Autobiographie: Eine interdisziplinäre Gattung zwischen klassischer

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Autobiographie: Eine interdisziplinäre Gattung zwischen klassischer
Uwe Baumann & Karl August Neuhausen
Autobiographie: Schlaglichter und Annäherungen
I.
Mit dem dies academicus des Sommersemesters 2007 an der Rheinischen
Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat im Grunde alles angefangen: Am
Vortag des dies (22. 05. 2007) und am dies selbst (23. 05. 2007) wurden insgesamt
vier gut besuchte öffentliche Vorträge gehalten, die aus sehr unterschiedlicher
Perspektive Fragen zur antiken und frühneuzeitlichen ›Autobiographie‹ in den
Mittelpunkt rückten:
Karl A. E. Enenkel, »Zur neulateinischen Autobiographik: Der Fall des Enea Silvio
Piccolomini (Pius II.)«,
Thomas A. Schmitz, »Kriegsdienst und Musengeschenk: Archilochos von Paros«,
Beate Czapla, »Johann Valentin Andreaes ›De vita sua‹: Ein apologetisches Vermächtnis?« und
Karl August Neuhausen, »August Wilhelm Schlegel als lateinischer Autobiograph in
Bonn«.
Bei Gesprächen und Diskussionen unmittelbar im Anschluss an diese Vorträge
sowie in deren Folge konstituierte sich in den nächsten Wochen und Monaten im
Rahmen des CCT (Centre for the Classical Tradition / Centrum Classicorum
Traditionis) eine kleine, engagierte, informelle Gruppe von Forscherinnen und
Forschern, die zunächst einmal ausloten wollte, ob und in welcher Fokussierung
sich die interdisziplinäre Gattung ›Autobiographie‹ als inhaltliches Zentrum für
ein Forschungsverbundprojekt eignete. Dabei wurde sehr schnell deutlich, dass
die Gattung ›Autobiographie‹ ein viel zu umfangreiches Forschungsgebiet präsentierte, das bisher – ungeachtet einer Reihe weit ausgreifender und hervorragender Studien aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts1 – nicht einmal hin1 Vgl. u. a. Abbott (1988), Adams (2000), Bernheiden (1988), Bruss (1976), Buck (1983), Dalziell
(2002), Eakin (1986, 1999), Egan (1999), Finck (1999), Heuser (1996), Hilmes (2000), Holdenried (1991, 2000, 2009), Lehmann (1988), Lejeune (1975, 1989), Misch (1949, 1955, 1959 –
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Uwe Baumann & Karl August Neuhausen
reichend kartiert ist. Eine solche, zumindest vom Anspruch her theorie- und
kriterienbasierte, Kartierung des Forschungsfeldes erwies sich nahezu ebenso
schnell als zu ambitioniert, u. a. weil die jeweiligen Wissenschaftstraditionen, in
denen die Forscherinnen und Forscher wissenschaftlich sozialisiert sind (u. a.
Klassische Philologie, Neulateinische Philologie, Amerikanistik, Anglistik, Romanistik, Germanistik, Komparatistik, Geschichte, Alte Geschichte, Kunstgeschichte, Philosophie, Theologie) jeweils in Nuancen unterschiedliche Konzeptualisierungen der Gattung ›Autobiographie‹, ihrer Aussagemodi, ihrer
Funktionen und ihrer Geschichte generierten.
Dass die Gattung ›Autobiographie‹ nahezu zeitgleich auch national und international als bedeutsames und fruchtbares Forschungsgebiet ›entdeckt‹
wurde, dokumentieren etliche Neuerscheinungen der letzten Jahre.2 Es bedurfte
– selbst für eine behutsame Annäherung – der bewussten exemplarischen Akzentuierung innerhalb des Forschungsfeldes, einer Schwerpunktsetzung. Durch
weitgehend gemeinsame Interessen und Kompetenzen innerhalb der kleinen
Gruppe von Forscherinnen und Forschern ergaben sich die folgenden drei
Schwerpunkte: die klassischen Traditionen der Autobiographie, die zumeist
lateinische Autobiographik der Renaissance und des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die ihrerseits zum Teil Rezeption der klassischen AutobiographieTraditionen ist, und die moderne und postmoderne, erkenntnistheoretische,
epistemologische oder literatur- und geschichtstheoretische Fragen auslotende
faktuale und fiktionale Autobiographie vornehmlich englischsprachiger Provenienz.
Die Beiträge des vorliegenden Bandes verstehen sich allesamt als exemplarische Einzelstudien im Kontext des nur knapp skizzierten Rahmens, als Einzelstudien, die sich immer wieder auch auf (nahezu) unbekannte Autobiographien konzentrieren, diese vorstellen und in ihrer funktionalen Bedeutung erschließen; der gesamte Band wird damit konzeptionell zu einem experimentellen Pilotprojekt, um dessen Grenzen und Desiderata die Herausgeber sehr
genau wissen, ein Projekt, das in ein mit dem Handbuch Biographie. Methoden,
Traditionen, Theorien vergleichbares Werk einmünden könnte.3
1962, 1967, 1969), Müller (1976), Niggl (1977, 1989, 2012), Olney (1980), Pastenaci (1993),
Paulsen (1991), Schweikhart (1998), Walz (2002) und Winter (1985).
2 Vgl. u. a. Alheit / Brandt (2006), Breuer / Sandberg (2004), Eakin (2008), Enenkel (2008),
Georgen / Muysers (2006), Hild (2007), Huisman / Ribberink / Soetting / Hornung (2012), Lee
(2007), Löschnigg (2006), Marasco (2011a), Nadj (2003, 2006), Oort / Wyrwa (2009), Parry /
Platen (2007), Rak (2005), Reichel (2005a), Stelzig (2009). Selbstverständlich sind hier u. a.
Hilmes (2000), Holdenried (2009), Niggl (2012) und Walz (2002) nochmals zu erwähnen.
3 Vgl. Klein (2009), besonders mit der ›enzyklopädischen‹ Ausdifferenzierung der Einzelbeiträge (V – XI).
Autobiographie: Schlaglichter und Annäherungen
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II.
Jede Erörterung eines Themas sollte gemäß der schon von Cicero mehrfach
erhobenen Forderung mit einer Definition des zu behandelnden Gegenstandes
beginnen. Dieser Grundsatz trifft auf den hier im Mittelpunkt stehenden literarischen Gattungsbegriff in besonderem Maße zu: Autobiographie4 (oder
»autobiography« und entsprechende moderne sprachliche Varianten), der heute
allgemein gebräuchliche Terminus für ›Selbstdarstellung des eigenen Lebens‹, ist
ein Kompositum, bei dem das Erstelement ›Auto-‹ das Zweitelement ›Biographie‹ spezifiziert. Es ist aus Morphemen griechischer Herkunft zusammengesetzt und scheint aus der antiken Literatur selbst zu stammen; tatsächlich wurde
der Begriff jedoch erst in der Neuzeit geprägt. Insgesamt weist ›Autobiographie‹
vier griechische Bestandteile auf: das Pronomen aqtºr (›selbst‹), das Substantiv
b_or (›Leben‹), den Verbalstamm cqav- (›beschreiben‹) und das substantivische
Suffix –_a.
Bezeichnenderweise ist auch der Oberbegriff ›Biographie‹ (›Lebensbeschreibung‹) eine relativ junge Wortbildung des 18. Jahrhunderts.5 Das Kompositum biocqav_a findet sich in der überlieferten griechischen Literatur zum
ersten Male am Ende der Spätantike (um 500 n. Chr.), und zwar in der von dem
Neuplatoniker Damaskios verfassten Beschreibung des Lebens des Philosophen
Isidoros, bezeichnet dort aber lediglich den Vorgang, nicht das Ergebnis einer
Lebensbeschreibung. In diesem letzteren Sinne, wie er heute allgemein benutzt
wird, begegnet der Terminus ›Biographie‹ erstmals in byzantinischer Zeit (9.
Jhdt.): Bei Photios, einem der bedeutendsten byzantinischen Theologen und
Vertreter des byzantinischen Humanismus.6 Demgemäß haben die lateinischen
Autoren vom Beginn des Renaissance-Humanismus bis zum 17. Jahrhundert,
wenn sie in ihren Schriften das Wort biocqav_a verwendeten, diesen griechischen Begriff nicht transkribiert – wie es bei der Übernahme vieler anderer
griechischer Substantive auf -_a seit der Antike üblich war (wie z. B. philosophia)
–, sondern jeweils mit griechischen Buchstaben präsentiert und in ihre Texte
einbezogen: offenbar, weil sie den Begriff noch als Fremdwort empfanden und
auch noch nicht als literarische Gattungsbezeichnung kannten.
Kein Wunder also, dass das Determinativkompositum ›Autobiographie‹
weder in der griechischen noch in der lateinischen überlieferten Literatur
nachweisbar ist, sondern nach dem bisherigen Stand der Forschung7 erstmals in
4 Vgl. zu den Schwierigkeiten einer Definition Holdenried (2000), bes. 19 – 24.
5 Vgl. insbesondere die Belege bei IJsewijn / Sacr¦ (1998), 200; vgl. ebenfalls www.dwds.de/
?qu=Biographie (17. 06. 2013).
6 Zur byzantinischen Autobiographe vgl. allgemein Hinterberger (1999).
7 Es bleibt dennoch nicht auszuschließen, dass der Begriff ›Autobiographie‹ – in Analogie zur
Geschichte des Begriffs der ›Biographie‹ (biocqav_a) oder auch der ›Gerontologia‹ (vgl. dazu
12
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einem Brief des ›Sturm-und-Drang-Dichters‹ J. M. R. Lenz an Goethe vom
September 1776 erscheint.8
Für die Autobiographie früherer Epochen, von der Antike bis zur Renaissance, gilt insgesamt auch, was IJsewijn / Sacr¦ für die Biographie festhalten:9
The story of a man’s life never was confined to one formal genre. […] To begin with it
could be written either in verse or in prose. The Roman Phocas wrote a life of Virgil in
hexameters; Geoffrey of Monmouth used the same metre for his Vita Merlini, and it is
easy enough to find humanist versified lifes and autobiographies. See, for instance,
Antonius Astesanus’s De eius vitae et fortunae varietate carmen. If it was not a formal
»Vita«, a biography could be written as a letter (Castiglione’s Epistola de vita et gestis
Guidubaldi Urbini ducis), a travel journal (Johannes Butzbach, Hodeporicon, 1506), a
»commentarius« in one or more books, etc. Ancient models for all these types were
available in both Greek and Latin, from Xenophon and Plutarch to Libanius and Diogenes LaÚrtius, and from Cornelius Nepos to Tacitus and Suetonius. Not only the
form, but also the fundamental outlook can be very different. Whereas religion or piety
is the central idea in most mediaeval and hagiographic Lives, human »ingenium« is
essential to humanistic biographers.
III.
Aber obwohl ›Autobiographie‹ ein aus griechischen Wortelementen gebildeter
neuzeitlicher Kunstausdruck ist, der sich erst im Laufe der zwei letzten Jahrhunderte als moderner literaturwissenschaftlicher Gattungsbegriff allgemein
durchgesetzt hat, ist unter sachlichen Aspekten festzuhalten, dass zahllose
überlieferte Dichtungen und Prosaschriften der antiken griechischen und lateinischen Literatur insgesamt betrachtet alle Hauptformen und wesentlichen
Merkmale autobiographischer Darstellungen aufweisen, wie sie für die moderne
Autobiographie typisch sind:10 Schon ein flüchtiger Blick in die neuesten
Sammelbände zur Erforschung der antiken Autobiographie lässt die Dimension
Becker / Laureys / Neuhausen / Rudinger (2011)) – erstmals in den noch nicht annähernd
erschlossenen gelehrten lateinischen Schriften und Traktaten des europäischen Humanismus vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert geprägt wurde.
8 Vgl. Niggl (2012), 39 – 51, Erstdruck in Reichel (2005a), 1 – 13. Vgl. ebenso Zimmermann
(2007), 3, Anm. 1, u. a. mit dem Verweis auf D. C. Seybolds zweibändiges Werk Selbstbiographien berühmter Männer (1796/1799).
9 IJsewijn / Sacr¦ (1998), 200. Vgl. dort ebenfalls die pragmatische Differenzierung nach den
Biographierten: »Lives of Popes and other Churchmen«, »Lives of Worldly Rulers and
Commanders«, »Lives of Scholars, Scientists, Writers and other Artists«, »Parallel Lives«,
und »Hagiography : Lives of Saints« (202 – 211).
10 Vgl. etwa Holdenried (2000), 24 – 61, bes. zu den Strukturmerkmalen »Zentralperspektive als
ästhetische Objektivierung«, »Dissoziierte Chronologie und vitale Zeitordnung«, »Selbstreferentialität«, »Stilisierung und Stilpriorität« und »Fragmentarität und Schlussproblematik«.
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und Vielfalt literarischer sowie auch privater (vor allem in Inschriften und in
Papyri dokumentierter) Selbstdarstellungen von den Anfängen der griechischen
Poesie bis zum Ende der griechisch-römischen und der christlichen Antike
erkennen.11
Dementsprechend sind chronologisch aufeinander folgende, freilich zum Teil
auch parallel verlaufende Epochen vom 8. vorchristlichen bis zum 5. nachchristlichen Jahrhundert zu unterscheiden, denen man die jeweiligen erhaltenen
autobiographischen antiken Texte zuordnen kann;12 sie lassen sich auf sieben
Perioden verteilen und schlagwortartig wie folgt charakterisieren:
(1)
Frühgriechische Dichtungen13
Bereits die homerische Odyssee enthält als Einschübe autobiographische Erzählungen, die als Vorbilder für spätere antike Selbstdarstellungen dienten: vor
allem die sog. Apologe des Odysseus (B. 9 – 12 und 23) sowie z. B. Penelopes
Rückblick auf ihr Leben (B. 19) und Eumaios’ Lebensgeschichte (B. 15). Die
ersten literarischen Selbstzeugnisse historischer Persönlichkeiten finden sich in
Hesiods Dichtungen14 sowie in Gedichten des Archilochos15 und Solons.16
(2)
Klassische griechische Literatur
Gray unterteilt die verschiedenen Typen autobiographischer Texte im klassischen Griechenland in fünf typologisch differenzierte Kategorien:17 I. »Autobiographical travel literature« (Hekataios von Milet, Herodot, Xenophon). II.
»Memoirs of famous men« (Xenophons Symposion, Plutarch, Athenaios). III.
»Defensive autobiographical rhetoric« (Isokrates, Demosthenes, Demades): IV.
»Plato’s letters 7 – 8«18. V. »Historical memory and autobiography« (Sophainetos
von Stymphalos, Ktesias, Xenophons Anabasis)19.
11 Vgl. Marasco (2011a), Oort / Wyrma (2009), Erler / Schorn (2007), Reichel (2005a) und
Weber / Zimmermann (2003).
12 Vgl. jetzt auch Niggl (2012), 52 – 73: »Autobiographische Darstellungen in der Antike. Ein
Überblick«. Niggl unterscheidet jedoch nur drei Gruppen antiker autobiographischer
Schriften: bei Griechen, bei Römern und bei christlichen Autoren in der Spätantike.
13 Vgl. generell Zimmermann (2007) und Rösler (2005).
14 Vgl. speziell Rösler (2005), bes. 36 – 38, und Baslez / Hoffmann / Pernot (1993).
15 Vgl. den Beitrag von Thomas A. Schmitz in diesem Band.
16 Vgl. speziell Rösler (2005), bes. 39 – 43.
17 Gray (2011).
18 Vgl. zu Platons 7. Brief insbesondere auch Erler (2005).
19 Zu Xenophons Anabasis vgl. auch Reichel (2005b).
14
(3)
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Hellenistische Zeit20
Nach Alexanders Tod wurde die Autobiographie vor allem als Instrument der
politischen Propaganda entdeckt, da bei den neuen Monarchen ein großes Bedürfnis nach Legitimation ihrer Herrschaft bestand. So bürgerte sich im Zeitalter des Hellenismus für die vornehmlich politisch motivierte neue Form der
Autobiographie der Begriff Hypomnema (›Erinnerung‹) ein, und es entwickelte
sich die Gattung der zahlreichen – fragmentarisch erhaltenen – HypomnemataSchriften als Bezeichnung für autobiographische Literatur und speziell politische Memoiren;21 als prominenteste Werke gelten die 30 Bücher umfassende
Autobiographie des Aratos von Sikyon22 und die 24-bändigen Memoiren des
ägyptischen Königs Ptolemaios VIII. Euergetes II.23 Außerdem verfassten bedeutende hellenistische Herrscher autobiographische Briefe und Tagebücher,24
und auch Reiseberichte gehören zur hellenistischen Autobiographie.25
(4)
Römische Republik26
In den letzten zwei Jahrhunderten der römischen Republik spielten Autobiographien führender Politiker in erheblich höherem Maße, als es zeitgleich bei
den hellenistischen Monarchen der Fall war, eine wesentliche Rolle. Charakteristisch ist der gemeinsame programmatische Titel jener autobiographischen
Schriften: De vita sua (›Über sein eigenes Leben‹); an die Stelle der hellenistischen Hypomnemata treten die Commentarii. Die Tendenz der nur von Politikern und Militärs der republikanischen Zeit verfassten De vita sua-Schriften war
vorwiegend eine apologetische: Hauptziel der Verfasser war es nicht, ihr Leben
und ihre Taten zu verherrlichen; vielmehr wollten sie auf die Kritik ihrer Gegner
reagieren, indem sie ihre eigene Handlungsweise rechtfertigten. Protagonist
dieser Reihe primär defensiv rechtfertigend ausgerichteter Autobiographien war
Scipio Aemilianus der Ältere;27 seinem Beispiel folgten in erster Linie Q. Lutatius
Catulus, M. Aemilius Scaurus und P. Rutilius Rufus.28 Als der prominenteste
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25
26
Vgl. dazu allgemein Bearzot (2011); Marasco (2011b), sowie Sonnabend (2002), bes. 79 – 82.
Zu den autobiographischen Hypomnemata vgl. generell Engels (1993).
Vgl. Sonnabend (2002), bes. 80 – 81, und Marasco (2011b), 104 – 117.
Vgl. Sonnabend (2002), bes. 81 – 82, und Bearzot (2011), bes. 67 – 70.
Vgl. Bearzot (2011), 40 – 47.
Vgl. Marasco (2011b), 87 – 102.
Vgl. generell Sonnabend (2002), 89 – 98; Baier (2005); Scholz (2007); Candau (2011); Tatum
(2011) und Mayer (2011). Vgl. speziell auch Albrecht (2002), Scholz (2003), Chassignet
(2003) und Walter (2003).
27 Vgl. Sonnabend (2002), 89 – 90, und Candau (2011), 121 – 126.
28 Vgl. zu Catulus Sonnabend (2002), 90 – 91; Baier (2005), 134 – 138, und Candau (2011), 147 –
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15
Autobiograph der römischen Republik gilt L. Cornelius Sulla (138 – 78 v. Chr.);29
seine Memoiren, an denen er bis zu seinem Tod arbeitete, umfassten 22 Bücher.
In der literarischen Tradition aller dieser Autobiographien römischer Aristokraten steht auch Cäsar in den autobiographischen Passagen seiner Commentarii.30 Außerordentlich vielfältig sind die Selbstdarstellungen in den Dichtungen
und den Prosaschriften Ciceros:31 die autobiographischen Epen (De consulatu
suo und De temporibus suis) sowie die autobiographischen Passagen in seinen
Reden, rhetorischen und philosophischen Werken. Sogar Varro, der größte
Gelehrte der römischen Republik, verfasste eine Autobiographie mit dem signifikant stereotypen Titel De vita sua (in drei Büchern).32
(5)
Frühe römische Kaiserzeit (von Augustus bis Hadrian)33
Augustus veröffentlichte im Alter von erst 38 oder 39 Jahren seine 13 Bücher
umfassende Autobiographie De vita sua, die bis zum Ende des Kantabrischen
Krieges reichte (25 v. Chr.), in dem er die nordspanischen Kantabrer besiegt
hatte;34 in dieser Selbstdarstellung seines Lebens stand der junge Kaiser in der
Tradition der De vita sua-Literatur der römischen Republik, da auch er vor allem
die Vorwürfe seiner innerrömischen Gegner widerlegen wollte und somit die
autobiographische Darstellungsform als Mittel der politischen Propaganda
nutzte. Einen Sonderfall konstituieren die berühmten Res gestae Divi Augusti,
der kurz vor seinem Tod im gesamten römischen Reich verbreitete Tatenbericht
des Kaisers Augustus.35 An die republikanische Commentarii-Literatur erinnerte Augustus’ Nachfolger Tiberius mit seinen Commentarii, in denen er nach
Suetons Zeugnis (Tib. 61,1) sein Leben ›kurz und bündig‹ darstellte.36 Dagegen
knüpfte Kaiser Claudius mit seinen acht Büchern De vita sua ebenso wie Augustus wieder direkt an die Reihe der De vita sua-Schriften der römischen
Republik von Scipio Aemilianus Maior bis Sulla an.37 Hadrian schließlich be-
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154. Vgl. zu Scaurus Sonnabend (2002), 92, und Candau (2011), 133 – 139; zu Rutilius Rufus
vgl. Sonnabend (2002), 92 – 93, und Candau (2011), 139 – 147.
Vgl. Sonnabend (2002), 92 – 98, und Tatum (2011), 163 – 174. Vgl. auch Scholz (2003).
Vgl. die Spezialuntersuchung von Mayer (2011).
Vgl. vor allem die umfassende Monographie von Kurczyk (2006); vgl. speziell auch Tatum
(2011), 176 – 181.
Vgl. Tatum (2011), 181 – 182.
Vgl. zum gesamten Zeitraum Lewis (1993), zu den einzelnen Epochen Geiger (2011), Ridley
(2011) und Villalba Vareda (2011). Vgl. insgesamt auch Malitz (2003) und Pausch (2004).
Vgl. Sonnabend (2002), 113 – 118, und Geiger (2011), 233 – 266. Vgl. auch Pausch (2004),
bes. 312 – 314.
Vgl. Lewis (1993), 669 – 689, und Ridley (2011), 267 – 314.
Vgl. Lewis (1993), 692 – 694.
Vgl. Lewis (1993), 695 – 697.
16
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endete die Serie der Autobiographien der frühen römischen Kaiser und ließ in
seiner Selbstdarstellung Parallelen vor allem zu Sullas Büchern De vita sua erkennen.38 Neben den Fragmenten der Autobiographien römischer Kaiser sind
auch Reste weiterer kleinerer autobiographischer Darstellungen der frühen
Kaiserzeit erhalten.39 Demgegenüber nahmen im 1. Jhdt. n. Chr. die griechisch
abgefassten Autobiographien des Nikolaos von Damaskus40 und des Flavius
Josephus41 einen hervorragenden Rang ein.
(6)
Späte römische Kaiserzeit42
Septimius Severus war offenbar der letzte römische Kaiser, der in der Tradition
der republikanischen und frühkaiserzeitlichen De vita sua-Schriften sein Leben
selber dargestellt hat (Vitam suam privatam publicamque ipse composuit).43 Ob
dagegen sein Sohn und Nachfolger Caracalla oder nach ihm ein anderer Römer
eine autobiographische Schrift publiziert hat, ist unsicher und zweifelhaft.44
Tatsächlich war es in der nichtchristlichen Spätantike kein lateinischer, sondern
ein profilierter griechischer Autor, der eine großartige Autobiographie veröffentlichte: Libanios, der berühmteste Rhetor des 4. Jahrhunderts, in seiner
ersten Rede mit dem pointierten Doppeltitel B_or C peq· t/r 2autoO t}wgr
(›Lebensbeschreibung oder über die eigene Karriere‹).45
(7)
Christliche Spätantike46
Zwar reicht die christliche Autobiographie bis ins 1. Jahrhundert zurück (in die
Zeit von Paulus bis Cyprian),47 aber erst im 4. Jahrhundert, als das Christentum
römische Staatsreligion wurde, entwickelte sich auch auf dem Gebiet der Autobiographie die christliche Literatur gegenüber der paganen zu voller Blüte.
38 Vgl. Lewis (1993), 697 – 702, Birley (2005), 223 – 235, und Westall / Brenk (2011), 372 – 389. Zu
den griechisch geschriebenen, ›an sich selbst‹ gerichteten Büchern Mark Aurels, des römischen Kaisers (161 – 180 n. Chr.) in der Nachfolge des Hadrian und des Antoninus Pius, vgl.
unten.
39 Vgl. Villalba Vareda (2011), 316 – 326.
40 Vgl. Geiger (2011), 251 – 264.
41 Vgl. Sonnabend (2002), 129 – 133, und Villalba Vareda (2011), 327 – 362.
42 Vgl. allgemein Westall / Brenk (2011) und Leppin (2011).
43 Vgl. Westall / Brenk (2011), 394 – 407.
44 Vgl. Westall / Brenk (2011), 408 – 410.
45 Vgl. Leppin (2011), 420 – 453.
46 Vgl. generell Oort / Wyrwa (2009) und Leppin (2011), 417 – 419. Vgl. auch Gärtner (2002).
47 Vgl. Brändle (2009), 6 – 11.
Autobiographie: Schlaglichter und Annäherungen
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Verschiedenste Elemente der Selbstdarstellung finden sich z. B. in den Briefen,
Mönchsviten und Nekrologen des Hieronymus.48 In singulärer Weise prägten
zwei der größten griechischen und lateinischen Kirchenväter die spätantike,
christlich orientierte Autobiographie: Gregor von Nazianz mit seinen autobiographischen Gedichten De vita sua und De temporibus suis49 sowie Augustinus
mit seinen Confessiones (›Bekenntnissen‹),50 dem Höhepunkt der Selbstdarstellungen in der christlichen Antike und zugleich dem krönenden Abschluss
der gesamten antiken Autobiographie, die zwar nicht wie die Biographie (und
die meisten anderen literarischen Gattungen) über normative Modelle und
Muster verfügte, aber ein breites Spektrum unterschiedlichster autobiographischer Erscheinungsformen ausgebildet hat. Jedenfalls hat – abgesehen vielleicht
von Kaiser Mark Aurels einzigartigen Büchern eQr 2autºm (›Selbstbetrachtungen‹
oder ›Wege zu sich selbst‹) – keine antike Selbstdarstellung auf die Nachwelt vom
Mittelalter bis zur Neuzeit einen so starken, prägenden Einfluss ausgeübt wie die
Confessiones des Augustinus.51
IV.
Dank einiger weniger ambitionierter und detailreicher Studien zur Autobiographie in Mittelalter und Renaissance52 ist die Geschichte der Autobiographie
sowie des autobiographischen Schreibens in Mittelalter und Renaissance in
ihren Umrissen recht gut erkennbar. Auf einzelne Texte oder Textgruppen fokussierte Detailstudien konturieren dieses ›Bild‹ immer weiter aus.53 Die sehr
heterogenen Einzelwerke und Werkgruppen erlauben aber noch keine in so
weitgehendem Konsens gründende Funktions- und Gattungsgeschichte wie für
die Autobiographie der Antike.
Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass die autobiographische, individualistische Tradition der Spätantike ausweislich unserer Quellen mit der
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51
Vgl. Dassmann (2009), 63 – 88.
Vgl. Leppin (2011), bes. 416 – 417 und 450.
Vgl. Zimmermann (2005), 237 – 249, und Leppin (2011), bes. 417 und 450.
Die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte poetischer Selbstzeugnisse antiker Autoren – vor
allem die Rezeption der vielen autobiographischen Aussagen bei Horaz und Ovid als den
nach Vergil größten lateinischen Dichtern der paganen Antike – eröffnet ein weites Untersuchungsfeld speziell im Rahmen der neulateinischen Literatur seit dem Beginn des Renaissance-Humanismus.
52 Vgl. u. a. Bernheiden (1988), Buck (1983), Enenkel (2008), Holdenried (2000), bes. 94 – 118,
Misch (1955, 1959 – 1962, 1967, 1969), Niggl (1977), Pastenaci (1993) und Schweikhart (1998)
53 Vgl. u. a. Bachorski (1988), Gäbe (2002), McDonough (2002), Ritter (2002) und Schouwink
(2002).
18
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Spätantike für Jahrhunderte (bis zum 11., 12. Jahrhundert) abreißt54 und im
Hochmittelalter dann bereits in klarer Dichotomie wieder aufgegriffen wird:55
Zu unterscheiden sind dann für das Mittelalter zunächst die lateinische Autobiographik insbesondere des kirchlichen Lebens, welche in Abhängigkeit von Augustinus’
Bekenntnissen zu sehen ist, und die Literatur der Volkssprachen im Hohen Mittelalter.
Dieses Nebeneinander von lateinischer und volkssprachlicher Autobiographie,
von lateinischem und volkssprachlichem autobiographischen Schreiben bleibt
bis ins 18. Jahrhundert prägend, obwohl die Heterogenität und die Vielzahl der
erhaltenen, teils unveröffentlichten Textzeugnisse Warnung genug vor allzu
pauschalen Urteilen sein sollten, zumal die wissenschaftliche Erschließung und
Aufarbeitung (Sichtung, Edition, Auswertung) speziell der einschlägigen lateinischen Texte des Spätmittelalters und der Renaissance erst vor wenigen Jahrzehnten ernsthaft begonnen hat.56
Die Forschungen zur Autobiographie in der Renaissance, die zumeist mögliche Wechselwirkungen zwischen lateinischer und volkssprachlicher Autobiographik marginalisierten, rückten einzelne, in ihrer funktions- und gattungsgeschichtlichen Bedeutung auch kaum zu überschätzende Texte und Autobiographen in den Mittelpunkt ihres Interesses:57
Humanist autobiographical writing begins with Petrarch. Apart from his Epistola ad
Posteritatem (in prose), there is his famous letter to Dionysius di Borga San Sepolcro in
which he narrates his climbing of the Mount Ventoux, more or less the birth certificate
of modern alpinism. Especially important, however, is his Secretum or De secreto
conflictu curarum mearum, in which Petrarch, under the supervision of Miss Veritas is
holding three conversations with the great master of autobiography, St. Augustine. A
masterpiece of the genre in the Renaissance is certainly De vita propria of the Italian
polymath Hieronymus Cardanus (1501 – 1576), completed at the end of his eventful life.
Cardanus follows Suetonius as his model, which means that he does not offer a systematic chronological survey of his life, but short chapters on the various aspects of his
life and work, such as ch. 37 on his famous dream of about 1534. Equally very much
worth reading are the autobiography of the Moravian paedagogue Amos Janus Comenius and the Exemplar vitae humanae, a specimen of Jewish autobiography written
by the Portuguese Uriel a Costa († Amsterdam, ca. 1647?).
Not rarely autobiographical writings assume apologetic tones either on behalf of the
author himself or of opinions dear to his heart and mind. Such is the EUKLERIA, seu
54 Vgl. Holdenried (2000), 94.
55 Holdenried (2000), 94.
56 Vgl. etwa die mustergültige Pionierstudie von J. W. Binns (1990), insbes. 173 – 187 zur lateinischen Biographie und Geschichtsschreibung im England der Renaissance, und die
Überblicksdarstellung von IJsewijn / Sacr¦ (1998).
57 IJsewijn / Sacr¦ (1998), 212. Vgl. insgesamt auch Enenkel (2008), Pastenaci (1993),
Schweikhart (1998) und Weiand (1998).
Autobiographie: Schlaglichter und Annäherungen
19
melioris partis electio (Altona 1673), probably the only autobiographical writing in
Latin by a woman we have in modern times. Its author is the polyglot Dutch lady Anna
Maria van Schurman (1607 – 1678), rightly celebrated as the most learned woman of her
century.
V.
Mit der behutsamen, oder auch radikalen Ablösung von den klassischen Autobiographie-Traditionen konstituieren die rund 120 Jahre von etwa 1780 bis zum
Beginn des 20. Jahrhunderts in der Gattungs- und Funktionsgeschichte der
Autobiographie eine Phase des Übergangs, der Neuorientierung,58 bevor sich
dann im 20. Jahrhundert die Gattung in einem Maße ausdifferenziert, dass selbst
die vorsichtige Konstruktion einer Gattungs- oder Funktionsgeschichte kaum
mehr möglich ist. Die Abschnittsüberschriften, die Michaela Holdenried für ihre
Geschichte der Autobiographie im 20. Jahrhundert wählt, fokussieren teils
Aussagemodus, teils paradigmatische Einzelwerke oder differenzieren schlicht
nach Jahrzehnten, womit eindrucksvoll und pragmatisch die Ausdifferenzierung
der Gattung selbst, die zunehmenden Schwierigkeiten der Abgrenzung von
anderen Gattungen, und auch die zunehmende Theoretisierung der Gattung und
ihrer Rezeptionsbedingungen expliziert werden:59
Fiktionalisierung am Beispiel des autobiographischen Romans, Skeptische Distanzierung vom Autobiographischen und Ausweichen auf andere Formen, Anachronismus der Form und Trivialisierung, Randständige Autobiographie – eine dominante
Sonderform, Paradigmatische Moderne: Proust, Stein und Benjamin, Pakte mit der
Macht und das Leiden an ihr, Die 50er-Jahre: Unterwegs zu neuen Ufern?, Die 60erJahre: Unruheherde, Die 70er-Jahre: Everybody’s Autobiography?, Anti-Idyllen und
Grenzüberschreitungen im autobiographischen Roman.
Neue und innovative ›Gattungen‹ wie Meta-Biographie und Meta-Autobiographie,60 die ihrerseits hoch selbstreflexiv zum Gattungsgedächtnis werden, historiographische Metafiktionen als Typus des historischen Romans, Hybridisierungen und Grenzüberschreitungen, die Problematisierung von Identitätskonstruktion und Identitätskonstitution, die Konzeptualisierung von Individualität und Subjektivität, der Rekurs auf prinzipielle Fragen der Erkenntnistheorie, der Anthropologie und der Neurologie,61 sie alle konstituieren Eck- bzw.
58 Vgl. exemplarisch Holdenried (2000), bes. 139 – 205. Vgl. ebenso Misch (1969) und Niggl
(1977 und 2012).
59 Holdenried (2000), 7 – 8, vgl. ebenfalls: 205 – 268.
60 Vgl. etwa Hild (2007), Löschnigg (2006), Nadj (2003, 2006) sowie insbesondere Nünning
(2007) und seinen Beitrag in diesem Band.
61 Vgl. u. a. Alheit / Brandt (2006), Breuer / Sandberg (2004), Dalziell (2002), Eakin (1999, 2008),
20
Uwe Baumann & Karl August Neuhausen
Kristallisationspunkte innerhalb der literarisch-künstlerischen Konkretisierung
und der Erforschung der Autobiographie, wobei gerade in neueren Forschungsbeiträgen die Überwindung der klassischen Dichotomie von faktualer
und fiktionaler Autobiographie als Chance verstanden wird:62
[…] in Teilen der Forschung hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass es gerade die
fiktionale Überformung ist, welche eine Neudimensionierung von Identität und Subjektivität erlaubt. Die poststrukturalistische Position radikalisiert dies im Rekurs auf
die bekannte These Paul de Mans, das in der Autobiographie entworfene (nicht abgebildete) Ich sei nichts anderes als eine referentielle Illusion, eine (bloße) Rede- und
Lesefigur […]. Dennoch ist auch für die Autobiographik der letzten Jahrzehnte eine
fortdauernde Doppelpoligkeit zwischen Fiktionalisierung und Beglaubigung zu konstatieren. Obgleich es gerade in der hoch selbstreflexiven Autobiographik aufgrund der
Einsicht in den konstruktiven Charakter von Ich-Identitäten schwieriger geworden ist,
halten die meisten Autobiographen an Authentisierungsstrategien fest – in einer
breiten Spanne von der atmosphärischen Verankerung der Lebensgeschichte bis hin
zur selbstironischen Infragestellung des Erzählten. Die Übernahme von Fiktionsmustern in das eigentlich autobiographische Erzählen kann so weitgehend sein, dass
sich die Frage stellt, ob überhaupt noch sinnvoll zwischen Autobiographie und autobiographischer Fiktion unterschieden werden kann; der Begriff ›Autofiktion‹ sucht
dem theoretisch Rechnung zu tragen. Für eine Beibehaltung der Unterscheidung
sprechen die spezifischen Rezeptionsstrukturen des Autobiographischen: Fiktionalisierung und Beglaubigung schaffen im autobiographischen Text eine neue rezeptionsästhetische Struktur, die so nur auf den autobiographischen Text zutrifft. Zwischen
die Wahl gestellt, bieten sich dem Rezipienten aufgrund des Bezugs zu einer außertextuellen Referenzebene wirkmächtige Beglaubigungseffekte an, die auch durch die
Selbstenthüllung der Fiktion nicht aufgehoben werden.
VI.
Ohne die Beiträge des vorliegenden Bandes vor dem mit nur wenigen Schlagworten skizzierten ›Hintergrund‹ der drei ausgewählten exemplarischen
Schwerpunkte (die klassische Autobiographie, die (zumeist) lateinische Autobiographie von der Renaissance bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, die moderne und postmoderne Autobiographie) im Einzelnen zu würdigen, gilt es
abschließend Dank zu sagen:
In bewusster Überwindung der Hürden, die Umberto Eco in seinem Essay
»Wie man ein Vorwort schreibt« (1987) vor Danksagungen errichtet hat, gebührt
ein erster herzlicher Dank all denjenigen, die zum Erscheinen dieses ungeachtet
Egan (1999), Finck (1999), Georgen / Muysers (2006), Huisman / Ribberink / Soeting /
Hornung (2012), Parry / Platen (2007).
62 Holdenried (2009), 41 – 42.
Autobiographie: Schlaglichter und Annäherungen
21
seiner Schwerpunktsetzungen und Beschränkungen doch recht umfangreichen
Bandes beigetragen haben. Da sind an erster Stelle die Beiträgerinnen und
Beiträger zu nennen, die nicht nur ihre Beiträge rechtzeitig eingereicht und
Änderungswünsche respektiert, sondern auch mehr als geduldig auf das Erscheinen gewartet haben. Die in einzelnen Fällen mühselige Anfertigung der
Satz- und Druckvorlage haben die anglistischen Mitarbeiterinnen Katharina
Engel, M. A., Dr. Gislind Rohwer-Happe und Elisabeth Rüb, M. A., mit professioneller Routine übernommen. Beim Korrekturlesen haben uns, über dieses
›Triumfeminat‹ der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen hinaus, die wissenschaftlichen und studentischen Hilfskräfte, insbesondere Christina Stricker,
Sarah Cordes und Sarah Fißmer, so nachhaltig unterstützt, dass sie alle in den
letzten Monaten wohl mehr über die Gattung ›Autobiographie‹ erfahren haben,
als sie vielleicht jemals wollten. Das gleiche gilt für Kolleginnen, Kollegen und
Freunde, denen es vermutlich nicht anders ging, die aber diese unsere ›autobiographische‹ Fixierung und Fokussierung nicht nur liebevoll-nachsichtig ertragen, sondern immer wieder mit klugen, unverzichtbaren Anregungen und
konstruktiver Kritik einzelne Beiträge entscheidend bereichert und gefördert
haben.
Last but not least fühlen wir uns der Stiftung »Pegasus Limited for the Promotion of Neo-Latin Studies« und der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn zu größtem Dank verpflichtet, dass
sie mit großzügigen Druckkostenzuschüssen das Erscheinen des Bandes in der
Reihe »Super alta perennis. Studien zur Wirkung der Klassischen Antike« ermöglicht haben.63
Forschungsliteratur
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Textual Categories«, in: New Literary History 19 (1988), 597 – 615.
Adams, T. D., Telling Lies in Modern American Autobiography, Chapel Hill 2000.
63 Im Sinne der generellen Zielsetzungen der Stiftung, die das vorliegende Buchprojekt so
nachhaltig unterstützt hat, sei daher hier mit besonderem Nachdruck darauf hingewiesen,
dass eine Monographie, die alle autobiographischen Texte der lateinischen Literatur vom 14.
bis zum 20. Jahrhundert erfasst und systematisch erschließt, ein dringendes Desiderat der
Neulateinischen Philologie als einer relativ jungen literatur- und kulturwissenschaftlichen
Disziplin bleibt. Zu diesem Komplex gehören auch etwa die in kunstvollem lateinischen
Prosastil verfassten Autobiographien von Bernhard von Mallinckrodt und Ferdinand von
Fürstenberg, welche in die anlässlich des 15. Kongresses der »International Association for
Neo-Latin Studies« (Universität Münster, 5. – 10. August 2012) veröffentlichte Anthologie De
laudibus Monasterii Westphaliae metropolis aufgenommen wurden (vgl. Nikitinski (2012),
169 – 205).
22
Uwe Baumann & Karl August Neuhausen
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Ansgar Nünning
Meta-Autobiographien:
Gattungstypologische, narratologische und
funktionsgeschichtliche Überlegungen zur Poetik und zum
Wissen innovativer Autobiographien
»The relation between a life and the telling of it is impossible to unravel.« (Hanif
Kureishi, My Ear at His Heart: Reading my Father, 2004, 18.)
»Memories of the past are not memories of facts but memories of your imaginings of
the facts:« (Philip Roth, The Facts: A Novelist’s Autobiography, 1988, 8.)
»But what if we are all fictioneers, as you call Coetzee? What if we all continually make
up the stories of our lives? Why should what I tell you about Coetzee be any worthier of
credence than what he tells you himself ?« (J.M. Coetzee, Summertime, 2009, 226.)
I.
Selbstreflexivität, autobiographisches Schreiben und die
Paradoxie des life-writing: Einführung in
Erkenntnisinteresse, Zielsetzung und Aufbau des Beitrags1
Die als Autobiographie bezeichnete Gattung, die im Grenzbereich von faktualem
und fiktionalem Erzählen angesiedelt ist, verfolgt nicht nur ein ebenso hehres
wie schwieriges Ziel, sondern sie hat auch einen bemerkenswert hohen Anspruch: Ähnlich wie konventionelle Biographien zielen traditionelle Autobiographien darauf ab, das Leben eines tatsächlich existierenden Menschen mit
Hilfe von Sprache, textuellen Gestaltungsmitteln und konventionalisierten
Gattungsmustern aufzuschreiben bzw. in Form einer mehr oder weniger kohärenten Lebensgeschichte zu erzählen. Wie bereits die Etymologie des Kompositums, dem das Genre der Autobiographie seinen Gattungsnamen verdankt,
deutlich macht, verfolgen Autobiographien konkret das Ziel, Selbst (auto),
Leben (bios) und Schreiben (graphia) miteinander zu verknüpfen. In seiner
etymologischen Erläuterung des Gattungsbegriffs definiert Georg Misch eine
1 Für diesen Beitrag habe ich auf Ideen und Formulierungen aus einer Reihe von Vorstudien
zurückgegriffen: Vgl. Nünning. (2005); Nünning (2007a); Nünning (2008).
28
Ansgar Nünning
Autobiographie als eine »Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto)«2.
Wenn der Erzähler in dem ersten der diesem Beitrag als Motto vorangestellten
Zitate aus Hanif Kureishis innovativer Autobiographie My Ear at His Heart:
Reading My Father bemerkt, das Verhältnis zwischen einem Leben und dessen
Erzählung sei unmöglich zu entwirren, dann kommt darin somit zugleich eine
große Skepsis gegenüber dem zentralen Anliegen jeder Autobiographie zum
Ausdruck. Das gleiche gilt auch für den Hinweis im zweiten vorangestellten
Zitat, das den für die Gattung der Autobiographie so zentralen nicht-fiktionalen
Status implizit in Zweifel zieht. Auch die drei Fragen im dritten Zitat unterminieren die Dichotomie von Fakten und Fiktionen, indem sie die performative
Qualität unserer Lebensgeschichten – d. h. »autobiography as performance, as
action«3 – betonen und die Glaubwürdigkeit jener Quellen in Frage stellen, auf
denen Autobiographien beruhen.
Bei den drei vorangestellten Zitaten handelt es sich um typische Beispiele aus
selbstreflexiven Autobiographien, die nicht nur weithin akzeptierte Konventionen und Voraussetzungen dieses Genres bewusst machen, sondern auch den
Anspruch dieser Gattung, das Leben eines Menschen darstellen zu können, in
Zweifel ziehen. Obgleich im Zuge des linguistic turn und anderer als cultural
turns bezeichneter Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften4 vor allem
die Debatten über die Krise der Repräsentation in der Ethnographie hinreichend
gezeigt haben, dass das Ziel, mit Hilfe von Sprache das Leben von Menschen
(oder Völkern) darzustellen, in der Tat letztlich zum Scheitern verurteilt ist, hat
dies wenig am Anspruch von Autobiographien und an den konventionellen
Erwartungen, die die Leserschaft an dieses Genre stellt, geändert. Von Autobiographien erwarten die meisten Leserinnen und Lesern weiterhin ›Nichts als
die Wahrheit‹, wie der unfreiwillig komische Titel der (nicht nur aus epistemologischen wie literarischen Gründen) wohl nicht ganz ernst zu nehmenden
Autobiographie des so genannten (bzw. selbsternannten) ›Poptitanen‹ Dieter
Bohlen heißt. Die im Zentrum dieses Beitrags stehenden selbstreflexiven Gattungsausprägungen, die als ›Meta-Autobiographien‹ bezeichnet werden können5, decken hingegen mit literarischen und narrativen Mitteln auf, dass eine
Erzählung bzw. »Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen
durch diesen selbst (auto)«6 aus ganz verschiedenen Gründen letztlich unmöglich ist.
Damit liefern Meta-Autobiographien gleichsam eine kritische und selbstre2
3
4
5
6
Misch (1989), 38.
Eakin (2008), 85.
Vgl. Bachmann-Medick (2006).
Vgl. Nünning (2005), (2007a).
Misch (1989), 38.
Meta-Autobiographien
29
flexive Analyse der mit Autobiographien verknüpften Erwartungen und Gattungskonventionen, deren Kernstück der so genannte ›autobiographische Pakt‹
bildet, ein von Philip Lejeune geprägter Begriff, der einen wichtigen Beitrag zur
Autobiographieforschung lieferte.7 Demzufolge gibt es eine konventionelle, für
diese Gattung aber geradezu konstituierende Übereinkunft zwischen dem Verfasser und den Lesern einer Autobiographie darüber, dass eine Identität von
Autor, Erzähler und Protagonist besteht, die eine referentielle Rezeption des
Textes festlegt und den nicht-fiktionalen Status der Autobiographie garantiert.
An dieser Stelle sei zunächst nur am Rande angemerkt, dass auch das für die
Gattung so grundlegende Konzept des autobiographischen Pakts auf Annahmen
beruht, die nicht nur aus der Sicht von modernen Identitäts- und Persönlichkeitstheorien, der interdisziplinären Erinnerungsforschung und der Kognitionswissenschaft, sondern auch aus narratologischer Perspektive durchaus in
Zweifel gezogen werden können.
Die Praxis des autobiographischen Schreibens, so eine der Thesen dieses
Beitrags, ist im Hinblick auf die Aporien, die mit dem Projekt jeder Autobiographie verbunden sind und die in den mit dem Konzept des autobiographischen Pakts verbundenen Annahmen verdichtet werden, inzwischen sehr viel
weiter entwickelt als diese theoretischen Grundannahmen der Autobiographieforschung. Lejeunes strukturalistische Ansicht der Autobiographie als einer
referentiellen Gattung, die sich durch die personale Identität von Autor, Erzähler
und Protagonist auszeichnet und sich vom Roman in autobiographischer Form
unterscheidet, ist nicht nur von der poststrukturalistischen Autobiographieforschung kritisiert worden, sondern die mit dem Konzept des autobiographischen Paktes verbundenen Auffassungen werden auch von den im Folgenden als
›Meta-Autobiographien‹ bezeichneten innovativen und selbstreflexiven Gattungsprägungen nachhaltig zur Disposition gestellt, wie in diesem Beitrag gezeigt werden soll. Aus der Sicht der Autobiographieforschung erweisen sich
solche ›Meta-Autobiographien‹, so eine der zentralen Thesen dieses Aufsatzes,
gerade deshalb als besonders aufschlussreich, weil sie nicht bloß die Formprobleme dieser Gattung durch ein foregrounding bewusst machen, sondern auch
deren epistemologische Grundannahmen kritisch beleuchten. Das literarische
Wissen von ›Meta-Autobiographien‹, so könnte man etwas paradox formulieren,
besteht somit nicht zuletzt darin, dass sie die Konventionen traditioneller Autobiographien dekuvrieren, deren Aporien freilegen und das auf der Referentialität gründende Wissen dieser vermeintlich nicht-fiktionalen Gattung in
Zweifel ziehen.
Obgleich nicht nur Autobiographien und autobiographisches Schreiben seit
geraumer Zeit in den englischsprachigen Literaturen eine ähnliche Hochkon7 Vgl. Lejeune (1994).
30
Ansgar Nünning
junktur haben wie in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur8, sondern auch
die Autobiographieforschung und die Theorie der Autobiographie einen bemerkenswerten Aufschwung erfahren haben9, haben weder Meta-Autobiographien noch andere Innovationen in dieser Gattung bislang gebührende Beachtung erhalten. Gleichwohl ist unverkennbar, dass das wiedererwachte Interesse
an der nicht-fiktionalen wie fiktionalen Autobiographie und die Beliebtheit des
autobiographischen Schreibens weder auf Nostalgie beruhen, noch als Indiz für
einen Rückfall in faktengläubigen Positivismus zu sehen sind. Vielmehr haben
sich die Formen und Funktionen des autobiographischen Schreibens sowie die
Theoriebildung so grundlegend gewandelt, dass man durchaus von einem Paradigmenwechsel in der Theorie und Praxis der Autobiographik sprechen kann.
Nicht nur hat die poststrukturalistische Autobiographietheorie »eine grundlegende Neubestimmung des Autobiographischen vorgenommen«10, die das Interesse auf die Prozesse der sprachlichen Erzeugung bzw. Konstruktion des
autobiographischen Textes und Subjekts gelenkt hat.
Vielmehr ist es ebenso unverkennbar, dass auch die Gattung der Autobiographie und die Praxis des autobiographischen Schreibens sich zunehmend
durch eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit den Konventionen und
Traditionen der eigenen Gattung, d. h. durch jene Tendenz zur Metaisierung
auszeichnet, die als eines der Markenzeichen der Literatur in der Postmoderne
gilt, aber auch in früheren Epochen schon zu beobachten ist.11 Vor allem in der
englischsprachigen Gegenwartsliteratur ist eine intensive Auseinandersetzung
mit den Konventionen, Selektionskriterien und Rezeptionserwartungen der
Gattungen der Biographie und Autobiographie zu beobachten. Vor dem Hintergrund postmoderner Krisen von Subjekt, Autor und Identität erweist sich die
thematische Fokussierung auf so hochgradig konventionalisierte Gattungen wie
die Biographie und die Autobiographie als ebenso geeigneter wie ergiebiger
Ansatzpunkt für eine Reihe von literatur- sowie kulturwissenschaftlichen Fragestellungen, die in das Zentrum der Forschung zum autobiographischen
Schreiben führen.
Als Folge ihrer prononcierten Selbstreflexivität präsentieren Meta-Autobiographien nicht mehr eine kohärente Darstellung von Fakten und Informationen
aus einem Leben, und sie schreiben auch keine konventionelle Lebensgeschichte.
Vielmehr stellen sie oftmals mehrere autobiographische Geschichten einander
gegenüber, die sich nicht nur zum Teil widersprechen, sondern die sich auch in
hochgradig selbstreflexiver Weise und mit einer Vielzahl an intertextuellen und
8
9
10
11
Vgl. Breuer/Sandberg (2006).
Vgl. Eakin (1986), (1999), (2008); Egan/Helms (2001a), (2001b), (2005).
Wagner-Egelhaaf (2006), 356.
Vgl. Hauthal et al. (2007).
Meta-Autobiographien
31
intermedialen Referenzen mit den Gattungskonventionen der Autobiographie
auseinandersetzen. Gerade die Bewusstmachung der Konventionalität der Gattungsschemata sowie das Ausstellen von intertextuellen Echos haben weitreichende Konsequenzen, weil sie die Authentizität und den Zeugnischarakter, der
traditionellerweise dem autobiographischen Schreiben zugeschrieben wird,
unterminieren: »In dem Maße, in dem der Text als Montage kultureller Zitate
betrachtet wird und der Autor nurmehr eine Art Kompilator ist, scheint der
autobiographische Text seinen Zeugnischarakter einzubüßen.«12
Die Bedeutung fiktionaler Meta-Autobiographien für die Autobiographieforschung resultiert nicht zuletzt daraus, dass sie in ihrer komplexen Struktur,
ihrem intertextuellen Geflecht und ihrer meta-autobiographischen Selbstreflexivitität das Paradox des life-writing thematisieren und inszenieren13, welches
die Begriffe der Biographie und der Autobiographie nicht ganz verschleiern
können. Michel de Certeau hat diese Paradoxie, die diesen Gattungen inhärent
ist, in Bezug auf den Begriff ›Historiographie‹ treffend dargelegt:
Historiography (that is, ›history‹ and ›writing‹) bears within its own name the paradox
– almost an oxymoron – of a relation established between two antimonic terms, between the real and discourse. Its task is one of connecting them and, at the point where
this link cannot be imagined, of working as if the two were being joined.14
Anknüpfend an de Certeau kann also mit Recht argumentiert werden, dass es
sich bei den Begriffen Biographie und Autobiographie ebenfalls um Paradoxe –
fast schon um Oxymora – handelt. Während also das Ziel einer konventionellen
Biographie und Autobiographie – sei diese faktual oder fiktional – darin besteht,
Leben und Schreiben bzw. Selbst (auto), Leben (bios) und Schreiben (graphia),
miteinander zu verknüpfen15 und an den Punkten, wo dies unmöglich ist, so zu
tun, als seien diese miteinander verknüpft, ist es das hervorstechende Merkmal
von meta-autobiographischen Romanen, dass sie gerade die Lücke zwischen
Leben und Schreiben in den Vordergrund stellen. Smith und Watson fassen diese
gattungsspezifische Selbstreflexivität in Bezug auf Dave Eggers Roman wie folgt
zusammen: »Claiming to tell a true story in a genre about whose manoeuvres he
is acutely, endlessly self-conscious, he invites readers to confront the undecidability of autobiographical acts.«16 Meta-autobiographische Romane schaffen so
ein Bewusstsein für eben jene Mechanismen, Schreibweisen und Techniken,
mittels derer traditionelle Autobiographien das Vorhandensein dieser Lücke zu
verschleiern suchen.
12
13
14
15
16
Wagner-Egelhaaf (2006), 358.
Vgl. Nünning (1999), (2005).
de Certeau (1988), XXVII.
Vgl. Misch (1989), 38.
Smith / Watson (2001), 9.
32
Ansgar Nünning
Für die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung zur Autobiographie
und zum autobiographischen Schreiben ist es aus verschiedenen Gründen sehr
aufschlussreich, sich intensiver mit diesen selbstreflexiven ›Autofiktionen‹17
bzw. fiktionalen Meta-Autobiographien zu beschäftigen: Zum einen gibt eine
gattungstheoretische und -typologische Untersuchung des Genres der fiktionalen Meta-Autobiographie, so eine der beiden Thesen dieses Beitrags, Einblick
in die Vielfalt und das »Nebeneinander unterschiedlicher Modelle und Konzepte«, das für die »Autobiographie nach der Autobiographie«18 kennzeichnend
ist. Zum anderen erweisen sich diese selbstreflexiven Autofiktionen bzw. fiktionalen Meta-Autobiographien, so die zweite These, als ein fiktionaler Explorationsraum für die selbstreflexive Auseinandersetzung mit den Konventionen
traditioneller Autobiographien, den Möglichkeiten des autobiographischen
Schreibens und den Grenzen der Erinnerung. In dieser Hinsicht fungieren
solche Autofiktionen dieser These zufolge als Gattungsgedächtnis und Gattungskritik der Autobiographie.
Aus diesen einführenden Überlegungen leitet sich die Zielsetzung dieses
Beitrags ab, der einige Bausteine für eine noch zu entwickelnde Theorie, Typologie und Funktionsgeschichte der fiktionalen Meta-Autobiographie zu liefern versucht. Im Anschluss an eine kurze Einführung in das Genre der fiktionalen Meta-Autobiographie (Abschnitt 2) sollen zunächst verschiedene Ebenen
und Dimensionen der Selbstreflexivität herausgearbeitet (Abschnitt 3) werden.
Die beiden folgenden Abschnitte skizzieren einige Bausteine für eine Theorie
und Gattungstypologie der Autobiographie und Meta-Autobiographie (Abschnitt 4) sowie Grundzüge einer Narratologie und Poetik der Autobiographie
und Meta-Autobiographie (Abschnitt 5). In Abschnitt 6 werden Meta-Autobiographien dann aus funktionsgeschichtlicher Sicht als eine Art von Gattungsgedächtnis und Gattungskritik untersucht, um die literatur- und kulturwissenschaftlichen Funktionspotentiale dieser innovativen Metagattung herauszuarbeiten. Angesichts der Vielzahl ungelöster Probleme handelt es sich
nicht um eine ausformulierte Theorie, Typologie, Narratologie oder Funktionsgeschichte der Meta-Autobiographie, sondern lediglich um einige Vorbemerkungen dazu, also um Prolegomena bzw. eine ›einleitende Begriffsentwicklung‹.
17 Vgl. Gronemann (2002).
18 Wagner-Egelhaaf (2006), 361.
Meta-Autobiographien
II.
33
Von der rückblickenden Erzählung einer faktischen
Lebensgeschichte zur Metaebene der selbstreflexiven
Rekonstruktion und Repräsentation der Aporien der
Autobiographie: Einführung in das Genre der
Meta-Autobiographie
Ungeachtet der inzwischen zu Topoi gewordenen Krisen von traditionellen
Autor-, Subjekt- und Identitätskonzeptionen lässt sich in den englischsprachigen Literaturen der Gegenwart ein wiedererwachtes Interesse an der Darstellung
menschlicher Lebensbeschreibungen und Identitätsdarstellungen in den Genres
der fiktionalen Biographie und Autobiographie feststellen. Kennzeichnend für
neue Erscheinungsformen dieser Genres ist allerdings eine prononcierte Tendenz zu Metaisierung bzw. Selbstreflexivität: Im Zentrum solcher Romane steht
die selbstreflexive, kritische Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragestellungen (auto)biographischer Sinnstiftung und den Konventionen von Biographie und Autobiographie. Angesichts dieser unverkennbaren Metaisierung
dieser Genres erscheint es durchaus gerechtfertigt, vom Entstehen neuer Metagenres wie der »fiktionalen Metabiographie«19 und – in Analogie dazu – der
fiktionalen Meta-Autobiographie zu sprechen.
Um möglichen Missverständnissen und einem naheliegenden Einwand entgegenzutreten, sei jedoch vorweggeschickt, dass die Thematisierung der Mechanismen autobiographischen Schreibens weder ein Novum noch ein Randphänomen postmoderner Romankunst ist; vielmehr zählt Selbstreflexivität seit
langem zur Gattungsgeschichte der Autobiographie20, auch wenn die Geschichte
dieser Gattung etwa in der englischen Literatur erst unlängst umfassend rekonstruiert worden ist21. Das prominenteste Beispiel für eine frühe fiktionale
Meta-Autobiographie in der englischen Literatur ist ohne Zweifel Lawrence
Sternes experimenteller Roman The Life and Opinions of Tristram Shandy,
Gentleman (1759 – 67), der als Wegbereiter selbstreflexiven, metafiktionalen und
meta-autobiographischen Schreibens gelten kann. Neben der Vielzahl an metabiographischen Romanen zeichnet sich in der zeitgenössischen Literatur auch
ein Trend hin zu meta-autobiographischen Romanen ab: Stellvertretend für
einige andere Romane, die zu dieser neuen Erscheinungsform zu zählen sind,
seien etwa Michael Ondaatjes persönliche Vergangenheitsbewältigung in seinem
meta-autobiographischen Roman Running in the Family (1983), Philip Roths
lakonisch betitelte Autobiographie The Facts: A Novelist’s Autobiography (1988),
Jenny Diskis komplexer Roman Skating to Antarctica (1997) sowie Stephen Frys
19 Vgl. Nadj (2006).
20 Vgl. Holdenried (1991).
21 Vgl. Löschnigg (2006).
34
Ansgar Nünning
amüsanter autobiographischer Text Moab Is My Washpot (1997) genannt. Darüber hinaus zeigen vor allem hochgradig selbstreflexive Romane wie Dave Eggers A Heartbreaking Work of Staggering Genius (2000) und Lauren Slaters
äußerst aufschlussreich betitelte Autofiktion Lying: A Metaphorical Memoir,
beide aus dem Jahr 2000, dass es sich bei meta-autobiographischen Romanen
um eine markante neue Erscheinungsform autobiographischen Schreibens in
der zeitgenössischen englischsprachigen Literatur handelt. Eggers höchst unkonventioneller, hochgradig selbstreflexiver und metafiktionaler Text, der von
beiden ›Enden‹ des Buchs gelesen werden kann, liefert unter dem Titel »Mistakes
we knew we were making« die »Notes, Corrections, Clarifications, Apologies,
Addenda« gleich mit. Der Wahrheits- bzw. Fiktionsstatus von Slaters Text, der
zunächst unter dem nicht minder selbstreflexiven Titel Spasm: A Memoir with
Lies publiziert wurde, entzieht sich jeglicher klaren Einordnung und verweist so
bereits durch das paratextuelle Signal des Titels auf die durchlässigen Grenzen
zwischen Fakten und Fiktionen in Autobiographien.22
Ähnlich wie fiktionale Metabiographien zeichnen sich meta-autobiographische Romane bzw. fiktionale Meta-Autobiographien dadurch aus, dass sie metaisierende Elemente in ganz spezifischer Weise einsetzen, indem sie die Konventionen, die Bauformen und Rezeptionserwartungen einer Gattung, der Autobiographie, zu ihrem Thema erheben und somit ein Bewusstsein schaffen für
schematisierte Darstellungsverfahren autobiographischen Schreibens. Doch
während es bereits eine Reihe von Studien und Arbeiten zur fiktionalen Metabiographie gibt und Romane wie Julian Barnes’ Flaubert’s Parrot (1984), Peter
Ackroyds Chatterton (1987) und Antonia S. Byatts The Biographer’s Tale (2000)
Gegenstand zahlreicher Interpretationen sind, handelt es sich bei der systematischen Analyse meta-autobiographischer Romane bzw. fiktionaler Meta-Autobiographien in der zeitgenössischen englischsprachigen Erzählliteratur noch
um ein Forschungsdesiderat. Bislang fehlt es insbesondere an einer differenzierten Beschreibung der Themen, Formen und Poetik dieser selbstreflexiven
Formen des autobiographischen Schreibens wie auch an geeigneten gattungsspezifischen Funktionshypothesen.
Um den skizzierten literarischen Entwicklungen auch terminologisch Rechnung zu tragen, bedarf es nicht bloß einer erweiterten Gattungsdefinition der
fiktionalen Autobiographie, sondern auch eines neuen Gattungsbegriffs, der die
Verlagerung auf die Metaebene der autobiographischen Selbstreflexivität deutlich zum Ausdruck bringt. Als Bezeichnung für einen ähnlich selbstreflexiven
Typus des postmodernen historischen Romans, der eine spezifische inhaltliche
Ausprägung von metafiction darstellt, hat sich inzwischen der von Linda Hutcheon geprägte Terminus historiographic metafiction etabliert. Mit diesem Be22 Vgl. dazu die Beiträge in Breuer/Sandberg (2006).
Meta-Autobiographien
35
griff etikettiert Hutcheon »those well-known and popular novels which are both
intensely self-reflexive and yet paradoxically also lay claim to historical events
and personages«23. Worin die wesentlichen Neuerungen bzw. die typischen
Merkmale von historiographic metafiction zu sehen sind, lässt sich am besten
durch einen Vergleich der Begriffe ›historische Fiktion‹ und ›historiographische
Metafiktion‹ zeigen. Erstens verdeutlicht die Substitution des Adjektivs ›historisch‹ durch ›historiographisch‹, dass historiographische Metafiktion den Akzent vom historischen Geschehen auf den Prozess der imaginativen Rekonstruktion von Geschichte und auf die Reflexion über Probleme der Historiographie verlagert. Das Substantiv ›Metafiktion‹ verweist auf das zweite Merkmal,
durch das sich historiographic metafiction vom traditionellen historischen
Roman unterscheidet: Historiographische Metafiktion zeichnet sich durch ein
hohes Maß an ästhetischer Selbstreflexivität, d. h. ausgiebige Reflexionen über
Fiktion und die eigene Fiktionalität, aus. Im Unterschied zum konventionellen
realistischen historischen Roman liegt der Akzent in historiographischer Metafiktion somit nicht auf der (mehr oder weniger authentischen) Darstellung
geschichtlicher Personen oder Ereignisse. Vielmehr stehen die Bezugnahme auf
geschichtliche Themen und die metafiktionale Qualität von historiographic
metafiction primär im Dienst der theoretischen Reflexion über Probleme der
Geschichtsschreibung.
In Analogie dazu erscheint es sinnvoll, wie oben bereits beiläufig geschehen,
innovative Ausprägungen von selbstreflexiven fiktionalen Autobiographien als
›autobiographische Metafiktion‹ bzw. ›fiktionale Meta-Autobiographien‹ zu
bezeichnen. Diese Begriffe sollen signalisieren, dass sich die Aufmerksamkeit in
solchen fiktionalen Autobiographien von der Darstellung von Ereignissen aus
dem Leben einer historischen Persönlichkeit auf die Metaebene der Reflexion
über deren Aneignung, Rekonstruktion und Repräsentation im Medium der
(fiktionalen) Autobiographie verlagert. Nicht die Darstellung des Lebens selbst
steht somit im Zentrum, sondern die nachträgliche Beschäftigung des Autobiographen mit seiner Lebensgeschichte und den Problemen der retrospektiven
Sinnbildung und des autobiographischen Schreibens. Ähnlich wie im Falle von
historiographic metafiction besteht eines der wesentlichen Kennzeichen von
fiktionalen Meta-Autobiographien darin, dass die Probleme der Rekonstruktion
der Vergangenheit vom Standpunkt des Hier und Jetzt, der retrospektiven
Sinnstiftung sowie der Möglichkeiten und Grenzen der sprachlichen Repräsentation vergangenen Geschehens ins Zentrum rücken. Im Gegensatz zu traditionellen Autobiographien lenken (fiktionale) Meta-Autobiographien die
Aufmerksamkeit auf die Probleme der autobiographischen Rekonstruktion, des
23 Hutcheon (1988), 6.
36
Ansgar Nünning
Schreibens von Lebensgeschichten und des Wissens, das die Gattung der Autobiographie beanspruchen kann.
Einige Textbeispiele mögen dazu beitragen, diese noch relativ abstrakten
Überlegungen zu den Merkmalen von Meta-Autobiographien zu veranschaulichen und zu konkretisieren. Als ein Beispiel für explizite selbstreflexive Kommentare zu den Konventionen der Autobiographie, das stellvertretend für eine
Vielzahl weiterer steht, sei etwa eine Bemerkung des Erzählers von Michael
Ondaatjes hybridem autobiographischen Werk Running in the Family zitiert,
der ein traumatisches Erlebnis des autobiographischen Subjekts, also seines
früheren Selbst, wie folgt kommentiert:
I am dreaming and wondering why this was never to be traumatically remembered. It is
the kind of event that should have surfaced as the first chapter of an anguished autobiographical novel.24
Das für ›Meta-Autobiographien‹ wohl besonders typische Merkmal besteht
darin, dass sie sich explizit mit den Konventionen, Formproblemen und epistemologischen Annahmen traditioneller Autobiographien auseinandersetzen
und dabei oftmals genau jene gattungskonstituierende Übereinkunft in Frage
stellen, die Lejeune mit dem Begriff des autobiographischen Paktes bezeichnet.
Viele Meta-Autobiographien ziehen nicht nur die Vorstellung in Zweifel, dass
eine Identität von Autor, Erzähler und Protagonist besteht, sondern auch den
angeblich nicht-fiktionalen Status der Autobiographie. Meta-Autobiographien
werfen ein breites Spektrum epistemologischer und darstellungsbezogener
Fragen auf. So weist etwa der autobiographische Erzähler am Ende von Hanif
Kureishis Werk My Ear at His Heart: Reading My Father, das sowohl als
selbstreflexive Autobiographie bzw. Meta-Autobiographie als auch als eine
Biographie des Vaters des Autors bezeichnet und gelesen werden kann und
daher im Folgenden als ›Meta-Auto-/Biographie‹ bezeichnet wird, geradezu
emphatisch darauf hin, dass die wichtigste Erkenntnis für ihn in der Einsicht in
die Grenzen des interpersonalen Fremdverstehens besteht: »the lesson here is
about unknowability. One thing you do see, though it takes a lifetime to understand it, is that a human being – your parents and then yourself – is profoundly unknowable«25. Die weiteren Überlegungen des Erzählers lassen erkennen, welche weitreichenden Fragen sich aus dieser Einsicht für die Autobiographie als Gattung ergeben:
24 Ondaatje (1983), 138.
25 Kureishi (2004), 240.
Meta-Autobiographien
37
And, in writing this book, I have been led to other questions, such as, what is the history
of each individual? Where does it start and end, and, more importantly, how does this
history continue to work in you?26
Dabei handelt es sich zugleich, wie allein schon aus der metanarrativen Einführung des Zitats (»in writing this book«) ersichtlich wird, um Fragen, die im
Zentrum jener selbstreflexiven Autobiographien stehen, die in diesem Beitrag
als ›Meta-Autobiographien‹ bezeichnet werden. Anstatt jedoch alle innovativen
Gattungsausprägungen unter dem Sammelbegriff der ›Meta-Autobiographien‹
zu subsumieren und lediglich pauschal von ›Selbstbezüglichkeit‹ oder ›Metafiktionalität‹ als deren zentralem Merkmal zu sprechen, stellt sich für die Gattungstheorie der Autobiographie vor allem die Frage, welche Einsichten sich aus
solchen Meta-Autobiographien im Hinblick auf die Formprobleme und Konventionen der Gattung gewinnen lassen. Daher sollen im nächsten Abschnitt
verschiedene Dimensionen und Ebenen der Selbstreflexivität unterschieden
werden.
III.
Dimensionen und Ebenen der Selbstreflexivität in
Meta-Autobiographien
Wie aus der Einführung in die Merkmale des Genres im vorigen Abschnitt
deutlich geworden sein dürfte, tragen Meta-Autobiographien durch eine veränderte Themenselektion, experimentelle Darstellungsverfahren und explizite
Kommentare zu Gattungskonventionen dazu bei, herkömmliche Vorstellungen
von – literarischen und wissenschaftlichen – Darstellungen eines Lebens einer
Person und damit auch Annahmen, die mit dem Konzept des autobiographischen Paktes verknüpft sind, nachhaltig in Zweifel zu ziehen. Damit reflektieren
solche selbstreflexiven Spielarten autobiographischen Schreibens zugleich
grundlegende Einsichten poststrukturalistischer Literaturkritik, narrativistischer Konzeptionen von Identität und dekonstruktivistischer Sprachkritik, die
Autobiographien und Biographien in gleichem Maße betreffen und epistemologische Herausforderungen für diese Genres darstellen:
[T]he epistemological challenge to biography has been intensified by poststructuralist
and postmodernist critiques of language, selfhood, and historical narrative. If language
cannot transparently convey reality, if the self is a fictive construct or mere multiplicity
of subject positions, if narrative itself imposes a false coherence on events, then no
biographical account of someone’s life can be in any sense ›true‹.27
26 Ebd.
27 Hoberman (2001), 111.
38
Ansgar Nünning
Verkürzt formuliert: Meta-Autobiographien bringen die – natürlich nicht mehr
neue – Einsicht literarisch zum Ausdruck, dass das Schreiben von Autobiographien und Biographien – fiktionalen wie auch nicht-fiktionalen – inzwischen
selbst aus einer ganzen Reihe von Gründen zu einem Problem geworden ist.
Indem sie nicht bloß die sprachliche Konstitution des autobiographischen
Subjekts bewusst machen, sondern auch grundlegende Gattungsschemata der
Autobiographie durch ein foregrounding ausstellen, ziehen sie gleichsam die
folgerichtige fiktionale Konsequenz aus den Einsichten poststrukturalistischer
Sprach-, Identitäts- und Autobiographietheorien. Treffend und mit ironischer
Zuspitzung bemerkt der englische Literaturkritiker und Romancier Malcolm
Bradbury in Mensonge (1987), einer parodistischen Satire auf den Poststrukturalismus im Medium einer unkonventionellen fiktiven Metabiographie:
Alas, what with the Death of the Author and the Disappearance of the Subject, even an
ordinary biography is bound to be a problem these days. Biographies are said to be
fictions revealing more about the biographer than they do about their subjects, who of
course do not exist anyway.28
Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, setzen sich Meta-Autobiographien aber
nicht nur mit den Problemen der sprachlichen Repräsentation von Lebensläufen
auseinander, sondern auch mit herkömmlichen Vorstellungen von Identität,
Selbst, Erinnerung, Erzählung, Referenz, Fiktion vs. Nicht-Fiktion und Repräsentation. Daraus leitet sich die Frage ab, welche Dimensionen und Ebenen der
Selbstreflexivität in Meta-Autobiographien identifiziert und unterschieden
werden können. Wie sich allein schon aus dem Kompositum des Gattungsnamens Meta-Autobiographien ableiten lässt, können sich explizit selbstreflexive
Äußerungen und implizite Formen von Selbstreflexivität auf ganz unterschiedliche Aspekte beziehen: auf Vorstellungen vom Selbst (auto), vom Leben
(bios) und vom Schreiben (graphia), aber auch noch auf andere Dimensionen
der Autobiographie, die ebenfalls Licht auf deren Formprobleme und Konventionen werfen.
Zunächst einmal enthalten Meta-Autobiographien in der Regel viele Metareflexionen über das Problem der Identität und die Krise des Selbst (MetaAUTO-Biographie). Im Mittelpunkt solcher kritischen Reflexionen steht oftmals
genau jene Annahme einer Identität von Autor, Erzähler und Protagonist, die
den nicht-fiktionalen Status der Autobiographie garantiert, eine referentielle
Rezeption des Textes nahe legt und durch das Konzept des autobiographischen
Paktes als konstitutives Gattungsmerkmal festgelegt wird. Im Gegensatz dazu
heben postmoderne Autobiographien oftmals gerade die Nicht-Identität von
Autor, erzählendem Subjekt und Protagonist bzw. erzähltem Selbst hervor.
28 Bradbury (1993 [1987]), 29.
Meta-Autobiographien
39
Außerdem betonen Meta-Autobiographien durch selbstreflexive Äußerungen
oftmals die performative Qualität der narrativen Konstruktion von Identitätsund Selbstentwürfen, die erst im Akt des autobiographischen Erzählens Gestalt
annehmen: »that ›self‹ is not only reported but performed, certainly by the
autobiographer as she writes«29.
Eine solche Problematisierung herkömmlicher Identitäts- und Subjektkonzeptionen zeigt sich etwa beispielhaft in Christine Brooke-Roses experimenteller Meta-Autobiographie Remake (1996), in der die Autorin von ihrem erinnernden Selbst, das in der Erzählgegenwart auf ihr Leben zurückblickt, in der
dritten Person als »old lady« erzählt (»The old lady sits at the computer in the
study«30) während ihr früheres Selbst – bzw. ihre verschiedenen ›Selbsts‹ – mit
anderen Namen bezeichnet werden (als Mädchen heißt sie Tess): »The old lady
can barely admit, let alone reconstruct, the retarded mental and physical age of
Tess at sixteen, the ignorance, the innocence, the non-connecting of things«31.
Die damit bereits betonte Diskontinuität und Nicht-Identität von Autor, Erzähler
und Protagonist wird außerdem explizit hervorgehoben: »Only a name and
memory can tesselate and texture all those different beings, the baby in Geneva,
the little girl in Brussels, Chiswick, Brussels, Folkestone, London, and all the
others to the old lady in Provence.«32 Ähnliche Reflexionen über die prekäre
Verfassung des Selbsts finden sich in vielen Meta-Autobiographien, etwa in
Hanif Kureishis Doppel-Auto-/Biographie My Ear at His Heart: Reading My
Father, in der sich der Erzähler wiederholt fragt, was das Konzept des Selbsts
eigentlich bezeichnet (»What shall we call our ›self‹?«33): »Writing this book I
wonder what my self consists of. I feel inhabited by others, composed of them.
Writers, parents, older men, friends, girlfriends, speak inside me. If I took them
away, what would be left?«34 Auch das Konzept von Identität, das für Autobiographien zentral ist, wird in selbstreflexiver Weise in Frage gestellt, wenn es in
Brooke-Roses Meta-Autobiographie Remake etwa heißt: »making identities
make a seamless tissue of half-lies«35.
Eine zweite Dimension von Selbstreflexivität, die sich in vielen Meta-Autobiographien findet, besteht in Metareflexionen über Leben, Lebenskonzepte und
Lebensgeschichten (Meta-Auto-BIO-graphie). Ein typisches Beispiel dafür sind
etwa die Überlegungen des Erzählers aus Kureishis My Ear at His Heart, nach
welchen kulturellen und von Generation zu Generation variablen Maßstäben der
29
30
31
32
33
34
35
Eakin (2008), 84.
Brooke-Rose (1996), 27.
Ebd., 81.
Ebd., 41.
Kureishi (2004), 18.
Ebd., 55.
Brooke-Rose (1996), 51; vgl. ebd., 81.
40
Ansgar Nünning
Wert eines gelungen Lebens eigentlich bemessen werde: »As well as this liberalisation, men of my generation are more likely to see the value of their lives not
only in terms of financial, sexual and social success, but in terms of the sort of
relationships they have had with their children.«36 Auch die oben bereits zitierte
Reflexion desselben Erzählers, wo eigentlich die Lebensgeschichte eines Individuums beginne und ende, liefert ein weiteres Beispiel für die Vielfalt der
Metareflexionen über Leben und Lebensgeschichten, die sich in Meta-Autobiographien finden: »what is the history of each individual? Where does it start
and end, and, more importantly, how does this history continue to work in
you?«37 Mit den anschließenden Reflexionen des Erzählers nach dem über den
Tod hinausreichenden Einfluss der (Stimmen der) Eltern auf das Leben der
Kinder wird zugleich die Frage aufgeworfen, wie sinnvoll die Fokussierung der
traditionellen Autobiographie auf das Leben eines Individuums letztlich ist,
zumal wenn sich dessen Selbst wiederum aus den Stimmen von Eltern, Verwandten, Freuden und anderen Schriftstellern zusammensetzt.38
Drittens enthalten Meta-Autobiographien oft auch metasprachliche Reflexionen über die Krise der Sprache und Schrift sowie über die Möglichkeit und
Grenzen der Repräsentation (Meta-Auto-Bio-GRAPHIE). Obgleich die sprachund repräsentationskritischen Dimensionen von Selbstreflexivität in Meta-Autobiographien meist eng miteinander verknüpft sind, lassen sie sich analytisch
und theoretisch trennen. Während es im ersten Fall um metasprachliche Reflexionen über die Unzulänglichkeit von Sprache geht, menschliche Erlebnisse,
Erfahrungen und Emotionen angemessen wiederzugeben, gehen repräsentationskritische Äußerungen noch darüber hinaus. In Brooke-Roses experimenteller Meta-Autobiographie Remake finden sich nicht nur viele metasprachliche
Reflexionen39, sondern auch der Hinweis, dass bereits ein neuer Name oder
Kosename für einen Menschen letztlich »a strange new identity, a public role
adopted from now on«40 sei.
Eng verknüpft mit dieser Skepsis gegenüber der Sprache und der Darstellbarkeit menschlicher Existenz ist in Meta-Autobiographien eine vierte Dimension von Selbstreflexivität, die sich in Metareflexionen über die Krise der
Repräsentation niederschlägt. Solche Äußerungen bringen Zweifel an der
Möglichkeit zum Ausdruck, etwas so Amorphes, Chaotisches und Komplexes
wie menschliches Leben und die Lebensgeschichte einer Persönlichkeit mit dem
Medium der Sprache und einer Erzählung repräsentieren bzw. aufschreiben zu
können. Damit reflektieren sie zugleich jenes Bündel von Einsichten, die unter
36
37
38
39
40
Kureishi (2004), 238 f.
Ebd., 240.
Vgl. ebd., 55.
Vgl. z. B. Brooke-Rose (1996), 2 ff.
Ebd., 87.
Meta-Autobiographien
41
den Begriffen des linguistic turn und der Krise der Repräsentation zusammengefasst werden, die nicht nur für die Ethnographie, sondern für alle geistesund kulturwissenschaftlichen Disziplinen weitreichende Folgen hatten und
weiterhin haben.
Unterstrichen wird die sprach- und repräsentationskritische Skepsis, durch
die sich viele Meta-Autobiographien auszeichnen, durch eine fünfte Dimension
von Selbstreflexivität, die sich auf die Grenzen der Erinnerung und die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses bezieht, auf dessen Leistungsfähigkeit ja immerhin der Glaube an die Authentizität, Referentialität und Wahrheit des autobiographischen Erzählens gründet. Solche Metareflexionen über Erinnerungen und die (Un-)Zuverlässigkeit des Gedächtnisses finden sich freilich nicht
nur in vielen Meta-Autobiographien, sondern auch in vielen zeitgenössischen
Romanen, Essays und natürlich in der umfangreichen Forschung zum autobiographischen und kollektiven Gedächtnis. Die beiden folgenden Beispiele aus
zwei metahistorischen Romanen, Barry Unsworths Sugar and Rum (1990) und
Salman Rushdies Midnight’s Children (1981) mögen genügen, um zu verdeutlichen, welche Fragen sich allein im Hinblick auf die (Un-)Zuverlässigkeit des
Gedächtnisses und die Grenzen der Erinnerung stellen:
How much of this is truly remembered? he wondered. How much embroidered, how
much invented? Does it matter? Memories have to be aided by invention or they could
not be formulated at all.41
Memory’s truth, because memory has its own special kind. It selects, eliminates, alters,
exaggerates, minimizes, glorifies, and vilifies also; but in the end it creates its own
reality, its heterogeneous but usually coherent version of events; and no sane human
being ever trusts someone else’s version more than his own.42
Es dürfte auf der Hand liegen, dass diese Einsichten in die begrenzte Zuverlässigkeit der persönlichen Erinnerung insofern gravierende Folgen für das Projekt
des autobiographischen Schreibens haben, als die Einsicht in die verzerrenden
Auswirkungen der Dialektik von (selektivem) Erinnern und Vergessen letztlich
der Gattung ihren Anspruch auf Wahrheit und Zuverlässigkeit entzieht. Folgt
man der Einsicht, dass Erinnerungen immer auch Erfindungen sind, die
(mindestens) ebenso viel über die Ängste, Bedürfnisse und Wünsche des Erinnernden wie über die erinnerten Ereignisse und Erfahrungen aussagen, so
wird ersichtlich, dass damit zugleich der Glaube an den nicht-fiktionalen Status
der Autobiographie unterminiert wird und die form- und sinngebende Funktion
von Erinnerung und Erzählung deutlich erkennbar werden. Bereits Wolfgang
Iser bemerkte, nur in der Erinnerung herrsche »das notwendige Maß an Freiheit,
41 Unsworth (1990), 106.
42 Rushdie (1981), 211.
42
Ansgar Nünning
das es gestattet, die ungeordnete Vielfalt des erfahrenen Lebens in die Sinngestalt
eines stimmigen Zusammenhanges zu bringen […]. So bringt die Erinnerungsgestalt die Heteronomie des Lebens durch die aus ihr gewonnene Bedeutung zum Verschwinden.«43
In den meisten Meta-Autobiographien werden aber weniger die kohärenzund sinnstiftenden Funktionen der Erinnerung betont, sondern deren Grenzen
und begrenzte Zuverlässigkeit. So weist Brooke-Rose in Remake etwa immer
wieder auf »erased memories, dead memories, retrievable memories, buffer
memories«44 hin, die zur Folge haben, dass die Verfasserin einer Autobiographie
bei dem Versuch, ihr Leben narrativ zu schildern, mindestens ebenso sehr auf
ihre Einbildungskraft, ihren Erfindungsreichtum und ihr allgemeines Geschichts- und Weltwissen angewiesen ist wie auf ihr Gedächtnis: »the old lady
can’t decide, imagine, invent, select the life-file to call up first«45. An anderer
Stelle dieses hochgradig selbstreflexiven Werkes, in dem Hinweise auf die
Grenzen und Lücken der Erinnerung bzw. auf »[p]seudo-memory«46 zu den
wichtigsten Leitmotiven zählen47, heißt es lakonisch: »Memories can be invented.«48 Die Skepsis gegenüber der Vorstellung, eine Autobiographie könne eine
mehr oder weniger genaue Darstellung des wirklichen Lebens bieten, wird in
Remake nicht zuletzt durch selbstreflexive Äußerungen über die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses zum Ausdruck gebracht. So erteilt die Erzählerin nicht
nur den Metaphern des Gedächtnisses als Computer, Buch oder Film, die eine
Vorstellung vom Gedächtnis als Speicher implizieren, eine eindeutige Absage49,
sondern hebt auch immer wieder hervor, wie fragil, willkürlich und unzuverlässig persönliche Erinnerungen letztlich sind: »Memory is unique, random and
fragile, like life, and like life dies for ever.«50
Eine sechste Spielart von Selbstreflexivität, die in der autobiographischen
Praxis zwar oft eng mit metasprachlichen und metafiktionalen Äußerungen
verknüpft ist, aber durch das unterschiedliche Objekt der Reflexion von diesen
unterschieden werden kann, sind metanarrative Reflexionen über das Erzählen
selbst.51 Auch wenn die große Bandbreite verschiedener Arten von metanarrativen Äußerungen hier nicht im Einzelnen dargestellt werden kann52, setzen sie
sich alle mit Möglichkeiten und Grenzen von Erzählungen und Narrativität
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
Iser (1976), 203.
Brooke-Rose (1996), 14; vgl. ebd.: 127.
Ebd., 16.
Ebd., 11, 51 und passim.
Vgl. z. B. ebd., 2, 14 ff., 41 f., 84 f., 121, 125, 170.
Ebd., 41; vgl. 121.
Vgl. ebd., 170 f.
Ebd., 171.
Vgl. Nünning (2001); Neumann / Nünning (2009).
Vgl. dazu Nünning (2001).
Meta-Autobiographien
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auseinander, aber sie können sich auch auf kulturell verfügbare Plots, die ästhetische Illusionsbildung sowie die Probleme und Funktionen des Erzählens
beziehen. Auch für metanarrative Formen der Selbstreflexivität gibt es in den
meisten Meta-Autobiographien zahlreiche Beispiele, wobei vor allem der Unterschied zwischen Leben und Erzählung explizit hervorgehoben wird: Auf die
Frage »Isn’t life a story?« antwortet die Erzählerin in Remake: »No. A story is
arranged. Life is a file. A lot of files, mostly erased, the diskette to be copied
erasing the diskette receiving the copy.«53 Die Metaphorik unterstreicht die in
der metanarrativen Äußerung formulierte Einsicht, dass zwischen den ohnehin
fragilen Daten des selbst nicht narrativen Lebens, die durch die Grenzen der
Erinnerung bedroht sind und jederzeit dem Vergessen anheimfallen können
(»The brain’s diskettes are worn away, the files won’t come up in any detail.«54),
und der Erzählung des Lebens in Form einer Autobiographie genau jene nicht zu
überbrückende Kluft liegt, die zu Anfang dieses Beitrags in dem Zitat von de
Certeau als eine Paradoxie jeder Form von Historiographie bezeichnet wurde.
Besonders deutlich treten der Prozess der autobiographischen Rekonstruktion, der Akt des Schreibens einer Autobiographie und die Gemachtheit des
Endprodukts, das der Leser in Form der Autobiographie in den Händen hält,
etwa in Hanif Kureishis bereits zitierter Meta-Auto-/Biographie My Ear at His
Heart: Reading My Father und in Christine Brooke-Roses Remake hervor. So
thematisiert der Erzähler in Kureishis Text nicht nur häufig den Prozess der
auto-/biographischen Rekonstruktion und des eigenen Schreibens, sondern er
stellt auch Überlegungen darüber an, um was für eine Art von Buch es sich bei
seinem Text eigentlich handele: »I have to say I don’t know what sort of book I
am making here, as I spin my words out of his words, stories out of other stories.
It feels more like a pot into which I am stirring almost everything that occurs to
me.«55 Ebenso wie viele andere Meta-Autobiographien lenkt er damit die Aufmerksamkeit von dem bzw. den erzählten Leben auf sein Material bzw. Archiv
(»the damp boxes which constitute my ›archive‹«56) sowie auf seine dynamischen und prozesshaften Versuche der auto-/biographischen Rekonstruktion.
Nachdem der Erzähler ein autobiographisches Manuskript seines verstorbenen
Vaters gefunden hat, beklagt er sich bei seiner Frau, nun müsse er dieses Manuskript erst lesen, um das neue Material in sein bereits fertig geglaubtes eigenes
Buch – »this book, now called My Ear at His Heart«57 – zu integrieren. Auch in
Christine Brooke-Roses Remake werden häufig die konkrete Schreibsituation
53
54
55
56
57
Brooke-Rose (1996), 65.
Ebd., 100.
Kureishi (2004), 114 f.
Ebd., 115.
Ebd., 222.
44
Ansgar Nünning
der auf ihr Leben zurückblickenden »old lady« in der Gegenwart58 und deren
Probleme bei der Rekonstruktion ihres Lebens hervorgehoben. Vor allem betont
die Erzählerin in Remake durch metanarrative Kommentare auch die Diskrepanz zwischen erzählter bzw. erlebter Zeit und Erzählzeit, wenn sie darauf
hinweist, dass ein langer Zeitraum von über zwanzig Jahren glücklicher Ehe auch
in ihrer unkonventionellen Meta-Autobiographie kaum Erwähnung findet und
somit eine lange Lebensspanne in ihrer Erzählung weitgehend ausgespart wird,
weil das Thema »a non-narrative« oder aber »already narrativized«59, aber sicherlich kein Plot sei: »Anyway the labyrinth of married love isn’t a plot, old
thing. Someone said reality consists of non-events, history is about what goes
wrong.«60 Durch solche metanarrativen Reflexionen wird nochmals hervorgehoben, dass keineswegs ›das‹ Leben eines Menschen in einer Autobiographie
erzählt wird, sondern eine bestimmte konventionalisierte Lebensgeschichte, die
Erzähl- und Gattungsmustern sowie kulturell verfügbaren Plots entspricht.
Durch diese und andere Formen von autobiographischer Selbstreflexivität
verlagert sich nicht nur in Brooke-Roses ganz und gar unkonventioneller und
hochgradig selbstreflexiver Meta-Autobiographie, sondern auch in vielen anderen innovativen Gattungsausprägungen die Aufmerksamkeit immer wieder
von der erzählten Lebensgeschichte, die in traditionellen Autobiographien im
Zentrum steht, auf den Prozess der autobiographischen Rekonstruktion sowie
den Akt des Erzählens und Schreibens, d. h. »the unfolding of the autobiographical act in the present« (Eakin 2008: 157; vgl. ebd.: 156). Außerdem setzen sich
Meta-Autobiographien meist eng mit der Begrenztheit und Unzuverlässigkeit
der Erinnerung und der Quellen sowie der Kontingenz und Konstrukthaftigkeit
jeder Version einer Lebensgeschichte auseinander. Wie bereits der leitmotivisch
thematisierte metaphorische Titel Remake betont, handelt es sich bei einer
Autobiographie nie um eine mimetische Darstellung des tatsächlichen Lebens,
sondern stets um eine Art von Neuverfilmung, deren Inhalte mindestens ebenso
sehr von den (ebenfalls leitmotivisch betonten) Grenzen der Erinnerung und
dem jeweiligen Drehbuch (um im Bildfeld zu bleiben) wie von den tatsächlichen
Erlebnissen und Erfahrungen des erzählten Selbst geprägt werden.
Deutlich weitreichender als metanarrative Formen von Selbstreflexivität sind
aus gattungstheoretischer Sicht siebtens Metareflexionen über Gattungen, Gattungskonventionen sowie die Merkmale und Präfiguration autobiographischen
Erzählens selbst. Wie einige der oben zitierten Textbeispiele bereits haben erkennen lassen, beschränken sich zeitgenössische Meta-Autobiographien meist
nicht auf allgemeine sprach- und repräsentationskritische Reflexionen oder
58 Vgl. Brooke-Rose (1996), 6.
59 Ebd., 165.
60 Ebd.
Meta-Autobiographien
45
metanarrative Kommentare, sondern sie setzen sich in selbstreflexiver Weise vor
allem auch mit den Konventionen und Grenzen der eigenen Gattung auseinander. Solche metagenerischen Reflexionen, bei denen es etwa um die Frage geht,
welchem Genre der jeweilige Text zuzuordnen sei, sind insofern aus gattungstheoretischer Perspektive so aufschlussreich, als sie sich explizit mit gattungstheoretischen Fragen beschäftigen. So weisen z. B. im Falle von Lauren Slaters
Lying: A Metaphorical Memoir (2000) bereits der Titel und Untertitel als paratextuelle Signale darauf hin, dass es sich nicht um eine der Wahrheit verpflichtete traditionelle Autobiographie, sondern um eine metaphorische Form
des autobiographischen Schreibens handelt. Die Gattungszuordnung des Textes,
die aufgrund der generischen Grenzüberschreitungen sehr ambivalent ist, wird
von der Erzählerin so charakterisiert: »a book that takes up residence in the
murky gap between genres and, by its stubborn self-position there, forces us to
consider important things«61. Oft gehen die metagenerischen Formen der
Selbstreflexivität jedoch über die Frage der typologischen Abgrenzung von
autobiographischen Genres hinaus, etwa wenn auch die das Erzählen prägenden
Folgen thematisiert werden, die von Gattungskonventionen ausgehen. Nicht
zuletzt deshalb betont etwa die Erzählerin in Remake, dass es weitgehend vom
jeweiligen Genre und dessen Konventionen abhängt, was üblicherweise erzählt
werden kann und welche Rollen vorgesehen sind: »Besides, old people are of no
interest, have only walk-on parts in most stories. And new acquisitions of
knowledge after the Bildung part are a non-starter in narrative.«62
Aus dem breiten Spektrum von Äußerungen, die Spielarten von metagenerischer Selbstreflexivität darstellen, erweisen sich vor allem solche als dezidierte
Formen von Gattungskritik, die sich gegen jene Grundannahmen richten, die
Lejeune in seinem Konzept des autobiographischen Paktes auf den Begriff gebracht hat. Oftmals sind es metanarrative Äußerungen, die sich auf die Konventionen des Erzählens im Genre der Autobiographie beziehen. Solche Äußerungen und die in Meta-Autobiographien nicht selten anzutreffende Praxis, auf
den Protagonisten mit der 3. Person Singular zu verweisen (z. B. in Coetzees
autobiographischer Trilogie Boyhood, Youth und Summertime und BrookeRoses Remake) und ihm bzw. ihr bisweilen sogar einen anderen Namen zu geben
als den der Erzählinstanz, erschüttern gleichsam die Grundfeste der Gattungstheorie, gerade weil Lejeune und die an ihn anschließende Forschungstradition
diese Identität in den Rang der gattungskonstituierenden Konventionen erhoben hat.
Gleichwohl finden sich in Meta-Autobiographien keineswegs bloß solche
kritischen und skeptischen Formen der Auseinandersetzung mit Gattungs61 Slater (2000), 161.
62 Brooke-Rose (1996), 168.
46
Ansgar Nünning
konventionen, sondern auch selbstreflexive Äußerungen, die die präfigurierende Kraft des autobiographischen Paktes und der darin gleichsam ratifizierten
Regeln betonen. Zwei Beispiele mögen zumindest exemplarisch veranschaulichen, dass Gattungskonventionen als constraints fungieren, die ein Autobiograph keineswegs einfach ignorieren kann: »During the writing of this book, I
have missed writing fiction, the pleasurable freedom to be another, when anything can be said and done by the characters, uncircumscribed by some sort of
fidelity to reality.«63 Damit erkennt Kureishi bzw. das textuelle Aussagesubjekt
gleichsam ex negativo an, dass es ganz maßgeblich von den jeweiligen Gattungskonventionen abhängt, was beim Schreiben eines Romans oder einer
Autobiographie gesagt und getan werden kann und was nicht. Ganz ähnlich
weist die Erzählerin in Remake darauf hin, dass das Genre der Auto-/Biographie
seine eigenen Regeln hat, die der Autorin bestimmte Dinge wie Erfindung und
Innensicht gleichsam verbieten und sie auf Realitätsreferenzen verpflichten:
»Biografy’s like that. Can’t invent, can’t be free to go inside.«64
Achtens enthalten Meta-Autobiographien in den letzten Jahren oft auch
Metareflexionen über Medien und über die Medialität und Prämediation autobiographischen Erinnerns und Erzählens.
It is probably not too romantic to say that that was when my novel Midnight’s Children
was really born; when I realized how much I wanted to restore the past to myself, not in
the faded greys of old family-album snapshots, but whole, in CinemaScope and glorious Technicolor.65
In noch stärkerem Maße als die bislang unterschiedenen Dimensionen stellt die
neunte Spielart von Selbstreflexivität, Metareflexionen über die Fiktionalität
autobiographischen Erzählens, eine explizite Absage an das Konzept des autobiographischen Paktes und damit an die Auffassung dar, dass sich die Autobiographie durch ihren nicht-fiktionalen Status auszeichne. Viele Meta-Autobiographien setzen sich kritisch mit dieser Auffassung und der ihr zu Grunde
liegenden Unterscheidung von Fiktion und Nicht-Fiktion auseinander.
[…] our physical alienation from India almost inevitably means that we will not be
capable of reclaiming precisely the thing that was lost; that we will, in short create
fictions, not actual cities or villages, but invisible ones, imaginary homelands, Indias of
the mind.66
In ihrer Gesamtheit haben die verschiedenen Dimensionen und Ebenen der
Selbstreflexivität in Meta-Autobiographien zur Folge, dass der mit der Auto63
64
65
66
Kureishi (2004), 208.
Brooke-Rose (1996), 165.
Rushdie (1991), 9 f.
Ebd., 10.
Meta-Autobiographien
47
biographie und dem autobiographischen Pakt verknüpfte Anspruch, sich selbst
oder einen anderen Menschen erkennen zu können bzw. so gut über sie oder ihn
Bescheid zu wissen, dass ihr/sein Leben in Form einer Geschichte wiedergegeben werden kann, mit einem großen Fragezeichen versehen wird. Diese metaepistemologische Dimension des Genres, die in der oben zitierten Skepsis Hanif
Kureishis gegenüber der Erkennbarkeit und Verstehbarkeit des Anderen sowie
in der Einsicht in dessen »unknowability«67 prägnant zum Ausdruck gebracht
wird, läuft im Endeffekt darauf hinaus, dass der Anspruch der Autobiographie,
wahres Wissen über sein eigenes Leben und das Zusammenleben mit anderen
wiederzugeben, nachhaltig in Zweifel gezogen wird. Nicht umsonst bezieht der
Sprecher in Kureishis Meta-Auto-/Biographie diese Einsicht auch auf sein eigenes Leben, seine Existenz und Persönlichkeit: »It had already occurred to me
that that which made me who I was, was unavailable to my consciousness.«68
Wenn aber das autobiographische Subjekt freimütig eingesteht, dass es sich
selbst nicht erkennen könne, dann wird damit das autobiographische Projekt,
mittels einer Erzählung das eigene Leben darzustellen, grundsätzlich zur Disposition gestellt.
IV.
Zur narrativen Transformation und Repräsentation von Leben
in der Autobiographie: Bausteine für eine Typologie,
Narratologie und Poetik der Autobiographie und
Meta-Autobiographie
Wie im vorigen Abschnitt deutlich geworden sein dürfte, können Meta-Autobiographien in mehrfacher Hinsicht nicht nur als paradigmatische Beispiele für
ein gesteigertes Maß an Selbstreflexivität angesehen werden, sondern auch als
eine innovative Form der Weiterentwicklung der Gattung bzw. als eine neue
Gattungsausprägung, die aufgrund ihrer stark ausgeprägten Selbstreflexivität
Licht auf die Konventionen und Poetik der Autobiographie wirft. An der Grenze
zwischen Historiographie und Literatur, zwischen Fakt und Fiktion angesiedelt,
weisen postmoderne (nicht-fiktionale ebenso wie fiktionale) Meta-Autobiographien eine ausgeprägte Tendenz zur Hybridisierung, zur Überschreitung von
Gattungsgrenzen sowie der Grenzen der Fiktionalität, auf. Erstens zeichnen sie
sich nicht nur durch eine Renaissance von life-writing, d. h. dem postmodernen
Trend zur fiktionalisierten Darstellung historischer Persönlichkeiten in Form
von formal innovativen Autobiographien, sondern auch durch ein gesteigertes
67 Kureishi (2004), 240.
68 Ebd., 166.
48
Ansgar Nünning
Maß an Selbstreflexivität aus. Zweitens können Meta-Autobiographien in
zweifacher Hinsicht als revisionistisch charakterisiert werden: Sie stellen nicht
nur alternative Lebensläufe dar, sondern stellen auch die Gattungskonventionen
autobiographischen Schreibens in Frage. Drittens sind Meta-Autobiographien
insofern paradigmatische Vertreter einer gesteigerten Selbstreflexivität, als sie
traditionelle Gattungsgrenzen verwischen und den Fokus vom Erzählen einer
Lebensgeschichte auf die epistemologischen und methodologischen Probleme
richten, die beim Verfassen von Autobiographien unweigerlich entstehen.
Viele Meta-Autobiographien entziehen sich daher einer eindeutigen Gattungsklassifikation bzw. stellen die Tragfähigkeit und den Erkenntnisgewinn
von traditionellen Gattungsbeschreibungen auf die Probe. Gleichwohl darf die
Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis nicht sein, Gattungen per se als ausgedientes literaturtheoretisches Werkzeug anzusehen. Vielmehr zeigt sich, dass
gerade durch die Tendenzen zu Hybridisierung und Gattungsüberschreitungen,
die für Meta-Autobiographien kennzeichnend sind, das Gattungskonzept an
Bedeutung gewinnt: »It is the paradox of postmodern genre that the more radical the dissolution of traditional generic boundaries, the more important the
concept of genericity becomes.«69 Aus einem weiteren Grund bleibt das Gattungskonzept auch weiterhin sehr fruchtbar : Wie im nächsten Abschnitt noch
zu zeigen sein wird, können Meta-Autobiographien durch ihr hochgradig
selbstreflexives Potential als Gattungsgedächtnis und Gattungskritik bezeichnet
werden, da sie die Produktions- und Rezeptionserwartungen, die mit Autobiographien verknüpft sind, ins Bewusstsein führen. Wie sich Meta-Autobiographien explizit mit Gattungskonventionen auseinandersetzen, veranschaulicht etwa folgende Passage aus Lauren Slaters Lying (2000), in welcher dem
Rezipienten ganz bestimmte Erwartungen unterstellt werden, die sich aus dem
Konzept des autobiographischen Pakts und dem vermeintlich nicht-fiktionalen
Status der Gattung ergeben:
So, I suppose you want to know how much is true, how much untrue, and then we can
do some sort of statistical analysis and come up with a precise percentage and figure
out where the weight is. That, however, would go against my purpose, which is, among a
lot of other things, to ponder the blurry line between novels and memoirs. Everyone
knows that a lot of memoirs have made-up scenes; it’s obvious. And everyone knows
that half the time at least fictions contain literal autobiographical truths. So how do we
decide what’s what, and does it even matter?70
Angesichts der Zunahme selbstreflexiver Tendenzen in Autobiographien liegt es
aus gattungstypologischer Sicht nahe, in Analogie zu der Unterscheidung zwi69 Perloff (1989), 4.
70 Slater (2001 [2000]), 160.
Meta-Autobiographien
49
schen fiktionalen Biographien und Metabiographien71 auch zwischen Autobiographien und Meta-Autobiographien zu unterscheiden. Den einen Pol bilden
solche Autobiographien, die sehr heteroreferentiell sind und in denen historisch
belegte Ereignisse aus dem Leben des Autors den dominanten außertextuellen
Referenzbereich bilden. Die Lebens- und Wirklichkeitsdarstellung konzentriert
sich bei diesem Typus weitgehend auf die diegetische Kommunikationsebene,
auf der das Leben der Persönlichkeit im Zentrum steht. Hingegen dient die
extradiegetische Ebene primär zur neutralen Vermittlung des Geschehens, ohne
Aufmerksamkeit auf die Erzählinstanz, den Prozess der narrativen Strukturierung oder die retrospektive Sinnbildung zu ziehen.
Am entgegengesetzten Ende der Skala sind Meta-Autobiographien angesiedelt, deren Selektionsstruktur primär autoreferentiell ist und die eine ausgeprägte Dominanz der fiktionalen und metafiktionalen Elemente gegenüber
Aspekten der außertextuellen Realität aufweisen. In solchen Meta-Autobiographien, deren nicht-fiktionaler Status meist durch eine hohe Zahl und Streubreite
metafiktionaler Elemente in Zweifel gezogen wird, stellen nicht geschichtliche
Ereignisse, sondern Fragen der Autobiographie- und Geschichtstheorie den
primären Referenzbereich der außer- und intertextuellen Bezüge dar. Diese
Verlagerung auf metafiktionale Komponenten und Reflexionen über Probleme
des autobiographischen Schreibens geht oft einher mit einem hohen Grad an
Explizität der erzählerischen Vermittlung, die nicht mehr als ein transparentes
Medium fungiert, sondern so auffällig gestaltet ist, dass sie gegenüber der Ebene
des Geschehens in den Vordergrund rückt.
Im Gegensatz zu konventionellen Autobiographien verlagern Meta-Autobiographien den Akzent somit von der Darstellung der Lebensgeschichte des
Autobiographen auf die oft metafiktionale Auseinandersetzung mit epistemologischen, methodischen oder darstellungstechnischen Problemen der Rekonstruktion und narrativen Wiedergabe eines Lebenslaufes. Nicht das Leben des
Autobiographen – also das eigentliche Objekt der autobiographischen Darstellung – steht somit im Mittelpunkt, sondern die rekonstruierende Tätigkeit
des Autobiographen als sich erinnerndem, forschendem und schreibendem
Subjekt. Diese Akzentverlagerung verleiht solchen Werken ein hohes Maß an
literarischer und meta-autobiographischer Selbstbezüglichkeit, durch die der
Akt und Prozess des Schreibens selbst in den Fokus gerückt wird.
Darüber hinaus zeichnen sich Meta-Autobiographien, die in Analogie zu dem
von Linda Hutcheon eingeführten Begriff der historiographic metafiction72 auch
als ›autobiographische Metafiktion‹ bezeichnet werden können, durch ein hohes
Maß an ästhetischer und autobiographischer Selbstreflexivität aus, dessen un71 Vgl. Nünning (2000); Nadj (2006).
72 Vgl. Hutcheon (1988); Nünning (1995a), (1995b).
50
Ansgar Nünning
terschiedliche Dimensionen im vorigen Abschnitt herausgearbeitet wurden. Im
Unterschied zu anderen metafiktionalen Romanen werden in Meta-Autobiographien bzw. autobiographischer Metafiktion allerdings nicht primär die literarischen Konventionen von Fiktion in rückbezüglicher Weise thematisiert,
sondern es werden vor allem epistemologische, methodische oder darstellungstechnische Probleme der Autobiographie bzw. des autobiographischen
Schreibens problematisiert. Während in traditionellen Autobiographien (fiktionalen ebenso wie nicht-fiktionalen) die Differenz zwischen dem (faktischen)
Geschehen und der erzählten Geschichte, den res gestae und der historia rerum
gestarum, weitgehend verdeckt oder gar nivelliert wird, hebt autobiographische
Metafiktion sowohl deren Diskontinuität als auch die für den historischen und
autobiographischen Roman sowie für die Autobiographie konstitutive Spannung zwischen Fiktion und Historie, zwischen Kunst und Wissenschaft, hervor.
Anstatt also im Medium der Autobiographie den Lebenslauf eines Menschen
darzustellen, lenkt autobiographische Metafiktion die Aufmerksamkeit auf die
Kluft, die zwischen dem (vergangenen) Leben und dessen narrativer oder dramatischer Repräsentation liegt. Damit legt sie ein Problem offen, das konstitutiv
mit der Autobiographie und dem autobiographischen Schreiben verknüpft ist.
Die bisherige Kontrastierung von zwei diametral entgegengesetzten Idealtypen der Autobiographie darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich
keineswegs um eine binäre Opposition handelt; vielmehr entfaltet sich zwischen
diesen beiden Polen ein breites Spektrum verschiedener Erscheinungsformen.
Im Gegensatz zu dichotomischen Klassifikationen ist daher von einer graduellen
Skalierung verschiedener Ausprägungen von Autobiographien und Meta-Autobiographien auszugehen, der zufolge sich spezifische Realisationsformen auf
einem Kontinuum einordnen lassen. Obgleich die Übergänge zwischen ihnen
fließend sind und es gerade im Bereich zeitgenössischer Meta-Autobiographien
viele hybride Genres bzw. Mischformen gibt, lassen sich mit Hilfe der genannten
Kriterien verschiedene Abstufungen zwischen den Polen ermitteln und die
Merkmale unterschiedlicher Gattungsausprägungen beschreiben.
Überblickt man die Bandbreite der Gattungsausprägungen, so können unter
Rückgriff auf die Kriterien der Selektionsstruktur, des dominanten Zeitbezugs
(also des Verhältnisses zwischen Vergangenheit und Gegenwart), der Ebenen
und Formen der Geschichtsvermittlung sowie des jeweiligen Verhältnisses einer
fiktionalen Autobiographie zum Wissen der Historiographie vier Typen der
fiktionalen Autobiographie unterschieden werden: die dokumentarische fiktionale Autobiographie, die realistische fiktionale Autobiographie, die revisionistische fiktionale Autobiographie sowie die fiktionale oder metafiktionale
Meta-Autobiographie. Dokumentarische fiktionale Autobiographien weisen
eine Vielzahl von Realitätsreferenzen auf und legen ihren Fokus auf die Darstellung historischer Ereignisse. In realistischen fiktionalen Autobiographien