Einführung in die Geschichte der islamischen Länder Das Kalifat der

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Einführung in die Geschichte der islamischen Länder Das Kalifat der
Einführung in die Geschichte der islamischen Länder
Das Kalifat der Banū Umaiya und der ʿabbāsidische Umsturz
Gliederung
1
Das Kalifat der Banū Umaiya
1.1
Muʿāwiya (661-680) : Die Bewahrung der Einheit
1.2
Der zweite Bürgerkrieg (die zweite fitna) (683-692)
1.3
Arabischer Tribalismus: Qais gegen Yaman
1.4
Staatsreformen: ʿAbd al-Malik (685-705)
1.5
Relative Stabilität (bis ca. 740): Islamisierung
2
Der ʿabbāsidische Umsturz
2.1
Wer sind die Banū l-ʿAbbās? Die Hāšimiyya
2.2
Schwarze Fahnen aus dem Osten: Abū Muslim
2.3
Der Sieg der ʿAbbāsiden und der Untergang der Banū Umaiya
2.4
Gründe für den Sieg der ʿAbbāsiden, Auswirkungen
3
Die ersten ʿabbāsidischen Kalifen
3.1
Abū Ǧaʿfar al-Manṣūr (754-775)
3.2
Eine neue Hauptstadt: Die “Runde Stadt” Baġdād (768)
1
Das Kalifat der Banū Umaiya
In der Literatur heißen die Banū Umaiya in der Regel „Umaiyaden“. Das kann man natürlich
auch sagen; durch die arabische Bezeichnung wird der Gedanke, es handele sich um eine
Dynastie, wie wir sie aus Westeuropa kennen, relativiert.
Die Banū Umaiya sind zwar eine Dynastie, wenn man darunter versteht, dass alle Herrscher
in einer Sequenz aus einer Familie kommen. Das ist hier der Fall. Aber zur Vorstellung von
Dynastie gehört auch, dass die Thronfolge in irgend einer Weise geregelt ist, meistens so,
dass nach dem Tod eines Herrschers dessen ältester Sohn an die Reihe kommt
(Primogenitur). Im Idealfall weiß man, wer an welcher Stelle der Thronfolge steht, das ist z.B.
beim britischen Königshaus der Fall. Dieses ist bei den Banū Umaiya nicht und bei den
meisten Dynastien der islamischen Geschichte auch nicht gegeben. Vielmehr sind
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Thronfolgeregelungen vom Bruder auf den Bruder sehr häufig, und es gibt auch
„ausgefochtene“ Thronfolge.
Im Folgenden möchte ich zentrale Entwicklungen zeigen, die ich durch ausgewählte
Herrscher-Persönlichkeiten veranschauliche.
1.1
Muʿāwiya b. Abī Sufyān (661-80): Die Bewahrung der Einheit
Der erste Bürgerkrieg (die erste fitna), im wesentlichen die Zeit des Kalifats ʿAlīs, hatte die
islamische umma an den Rand der Spaltung gebracht (und die zu Grunde liegenden
Streitfragen bilden bis heute einen zentralen Punkt in der Unterscheidung von Sunniten und
Schiiten). Muʿāwiya wurde nach ʿAlīs Tod dann relativ rasch und ohne nennenswerte
Opposition als Kalif bestätigt. Für ihn sprach:
-
Die Familie hatte zu den führenden Familien in Mekka gehört.
-
Muʿāwiya hatte sich an der Eroberung Syriens aktiv beteiligt, er war seit ca. 639
Gouverneur dort, Verwandte hatten andere wichtige Positionen inne.
-
Die Familie hatte in Syrien bereits seit längerem Besitzungen in Syrien.
-
Die Einwanderung von Arabern nach Syrien war offenbar geregelter vonstatten
gegangen als die Einwanderung nach Irak; Syrien war stabiler.
-
In Syrien hatten sich überdurchschnittlich viele Quraiš niedergelassen – die
Provinz galt als besonders wichtig, weil sie von alters her der nördliche Zielpunkt
des arabischen Karawanenhandels war.
Die Banū Umaiya insgesamt und Muʿāwiya persönlich verfügten also mit der Provinz Syrien
über eine bedeutende Hausmacht. Es kann daher nicht überraschen, dass Damaskus nun
zur Hauptstadt wurde. Von dieser Basis aus, so konnte man hoffen, sollte es möglich sein,
die Herrschaft der Muslime auch in den übrigen futūḥ-Gebieten zu stabilisieren.
Für Muʿāwiya als Person sprach außerdem, dass er ebenfalls mit dem Propheten
verschwägert war; einige Berichte zeigen ihn überdies als einen Sekretär des Propheten.
Allerdings verfügte die ganze Familie nicht über gute sābiqa; wohl aber hatte Muʿāwiya sich
persönlich um den Islam verdient gemacht.
Das Votum für Muʿāwiya dürfte den meisten Muslimen daher nicht schwer gefallen sein.
Auch ʿAlīs Sohn Ḥasan hat jedenfalls nicht aktiv dagegen Stellung genommen. Manche
Berichte meinen, er habe sich seine Anrechte abkaufen lassen; er hat noch eine längere Zeit
in Medina gelebt, wo er sich wegen seiner häufigen Eheschließungen und –scheidungen den
Beinamen „der Ehescheider“ erwarb.
Allerdings kann man davon ausgehen, dass viele zwei Bedingungen an ihre Zustimmung zu
Muʿāwiyas Kalifat knüpften: Erstens war es ein Votum für die Einheit der umma, also für
„Gemeinsamkeit“ (ǧāmāʿa), ein starkes Argument. Zweitens sollte ihr Votum als ein Votum
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für eine Person, nicht für eine Familie, und schon gar nicht als bewusste Abkehr von der
bisher nicht-dynastischen Abfolge von Kalifen verstanden werden.
Gerade die zweite Bedingung wurde von Muʿāwiya verletzt. Er hat noch zu Lebzeiten seinem
Sohn Yazīd als Nachfolger huldigen lassen, das musste er sehr sorgfältig vorbereiten, und
auch so gab es damit Probleme. Die Thronfolge vom Vater auf den Sohn wurde nicht als
normal angesehen, und hier liegt gewiss einer der Gründe für den zweiten Bürgerkrieg.
Die erste Bedingung jedoch hat Muʿāwiya im Wesentlichen erfüllt. Das verbindet sich in der
Überlieferung mit der Eigenschaft ḥilm, als deren exemplarische Verkörperung er (bis heute)
gilt. Diese Eigenschaft war schon bei vorislamischen Stammesführern wichtig. Sie wird
illustriert durch den Muʿāwiya zugeschriebenen Ausspruch:
„Ich werde nie meine Stimme benutzen, wenn ich mein Geld einsetzen kann; nie die
Peitsche, wenn ich meine Stimme erheben kann; nie mein Schwert, wenn ich die Peitsche
nehmen kann: Aber wenn ich muss, werde ich nicht zögern, das Schwert zu ergreifen [und
ihr wisst, dass ich es kann].“ Also insgesamt ein Programm, das unnötige Härte vermeidet
und eher unblutige Konfliktlösungen anstrebt. Zu ḥilm gehört weiterhin eine Fähigkeit zum
Ausgleich: Ein Mann mit dieser Qualität hört viel zu, bevor er urteilt, und er urteilt nicht im
Zorn. Weiter: Er sichert sich die Loyalität der wichtigsten Männer, besonders natürlich der
Stammesführer, durch höfliche (und materiell ausreichend aufwändige) Behandlung. Das
hieß im Fall Muʿāwiyas, dass er Abgesandte der tribalen Gruppen regelrecht einlud, sie
anhörte und beschenkte. Er bemühte sich auch im Gegensatz zu seinem Verwandten
ʿUṯmān b. ʿAffān, seine eigene Familie nicht über Gebühr zu bevorzugen, und er scheint
wichtige Positionen in Balance vergeben zu haben.
Muʿāwiya hatte seine eigene „Hausmacht“, die syrischen Kämpfer. Das war sicher
entscheidend. Aber er hat diese Kämpfer nie in inner-islamischen Auseinandersetzungen
einsetzen müssen (diese konnte er weitgehend vermeiden). So waren die syrischen Kämpfer
an der byzantinischen Grenze beschäftigt.
Muʿāwiya war somit kein „absoluter“ Herrscher, sondern er übernahm viele Formen, die auch
aus der arabisch-tribalen Welt bekannt waren. Der arabische Tribalismus – die Definition der
handelnden Gruppen nach ihrer genealogischen Zugehörigkeit – nimmt mit ihm wieder eine
vorrangige Stellung ein.
1.2 Der zweite Bürgerkrieg – die zweite fitna
Die Amtsübernahme seines Sohnes Yazīd (Kalif 680-3) gestaltete sich problematisch. Es
gab zwei bedeutende Gegenkandidaten:
-
al-Ḥusain b. ʿAlī war der Kandidat derjenigen, die nun meinten, das Kalifat gehöre
in die engere Verwandtschaft des Propheten, die also den „prophetischen nasab“
zum Hauptkriterium machten.
3
-
ʿAbdallāh b. az-Zubair (Sohn eines bedeutenden Prophetengefährten, des in der
„Kamelschlacht“ getöteten az-Zubair b. al-ʿAwāmm) war der Kandidat derjenigen,
die meinten, das Kalifat sei nicht für die Banū Umaiya reserviert, sondern könne
durchaus auch an die Nachkommen von Männern mit hoher sābiqa fallen.
Die drei Männer vertreten also drei unterschiedliche Legitimationsprinzipien:
-
Yazīd b. Muʿāwiya vertritt den „vorislamischen nasab“ und das neu aufkommende
dynastische Prinzip: Er ist vom Vater als Thronfolger eingesetzt, und zum
dynastischen Denken gehört das Recht des Herrschers, seinen Nachfolger zu
ernennen.
-
al-Ḥusain b. ʿAlī vertritt den „prophetischen nasab“ und im Grunde ebenfalls ein
dynastisches Prinzip: Das Kalifat gehört in die Familie des Propheten.
-
ʿAbdallāh b. az-Zubair das alte sābiqa-Prinzip nicht-dynastischen Zuschnitts.
Unklar war, durch wen die Einheitlichkeit der umma („ǧamāʿa-Prinzip“) am ehesten
gewährleistet sein würde. Yazīd hatte die syrische Hausmacht hinter sich, die er auch
sogleich einsetzte. al-Ḥusain wollte (nach einigem Zögern) nach Kūfa im südlichen Irak
gehen, wo er seine Basis vermutete; dorthin ist er nicht gelangt, sondern vorher in der
Gegend von Kerbela erschlagen worden (dazu später im Teil über die frühe Schia). Die
Aktion Yazīds richtete sich dann gegen die Zentren der Arabischen Halbinsel, wo ʿAbdallāh
stark war, dabei wurde erst Medina eingenommen (und recht rau behandelt), dann Mekka
beschossen (nach einigen Berichten auch die Kaʿba) – aber dann starb Yazīd, und auch sein
Sohn (Muʿāwiya b. Yazīd, manchmal Muʿāwiya II., obwohl diese Ordnungsnamen erst sehr
viel später in islamischen Dynastien aufkommen, und dann unter europäischem Einfluss),
den Yazīd noch eingesetzt hatte, starb bald darauf. Der erste Teil der Herrschaft der Banū
Umaiya – man nennt diesen Abschnitt auch die Sufyāniden – ist damit zu Ende. Der zweite
Bürgerkrieg, die zweite fitna, ist damit aber nicht zu Ende. Man hätte nun auch denken
können, das Kalifat werde nunmehr ʿAbdallāh b. az-Zubair zufallen, dem war aber nicht so:
Zu viele Leute, vor allem in Syrien, wollten einen Mann aus der Sippe Umaiya, sie einigten
sich auf Marwān b. al-Ḥakam als Kandidaten. Nach ihm heißt der zweite Teil der
dynastischen Herrscher aus dem Clan Umaiya auch die Marwāniden.
Auch wenn ʿAbdallāh b. az-Zubair über mehrere Jahre in weiten Teilen des arabischislamischen Herrschaftsgebiets anerkannt wurde, zum Schluss allerdings nur noch im Ḥiǧāz,
ist er am Ende doch unterlegen. Er hatte wohl auch die Vorstellung von einem eher diffusen
Staat, es war ihm genug, wenn man ihm huldigte; offenbar hat er nicht versucht, eine mehr
oder weniger durchgreifende Kontrolle über die Provinzen zu etablieren. Im zweiten
Bürgerkrieg hat der Sohn Marwāns, ʿAbd al-Malik b. Marwān, den Sieg davon getragen.
1.3
Arabischer Tribalismus: Qais gegen Yaman
4
Nicht alle syrischen Araber unterstützten Marwān von Anfang an. Die Unterstützung
beschränkte sich zunächst auf eine tribale Fraktion, die man die Yamanīya nennt. Die andere
Fraktion, bekannt als Qaisīya, hielt sich abseits. Die Unterschiede werden genealogisch
formuliert, ob aber von vornherein allen Beteiligten klar war, welche Gruppen zu welcher
Fraktion gehören, darf bezweifelt werden. Unterschiede sind auch geographisch: Die QaisīGruppen sind weiter nördlich, an der byzantinischen Grenze, anzutreffen, Yaman-Gruppen
eher weiter südlich. (Man muss auch daran erinnern, dass die Bevölkerung der Städte und
auch des Ackerlandes damals noch massiv christlich bzw. jüdisch war und in die
Auseinandersetzungen nicht wirklich einbezogen.) Es gibt auch einen sozialen Unterschied:
die Qaisī-Gruppen sind eher die neu Hinzugekommenen, meistens unter dem Kalifat
ʿUṯmāns und der Statthalterschaft Muʿāwiyas. Die Yaman-Gruppen dagegen sind alt
eingesessen (vorislamisch), sind auch recht lange Christen gewesen, manche hatten auf der
Seite der Byzantiner gegen die Muslime gekämpft.
Die Yaman, und besonders die Führer der Kalb, hatten ihr Schicksal mit dem Clan Umaiya
eng verknüpft. Ein Kandidat aus einer anderen Familie kam daher für sie nicht in Frage.
Weiter waren solche Männer, deren Karrieren nur durch die Förderung durch Muʿāwiya und
seine Familie möglich gewesen waren, unbedingt für einen Mann von den Banū Umaiya.
Hier ist besonders der Gouverneur von Baṣra (und damit einer Hälfte der Ostprovinzen) zu
nennen, ʿUbaidallāh b. Ziyād, dessen Vater, Ziyād b. Abīhi, vielleicht ein illegitimer Sohn
Muʿāwiyas war, und der daher unter ʿAbdallāh gewiss sein Amt verloren hätte, auch wenn er
noch so tüchtig war (und tüchtig war er). ʿUbaidallāh war offenbar derjenige, der Marwān
überhaupt erst ins Geschäft brachte: Marwān war schon alt, aber er hatte keine militärische
und keine bedeutende politische Erfahrung.
Die Qais hätten sich auch mit ʿAbdallāh arrangieren können. Sie waren auf der Versammlung
der syrischen Kämpfer, auf denen Marwān als Kalif ausgerufen wurde, nicht anwesend; sie
erkannten die Entscheidung auch nicht an. Eine der ersten Schlachten im zweiten
Bürgerkrieg ist daher diejenige zwischen Qais und Yaman (bei Marǧ Rāhiṭ, 684), dort wurden
die Qaisīya blutig geschlagen, und seither ist der Yaman-Qais-Konflikt auch ein BlutracheKonflikt.
1.4
Staatsreformen: ʿAbd al-Malik b. Marwān (685-705)
Mit ʿAbd al-Malik siegt im zweiten Bürgerkrieg auch das Prinzip des Zentralstaates. Daher
wird ʿAbd al-Malik auch nicht so sehr als Sieger im Bürgerkrieg erinnert, sondern eher als
einer der Begründer des arabisch-islamischen Staates. Er hat durch seine Staatsreformen
die weitere Entwicklung nachhaltig geprägt. An folgende Maßnahmen denkt man im
Zusammenhang mit ihm:
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-
Er
hat
die
Verwaltung
arabisiert
und
islamisiert.
Vorher
war
die
Verwaltungssprache in den byzantinisch gewesenen Regionen Griechisch, in den
sasanidisch gewesenen Regionen Mittelpersisch (Pahlawi). Aramäisch spielte
auch eine Rolle. Seit dem Kalifat ʿAbd al-Maliks werden alle Urkunden in allen
Teilen des Kalifats nur noch auf Arabisch ausgestellt. Dass dies wirklich so war,
kann man an den ägyptischen Papyri nachvollziehen.
-
Er hat das Münzwesen vereinheitlicht (und ebenfalls arabisiert und islamisiert).
Ebenso
wie
vorislamische
bei
der
Formen
Verwaltungssprache
geblieben.
waren
Byzantinische
auch
Münzen
im
Münzwesen
hatten
einen
Goldstandard, iranische beruhten auf Silber. Sasanidische Münzen zeigten
außerdem auf der einen Seite den jeweiligen Großkönig, auf der anderen
zoroastrische Symbole, etwa Priester an einem (Feuer-) Altar. Alle späteren
arabisch-islamischen Münzen haben keine Bilder mehr, sondern nur noch Schrift
und ggf. Ornament; der Herrschername wird genannt, der Prägeort, und es gibt
religiöse Formen, wie z.B. die šahāda.
-
Vor allem die Arabisierung und Islamisierung der Verwaltung führte zur
Herausbildung einer arabisch-islamischen Sekretärskaste, nicht sofort, aber in
wenigen Generationen. Das Verwaltungsgeschäft war voller Geheimnisse, die
vom Vater auf den Sohn vererbt wurden (und die man möglichst niemandem
sonst verriet). Zwar blieben die Verwaltungsfachleute auch nach ʿAbd al-Malik
noch längere Zeit Nicht-Muslime, aber der Anteil von Muslimen nahm nun doch
zu, und zwar sowohl durch Übertritt als auch durch neu in die Verwaltung
aufgenommene Muslime. Das Selbstbewusstsein vor allem der Konvertiten
reichte dabei aus, mit der neuen Religion nicht einen Neuanfang zu verbinden:
Sie blieben bei vielen ihrer Traditionen (und brachten auch viel von dem, was
ihnen als Bildungsgut teuer war, in den Islam ein). Dieser Prozess reicht aber bis
weit in die ʿAbbāsiden-Zeit hinein, er geht über mehrere Generationen.
1.5
Relative Stabilität: Islamisierung
Die weitere Herrschaftszeit der Banū Umaiya sieht dann zu Anfang des 8. Jahrhunderts die
„zweite Eroberungswelle“, darauf ist schon eingegangen worden. Weiter nimmt die
Entwicklung der Schia in dieser Zeit wichtige Schritte, darauf wird noch eingegangen
werden. Die Grenzen – zumindest diejenigen nach Byzanz – stabilisieren sich, die Kämpfe
an dieser Grenze nehmen einen fast rituellen Charakter an. Intern gehen die
Auseinandersetzungen zwischen Qais und Yaman weiter, bleiben aber solange unter
Kontrolle, wie die Kalifen nicht eindeutig die eine bzw. die andere Fraktion bevorzugen, das
war erst gegen Ende der Banū Umaiya der Fall und sicher ein Grund für ihren Untergang.
6
Hier soll nun der Beginn der Ausbreitung des Islam unter der Bevölkerung der eroberten
Regionen thematisiert werden. Etwa zur Zeit ʿAbd al-Maliks – als allen klar wurde, dass die
islamische Herrschaft keine Episode bleiben würde – setzten, regional sehr unterschiedlich,
massenhafte Übertritte zum Islam ein. Die neuen Muslime sind unter dem Begriff mawālī
bekannt, darunter versteht man Muslime nicht-arabischer Herkunft. Mit dem Übertritt zum
Islam war in der ersten Zeit auch die Aufnahme (als Klient) in einen arabischen Stamm
verbunden. Das aus altarabischer Zeit stammende Institut walāʾ war ursprünglich für die
bleibende Bindung von Freigelassenen (ehemaligen Sklaven) an ihren Herrn gedacht
gewesen, es bezog sich darüber hinaus auf Personen, die aus einer Position der Schwäche
heraus Aufnahme in einen Stammesverband suchten.
Die ersten mawālī im Islam sind mit einiger Sicherheit Kriegsgefangene gewesen, die durch
den Übertritt ihre Lage zu verbessern suchten (und dann als Klienten ihrer Herren in die
umma integriert werden konnten). Ein anderer Weg der Islamisierung ist sicher die
Übersiedlung in die Garnisons-Städte amṣār gewesen. Diese verloren zwar nie ihren
arabischen Charakter, zogen aber doch sehr rasch große Mengen von Menschen an, die
dort ein Auskommen suchten; das Bevölkerungswachstum dieser Städte ist anders nicht zu
erklären. Wir treffen die mawālī nicht zuletzt in Kūfa, wo sie eine wichtige Basis der „Partei
ʿAlīs“ waren.
Eine islamische Mission hat es in dieser Zeit jedenfalls systematisch nicht gegeben, auf
keinen Fall mit einem wie auch immer gearteten zentralen Auftrag. Die Herrschenden – die
Kalifen und die wichtigsten Vertreter der sich herausbildenden islamischen Staatlichkeit –
hatten kein Interesse daran, dass Juden, Christen und Zoroastrier massenhaft zum Islam
übertraten. Das hängt einmal mit den steuerrechtlichen Regelungen zusammen. Neben der
Kopfsteuer für Nicht-Muslime (der ǧizya), die sehr unterschiedlich zu Buch geschlagen
haben kann, war auch die Bodensteuer bzw. Erntesteuer ḫarāǧ zunächst nur von NichtMuslimen zu entrichten (bis man auf die Idee verfiel, bei Übertritt des Steuerpflichtigen wohl
ihm die Kopfsteuer, nicht aber dem Boden den ḫarāǧ zu erlassen).
In diesen steuerrechtlichen Regelungen sind Konflikte mit den mawālī programmiert. Die
Neu-Muslime, nicht alle von ihnen einfach Bauern, Handwerker oder Tagelöhner, verlangten,
mit den arabischen Muslimen gleichgestellt zu werden, wobei sie – mit einigem Recht – auf
den Universalismus und Egalitarismus des Islam verwiesen. Vor Gott sollen alle Muslime
gleich sein – warum gibt es dann solche Unterschiede?
Ein weiterer Konfliktpunkt betrifft den dīwān, die Heeresliste-Soldrolle. Neumuslime
verlangten, in den Genuss der entsprechenden Zahlungen zu kommen, sobald sie sich an
militärischen Aktionen beteiligten. Eine Reihe der Erfolge in der „zweiten Eroberungswelle“
sind maßgeblich durch Nicht-Araber errungen worden: Berber in Spanien, Iraner in
Mittelasien und Indien. Manchen Gruppen waren offenbar vor Beginn der Kriegszüge
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Hoffnungen auf entsprechende Vergütungen gemacht worden, die dann nicht eingehalten
wurden (oder nicht eingehalten werden konnten).
Zur materiellen Diskriminierung der mawālī tritt ein juristisch minderer Status und überhaupt
ein geringeres Ansehen. Mawālī sind Muslime zweiter oder sogar dritter Klasse. Dabei spielt
das sābiqa-Prinzip eine Rolle: Die Verdienste der Araber um den Islam sind nun einmal älter.
Auch sprachliche Dinge kommen zur Geltung: Der Koran ist nun einmal auf Arabisch
offenbart worden. Aber bald gab es nicht-arabische Muslime, die im militärischen Bereich
oder auch im Bereich der sich herausbildenden islamischen Wissenschaften, einschließlich
Koranrezitation, auf ebenso große oder größere Verdienste verweisen konnten wie viele
Araber. Da kam dann heraus, dass für die Diskriminierung der mawālī
genealogische
Argumente, Stammesstolz, verantwortlich sind, nasab-Denken. Kein mawlā konnte je eine
arabische Genealogie erwerben. In dieser Situation half nur die vollständige Ablehnung
dieses Denkens: Der Islam mit seiner ursprünglich egalitären Ausrichtung bot hier eine gute
Grundlage.
2
Der ʿabbāsidische Umsturz
2.1
Wer sind die Banū l-ʿAbbās? Die Hāšimīya
Die Banū l-ʿAbbās – einfacher: die ʿAbbāsiden – sind die Nachfahren eines Onkels des
Propheten, al-ʿAbbās b. ʿAbd al-Muṭṭalib b. Hāšim. Das Legitimationsprinzip für die Kalifen,
welches nun eingeführt wird, nimmt eine Zwischenstellung ein zwischen der allgemein
verbreiteten Vorstellung, der Kalif sollte aus dem Stamm Quraiš kommen, und der
schiitischen Forderung, nur die engsten Verwandten des Propheten seien zur Herrschaft
befähigt. Nunmehr wird die „Familie des Propheten“ in einem weiteren Sinn definiert, sie
umfasst nun alle Nachfahren des ʿAbd al-Muṭṭalib b. Hāšim, also eher einen Clan als eine
Familie. Dass die heute in Jordanien regierende Dynastie auch als „haschemitisch“
bezeichnet wird, hängt genau damit zusammen.
Eine weitere Erklärung für die Bezeichnung „Hāšimīya“ für die entsprechende Bewegung
stelle ich bei der Behandlung der frühen Schia vor.
2.2
Schwarze Fahnen aus dem Osten – Abū Muslim
Von etwa 740 an wurde das „Arabische Reich“ – das Kalifat der Banū Umaiya wird
gelegentlich so genannt – von einer Reihe von Aufstandsbewegungen erschüttert, von denen
viele eine schiitische Ausrichtung hatten. Die Anführer kamen aus unterschiedlichen Zweigen
der prophetischen Verwandtschaft, einige waren keine Abkommen des Propheten, einige
nicht einmal Abkommen ʿAlīs; der Kreis der in Frage kommenden Personen erweitert sich mit
der Zeit und deckt sich am Ende ziemlich gut mit den eben für die Hāšimīya angegebenen
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genealogischen Kriterien. Einige dieser Aufstände umfassten mehrere Provinzen und
brachten über Jahre dauernde Herrschaften hervor. Oft lagen die Zentren in den
Garnisonsstädten des südlichen Irak, al-Kūfa und Baṣra, manchmal wurden mehr oder
weniger große Teile Irans einbezogen. Für alle Aufstände ist eine hohe Beteiligung von
mawālī charakteristisch. Die Gründe waren immer die gleichen:
-
Die Banū Umaiya sind grundsätzlich für die Herrschaft ungeeignet (nicht
legitimiert).
-
Die islamische Herrschaft kann nicht allein auf Araber gestützt sein (mawālīArgument).
-
Die
Herrschaft
kann
nicht
allein
von
Damaskus
ausgeübt
werden
(regionalistisches Argument). Das bezieht sich auch auf die Verwendung der
Steuermittel durch die Zentrale.
Anders als die vorhergehenden schiitischen Aufstände war die ʿabbāsidische Bewegung
erfolgreich. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen:
-
Die ʿabbāsidische Bewegung war wesentlich besser organisiert: Sie beachtete
Grundregeln der Konspiration; sie hatte einen durchgearbeiteten PropagandaApparat mit Sendboten in diversen Provinzen. Ihr Zentrum befand sich in der
Kleinstadt Humaima (im heutigen Jordanien), also nicht in einem der Brennpunkte
der eigenen Propaganda.
-
Sie ließ sich nicht von vornherein auf einen bestimmten Prätendenten festlegen
(jede Person hätte sogleich auch Gegner gehabt). Ihre Parole lautete vielmehr:
Kalif soll sein, wer aus der Familie des Propheten die Zustimmung (Gottes) hat,
arab. ar-riḍā min āl Muḥammad. Das ermöglichte es auch Schiiten, sich der
Bewegung anzuschließen.
-
Sie
bewies
großes
Geschick
bei
der
Auswahl
ihres
hauptsächlichen
Wirkungsfeldes. Nicht Kūfa oder Baṣra, die schiitischen Zentren im südlichen Irak,
sollten der Ausgangspunkt sein, sondern die nordost-iranische Provinz Ḫurāsān.
Diese Provinz war nicht auf eine Partei festgelegt, und sie war die einzige außer
Syrien und dem Irak, die über ein ausreichendes militärisches Potenzial verfügte,
mit dem sich der Umsturz würde bewerkstelligen lassen.
In dieser Provinz Ḫurāsān also festigten die ʿabbāsidischen Sendboten ihre Basis. Das nahm
mehrere Jahre in Anspruch. Erst als die daʿwa, der „Ruf“, ausreichend verbreitet war, erhielt
ihr Chef, der mawlā Abū Muslim, die Anordnung, offen aufzutreten. Im Jahr 747 entrollte er in
der Nähe von Marw (heute Marı in Turkmenistan) die schwarzen Fahnen; die Farbe Schwarz
blieb in den folgenden Jahrhunderten das Abzeichen der Dynastie und ihrer Anhänger.
2.3
Der Sieg der ʿAbbāsiden und der Untergang der Banū Umaiya
9
Abū Muslim verstand es in den folgenden Monaten, die in Ḫurāsān besonders heftig
tobenden tribalen Auseinandersetzungen zwischen Qais und Yaman zu seinen Gunsten
auszunutzen. Mit Hilfe der gerade unterlegenen Fraktion, nämlich den Yaman, schlug er den
Gouverneur der Provinz, Naṣr b. Saiyār; dann wandte er sich gegen seine Bundesgenossen
und schlug auch sie. Den aus Ḫurāsān nunmehr nach Westen vordringenden ʿabbāsidischen
Truppen gelang es, die ihnen entgegen gesandten Heere der Banū Umaiya zu besiegen,
zuletzt in einer Entscheidungsschlacht am Großen Zāb (das ist bereits in Mesopotamien, in
der Nähe von Mossul). Der letzte umaiyadische Kalif wurde verfolgt, in Ägypten gefasst und
getötet. Danach wurde nach den noch lebenden Familienangehörigen und wichtigen
Gefolgsleuten gefahndet; die Familie wurde physisch ausgerottet mit Ausnahme des ʿAbd arRaḥmān b. Muʿāwiya, der nach Spanien entkam und später als Begründer der Umaiyaden in
Spanien in Erscheinung tritt – Spanien ist die einzige Region, in der die ʿAbbāsiden sich nie
haben festsetzen können; sie haben es auch nie versucht. Mit der Loslösung Spaniens aus
dem Gesamtverband des Kalifats endet nunmehr auch die Vorstellung von der umma als
einem einheitlichen Staat.
Während dieser Kämpfe wussten die meisten Kämpfer und auch manche Heerführer der
Ḫurāsānīs nicht, welcher Mann in Falle des Erfolgs eigentlich Kalif werden sollte. Der
ʿabbāsidische Imam war zu dieser Zeit Ibrāhīm b. Muḥammad, der aber 748 von den
Umaiyaden hingerichtet wurde. An seine Stelle trat Abū l-ʿAbbās, später „as-Saffāḥ“, „der
Schlächter“, genannt; er hatte aber zunächst keine eingeübten Verbindungen nach Ḫurāsān.
Aus der ʿabbāsidischen Familie selbst war niemand an den Kämpfen, dem Zug nach
Westen, beteiligt; sie blieben in ihrem Stammsitz in Jordanien und warteten ab. Außer ihnen
wären durchaus auch andere Prätendenten in Frage gekommen, vor allem natürlich solche,
die auch für „echte“ Schiiten akzeptabel gewesen wäre. So soll dem damaligen Oberhaupt
der Nachkommen ʿAlī b. Abī Ṭālibs, dem späteren 6. Imam der Zwölferschia Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq,
das Kalifat angeboten worden sein, als die ʿabbāsidischen Truppen Kūfa erreichten – er soll
abgelehnt haben; eine weise Entscheidung, weil Abū Muslim nicht gewillt war, jemanden
anders als seinen eigenen Kandidaten zum Zug kommen zu lassen. Gehuldigt wurde dann
dem bereits genannten Abū l-ʿAbbās as-Saffāḥ, im Hintergrund aber zog bereits Abū Ǧaʿfar
al-Manṣūr, der zweite ʿabbāsidische Kalif, die Fäden, und im Vordergrund agierte Abū
Muslim, der Held der ʿabbāsidischen Kämpfer.
2.4
Gründe für den Sieg der ʿAbbāsiden, Auswirkungen
Der Umsturz ist nicht einfach ein Putsch; manche Autoren benutzen den Ausdruck
„Revolution“, das ist vielleicht zu stark. Am besten ist vielleicht die Selbstauskunft der
Beteiligten, es habe sich um eine daula gehandelt, einen Wechsel, eine Wende; später ist
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dies Wort zur Bezeichnung für „Dynastie“ und auch „Staat“ geworden. Der Umsturz hat eine
Reihe von Folgen:
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Der Schwerpunkt des Kalifats verlagert sich nach Osten, was später in der Wahl
der neuen Hauptstadt zu Tage tritt. Syrien war sehr stark mit den Banū Umaiya
identifiziert und kam als Zentrum der neuen Macht daher nicht in Frage. Ḫurāsān
selbst wurde zu Anfang als zu peripher empfunden. Der Irak war wirtschaftlich
eines der wesentlichen Zentren des Kalifats, gleichzeitig hatte sich eine der
sasanidischen Hauptstädte dort befunden.
-
Gleichzeitig bekommen Menschen aus dem Osten, oft solche iranischer
Abstammung, ein größeres Gewicht. Das Hofzeremoniell beginnt sich iranischen
Vorstellungen
anzugleichen.
Eine
der
wichtigsten
Wesir-Familien,
die
Barmakiden, kommen aus dem östlichen Iran, genauer aus Balḫ (heute in der
Nähe von Mazār-i Šarīf in Afghanistan); sie hatten einen buddhistischen
Hintergrund und waren noch nicht lange Muslime, als ein erster Vertreter zum
Wesir wurde. Das wäre unter den Banū Umaiya nicht vorstellbar gewesen.
-
Die erste Zeit der ʿabbāsidischen Herrschaft ist von Endzeiterwartungen geprägt.
Das kann man an vielen einschlägigen Bewegungen erkennen, aber auch an den
Herrschernamen der ersten Kalifen dieser Dynastie. Die Dynastie war durch eine
sehr stark religiös geprägte Bewegung an die Macht gekommen, das blieb nicht
ohne Folgen.
-
Die ʿAbbāsiden haben versucht, aus dem tribalen Stil der kalifalen Politik
herauszukommen. Sie strebten den Übergang zu einer universalen Politik an,
auch aus dem religiösen Motiv heraus, dem Universalismus und Egalitarismus
des Islam (wieder) Rechnung zu tragen. Die schon vorher erkennbaren
Tendenzen zur Herausbildung einer islamischen Weltkultur (auf der Basis der
arabisch-islamischen Kultur, aber mit vielen weiteren Elementen) sind nun der
Haupttrend. Es macht von nun an kaum noch Sinn, von mawālī zu sprechen, und
die Koppelung des Übertritts zum Islam an ein walāʾ-Verhältnis zu einem
arabischen Stamm kommt außer Übung. Für wirklich bedeutende Menschen gibt
es einen Rest davon: Sie erklären sich bei Übertritt zum Islam gern als mawlā
amīr al-muʾminīn, „Klient des Beherrschers der Gläubigen“, aber das bedeutete
nun, dass sie nur den Kalifen, und zunehmend nur noch formal, über sich
anerkannten (und nicht etwa den arabisch-islamischen Heerführer, den sie vor
sich hatten).
Die ʿAbbāsiden konnten viele Gruppen für ihre Bewegung gewinnen, und dadurch
gewannen sie die Oberhand.
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-
Unzufriedene Gruppen in Ḫurāsān bildeten die erste Machtbasis. Mawālī waren
zahlreich, aber die Bewegung kann nicht, wie manche Autoren es versucht
haben, als ein iranischer Gegenschlag gegen die Vorherrschaft der Araber
verstanden werden. Unter den Führern der Bewegung in Ḫurāsān waren viele
Araber, Abū Muslim war in einer Zwölfer-Gruppe der einzige mawlā. Allerdings
hatten viele Araber in Ḫurāsān sich bereits mit der ansässigen Bevölkerung
vermischt, besonders am oberen Ende der sozialen Leiter: Edle und
einflussreiche Araber heirateten in alte Grundbesitzer-Familien. Die tribalen
Auseinandersetzungen, die mit zum Untergang der Banū Umaiya geführt hatten,
waren für diese Leute kein Thema mehr: Sie identifizierten sich lokal, nicht tribal,
und führten den Namen des Herkunftsortes, nicht den des Stammes, aus dem sie
kamen (arab. nisba: z.B. al-Marwazī „der aus Marw“, andererseits: al-Ḫuzāʿī, „vom
Stamm Ḫuzāʿa“ oder: „Klient der Ḫuzāʿa“).
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Die mawālī waren vor allem in Ḫurāsān unzufrieden, weil sie trotz erheblicher
Anstrengungen bei der Eroberung Mittelasiens nicht in die Heeresliste-Soldrolle
aufgenommen wurden. Schon vor der ʿabbāsidischen Bewegung hatte es
entsprechende Proteste und Aufstände gegeben.
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Unzufrieden waren auch viele Araber, die mit der eindeutig auf Qais
ausgerichteten Politik des letzten Gouverneurs in Ḫurāsān nichts anfangen
konnten.
Weiter vertraten die ʿAbbāsiden eine andere Militärstruktur. Gegen die im Wesentlichen
autonom handelnden Verbände der arabisch-islamischen Eroberungszeit – die tribalen
Traditionen waren da sehr sichtbar – setzten sie eine viel weiter zentralisierte Armee. Die
Soldaten wurden auf Gehorsam gegen ihre Vorgesetzten verpflichtet, sie mussten
entsprechende Eide leisten, die offenbar auch befolgt worden sind; die ʿabbāsidische
Armee hat Zeitgenossen wegen ihrer hohen Disziplin beeindruckt. Soziale Träger dieser
Armee waren die iranisch-arabischen Grundbesitzer der Provinz, die dahāqīn (Sg.
dihqān). Diese Armee war gegen die in ihren intra-tribalen Auseinandersetzungen
befangene Armee der Banū Umaiya siegreich.
Natürlich ist auch die bereits öfter angemerkte Schwäche der Banū Umaiya ein Grund für
den Sieg ihrer Gegner. Diese Schwäche hatte sich schon vorher an vielen Stellen
gezeigt, nicht zuletzt bei der nur noch mühsamen Niederschlagung immer neuer
schiitischer und anderer Aufstände.
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Die ersten ʿAbbāsiden
3.1 Abū Ǧaʿfar al-Manṣūr (754-775)
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Der starke Mann hinter dem ersten Kalifen wurde dann selber Kalif, Abū Ǧaʿfar al-Manṣūr
(754-775). Er ist der Architekt der ʿabbāsidischen Herrschaft. Gleichzeitig muss aber
auch gesagt werden, dass in der ersten Generation ungewöhnlich viele fähige Männer in
dieser Familie vorhanden waren, die dann in wichtigen Positionen tätig wurden (in der
Regel als Provinzgouverneure).
al-Manṣūr hatte sich mit schiitischen Bestrebungen auseinander zu setzen (wieder
Aufstände, diesmal in Medina). Es gelang den ʿAbbāsiden nicht, die Schiiten davon zu
überzeugen, dass sie ebenso legitim zur engsten Familie des Propheten gehörten wie
die Nachkommen ʿAlīs.
al-Manṣūr hatte sich gleichfalls mit dem starken Mann im Osten, Abū Muslim,
auseinander zu setzen: Er war zu mächtig und zu eigenständig geworden, es scharten
sich auch religiös motivierte Anhänger um ihn – al-Manṣūr hat Abū Muslim aus Ḫurāsān
nach Westen gelockt und ihn mehr oder weniger heimtückisch ermorden lassen.
al-Manṣūr baute die Zentralverwaltung weiter aus, nach den von ʿAbd al-Malik
entwickelten
Mustern;
diese
entfernte
sich
noch
weiter
von
arabisch-tribalen
Gepflogenheiten. Es gibt eine neue Form von Hofhaltung; der Kalif ist keineswegs mehr –
wie noch manch ein Kalif der Banū Umaiya – für Stammesführer zu sprechen. Die
Abschirmung der Herrscher gegenüber der Gesellschaft beginnt.
Und al-Manṣūr schaffte es, die aufgebrachten Gemüter wieder zu beruhigen.
3.2 Eine neue Hauptstadt: Die „Runde Stadt“ Baġdād
Aber in Erinnerung bleibt al-Manṣūr, weil er die Stadt Baġdād gegründet hat, 768. An der
Gründung der Stadt kann man viele Dinge gut ablesen, die den Wechsel von den Banū
Umaiya zu den ʿAbbāsiden ausmachen.
Die Überlieferung berichtet, dass die ersten ʿAbbāsiden auf der Suche nach einem neuen
Zentrum waren und verschiedene Orte in Erwägung zogen. Am Ende – und nicht sofort,
sondern nach mehreren Jahren – fiel die Wahl auf den Platz, an dem heute Baġdād
steht.
Baġdād wurde in unmittelbarer Nähe der früheren sasanidischen Königsstädte
Seleukia/Ktesiphon
gegründet.
Sie
liegt
inmitten
des
fruchtbaren
irakischen
Bewässerungsgebietes, des Sawād, und zwar besonders dicht am Nahrawān-Kanal und
den vom Diyāla, einem Nebenfluss des Tigris, aus bewässerten Gebieten. Sie kann aber
im Bedarfsfall auch über den Tigris bzw. den Euphrat und den Tigris zusätzlich mit
Gütern versorgt werden (etwa Brennholz oder Getreide). Über den Euphrat geht das
auch, weil große schiffbare Kanäle von dort in den Tigris führen. Die Stadt ist ferner für
wichtige Handelsrouten zentral, unter anderem ist sie nahe am irakischen Endpunkt des
sog. Ḫurāsān-Highway gelegen, der von Baġdād aus über das Gebirge nach Hamadān,
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dann weiter nördlich an Qum vorbei und zwischen dem Küstengebirge und der Wüste
entlang nach Ḫurāsān führt. Diese Route war eine der Lebensadern des Kalifats nicht nur
in den ersten hundert Jahren der ʿabbāsidischen Herrschaft, sondern noch lange danach.
Die Stadt kann auch für Seehandel interessant werden, die Hafenstadt für den Handel
über den Indischen Ozean ist natürlich Baṣra, aber von dort ist es für den
Karawanenhandel nicht weit. Der Tigris selbst kann stromauf nicht gut befahren werden,
er hat eine starke Strömung und der Wind müsste aus Süden kommen, das ist nur selten
der Fall.
Der Erfolg der Stadtgründung – und dass die Gründung ökonomisch sinnvoll war – zeigt
sich daran, dass die Stadt auch später, als die Macht der ʿAbbāsiden längst zerbrochen
war, ein wichtiges Zentrum blieb, sie ist ja bis heute die Metropole dieser Region.
al-Manṣūr gründete eine „Runde Stadt“. Nach Vorbildern ist viel gesucht bzw. gerätselt
worden. Die beste Annahme scheint zu sein, dass es sich um iranische Vorbilder handelt
(wenn überhaupt Vorbilder angenommen werden müssen), und dass – wie der weitere
Grundriss zeigt – der Kreis als Symbol des Erdkreises gewählt wurde. In der Mitte ließ
der Kalif nämlich ein kombiniertes Moschee-Palast-Ensemble errichten, das von einer
grünen Kuppel gekrönt wurde – deutlich ein Hinweis auf das Himmelsgewölbe. Vier
Straßen führten von vier Toren darauf zu, für jede Weltecke eine. So ist schon im
Grundriss der Stadt der Anspruch auf die von Gott verliehene Weltherrschaft dargestellt.
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