(De-)Radikalisierung Gewalt und Ideologie

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(De-)Radikalisierung Gewalt und Ideologie
15 | 10 | 2015
10.00 – 17.00
2., Scherzergasse 1A
TBA21 | SEMINARSAAL
(cc) Mural of the painting "Guernica" by Pablo Picasso, made in tiles | Location: Guernica | Photo: Papamanila | Cropped and colour-edited
Einladung
zum Seminar
( De- )Radikalisierung
Gewalt und Ideologie
Anmeldung | Kontakt | Info
Constantin Lager
Clemens Rettenbacher
Mira Webinger
[email protected]
Mit freundlicher Unterstützung von
(De-)Radikalisierung – Gewalt und Ideologie
Die Kämpfer der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) entfachten im Anschluss an ihre
Gebietsgewinne im Irak und in Syrien im Sommer 2014 einen Flächenbrand an
Menschenrechtsverbrechen, Massenerschießungen, Folter und Formen sexueller Gewalt.
Das dabei im Handeln der selbsternannten Gotteskrieger zu Tage tretende Ausmaß an
(medial selbstbewusst) zur Schau gestellter Gewaltbereitschaft und Radikalisierung
erschreckt – umso mehr, als dabei immer wieder im Kontext europäischer Nationalstaaten
sozialisierte Individuen in den Vordergrund gestellt werden. Nach Schätzung des
Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) haben sich bereits
240 junge Menschen von Österreich aus terroristischen Gruppen in Syrien und im Irak
angeschlossen, von denen 72 wieder zurückgekehrt sind (Stand September 2015).1
Europaweit belaufen sich die Zahlen auf 3.000 – 5.000 europäische StaatsbürgerInnen, die
den Exodus in den Dschihad gewählt haben (Europol). 2 Die „home grown terrorists“
verweisen nicht nur auf ein Gemengelage unterschiedlich gewaltbereiter Gruppen,
transnationaler Ressourcennetzwerke und eine diffuse Entgrenzung der Gewalt, sondern
auch auf daran gekoppelte Radikalisierungsprozesse. Dieses Phänomen, speziell im
Anschluss an die jüngsten Terroranschläge von Paris, hat die Frage nach Ursprung und
Antwortmöglichkeiten auf diese Entwicklungen in den medialen, politischen,
wissenschaftlichen, aber auch öffentlichen Fokus gerückt. Politik und Zivilgesellschaft stehen
vor der Herausforderung, konzeptuelle wie auch praktische Antworten auf diese Nähe zum
Terror, Gewalt und Radikalisierungsprozessen zu finden.
Seit Monaten sind eine breite Mobilisierung von Ressourcen und ein daran anschließender
Aufbau von Strukturen zu beobachten, die eine sicherheitspolitische, sozialarbeiterische und
auch wissenschaftliche Bearbeitung ermöglichen sollen. Während die Berichterstattung
Radikalisierungsprozesse von Jugendlichen ins Zentrum gesellschaftspolitischer Diskussionen gerückt hat, war zugleich erkennbar, wie mediale und politische Stimmungsmacher
unter Berufung auf „Kronzeugen der Inkompetenz“3 (Ingrid Thurner) versuchten, das
Bedrohungsszenario transnationaler Dschihadismus sehr eng an den Islam als Religion zu
binden. Sowohl das Bild der Religion als auch das Verständnis von individueller
Zugehörigkeit und Motivation unterschlagen eine letztlich entscheidende Differenz zwischen
Individuum und kulturellem Referenzrahmen. Die aufgrund dieser identitären Reduktion
durchaus als „kulturalistisch“ oder auch „kulturrassistisch“ zu bezeichnenden Konstruktionen
von „Islam“ oder „Muslim“ etablieren über äußere Zuschreibungen Individuen ohne ihr Zutun
als RepräsentantInnen einer unter „Generalverdacht“ stehenden Religion. Diese Reduktion
der Pluralität menschlichen Lebens etabliert nicht nur einen gefährlich einseitigen Diskurs, ihr
entspricht auch eine desaströse Konzeption des Politischen: Kaum zu mehr im Stande, als
1Deradikalisierungs-Initiative RAN Austria in Wien gegründet. 03.09.2015: APA.
http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/politik/772356_Deradikalisierungs-Initiative-RAN-Austria-inWien-gegruendet.html [letzter Zugriff: 07.09.2015]
2 European Union Terrorism Situation and Trend Report 2015. 06.07.2015: Europol.
https://www.europol.europa.eu/content/european-union-terrorism-situation-and-trend-report-2015
[letzter Zugriff: 07.09.2015]
3Radikales und Subtiles. Thurner, Ingrid. 13.01.2015: Die Presse.
http://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/4636858/Radikales-und-Subtiles
[letzter Zugriff: 07.09.2015]
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durch die eigene Konstruktion „Islam“ das radikal andere der europäischen Wertegemeinschaft zu inszenieren, liefern solche kulturchauvinistischen Diskurse Auftrieb für
rechtsextremistische Gruppen, die sich als praktizierende Antidemokraten nunmehr als
Schutzpatrone der Aufklärung und des christlichen Abendlandes inszenieren können. Der
diskursiv heraufbeschworene „Kampf der Kulturen“ mobilisiert extremistische Gruppen, die
gerade in Krisenzeiten davon profitieren, entlang struktureller gesellschaftlicher Konfliktlinien
(wie etwa Wohlstandsverteilung, Bildungschancen, soziale Mobilität, Partizipation,
Artikulation, Aneignung und Macht) den sich als ohnmächtig Empfindenden, ermächtigende
Identitätskonzepte anzubieten. Werden aber der liberalen Gesellschaftsordnung strukturell
immanente Konflikte in undifferenzierte ideologische Konfliktlinien übersetzt, bleibt
Radikalisierung als Prozess unverstanden und man redet letztlich dem Rechtsextremismus
und Dschihadismus das Wort.
Radikalisierungsprozesse von Individuen und Gruppen hin zu extremsten Formen der
Gewaltbereitschaft bzw. Gewaltanwendung sind keineswegs ein neues Phänomen. Vor allem
aber sind sie ein Phänomen, das durch simplifizierende Konzepte von Religion, Kultur oder
Entwicklung nicht verstanden werden kann. Siebzig Jahre nach der Befreiung der
nationalsozialistischen Vernichtungslager erweist sich der in ihnen manifestierte Komplex
aus Vernichtungswille, Gewaltbereitschaft und Radikalität nicht nur als unangenehm nahe an
der eigenen nationalstaatlichen und gesellschaftspolitischen Geschichte – der Wille, alles zu
tun, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei“ (Adorno) betrifft somit auch das Schicksal der
irakischen Kurden, Jesiden und Christen: beide Katastrophen sind nicht denkbar ohne die
dahinter stehenden radikalisierten Individuen, ihre Ideologien, ihre Kollektive sowie die damit
einhergehende Entmenschlichung anderer Gruppierungen. Vor diesem Hintergrund begreift
sich das Seminar als eine Intervention in bestehende Radikalisierungsdiskurse.
Unterschiedliche Akteure, die sich vor ihrem eigenen institutionellen Hintergrund (staatlich,
medial, zivilgesellschaftlich) mit dem Phänomen Radikalisierung auseinandersetzen, bilden
die Arena, in der Begrifflichkeiten mit praxisrelevanter Bedeutung aufgeladen werden. Die
daraus entspringende Wahrnehmung sozialer Wirklichkeiten ist nicht nur Ausdruck des
sozialen Problembewusstseins, sondern beinhaltet auch Entscheidungen über Handlungsstrategien, Kompetenzbereiche und Gefahrenbewertungen. Radikalität bietet dabei ein
breites Interpretationsspektrum, dessen Abgrenzung gegenüber synonym verwendeter
Begrifflichkeiten wie Extremismus, Fundamentalismus oder Terrorismus oft unklar ist.
Konzeptionelle Unschärfen begleiten den Begriff darüber hinaus in seinem Verhältnis zu
Traditionalismus, Revolution, Transformation und Gewalt. Radikalität als Begriff taucht so
etwa geschichtlich das erste Mal im Kontext der politischen Auseinandersetzungen der
liberal bürgerlichen Emanzipationsbewegungen auf und muss daher keinesfalls negativ
besetzt sein: Das Ende der feudalen Privilegien, eine vertragstheoretische Begründung der
souveränen Macht sowie Gesetzgebung durch den Parlamentarismus galten selbst einmal
als radikale Ideen, die eben von radikalen Gruppen eingefordert bzw. erkämpft werden
mussten. Was als „radikal“ bzw. „Radikalität“ verstanden werden kann und welche Rolle
dabei Gewalt spielt, transformiert sich im Laufe der Geschichte und ist immer nur im Kontext
spezifischer gesellschaftlicher Strukturen und Machtverhältnisse fassbar. Ziel des Seminars
ist daher eine konzeptionelle Aufbereitung der Begriffslandschafts als auch des Phänomens
„Radikalisierung“ als Prozess und den damit verbundenen Aspekten: Kognition
(Überzeugung), Affekt, Jugendkultur, Gruppendynamik, strukturelle Gewalt, Gewalterfahrung,
Ideologie.
Jenseits von kulturalistischen Zuschreibungen verstehen wir Radikalisierung in Übereinstimmung mit der gängigen Fachliteratur, als einen Prozess, den Individuen durchlaufen und
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der sich in vergleichender Perspektive analysieren lässt. Ein „radikales“ Verhältnis des
Individuums zur Gesellschaft ist immer ein „imaginäres“ und damit auch ideologische
Konstruktion. Hierbei bilden die die jeweilige Position vermittelnden Ideologien und die mit
ihnen verbundenen sozialen Gruppen zentrale Momente, in welchen Radikalisierungsdynamiken von Individuen im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen begriffen werden
können. Nicht der Vergleich von „Welterklärungssystemen“ soll den Gegenstand der
Auseinandersetzung bilden, vielmehr stehen Gruppenpraxen, die Zugehörigkeiten und
Identitäten organisieren, im Zentrum der Betrachtung. So sind Radikalisierungsprozesse
meistens an Identitätskrisen und die dahinter stehenden Formen von (struktureller) Gewalt
gekoppelt. Das Projekt richtet somit seinen Fokus auf die Mikro- (Individuum) und
Makroebene (Gesellschaft) und den damit verbundenen gesellschaftlichen Verhältnissen,
ihren Gruppen und sozialen Milieus, Machtverhältnissen sowie ihre Ausbeutungsbeziehungen.
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Programm
10.00 Begrüßung und Eröffnungsstatement
Constantin Lager (status quo) und Clemens Rettenbacher (status quo)
10.20 Andreas Peham (DÖW – Dokumentationsarchiv des österreichischen
Widerstands)
Radikalisierung, Ideologie und Gewalt
– Zum Vergleich extremistischer Strömungen
Diskutantin: Evrim Ersan-Akkilic (Institut für Islamische Studien, Universität Wien)
11.10 Evrim Ersan-Akkilic (Institut für Islamische Studien, Universität Wien)
Begriffe der Radikalisierung: Im Spannungsfeld zwischen individuellen
und gesellschaftlichen Diskursen
Diskutant: Constantin Lager (status quo)
12.00 Pause
12.10 Rüdiger Lohlker (Institut für Islamwissenschaften, Universität Wien)
Theologie der Terrorgruppe „Islamischer Staat“
Diskutant: Andreas Peham (DÖW)
13.00 Mittagspause
14.00 Saman Maani (Psychoanalytiker/Schriftsteller)
„Wie hältst du's mit der Kultur?“ – Psychoanalytische Reflexionen zu
säkularer Demokratie, Narzissmus und Radikalisierung
Diskutant: Daniel Ivancic (status quo, Psychoanalytiker i. A.)
14.50 Birgit Fritz (InExActArt – Verein zur Förderung performativer Kunst)
Radikalität im Theater
– Affekte, Körperlichkeit und die Transformation von Unterdrückung
Diskutantin: Mira Webinger (status quo)
15.40 Pause
16.00 Maximilian Lakitsch (ÖSFK – Österreichisches Studienzentrum für Frieden
und Konfliktlösung)
Säkulare und Göttliche Gewalt in der bürgerlichen Staatstheorie
Diskutant: Clemens Rettenbacher (status quo)
17.00 Gemeinsame Abschlussreflexion
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Kurzbiographien
Evrim Ersan-Akkilic ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Islamische Studien
und Projektkoordinatorin des Forschungsprojektes „Radikalisierung“. Ihre Forschungsschwerpunkte beinhalten Gender und Queer Studies, politische Gewalt und Terrorismus
sowie Radikalisierungsprozesse. Evrim Ersan-Akkilic ist Verfasserin verschiedener
Publikationen wie etwa „Imame und Integration“ (2015) und „Biografie als Kampfplatz.
Transsexualität im Spannungsfeld von Sexarbeit und Gewalt“ (2013).
Birgit Fritz arbeitet als Theaterpädagogin sowie im Bereich demokratiestärkender
Interventionen im Kontext transkultureller Friedensarbeit. Sie besitzt langjährige
internationale Erfahrung in der Arbeit mit den Methoden Augusto Boals und der Feldenkrais
Pädagogik. In diversen Forschungsreisen untersuchte sie alternative Theater- , Kunst- und
Lebensbereiche.
Maximilian Lakitsch ist seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am österreichischen
Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung an der Burg Schlaining (ÖSFK). Seine
Forschungsschwerpunkte sind die Konflikttheorie, Friedensforschung, das Spannungsfeld
zwischen Moderne und Konflikt sowie der politische Islam. Sein regionaler Fokus liegt auf
der MENA-Region. Maximilian Lakitsch ist Herausgeber und Verfasser zahlreicher
Publikationen wie etwa: „Political Power Reconsidered. State Power and Civic Activism
between Legitimacy and Violence” (2014) und „Unbehagen im modernen Staat. Über die
Grundlagen staatlicher Gewalt” (2013).
Rüdiger Lohlker ist Vorstand der Islamstudien am Institut für Orientalistik an der
Universität Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem das
islamische Recht und Völkerrecht sowie der Dschihadismus. In seinem Blog „Die Sandalen
von Sind“ schreibt er regelmäßig über allgemeine Themen mit Islambezug und übt rege Kritik
an anti-muslimischen Diskursen. Er ist Verfasser diverser Publikationen wie etwa:
„Dschihadismus. Materialien“ (2009) und „Islamisches Recht“ (2012).
Sama Maani lebt und arbeitet als Psychoanalytiker, Psychiater und Schriftsteller in Wien. Er
studierte in Wien Medizin und Philosophie in Zürich und veröffentlichte zahlreiche
Publikationen in deutschsprachigen und iranischen (Literatur-)Zeitschriften sowie die
Monographien „Ungläubig“ (2014) und „Respektverweigerung“ (2015).
Andreas Peham ist seit 1996 Mitarbeiter am Dokumentationsarchiv des österreichischen
Widerstandes (DÖW) mit den Forschungsschwerpunkten Rechtsextremismus und
Neonazismus unter Jugendlichen, Burschenschaften, Antisemitismus sowie Islamismus.
Darüber hinaus ist er an Schulen in der Präventionsarbeit und der politischen Bildung tätig.
Unter dem Pseudonym Heribert Schiedel, hat er unter anderem die Bücher „Extreme Rechte
in Europa“ (2011) und „Der rechte Rand“ (2007) herausgegeben.
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