Thesenpapier Lyrik des Barock

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Thesenpapier Lyrik des Barock
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Neue Kantonsschule Aarau | N. Ruh | 02.09.14 Thesenpapier Lyrik des Barock Autor: Nicolas Ruh Hintergründe Die literaturgeschichtliche Epoche des Barock (ca. 1600 – 1725) ist geprägt von leidvollen zeitge-­‐
schichtlichen Ereignissen. Glaubensspaltung und hegemoniale Interessen verschiedener Machtha-­‐
ber führten zu langjährigen Kriegen, Seuchen und Hungersnöten, denen insgesamt geschätzte 30% der mitteleuropäischen Bevölkerung zum Opfer fielen. Dies äussert sich u.a. darin, dass die – erstmals in deutscher Sprache verfassten – literarischen Texte jener Zeit fast ausnahmslos die Ver-­‐
gänglichkeit des Lebens („Vanitas mundi“) thematisieren, bzw. die beiden antithetischen Reaktio-­‐
nen darauf: Des Todes gedenken („Memento mori“) oder das Leben geniessen („Carpe diem“). Die Literatur des Barock folgt zumeist strengen formalen Vorgaben, wie sie bspw. im einflussrei-­‐
chen „Buch von der deutschen Poeterey“ (1624) von Martin Opitz niedergelegt wurden. Diese Formstrenge entsprach dem barocken Verständnis des Künstlers als Handwerker, dessen Leis-­‐
tung in der kunstvollen Variation tradierter Muster bestand. Die vorherrschende Gattung des Barock war die Lyrik, innerhalb derer wiederum der Gedichtform des Sonett besonders verbreitet war. Von epochenübergreifender Bedeutung sind beispielsweise die Sonette von Andreas Gryphius (1616-­‐1664), Paul Fleming (1609-­‐1640) oder Christian Hoff-­‐
mann von Hoffmannswaldau (1616-­‐1679). Sonett Ein Sonett besteht aus 14 metrisch gegliederten Verszeilen, die sich in zwei Quartette und in zwei Terzette unterteilen. Das Reimschema ist regelmässig, meist abba – abba – cdc – dcd oder abba – cddc – eef – ggf. Das typische Metrum des Sonetts ist der Alexandriner, also ein sechshebiges Vers-­‐
mass mit einer Zäsur in der Mitte. Der übliche Aufbau des Sonetts ist die Gliederung in zwei Teile. In den Quartetten wird ein Gedanke – oft in antithetischer Gegenüberstellung – vorgetragen, der sich in den Terzetten zu einer allge-­‐
mein gültigen Aussage verdichtet. Die Leistung des barocken Dichters liegt in der kunstvollen Ausgestaltung dieser normativen Form durch passende Wortwahl, rhetorische Stilmittel, Symbole, Metaphern... Der barocke Leser erfreut sich an der Entzifferung dieser Chiffren, nicht an inhaltlichen oder formalen (neu-­‐) Kreationen. Thränen des Vaterlandes (A. Gryphius, 1636) Wir sind doch nunmehr gantz, ja mehr denn gantz verheeret!
Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun
Das vom Blutt fette Schwerdt, die donnernde Carthaun
Hat aller Schweiß und Fleiß und Vorrath auffgezehret.
Die Türme stehn in Glutt, die Kirch ist umgekehret.
Das Rathhauß ligt im Grauß, die Starcken sind zerhaun,
Die Jungfern sind geschänd’t, und wo wir hin nur schaun,
Ist Feuer, Pest, und Tod, der Hertz und Geist durchfähret.
Hir durch die Schantz und Stadt rinnt allzeit frisches Blutt.
Dreymal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flutt,
Von Leichen fast verstopfft, sich langsam fort gedrungen,
Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest und Glutt und Hungersnoth,
Dass auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen.
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Neue Kantonsschule Aarau | N. Ruh | 02.09.14 Form •
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Gedichtform: Sonett Metrum: jambischer Alexandriner, Bruch in Vers 3 („Das vom Blutt fette Schwerdt“) Reimschema: ABBA ABBA CCD EED, überwiegend männliche Kadenzen Personifikationen: Vaterland, Schwert Symbole: Für Krieg (Schwertdt, Kartaun), für Teile der Gesellschaft (Kirch, Rathhaus) Auffällig viele Hyperbeln, oft klimaktisch Lyrisches Ich erst am Schluss persönlich, vorher beobachtendes „wir“ Inhalt Ein lyrisches „wir“ berichtet in den Quartetten von den Verheerungen des Krieges mit ihren physi-­‐
schen und psychischen Folgen. Im ersten Terzett wird die lange Dauer des Kriegszustandes betont, das Rinnen des Blutes steht in assoziativer Verbindung mit den Tränen im Titel und dem (ver-­‐) Rinnen der Lebenszeit. Das zweite Terzett schliesst das Gedicht mit der persönlichen Folgerung eines lyrischen „ich“, dass alles bisher beschriebene noch weniger schlimm sei als der damit einher-­‐
gehende Verlust des Seelenheils -­‐ und damit der Aussicht auf ein erfreuliches Jenseits. Thesen a) Das barocke Leitmotiv der Vergänglichkeit durchdringt auch dieses Sonett, inhaltlich wie formal. Die ebenfalls typische Antithetik ist weniger ausgeprägt, aber vorhanden b) Die emotionale Wirkung des Gedichts wird betont durch den Kontrast zwischen der forma-­‐
len Strenge des Gedichts und den chaotischen Zuständen, die es beschreibt. c) Aufbau und viele Stilmittel (Klimax, Hyperbel) des Gedichts zielen auf eine konsequente Übersteigerung der Schrecken des Krieges, auch um die abschliessende Folgerung besser zur Geltung zu bringen. d) Der Wandel vom lyrischen „wir“ zum „ich“, von einer beschreibenden zu einer kommentie-­‐
renden Instanz, betont sowohl die abschliessende Aussage als auch die Hilflosigkeit der in solchen Umständen gefangenen Menschen. e) Das Gedicht lehnt sich subtil an die Johannes-­‐Offenbarung des alten Testaments an und verweist damit auf die christliche Vorstellung einer bevorstehenden Apokalypse. f) Die ausgeprägte Symbolik des Gedichts fordert das Kunstverständnis (im barocken Sinn) des Lesers heraus. g) Der extrem pessimistische Tenor eigentlich aller Gryphius-­‐Gedichte hängt mit den vielen persönlichen Verlusten im Leben des Autors zusammen. h) „Thränen des Vaterlandes“ ist eine Überarbeitung eines ursprünglich „Trauerklage des ver-­‐
wüsteten Deutschland“ benannten Gedichts desselben Autors. Die Neufassung ist flüssiger, abstrakter und insgesamt übersteigerter, was die Intention des Autors verdeutlicht. i) „Thränen des Vaterlandes“ ist eines der bekanntesten deutschen Anti-­‐Kriegsgedichte. Diskussionsgrundlage/Thesen zu weiteren Barock-­‐Gedichten 1) Die Unruhe der Zeit/des Kriegs wird formal gebändigt in einer strengen, geschlossenen Form (Sonett), wodurch die Absage an weltliche Werte besonders hervorgehoben wird. 2) Der Aufbau des Gedichts ist argumentativ, er führt zu einer negativen Schlussfolgerung. 3) Die Antithetik spielt eine zentrale Rolle im Aufbau des Gedichts. 4) Symbolik und bildhafte Sprache sind herausstechende Merkmale des Gedichts. 5) Das Gedicht nimmt Bezug auf die Bibel / auf ein deutlich christlich-­‐religiöses Weltbild. 6) Das Gedicht hat ein deutlich in Erscheinung tretendes lyrisches Ich. 7) Das Gedicht spricht den Leser emotional wenig an. Literatur Schurf , B. und Wagener, A. (Hrsg.). (2009). Themen, Texte und Strukturen. Berlin: Cornelsen. Becker, F. (2003). Deutsch – Literaturgeschichte/Epochen. Stuttgart: Ernst Klett Verlag. Wikipedia, Tränen des Vaterlandes. http://de.wikipedia.org/wiki/Tränen_des_Vaterlandes (abgerufen am 30. 1. 2015) https://norberto42.wordpress.com/2012/01/29/gryphius-­‐tranen-­‐des-­‐vaterlandes-­‐analyse/ (abgerufen am 30. 1. 2015) deutsch
Neue Kantonsschule Aarau | N. Ruh | 02.09.14 Mögliche Prüfungsfragen 1. Inwiefern kommt barocke Antithetik zum Tragen im Gedicht „Thränen des Vaterlandes“? 2S 2. Nennen und erklären sie die wichtigsten formalen Merkmale der Gedichtform „Sonett“. (mind. 3) 3S 3. In Sonett X werden die formalen Vorgaben für ein Sonett an einer Stelle durchbrochen. Geben sie an, wo dieser Bruch zu finden ist und welche Wirkung diese Abweichung vom vorgegebenen Schema hat. 2S 4. Beschreiben sie den inhaltlichen Aufbau des Sonetts X knapp und klar. 5. Fassen sie die Argumentation in Sonett X zusammen. (Eigene Worte, kurze Sätze) 3S 2-­‐4S 6. Identifizieren sie eine Hyperbel / Klimax / Synekdoche / Personifikation / Anapher / Alliteration / Alle-­‐
gorie / ... in Gedicht X. (Direktes Zitat und kurze Begründung) je 1 S 7. Beschreiben sie die Funktion des Lyrischen Ich in Gedicht X. 8. Nennen sie Beispiele für bildhafte Sprache in Gedicht X. (Direktes Zitat und kurze Begründung) 2S je 1S 9. Welche für das Barock typischen Motive finden sich in Gedicht X? (mind. 2, inkl. Kurzbegründung) je 2S 10. Nennen und erklären sie x Epochen-­‐typische Merkmale von Gedicht X. je 1S 11. Nennen und erklären sie ein für seine Epoche untypisches Merkmal von Gedicht X. 2S 12. Identifizieren und erklären sie ein Symbol / eine Metapher / eine Allegorie in Gedicht X. 2S 13. Inwiefern folgt Sonett X dem für diese Gedichtform typischen Aufbau? 3S 14. Erläutern sie den Zusammenhang zwischen dem Titel „Thränen des Vaterlandes“ und dem eigentlichen Gedicht. 2S 15. Erklären sie, welche Rolle das Motiv des „Memento mori“ im Gedicht „Thränen des Vaterlandes“ spielt. 4S 16. »Barocke Lyrik richtet sich an den (Kunst-­‐)Verstand des Lesers, nicht an sein Gefühl.« Nehmen sie begründet Stellung zu dieser Aussage. 3S 17. Formulieren sie eine prägnante textimmanente These zu Gedicht X. 1-­‐2S 18. Formulieren sie eine intertextuelle These zum Gedicht „Thränen des Vaterlandes“. 1-­‐2S 19. »Das barocke Leitmotiv der Vergänglichkeit durchdringt auch dieses Sonett, inhaltlich wie formal.« Formu-­‐
lieren sie zwei gute Argumente, mit denen sich dieser These unterstützen lässt. 2-­‐4S 20. »Barocke Sonette kommen immer zu einem negativen, lebensverneinenden Fazit.« Nehmen sie begründet Stellung zu dieser Aussage. 3S 21. »Die strengen formalen Vorgaben, denen die Lyrik des Barock zu folgen hat, verhindern jegliche Kreativität auf Seiten des Dichters.« Nehmen sie begründet Stellung zu dieser Aussage. 3S Vergänglichkeit der Schönheit (Ch. H. von Hoffmannswaldau) Es wird der bleiche tod mit seiner kalten hand Dir endlich mit der zeit umb deine brüste streichen / Der liebliche corall der lippen wird verbleichen; Der schultern warmer schnee wird werden kalter sand / Der ugen süsser blitz / die kräffte deiner hand / Für welchen solches fällt / die werden zeitlich weichen / Das haar / das itzund kan des goldes glantz erreichen / Tilget endlich tag und jahr als ein gemeines band. Der wohlgesetzte fuß / die lieblichen gebärden / Die werden theils zu staub / theils nichts und nichtig werden / Denn opfert keiner mehr der gottheit deiner pracht. Diß und noch mehr als diß muß endlich untergehen / Dein hertze kan allein zu aller zeit bestehen / Dieweil es die natur aus diamant gemacht. An sich (Paul Fleming) Sei dennoch unverzagt! Gib dennoch unverloren! Weich keinem Glücke nicht, steh höher als der Neid, Vergnüge dich an dir, und acht es für kein Leid, Hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen. Was dich betrübt und labt, halt alles für erkoren, Nimm dein Verhängnis an, lass alles unbereut. Tu, was getan sein muss, und eh man dirs gebeut. Was du noch hoffen kannst das wird noch stets geboren. Was klagt, was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke Ist sich ein jeder selbst. Schau alle Sachen an: Dies alles ist in dir. Lass deinen eitlen Wahn, Und eh du fürder gehst, so geh in dich zurücke. Wer sein selbst Meister ist, und sich beherrschen kann, Dem ist die weite Welt und alles untertan. Der schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt ihre Fahn / Und führt die Sternen auff. Der Menschen müde Scharen Verlassen Feld und Werck / Wo Thir und Vögel waren Traurt itzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit verthan! Der Port naht mehr und mehr sich / zu der Glider Kahn. Gleich wie diß Licht verfil / so wird in wenig Jahren Ich / du / und was man hat / und was man siht / hinfahren. Diß Leben kömmt mir vor als eine Renne-­‐Bahn. Laß höchster Gott mich doch nicht auff dem Lauffplatz gleiten / Laß mich nicht Ach / nicht Pracht / nicht Lust / nicht Angst verleiten! Dein ewig-­‐heller Glantz sey vor und neben mir / Laß / wenn der müde Leib entschläfft / die Seele wachen Und wenn der letzte Tag wird mit mir Abend machen / So reiß mich aus dem Thal der Finsternüß zu dir. Es ist alles eitel (Andreas Gryphius) Du siehst, wohin du siehst, nur eitelkeit auf erden. Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein; Wo ietzundt städte stehn, wird eine Wiese seyn, Auf der ein schäfers kind wird spielen mit den herden; Was itzundt prächtig blüth, sol bald zutreten werden; Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen asch und bein; Nichts ist, das ewig sey, kein ertz, kein marmorstein. Jetzt lacht das glück uns an, bald donnern die beschwerden. Der hohen thaten ruhm muß wie ein traum vergehn. Soll denn das spiel der zeit, der leichte mensch bestehn? Ach, was ist alles diß, was wir vor köstlich achten, Als schlechte nichtigkeit, als schatten, staub und Wind, Als eine wiesen blum, die man nicht wieder find't! Noch wil, was ewig ist, kein einig mensch betrachten. Neue Kantonsschule Aarau | N. Ruh | 02.09.14 Abend (Andreas Gryphius) deutsch