein. Eine gnädige
Ohnmacht.« (2003, S. 268ff.) Ein Befehlsnotstand macht Musbach zum Täter, wobei
die Bemerkung aus dem Off (»Verdammter Idiot!«) andeutet, daß er seinen Auftrag
in Wahrheit wohl gar nicht erfüllt hat. Doch nicht genug damit, daß Musbach eine
»gnädige Ohnmacht« umschattete: als er wieder zu Bewußtsein kommt, muß er beobachten, wie Katsch sich daranmacht, eine Gefangene zu vergewaltigen. Das führt
ihn umstandslos dazu, Katsch mit einem gezielten Kolbenhieb seines Gewehrs zu
töten, um mit der geretteten Frau anschließend zu fliehen.
Interessant an all dem ist weniger die kolportagehafte Handlung als vielmehr die
Figur des Soldaten Musbach, dessen mögliche Schuld in der Erzählung gleich vierfach abgefedert ist: weil unklar bleibt, ob er das Opfer überhaupt getroffen hat, weil
die Tat im Dunkel einer Bewußtlosigkeit verschwindet, weil er den eigentlichen Täter richtet und sein restliches Leben zudem der Aufgabe widmet, als Lehrer über die
Vergangenheit aufzuklären, damit sie sich nicht wiederhole. Hahns Roman läuft vor
diesem Hintergrund auf eine ganz unerwartete Frage hinaus – ob es nämlich legitim
sei, wenn die Tochter den Vater zum Eingeständnis einer sein Leben ohnehin belastenden Tat zwinge. Wie im Fall der illiteraten Täterin Hanna in Schlinks Vorleser
richtet sich die Problematisierung eines moralisch angemessenen Handelns de facto
an die Nachfolgegeneration. Wäre es nicht gerechter, so lautet die beiden Romanen
gemeinsame Suggestion, die Täter endlich in Frieden zu lassen?
Nicht von ungefähr stellt Ulla Hahn ihrem Buch ein Zitat von Ludwig Wittgenstein voran: »Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen?« Der Roman
argumentiert für Unschärfe in dieser Bedeutung, votiert also literarisch für eben diejenige Lösung des moralischen Problems, das die NS-Vergangenheit der Väter und
Großväter aufwirft, die sich in der privaten Erinnerung faktisch eingespielt hat. Die
Familiengeschichten, wie wir sie im Rahmen unserer Mehrgenerationenstudie (Welzer et al. 2002) erhoben haben, belehren ja darüber, daß ein innerfamiliales Erinnerungsvermögen prinzipiell die unscharfen Bilder der Rollen und Handlungen von
Familienangehörigen in Zeiten des Tötens vorzieht. Es sind die konturlosen, vagen,
eben unscharfen Bilder, die in Gestalt widersprüchlicher, nebulöser, fragmentierter
Geschichten im Familiengedächtnis niedergelegt sind. Und es ist ebendieses Material, das den Nachgeborenen der jüngeren Generationen erst die Möglichkeit eröffnet, die private Überlieferung entsprechend ihrer jeweiligen Sinnbedürfnisse und
ihres historischen Bildinventars auszugestalten.
Hahn gibt solcher Praxis des bundesrepublikanischen Familiengedächtnisses
nun eine offensive Wendung, indem sie entschieden für die Vorzüge der Unschärfe
plädiert. Nicht auszuschließen, daß dieses Plädoyer nur ein Aspekt des allenthalben
zu beobachtenden Phänomens ist, wie die 68er einen milden Frieden mit ihrer
Elterngeneration schließen – wobei sich mir seit langem die Frage stellt, was ausgerechnet die Vertreter dieser Generation schließlich dazu gebracht hat, sich in einem
Akt nachholender Überidentifikation die Sicht ihrer Eltern und Großeltern zu eigen
zu machen (die diese, Ironie der Geschichte, selbst oft gar nicht mehr haben) und –
nicht genug – zudem noch rückblickend das Handeln ebenjener Akteure gutzu-
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Literaturbeilage
Werner Konitzer,
Verweigertes Mitleid
und nachholende
Empathie. Überlegungen zur Bedeutung
der gegenwärtigen
Diskussion um Bombenkrieg und Vertreibung,
unveröffentlichtes
Vortragsmanuskript,
Mittelweg 36 1/2004
25. Mai 2003.
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heißen, die sie früher gar nicht scharf genug kritisieren konnten. Wenn sich beispielsweise Peter Schneider nach der Publikation von Grass’ Novelle zu der Mitteilung genötigt sieht, das größte Versäumnis der deutschen Linken bestünde darin, sich
nicht um das Leiden der Elterngeneration geschert zu haben, oder sich Cora Stephan
nach dem Erscheinen von Jörg Friedrichs Der Brand dazu versteigt, von ebendieser
Generation als einer traumatisierten zu sprechen, dann wird zu vermuten sein, hinter der ostentativen Anklagehaltung der 68er gegenüber der Kriegsgeneration habe
ein uneingestandener Identifikationswunsch gestanden: soviel wie diese Generation
würde man selbst nicht erleben können, und auch mit der »Realisierung des Utopischen« (Hans Mommsen) war ihnen die Generation der jungen Volksgenossen, wiewohl unter gänzlich anderen Vorzeichen, um einiges voraus. Insofern kam der ReInszenierung ausgebliebener Gerichtsverhandlungen im Schutzraum elterlicher
Wohn- oder Schlafzimmer auch die Funktion zu, eine affirmative Unterströmung im
konfliktuellen Kontakt der Generationen abzuwehren, die man sich im Vollbesitz des
richtigen politischen Bewußtseins und des korrekten, nämlich antifaschistischen Geschichtsbildes selbstverständlich nicht eingestehen wollte. Mit der Wiederaufführung
von Kriegsereignissen im freilich verkleinerten Maßstab großstädtischer Straßenkämpfe gegen Polizei und Wasserwerfer holte sich die Protestgeneration jenen Geschmack von Freiheit und Abenteuer, den der Krieg den Vätern offeriert hatte. Auch
die weit verbreitete Rhetorik eines Kampfs gegen das System folgte dem Narrativ der
Kriegserzählung, wie übrigens auch die prototypische Einlassung im Zusammenhang der Joschka Fischers »Putztruppe« zugeschriebenen Übergriffe in den Zeiten
des »Frankfurter Häuserkampfes«: nur wer damals dabeigewesen sei, könne heute beurteilen, wie es wirklich gewesen war. All das verrät eine Dialektik bundesrepublikanischer Vergangenheitstradierung, die allein dank der Autosuggestion, jetzt auf der
anderen Seite zu stehen, ignoriert werden konnte. Zu dieser Dialektik gehört zudem
die Unterstellung, die Kriegsgeneration würde ihre Schuld verdrängen, was logischerweise voraussetzt, sie hätte eine solche überhaupt empfunden. Und ganz folgerichtig wird heute ein Wehrmachtssoldat des Typs Musbach konstruiert, zu dem die
Nachkommen in ein neues Verhältnis treten können, das von einem Schuldgefühl
ganz anderer Art imprägniert ist. Denn jetzt handelt es nicht mehr um die Schuld
der Elterngeneration an dem, was im Dritten Reich geschehen war, sondern – worauf Werner Konitzer unlängst in einem Vortrag hingewiesen hat – um die Schuld der
Kinder, ihr gegenüber die gebührende Empathie verweigert zu haben.
Damit ist auch der zentrale Subtext in Hahns Roman benannt, der zugleich erklärt, warum der Topos einer schuldlosen Schuld eine probate Konstruktion darstellt,
um die Verantwortung von Genozidtätern auf ein klassisches moralisches Dilemma
herunterzukürzen, mit dem sich ein Nachgeborener zerquält identifizieren kann:
Was hätte ich getan? In nachgerade experimenteller Reinheit tritt das Dilemma allerdings erst dann in Erscheinung, wenn die Romankonstruktion von vornherein die
Frage nach der individuellen Schuld fokussiert und folglich den soziohistorischen
Verlauf abblendet, der die dilemmatische Situation heraufbeschwört. Selbstverständlich vertrete ich nicht die Auffassung, ein Roman solle Geschichtsunterricht erteilen,
aber es bleibt festzuhalten, daß sich Hahns und Schlinks Protagonisten als moralisch
unkontaminierte Personen in ein abstrakt moralisches Dilemma verstrickt finden,
was ihr Handeln, so moralisch fragwürdig es gewesen sein mag, irgendwie doch zustimmungsfähig macht – zumal wenn es so schön unscharf bleibt.
Literaturbeilage
Reinhard Jirgl,
Die Unvollendeten.
München 2003,
Hanser Verlag.
Robert G. Moeller,
»Deutsche Opfer, Opfer der Deutschen«, in:
Klaus Naumann (Hrsg.),
Nachkrieg in Deutschland. Hamburg
2001,Hamburger
Edition, S. 29 – 58.
Michael Schwartz,
»Zwangsheimat
Deutschland«, in: Klaus
Naumann (Hrsg.),
Mittelweg 36 1/2004
a.a.O., S. 114 – 148.
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Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, wenn Ulla Hahn, ähnlich wie Bernhard Schlink, einen geschichtlichen Kontext evoziert, über dessen moralische Bewertung man sich derart verständigt wähnt, daß gar nicht mehr eigens thematisiert werden muß, worum es näherhin geht. Auch dieses Einverständnis ist in
alltäglichen, intergenerationellen Gesprächen über die NS-Vergangenheit ausweisbar;
es artikuliert sich in Formulierungen wie »das mit den Juden«, »das da«, »wie das alles
rauskam« und läßt sich als »leeres Sprechen« bezeichnen ( Welzer et al. 2002, S.158ff.).
Leeres Sprechen hält einen Sachverhalt, der nur assoziativ und indirekt thematisiert
wird, unbestimmt. So bleibt es den Zuhörern überlassen, die Leerstellen und weißen
Flecken mit eigenen Deutungen darüber zu füllen, wovon die Erzähler eigentlich
sprechen. Zugleich wird durch leeres Sprechen praktisch vermittelt, daß es Geschehenszusammenhänge gibt, die gerade als unbestimmte schon zureichend thematisiert
sind – und als solches öffnet es den Raum für jenes moralisch zerknirschte Einverständnis zwischen der Generation der Kriegsteilnehmer und der ihrer kritischen Kinder, das Schlink und Hahn zelebrieren.
Reinhard Jirgl unternimmt in seinem Roman Die Unvollendeten (2003), der
vor dem Hintergrund der Vertreibung der Sudetendeutschen spielt, sogar den Versuch, die intergenerationelle Tradierung einer traumatischen Erfahrung herauszuarbeiten, wobei Jirgls extrem expressive, von zahlreichen Wortschöpfungen durchzogene Sprache die Lektüre höchst mühsam gestaltet. Nun provoziert der Roman
zunächst die Frage, was denn der Zweck der literarischen Repräsentation einer zugleich tradierten und stilisierten Vertreibungserfahrung sein mag, stellt die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen doch unbestritten eine der zentralen Leistungen der deutschen Nachkriegsgesellschaft dar (vgl. Moeller 2001; Schwartz 2001). Es
ist psychologisch kaum nachvollziehbar, wieso Folgewirkungen dieser Erfahrung bis
in die dritte Generation hinein spürbar geblieben sein sollen. Mir jedenfalls ist erst
bei meiner unvollendeten Lektüre der Unvollendeten aufgegangen, daß ich väterlicherseits auch aus einer Flüchtlingsfamilie stamme. Vorher war mir das Faktum nie
aufgefallen. Jirgls Text jedenfalls stilisiert retroaktiv Verlusterfahrungen, die zweifelsohne politisch funktionalisierbar sind, für die Nachfolgegenerationen an sich
aber kaum eine Rolle spielen.
Etwas anderes sticht ins Auge, sobald Jirgl, übrigens eher beiläufig, den Holocaust streift und einen seiner Protagonisten beschreiben läßt, wie er als junger Soldat
Augenzeuge eines Todesmarsches wurde: »Und dann der !Leichengestank – Fleisch
verweste an noch lebenden Körpern ... Als hätten die wirklichen Toten diese unkrepierten Toten sogar aus den Gräbern wieder rausgeschmissen.« (2003, S. 74) Mag diese,
vorsichtig gesagt, unempathische Darstellung noch als Wiedergabe der Erzählerperspektive durchgehen, erscheint der Fortgang der kurzen Episode symptomatisch:
Der Protagonist beschreibt im Anschluß nämlich die brutale Erschießung eines Häftlings (auf eine Weise, die stark an das berühmte Filmdokument aus dem Vietnamkrieg erinnert, wo ein Vietcong auf offener Straße durch einen Schuß in die Schläfe
getötet wird). Dann greift einer der Wachhunde einen Häftling an und wird von ihm
mit einem Stein erschlagen. Daraufhin wird scheinbar spontan das Feuer auf die
Häftlinge eröffnet: »Das Jaulen des verreckenden Köters wurde überschrieen vom
Wutschrei des Scharführers & seiner Leute. Im-Nu hatten sie = alle die Maschinenpistolen von den Schultern – u war das letzte, was ich sah. Die Luft sofort ein einziges
dröhnendes Geschoßhämmern, dicker Brei aus Feuer u Pulverdampf u Gestank von
Literaturbeilage
kochendem Waffenöl. Durch den Qualm hindurch sah ich die Gefangenen wie Stabpuppen über1ander zur Erde stürzen. Dort blieben sie liegen, reglos, ein bizarrer
Haufen speckiger Lumpen u zerrissenes Fleisch.« (2003, S. 75ff.)
Was tut der Erzähler in dieser Situation? Er desertiert, und zwar in eine Art Bewußtlosigkeit aus Überwältigung. Wieder zu sich gekommen, reflektiert er: »Ich weiß
bis-heute nicht, ob ich 1 der Häftlinge erschossen hab. Od die eigenen Leute. Od die
Hunde. Ob ich überhaupt jemanden getroffen hab. Keine Ahnung, was aus den
Häftlingen u: aus den SS-Leuten geworden ist.« (2003, S. 76) Auch hier wird also die
schon für den Soldaten Musbach in Anspruch genommene »gnädige Ohnmacht«
bemüht, um das Verbrechen in einem moralisch indifferenten Off verschwinden zu
lassen. Die Tat steht unscharf im historischen Raum.
Und an dieser Stelle tritt zutage, was eine allzu leichtübersehene Grundvoraussetzung für diesen literarischen wie auch lebensweltlich verbreiteten Typus der unscharfen Auseinandersetzung mit Vergangenheit ist: daß sich die Akteure den Luxus
einer Reflexion der so oder so ausfallenden Verstrickung überhaupt leisten können.
Solcher Luxus steht den Opfern keineswegs zu Gebote, denn wenn, wie etwa im Fall
des seines Lebens beraubten Jacques Austerlitz, buchstäblich jede Suchbewegung in
dem furchtbaren Umstand endet, die ganze Herkunftsgeschichte als eine Geschichte
verschwundener Existenz erinnern zu müssen, ist Identitätsarbeit im intergenerationellen Gespräch ebenso blockiert wie die Wiedergewinnung eines ausbalancierten
Verhältnisses zur eigenen Vergangenheit. Insofern fußt der skizzierte literarische Diskurs über die schuldlose Schuld auf einer Asymmetrie, die aus der Geschichte selbst
resultiert: während die eine Gruppe lebens- und generationenlang damit zu ringen
hat, daß ihr die Leben und Lebensgeschichten Anverwandter geraubt wurden, räsoniert die andere darüber, wie ein geschmeidigeres Verhältnis zur Tätergeneration zu
etablieren sei, eines, das den Tätern von der moralischen Höhe bewältigter Vergangenheit herab erlaubt, in Frieden mit sich zu leben.
Unsichtbare Spuren
Uwe Timm,
Am Beispiel meines
Bruders. Köln 2003,
Kiepenheuer & Witsch
Mittelweg 36 1/2004
Verlag.
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Nun bilden diese Befunde nicht den ganzen Diskurs ab, der sich gegenwärtig
literarisch konturiert. Genaugenommen ist Sebalds Roman eine einsame Ausnahme
im Kanon der Selbstvergewisserungen von Kindern wie Enkeln der Kriegs- und Tätergeneration. Aber die Position der Kindergeneration ist nicht immer deckungsgleich
mit jener des skizzierten neuen Einverständnisses. Das Buch Am Beispiel meines
Bruders von Uwe Timm (2003) verweigert sich diesem Einverständnis kraft eines
höchst skrupulösen, eben nicht schlankweg deutenden Versuches der Annäherung an
jene wenigen Fragmente, die der im Krieg gefallene Bruder Timms hinterlassen hat.
Der Kontrast zu Schlink und Hahn ist dort am stärksten, wo Timm sich ganz offen
als ein Familienangehöriger zu erkennen gibt, dessen Lebensgeschichte zwar unausweichlich an den toten Bruder gebunden ist, der sich eines moralischen Urteils dennoch nicht enthalten kann. Timm riskiert dort Ambivalenz, wo andere Schriftsteller
zur Eindeutigkeit und folglich zur Befriedung tendieren. Das macht sein Buch einerseits verstörend und andererseits inkompatibel mit dem neuen deutschen Opferdiskurs, wie er sich seit einiger Zeit durch eine verstärkte, normativ eher sorglose Thematisierung deutscher Leiden unter Vertreibung, Bombenkrieg und Nachkriegsnot
Ausdruck verschafft hat. Es gibt auch andere Bücher, die diese Kompatibilität ver-
Literaturbeilage
Rolf Dieter Brinkmann,
Rom, Blicke.
Reinbek 1979,
Rowohlt Verlag.
Micha Brumlik,
»Deutschland –
eine traumatische
Kultur«, in: Klaus
Naumann (Hrsg.),
a. a. O., S. 409 – 418.
Harry Walter, »Eins zu
Eins. Ein Fotoalbum
zum Wiederaufbau
Deutschlands«, in:
Harald Welzer (Hrsg.),
Das Gedächtnis der
Bilder. Tübingen
(1995), edition dis-
Mittelweg 36 1/2004
kord, S. 115 – 163.
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meiden, obwohl sie denselben historischen Bezugspunkt, die NS-Verbrechen und
den Holocaust, literarisch verarbeiten. Diese Texte verdienen unsere Aufmerksamkeit, weil sie einer Tiefenprägung der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft
durch die ausgeübte und erfahrene Gewalt im Kontext des Zweiten Weltkriegs nachspüren (vgl. Naumann 2001).
Besagte Tiefenprägung läßt sich exemplarisch durch eine schon ein Vierteljahrhundert alte Reflexion des 1940 geborenen Rolf Dieter Brinkmann illustrieren, der
in einer Geschichtskulisse aufwächst, die sich äußerlich als eine Trümmer- und
innerlich als kalte Gefühlslandschaft manifestiert, dem subjektiven Resonanzraum
eines gewissermaßen mehrstimmigen Schweigens: »Ruinenkinder, Bombensplitterkinder, ja, Todessplitterreisen haben wir, jeder auf seine Art, gespielt, und die frühe
Kulisse waren aufgerissene Straßen, abgedeckte Häuser, brennende Ruinen – lange
her und in der ersten Zeit des Lebens, des Sehens, der Neugier, der ersten halbbewußten Wahrnehmungen versiegelt, eingeschlossen, nämlich was?: Trümmer, zerrissene Häuser, Betonbrocken, Brandphosphorbomben und blaue Narben am Körper
eines Spielkameraden (...), das ist es, was sich als erste Lebenskulisse ergab, unter dem
nicht näher faßbaren Druck und der Bedrohung der Vernichtung – das ist unsere Generation, eine Gerümpel-Generation, hastig und mit Angst vor dem Krieg oder in
den ersten Kriegstagen zusammengefickt – ein verworrenes Motiv: ehe der Mann in
den Krieg zieht, macht er der Frau noch ein Kind – ›ich bin nur da, weil es einen
Krieg gab‹ – und was ist dann Kindheit und Jugend? Nichts als eine einzige Entschuldigung, daß man überhaupt da ist.« (1979, S. 356)
Die einzelne Biographie und ihr sozialer Kontext definieren in der Tat die Stelle,
an der sich historische Ereignisse und Zusammenhänge überkreuzen, wo sich an
ihnen gemachte Erfahrungen nachhaltig niederschlagen und gelegentlich lebenslänglich wirksam bleiben. Micha Brumlik hat in einem neueren Aufsatz Deutschland
als eine »traumatische Kultur« bezeichnet (Brumlik 2001) und die Frage aufgeworfen,
in welcher Form sich die Massenvernichtung zum einen und die »Traumatisierung«
durch Krieg, Bombenkrieg und Vertreibung zum anderen »in die gegenwärtige Kultur und soziale Wirklichkeit mindestens Deutschlands und Österreichs« einschreibe
(2001, S. 410). Die Antwort wäre: durch intergenerationelle Tradierung, die ein Amalgam aus generationsspezifischer Sozialisationserfahrung und habitueller wie kommunikativer Weitergabe der Erfahrungs- und Verarbeitungsformen der jeweiligen
Vorgängergeneration darstellt. Vielleicht ist dies Phänomen für die Bundesrepublik
an keiner Generation besser zu beschreiben als an derjenigen der Kinder der nationalsozialistischen Gesellschaft.
Wir haben bei einem solchen Beschreibungsversuch insbesondere mit zwei Problemen zu tun: daß nämlich die Identifizierung intergenerationellen, habituellen
und ästhetischen Fortlebens von Vergangenem schnell an die Grenzen des Spekulativen und nur Impressionistischen stößt, häufig zu einer Übergeneralisierung von
Einzelphänomenen tendiert. Ästhetische Zugänge zum Phänomenbereich rezenter
Vergangenheiten sind insofern erfolgreicher als wissenschaftliche, als sie ein dem
Tradierungsprozeß selbst strukturell verwandtes Medium in Anspruch nehmen – sie
erzählen, illustrieren, vergegenständlichen. Man betrachte hierzu die unter keinerlei
Verifizierungszwängen stehende, aber gerade darum so überzeugende Beschreibung,
die Harry Walter über seines Vaters Sicht auf die Geschichte des Krieges liefert: Dieser »– ein gelernter Koch – war es von Jugend auf gewohnt, sich tief in den Inhalt ver-
Literaturbeilage
Stephan Wackwitz,
Ein unsichtbares Land.
Familienroman.
Frankfurt am Main 2003,
Mittelweg 36 1/2004
S. Fischer Verlag.
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schiedener Pfannen, Töpfe und Kessel hineinzudenken und über das mit viel Liebe
zum Detail zusammengerührte Ganze jeweils profunde Geschmacksurteile abzugeben. Als er dann während des Zweiten Weltkriegs bei der Luftwaffe als Aufklärer und
Zerstörer diente, weitete sich sein Blick ins Ungeheure. Er war jetzt Teil einer riesigen Maschine, die weite Teile Europas in sich hineinschlang und später halbverdaut
wieder ausspuckte.
Zunächst hatte er sich das gewaltsam vergrößerte Deutschland als ein Spiegelei
vorgestellt. Der gelbe Eidotter in der Mitte war die Heimat, drumherum die besetzten Gebiete. Ganz außen rechts, die ausgefranste im Fett brutzelnde Linie, das war
die Ostfront.
Später, beim Rückzug der deutschen Truppen, löste sich dieses Bild allmählich
wieder auf. Ein von den Rändern her schrumpfendes Spiegelei wäre noch hinzunehmen gewesen. Nicht aber die gleichzeitige Bombardierung der heimatlichen
Städte, da das hierdurch hervorgerufene Bild eines auslaufenden Dotters in seiner
Vorstellung etwas irreparabel Mißlungenes bedeutete.« (1995, S. 148)
Die generationsspezifischen Fragen von Autoren wie Harry Walter oder Stephan
Wackwitz sondieren den historischen Erfahrungsraum, in dem sie selbst aufgewachsen sind: was denn unter einem Land zu verstehen ist, dessen Städte in Trümmern
liegen, das in unterschiedliche Besatzungszonen mit unterschiedlichen Praktiken der
Kontrollausübung aufgeteilt ist, und dem eine irgendwie furchteinflößende, aber
auch opake Gewaltgeschichte zugrunde liegt, die sich den Nachgeborenen nur in
schwer zusammenzufügenden Fragmenten mitteilt. Was, so wäre zu eruieren, ist
Deutschland denn für diejenigen gewesen, die in ihm aufwuchsen, ohne allzuviel bewußt vom Kriege, dafür aber eine Menge von dessen Folgen mitbekommen zu haben.
Mit einer durch diese Hinsicht entfalteten Perspektive schreibt Stephan Wackwitz in
seinem Familienroman Ein unsichtbares Land: »nicht nur, weil das frühere Leben
meiner Eltern tief unter dem Meer oder unterm Schutt der zerstörten Städte lag, ist
das Land, in dem ich aufgewachsen bin, mir als Kind oft geisterhaft vorgekommen.
Kinder wollen zum Beispiel zuverlässig wissen und in der Schule lernen, wie groß ihr
Land ist. Unseres aber schien keine ordentlichen Grenzen zu haben wie andere Länder. Es endete an gepunkteten, merkwürdig unzurechnungsfähigen Linien, in Landstrichen, wohin man nicht fahren konnte und von denen niemand eine Vorstellung
hatte, trotz der erdkundlichen Lehrfilme, beispielsweise über die ›Kurische Nehrung‹,
die wir in der Schule manchmal sehen durften (...). Viel von dem dramatischen Autoritätsverlust, den Schule und Republik nicht sehr viel später erlitten, scheint mir
im Rückblick auf solche Vorführungen zurückzugehen. (...) Die konnten uns nicht
einmal zuverlässig beibringen, wie groß unser Land war.« (2003, S. 28f.)
Wackwitz stellt sich in seinem Roman die Aufgabe, eine Geschichte der unsichtbaren Folgewirkungen des vergangenen Jahrhunderts zu schreiben, und findet
in seinem Großvater eine Idealfigur, um die sich eine solche Geschichte des Unsichtbaren komponieren läßt: aufgewachsen in der Nähe von Auschwitz, nach dem
Krieg als junger Pfarrer in Deutsch-Südwestafrika zu einem gut protestantischen,
also passionierten Tagebuch- und Lebenserinnerungsschreiber geworden, verkörpert
Andreas Wackwitz, der Großvater des Autors, einen leibhaftigen Kristallisationspunkt deutscher Vergangenheiten und ihrer Nachgeschichten. Während seines
Lebens, oder besser wohl: hinter dem Rücken dieser Biographie spielen sich alle
wichtigen Ereignisse der letzten hundert Jahre ab. »Auf diese Weise«, hält der Enkel
Literaturbeilage
fest, »habe ich inzwischen auf nicht ganz geheure Weise ein familiäres Verhältnis zu
einigen zentralen Ereignissen des Jahrhunderts gewonnen.« (2003, S. 47)
Man sollte Wackwitz’ Erforschung der subkutanen, natürlich teilweise auch konstruierten Verbindungslinien lesen, um ein besseres Gefühl dafür zu bekommen, wie
subtil sich die Vergangenheit im Medium der Familie, in den alltäglichen Überlieferungen, im Habitus und in den Gesten fortschreibt. Es geht hier um die Spannung
und das Wechselverhältnis zwischen großer oder öffentlicher und privater oder kleiner Geschichte. Und wenn Raul Hilberg einmal formuliert hat, der Holocaust sei in
Deutschland Familiengeschichte, dann trifft seine Beobachtung auch für alle anderen Partikel, Erfahrungs- und Möglichkeitsräume der »großen Geschichte« zu, in die
sich einzelne Personen involviert finden und deren Konsequenzen sie später verarbeiten, zum Beispiel, indem sie Geschichten darüber erzählen oder auf eine Weise
schweigen, die noch im Schweigen hörbar macht, daß es einen Inhalt hat, der irgendwie ungut ist.
Die dritte Generation
Tanja Dückers,
Himmelskörper.
Berlin 2003,
Mittelweg 36 1/2004
Aufbau Verlag.
62
Die 1968 geborene Tanja Dückers hat mit Himmelskörper 2003 einen Familienroman vorgelegt, in dem sich eine Enkelin den Kriegserlebnissen ihrer Großeltern annähert. Auch in diesem Buch spielt der Untergang der »Wilhelm Gustloff«,
dem die Großeltern der Protagonistin durch ihre Entscheidung entgangen sind, auf
einem anderen Schiff zu flüchten, eine gewisse Rolle. Im Zentrum des Romans aber
steht der Versuch, eine Tradierungsgeschichte darzustellen, die zunächst von einer
eher empathischen Suche der Autorin nach den historischen Rollen und Weltsichten ihrer Großeltern bestimmt wird. Bemerkenswert ist, wie sich das Mitgefühl der
Enkelin im Verlauf des Romans zunehmend an der Erkenntnis bricht, daß die bis in
die Gegenwart fortreichende Identifikation der Großeltern mit dem Nationalsozialismus viel größer ausfällt, als die Enkelin gehofft hatte. Dückers gelingt es eindrucksvoll, Formen der nichtintentionalen Weitergabe von Vergangenheitsvorstellungen literarisch zu vermitteln, etwa wenn der Großvater als Hobbyimker über die
»Kuckucksbienen« referiert: »Es sind Schmarotzerarten. Leben solitär, bauen keine
Stöcke, sammeln keine Nahrungsvorräte, und Brutpflege betreiben sie auch nicht.«
Auf Nachfrage der Enkelin erläutert er: »So etwas gibt es eben nicht nur beim Menschen, dieses Nomadentum. Für mich sind die Kuckucksbienen die Juden im Bienenvolk. Sie bereichern sich an den Grundlagen, die andere Völker für sie geschaffen haben. Nutznießerisch. Berechnend. Aber eine starke Bienenkönigin (...) läßt die
Kuckucksbienen natürlich verjagen.« (2003, S. 187)
Im Unterschied zu realen Familiengesprächen, für die gewöhnlich eine starke
emotionale Bindung der Enkel an die Großeltern und das höchst defensive Bedürfnis charakteristisch sind, besser nichts von den etwaigen Verstrickungen der Großeltern in das NS-System zu erfahren, gewinnt die Enkelin in Dückers’ Roman um so
größere Distanz zu ihrer Großmutter und ihrem Großvater, je unverstellter sie deren
Geschichte auf die Spur kommt. Das sich daraus ergebende Problem liegt in der
schwer überbrückbaren Kluft zwischen Wissen und Zuneigung oder Urteilskraft und
Gefühl, weshalb Dückers’ literarische Konstruktion die zentrale Problematik entfaltet, mit der die Binnensphäre privater Erinnerungskulturen die Enkel in aller Regel
konfrontiert: Läßt sich die böse Geschichte mit der lieben Oma versöhnen? »Wie
Literaturbeilage
Christoph Amend,
Und morgen tanzt
die ganze Welt.
München 2003,
Mittelweg 36 1/2004
Blessing Verlag.
63
konnte ich die gelegentlich etwas barsche Großmutter, die, seit ich denken konnte,
alle Ferien mit uns verbracht hatte, mit der Frau in Verbindung bringen, die Göring
eine Gratulationskarte schrieb und die die Gesichter ihrer Mitmenschen auf edle
oder unedle Züge untersucht hatte, auch wenn sie später vorgab, daß diese Dinge die
Nazis ›diskreditiert‹ hätten?« (2003, S. 268)
In summa repräsentiert Dückers’ Roman einer Enkelin über eine Enkelin die
vom milden Einverständnis, wie es Schlink und Hahn favorisieren, abweichende Version einer Annäherung an die Tätergeneration – ein erstaunlicher Befund, gemessen
an den generationellen Selbstbildern der 68er und der Generation ihrer Kinder. Allerdings kann von einer einzelnen literarischen Arbeit wohl kaum auf eine generationsspezifische Perspektive rückgeschlossen werden, was nicht zuletzt das ebenfalls
2003 erschienene Buch des Journalisten Christoph Amend Und morgen tanzt die
ganze Welt beweist. Amend gehört derselben Generation wie Dückers an und legt
einen reportagehaft gestalteten Vergleich der eigenen mit der Generation seiner
Großväter vor. Melancholisch beschreibt er die Club-Culture-, Love-Parade- und
Internet-Generation, der er selbst zugehört, macht sich angesichts der Perspektivlosigkeit in Zeiten wirtschaftlichen Niedergangs daran, ausgerechnet bei den Großvätern Rat dafür zu holen, wie seine Altersgenossen eingebüßte Orientierungen zurückgewinnen können. Ein Enkel will bei Kriegsteilnehmern wie Richard von Weizsäcker,
Herbert Reinecker oder Horst-Eberhard Richter noch einmal in die Schule des
Lebens gehen. Das merkwürdige Buch zeichnet eine tastende Recherche nach, die
ganz ungeschützt zum Ausdruck bringt, daß die Generation der heute Dreißigjährigen nichts von der rechthaberischen Selbstgewißheit und ausgeprägten Neigung zu
entschiedenen Urteilen besitzt, wie sie ihren beiden Vorgängergenerationen, den
Kriegsteilnehmern und den 68ern, gleichermaßen zu eigen ist.
Allerdings bringen Amends Interviews wenig Neues über die Befragten ans
Licht, dafür aber einiges zur Bereitschaft des Enkels, den Erzählungen der alten Männer ebenso bewundernd wie kritiklos zu lauschen, um ihnen die gesuchten Botschaften zu entnehmen. Selbstverständlich fällt die Ernte bescheiden aus – daß HorstEberhard Richter »geschockt« war, als der junge Soldat feststellte, nicht gegen
abstrakte Ziele, sondern gegen Männer, Frauen und Kinder zu kämpfen, dürfte kaum
überraschen (2003, S. 189). Auch ist es nicht gerade erstaunlich, wenn Hellmuth
Karasek noch heute alle Wehrmachtsdienstgrade in der passenden Reihenfolge herunterbeten kann und Richard von Weizsäcker nicht gerade den Typ Mann verkörpert, der gerne öffentlich über eigene Ängste im Krieg spricht.
Interessanter an Amends Interviews ist, was in ihnen ausgespart bleibt, weil der
Autor jede Frage vermeidet, die die alten Männer in Verlegenheit oder gar in die Defensive hätte bringen können. Statt dessen hört er brav zu, begleitet das Vernommene
mit ebenso phantasievollen wie projektiven Deutungen, spricht von der »Hölle, die
sie Tag für Tag erlebten« (2003, S. 62), von der Furcht, die ungeahnte Energien freisetzt (»vielleicht wirken die Großväter deshalb so energisch auf uns, sie kennen das
Leben nicht ohne den Blick ins Angesicht des Todes« (2003, S. 79)), und davon, daß
»die deutschen Soldaten in der ständigen Angst vor Partisanenüberfällen« lebten: »jeder Zeit konnte jemand um die Ecke biegen, das Gewehr geschultert, und einen erschießen« (2003, S. 199).
Nicht einmal der Umstand, daß der eigene Großvater von solchen Dingen nie,
dafür aber launig über requirierte Champagnerflaschen während seiner Zeit im be-
Literaturbeilage
setzten Frankreich berichtete, bringt Amend auf die Idee, der Krieg habe für die Okkupanten durchaus auch anderes als Leid und Gefahr bereit gehalten. Ganz unbeabsichtigt erklärt Amends Reportage die Großväter selbst dort zu Opfern des Krieges, wo sie alles andere als in der Rolle von Leidtragende unterwegs waren.
Das frappierendste Ergebnis in Amends Reportage aus dem Land der Großväter
ist freilich ihre Schlußfolgerung, seine Generation sei eine Generation der Jasager,
weshalb der Rat einer Generation von Neinsagern die willkommene Orientierung gewähren könne. Da wird noch der wohlwollendste Leser nun seinerseits ratlos den
Kopf schütteln und konstatieren, daß selbst die so strebend um ein nachholendes
Einverständnis bemühten 68er in der HJ- und Flakhelfer-Generation keine Generation von Neinsagern hätten erkennen wollen.
Mittelweg 36 1/2004
Demographie, Tiefenprägung und Kontamination
Trotz der handgreiflichen Unterschiedlichkeit der vorgestellten Bücher verweisen sie allesamt auf eine Tendenz, die NS-Vergangenheit stärker als zuvor in explizit
familienbiographischer Perspektive zu thematisieren. Dieser Trend enthüllt jenseits
spezifischer Intentionen der Autorinnen und Autoren etwas empirisch ganz Unvermutetes: daß nämlich die erfahrungsgeschichtliche Tiefenwirkung der zwölf Jahre
zwischen 1933 und 1945 mit wachsendem Zeitabstand immer mehr an Sichtbarkeit
gewinnt. Die Beschäftigung mit dieser unausweichlichen Vergangenheit nimmt nicht
ab, sondern augenscheinlich zu, weshalb unlängst sogar betont werden konnte, die
Phase der wirklichen Auseinandersetzung habe, nach einem Zeitraum von gerade einmal 58 Jahren post festum, noch gar nicht recht begonnen (Thomas Schmid in der
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 14.11.03).
Auch wenn einen diese Aussicht melancholisch stimmen mag, ist wohl unbestreitbar, daß die Kontamination der Familien- und Einzelbiographien durch die faktisch ja kurze Zeitspanne von zwölf Jahren viel nachhaltiger wirksam ist, als es die »Vergangenheitsbewältiger« zu fürchten wagten. Sozialpsychologisch ist das insofern ein
bedeutsamer Befund als er etwas darüber aussagt, daß offenbar historische Konsequenzerstmaligkeiten (Arnold Gehlen) vorliegen, deren Halbwertszeit auf der Ebene
der generationellen wie intergenerationellen Erfahrungsgeschichte noch gar nicht anzugeben ist. Mit dieser Geschichte werden wir nicht fertig, weshalb die ostentativen
Bemühungen um die Etablierung einer Erinnerungskultur, die die Deutschen selbst
auch noch zu den Opfern der NS-Herrschaft zählt, womöglich als ein Aspekt dieser
Nachhaltigkeit begriffen werden müßten. Vielleicht ist es sogar so, daß die allenthalben zu beobachtende Blockierung von Zukunftsentwürfen und die damit einhergehende Handlungsohnmacht vor diesem Hintergrund als ein Effekt der Nachhaltigkeit jener tiefsitzenden Geschichtserfahrung von Krieg wie Holocaust zu deuten wäre.
Wenn Orientierung in der Gegenwart zum Zweck der Sicherung von Handlungsoptionen für die Zukunft eine zentrale Funktion von Erinnerung ist, dann wird sich um
so weniger Zukunft herstellen lassen, je desorientierender solches Erinnern an einer
Vergangenheit haftet, auf die ohne Unterlaß zurückgeblickt wird. Kann es sein, daß
die Nachkommen der Kriegsgeneration um so fester in einer kollektiven Fixierung gefangen sind, je weniger Überlebende diese Geschichte zurückläßt?
Redaktion: Martin Bauer, Gaby Zipfel; Mittelweg 36, 20148 Hamburg, Tel. 040/41 40 97-16 und 41 40 97-32, Fax 040/41 40 97-11;
Gestaltung: Hans Andree, Wilfried Gandras
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Literaturbeilage

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