Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen

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Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen
Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen
Entwicklungen in nationalen und internationalen Strafverfahren
Von Prof. Dr. Christoph Safferling, LL.M. (LSE), Wiss. Mitarbeiterin Alena Hartwig, Marburg
I. Einleitung
Die Rechtsstellung des Beschuldigten ist dadurch gekennzeichnet, dass er nicht nur Untersuchungsobjekt, sondern
zugleich ein mit besonderen Rechten und Pflichten ausgestattetes Prozesssubjekt ist.1 Eine der elementarsten Garantien
des Verfahrensrechts, die aus dieser Überlegung hervorgeht,
ist das Recht des Beschuldigten, sich nicht selbst belasten zu
müssen. Der Beschuldigte darf nicht gezwungen werden, zur
Strafverfolgung gegen sich selbst beizutragen.2 Denknotwendig verbunden mit einem solchen Recht ist, dass der Beschuldigte das Recht haben muss, ohne Gefahr von Nachteilen auf die Anschuldigungen und Fragen der ermittelnden
Personen hin zu schweigen. Untrennbar mit dem Verbot des
Selbstbelastungszwanges hängt somit die Aussagefreiheit
zusammen. Diese gewährleistet eine umfassende Verhaltensfreiheit, innerhalb derer der Beschuldigte sowohl über das
„Ob“ als auch über das „Wie“ seiner Aussage frei bestimmen
kann.3 Er soll die Möglichkeit haben, frei und eigenverantwortlich zu entscheiden, ob er sich selbst belastet oder nicht,
und dabei Herr seiner Entschlüsse sein. Das Recht zu
schweigen schützt den Beschuldigten in erster Linie vor unzulässigem Druck oder Zwang durch die Strafverfolgungsbehörden, beugt der Erlangung von Beweismitteln gegen bzw.
ohne den Willen des Beschuldigten vor und hilft, Justizirrtümer zu vermeiden.4
1
Kühne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2007, Rn. 102; Ransiek,
Die Rechte des Beschuldigten in der Polizeivernehmung,
1990, S. 49, 52; Peters, Strafprozess, 4. Aufl. 1985, S. 203.
2
Gollwitzer, in: Rieß (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 8, 25.
Aufl. 2005, Art. 6 MRK Rn. 248; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar, 52. Aufl. 2009, Einl. Rn. 29a;
Böse, GA 2002, 98 (99); Abernathy/Perry, Civil Liberties
under the Constitution, 1993, S. 84; Harris, I.C.L.Q. 16
(1967), 355 (369). Zur geschichtlichen Entwicklung des
nemo-tenetur-Grundsatzes siehe von Gerlach, in: Ebert u.a.
(Hrsg.), Festschrift für Ernst-Walter Hanack zum 70. Geburtstag, 1999, S. 117.
3
Eser, ZStW 79 (1967), 565 (576); Rogall, Der Beschuldigte
als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S. 45.
4
EGMR, Funke ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-A, Rn. 44;
Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I, Rn. 45.
Nach den Urteilen in Funke und Murray sah der EGMR den
Sinngehalt des Schweigerechts vorrangig darin, den Willen
des Beschuldigten, zu schweigen, zu schützen, vgl. Saunders
./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, Rn. 69 („The
right not to incriminate oneself is primarily concerned with
respecting the will of an accused person to remain silent
[…]“). Über diese Interpretation des Sinngehaltes der Selbstbelastungsfreiheit durch den EGMR hinaus wird versucht, die
ratio dieser Garantie auf Genaueres festzulegen. Siehe hierzu
Redmayne, OJLS 27 (2007), 209 unter 3. D.; Judge Martens,
In jüngerer Zeit ist das Schweigerecht in erhebliche Bedrängnis geraten. Es sind nicht die Folterberichte aus Ländern
mit zweifelhafter rechtsstaatlicher Struktur, auch in westlich
demokratischen Staaten werden Vorwürfe von Folter oder
menschenunwürdiger Behandlung laut. Selbst in Deutschland
zeigen die Fälle Jalloh5 und Gäfgen6, dass die Strafverfolgung auch hier keine lupenreine Weste trägt. In England wird
ganz offen schon seit längerem das Schweigerecht des Angeklagten in Frage gestellt. Vor internationalen Strafgerichtshöfen wird über die Reichweite des Angeklagtenschutzes gestritten. In diesem Beitrag sollen die Entwicklungen in verschiedenen nationalen Rechtsordnungen (Deutschland, USA,
England) mit denen vor internationalen Strafgerichtshöfen
erörtert und verglichen werden.
II. Nationale Rechtssysteme
1. Verschiedene Einzelstaaten: Deutschland, USA, England
a) Grundregelungen des Schweigerechts
In der deutschen Strafprozessordnung hat der nemo-teneturGrundsatz seinen Niederschlag in den §§ 55, 136 Abs. 1,
136a Abs. 1, 3, 163a Abs. 3, 4, 243 Abs. 4 S. 1 StPO gefunden. Zwar ist die Selbstbelastungsfreiheit in der deutschen
Strafprozessordnung nicht ausdrücklich normiert, sie wird
jedoch nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO für den Beschuldigten
und nach § 55 StPO für den Zeugen vorausgesetzt.7 Dabei
weisen die §§ 136 Abs. 1 S. 2, 163a Abs. 3, 4 StPO auf die
Pflicht der vernehmenden Institution (gleich, ob Richter,
Staatsanwalt oder Polizeibeamter) hin, den Beschuldigten
über seine Rechte, unter anderem auch das Recht zu schweigen, aufzuklären. Der Beschuldigte kann zunächst von seinen
Rechten immer nur dann Gebrauch machen, wenn er zuvor
darüber in Kenntnis gesetzt wurde und ihm die Möglichkeit
eröffnet wurde, diese Rechte auch faktisch auszuüben. Gleiches gilt, geprägt durch den Gedanken der Verfahrensfairness, für das Recht zu schweigen.8 Aus diesem Grund muss
zeitlich gesehen vor der ersten Vernehmung durch Angehörige der Strafverfolgungsbehörden eine Belehrung des Beschuldigten erfolgen, in der er über die ihm zustehenden
Dissenting Opinion, Saunders ./. Vereinigtes Königreich,
Rn. 9 ff.; Butler, C.L.F. 11 (2000), 461 (482).
5
EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Urt. v. 11.7.2006, Safferling,
Jura 2008, 100; Schuhr, NJW 2006, 3538.
6
EGMR, Gäfgen ./. Deutschland, Urt. v. 30.6.2008 = NStZ
2008, 699; dazu Jäger, JA 2008, 678; umfassend Lamprecht,
Darf der Staat foltern, um Leben zu retten?, 2009.
7
Safferling, Jura 2008, 100 (106); Meyer-Goßner (Fn. 2),
Einl. Rn. 29a.
8
Eser, ZStW 79 (1967), 565 (573); Stürner, NJW 1981, 1757
(1758); Diemer, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar
zur Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2008, § 136 Rn. 11.
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Rechte informiert wird.9 Neben der Sicherung des wohl wichtigsten Verfahrensrechts des Beschuldigten soll dadurch auch
der Gefahr begegnet werden, dass der Beschuldigte wegen
des amtlichen Charakters der Vernehmung irrtümlich annimmt, Angaben machen zu müssen.10 Allerdings wird das
Schweigerecht – wohl in Ansehung von § 136a StPO – verstanden als Freiheit von Zwang zur Aussage bzw. Mitwirkung am Strafverfahren und nicht als Ausfluss der allgemeinen Entschließungsfreiheit.11 Täuschung und List beeinträchtigen nach Meinung des BGH die Aussagefreiheit daher
nicht.
Ebendies gilt im amerikanischen Strafprozessrecht. Hier
ist es der 5. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten
Staaten, der sicherstellen soll, dass niemand in einer Untersuchung gegen sich selbst aussagen muss.12 Die Pflicht zur
Belehrung ergibt sich für die ermittelnden Behörden aus
einem Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten aus dem Jahre 1966. In der Sache Miranda v.
Arizona wurde entschieden, dass aufgrund der zwanghaften
Natur polizeilicher Verhöre kein Geständnis zuzulassen sei,
sofern der Verdächtige nicht vorher über seine ihm im 5. und
6. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten zugestandenen Rechte belehrt worden sei und ausdrücklich auf
diese verzichtet habe.13 Die seitdem bestehende Aufklärungspflicht vor Beginn der polizeilichen Vernehmung wird auch
als „Miranda Warning“ bezeichnet.14 Im englischen Recht
ergibt sich eine solche, dem § 136 StPO entsprechende Belehrungspflicht aus dem als Konkretisierung der section 78
des Police and Criminal Evidence Act 1984 (PACE) ausgestalteten Code C 10.5.15
9
Ransiek (Fn. 1), S. 8; Hanack, in: Erb u.a. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 4, 26. Aufl. 2007, § 136 Rn. 22.
10
Diemer (Fn. 8), § 136 Rn. 11; Herrmann, NStZ 1997, 209
(211).
11
BGHSt 42, 139 (153); zuletzt auch BGH NJW 2007, 3138
(3140). Auch in der deutschen Literatur scheint teilweise von
einem Schutz lediglich vor Zwang zur Selbstüberführung
ausgegangen zu werden, siehe nur Rogall, in: Rudolphi u.a.
(Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung
und zum Gerichtsverfassungsgesetz, 14. Lfg., Stand: Juli
1995, Vor § 133 Rn. 139; Kühl, StV 1986, 187 (190).
12
Siehe zur geschichtlichen Herkunft des Fünften Zusatzartikels und des Rechts auf Freiheit von Selbstbelastung ausführlich Levy, Political Science Quarterly 84 (1969), 1.
13
U.S. Supreme Court Miranda v. Arizona 384 U.S. 436
(1966).
14
Der Mindeststandard einer solchen Aufklärungspflicht ist
dem Urteil Miranda v. Arizona gemäß folgender: „You have
the right to remain silent. Anything you say can and will be
used against you in a court of law. You have the right to
speak to an attorney, and to have an attorney present during
any questioning. If you cannot afford a lawyer, one will be
provided for you at government expense.“
15
„Code of Practice for the Detention, Treatment and Questioning of Persons by Police Officers“; zur Erforderlichkeit
der Belehrung auch Feldman, Crim.L.R. 1990, 452 (454).
b) Folgen des Schweigens
Darüber hinaus muss die Frage gestellt werden, ob das
Schweigen des Beschuldigten mit nachteiligen Folgen für den
Betroffenen verbunden ist, bzw. überhaupt mit Nachteilen in
Verbindung gebracht werden darf. Hier kollidiert das
Schweigerecht des Beschuldigten mit den Zielen eines Strafverfahrens (bspw. der Wahrheitsfindung) und der Effektivität
der Strafrechtspflege.16
Nach deutschem Recht ist es den Strafgerichten nicht gestattet, dem Schweigen eine belastende Bedeutung beizumessen – zumindest nicht bei vollständigem Schweigen.17 Anders
hingegen, sofern sich der Beschuldigte grundsätzlich zur
Sache einlässt und lediglich im Hinblick auf bestimmte Punkte die Einlassung ablehnt. Für den Fall eines solchen „teilweisen Schweigens“ dürfen aus dem gesamten Verhalten des
Betreffenden nachteilige Schlüsse gezogen werden.18 Dem
Beschuldigten steht es grundsätzlich frei, die ihm am zweckmäßigsten erscheinende Verteidigungsart zu wählen, nämlich
sich zur Sache einzulassen oder zu schweigen. Entscheidet
sich der Beschuldigte für letztere Alternative, so darf prinzipiell kein Schluss zu seinem Nachteil aus dieser Entscheidung gezogen werden. Es obliegt allein den Strafverfolgungsbehörden, den Beschuldigten zu überführen, denn
schließlich muss sich auch und gerade im Fall des Schweigens des Beschuldigten die Unschuldsvermutung bewähren.19
Dies ist nur dann gewährleistet, wenn aus dem Schweigen
keine Rückschlüsse auf die Schuld gezogen werden. Andernfalls würde das Schweigerecht des Beschuldigten wirkungslos, da es von den Strafverfolgungsbehörden mittelbar, quasi
„durch die Hintertür“, umgangen werden könnte. Überdies
können die Motive, aus denen heraus sich der Angeklagte
(oder der Beschuldigte) für das Schweigen entscheidet, so
vielschichtig sein, dass schon aus diesem Grund nicht auf ein
Schuldeingeständnis geschlossen werden kann, zumal nach
dem Grund des Schweigens nicht gefragt werden darf.20 Der
Zur geschichtlichen Entwicklung McConville/Hodgson/
Bridges/Pavlovic, Standing Accused, 2003, S. 72 ff.
16
Dazu Stalinski, Aussagefreiheit und Geständnisbonus,
2000, S. 24; Eser, ZStW 79 (1967), 565 (570); Kirsch, in:
Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt/Main (Hrsg.),
Vom unmöglichen Zustande des Strafrechts, 1995, S. 229,
236 ff.
17
BGHSt 20, 281 (282 f.); Diemer (Fn. 8), § 136 Rn. 10;
Jäger, JR 2003, 166 (167); Stalinski (Fn. 16), S. 29 ff.
18
BGHSt 1, 366 (368); 20, 298 (300); 38, 302 (307). In Bezug auf die Einlassung des Angeklagten im Rahmen der
Hauptverhandlung mache dieser sich aufgrund eines freien
Entschlusses zu einem Beweismittel und unterstelle sich
hiermit der freien richterlichen Beweiswürdigung. Ausführlich zur Problematik des „Teilschweigens“ siehe Verrel, Die
Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, 2001, S. 24 ff.
19
Salditt, in: Michalke u.a. (Hrsg.), Festschrift für Rainer
Hamm zum 65. Geburtstag am 24. Februar 2008, 2008, S. 595
(S. 607 Fn. 53); Rau, Schweigen als Indiz der Schuld, 2004,
S. 175.
20
Schoreit, in: Hannich (Fn. 8), § 261 Rn. 39; Miebach, NStZ
2000, 234 (235). Diesbezüglich weist Hanack (Fn. 9), § 136
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schweigende Beschuldigte kann sich demnach sicher sein,
dass sich sein Schweigen nicht nachteilig für ihn auswirkt,
wohingegen er mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen
darf, dass es ihm auch nicht zum Vorteil gereicht.21
Gleiches gilt nach der anglo-amerikanischen Rechtstradition. Auch im Geltungsbereich des common law wird das
Recht zu schweigen dem Beschuldigten nicht zugestanden,
um es sogleich wieder dadurch zu unterlaufen, dass die Ausübung dieses Rechts mit einem Schuldeingeständnis gleichgesetzt wird.22 Ausnahmen gelten allerdings, obwohl auf
derselben Rechtstradition beruhend, unter bestimmten Bedingungen für die Rechtslage in Großbritannien.23 Zunächst
wurde mit der Criminal Evidence (Northern Ireland) Order
198824 das Schweigerecht für Beteiligte in Strafverfahren in
Nordirland dergestalt eingeschränkt, dass nachteilige Schlussfolgerungen ohne weiteres gezogen werden konnten. Diese
anfangs vorläufige, für die Bekämpfung des Terrorismus in
Nordirland gedachte Regelung manifestierte sich mit dem
Criminal Justice and Public Order Act 1994 auch für England
und Wales25 mit weit reichenden Folgen für den Beschuldigten.26 Zur Gesetzesbegründung wird angeführt, dass es das
Schweigerecht den Beschuldigten ermöglichen würde, einer
gerechten Strafe zu entgehen und daher fälschlicherweise
Rn. 21 darauf hin, dass die Sachvernehmung des Beschuldigten in wesentlichem Maße auch seiner Verteidigung diene
und demnach derjenige, der sich nicht zur Sache einlasse, auf
ein wichtiges Verteidigungsrecht verzichte.
21
Stalinski (Fn. 16), S. 35; Green, Brooklyn L.R. 65 (1999),
627 (646 ff.); Seidmann/Stein, Harv.L.R. 114 (2000), 430
(446 f.).
22
Van Kessel, Hastings L.J. 38 (1986), 1 (13, 137 f.); Van der
Walt/de la Harpe, African Hum. Rts. L. J. 5 (2005), 70 (78).
23
Eser, ZStW 79 (1967), 565 (593); Berger, Colum. J. Eur.
L. 12 (2006), 339 (373 ff.); von Gerlach (Fn. 2), S. 141 f. Zu
der lang anhaltenden Diskussion über die Sinnhaftigkeit der
common law-Tradition siehe Mirfield, Silence, Confessions
and Improperly Obtained Evidence, 1997, S. 242 ff. und
Cownie/Bradney/Burton, English Legal System in Context,
2007, S. 277 ff., sowie Greer, MLR 53 (1990), 709 (715 ff.).
Die Bedingungen, unter denen nachteilige Schlussfolgerungen gezogen werden können, finden sich in Court of Appeal,
16.12.1996, R v Argent [1997] 2 Cr.App.R. 27.
24
Diese wurde in Nordirland zu dem Zweck eingeführt, der
wachsenden terroristischen Bedrohung durch die IRA und
anderer paramilitärischer Organisationen entgegenzutreten. S.
allgemein zu einer kritischen Auseinandersetzung der Beschränkungen des Schweigerechts mit dem Ziel der Bekämpfung des Terrorismus Carrara Friends, Suffolk Transnat’l L.
Rev. 23 (1999), 207.
25
Dazu Cownie/Bradney/Burton (Fn. 23), S. 280; Berger,
Colum. Human Rights L. Rev. 31 (2000), 243 (254 ff.); Van
Kessel, Ind.L.R. 35 (2001/2002), 925 (951 f.).
26
Pattenden, Crim.L.R. 1995, 602 (607): „Silence becomes
an evidential poly-filler for cracks in the wall of incriminating evidence which the prosecution has built around the accused“. Sehr ausführlich dazu Berger, Colum. Human Rights
L. R. 31 (2000), 243 und Mirfield (Fn. 23), S. 248 ff.
einen Schutz eher für Schuldige als für Unschuldige bieten
würde.27 Hier muss die Frage erlaubt sein, ob von der ursprünglichen Idee des nemo tenetur-Grundsatzes überhaupt
noch etwas übrig geblieben ist.28
2. Menschenrechtliche Vorgaben
a) Konventionstexte
Das Schweigerecht ist in internationalen und regionalen
Menschenrechtsabkommen grundsätzlich enthalten. Menschenrechtsinstrumentarien wie der IPbpR29 und die AMRK30
haben die Selbstbelastungsfreiheit explizit in ihren Vertragstext aufgenommen.31 In der EMRK findet sich demgegenüber
keine ausdrückliche Regelung dieser fundamentalen strafprozessualen Gewährleistung; sie wird jedoch aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 EMRK hergeleitet32 und gehört nach der Rechtsprechung des EGMR zum
Kernbereich der Verfahrensfairness.33 Der durch die EMRK
27
Ganz im Gegensatz dazu Seidmann/Stein, Harv.L.R. 114
(2000), 430 (461 ff.), die darauf eingehen, warum das Schweigerecht gerade den unschuldigen Beschuldigten privilegiere.
28
Fenwick, Crim.L.R. 1995, 132 (134); Redmayne, OJLS 27
(2007), 209 unter 3. C., der das persönliche „Trilemma“
aufzeigt, in dem sich allerdings auch nur Schuldige befinden
könnten: Einerseits Gefahr zu laufen, dass Nachteile aus der
Weigerung, mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten, d.h. dem Schweigen, gezogen werden können; zum
anderen, Informationen an die Behörden weiterzugeben und
sich dadurch selber zu belasten; und letztens, zu lügen und
das Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Meineides einzugehen. Redmayne scheint darin allerdings keinen
Anstoß zu finden, da Unschuldige sich seiner Ansicht nach
erst gar nicht in diesem „Trilemma“ befinden könnten. Nach
deutschem Strafprozessrecht entfällt dieser zusätzliche Aspekt freilich, da der Angeklagte nicht wegen falscher Aussage und erst recht nicht wegen Meineids strafbar sein kann.
29
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
(International Covenant on Civil and Political Rights), GV
Res. 2200/A (XXI), UN Doc. A/6316 (1966).
30
Amerikanische Menschenrechtskonvention (American Convention on Human Rights, „Pact of San José, Costa Rica“)
vom 22.11.1969, 1144 United Nations Treaty Series 17955.
31
Art. 14 Abs. 3 lit. g IPbpR: „[… everyone shall be entitled
…] Not to be compelled to testify against himself or to confess guilt.“ Art. 8 Abs. 2 lit. g AMRK: „[… every person is
entitled …] the right not to be compelled to be a witness
against himself or to plead guilty.“
32
Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention,
Handkommentar, 2. Aufl. 2006, Art. 6 Rn. 52; Gollwitzer
(Fn. 2), Art. 6 MRK Rn. 248; Rogall (Fn. 11), Vor § 133 Rn.
131; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention,
Studienbuch, 4. Aufl. 2009, § 24 Rn. 119.
33
EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I,
Rn. 45; Saunders ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996VI, Rn. 68 („[…] there can be no doubt that the right to remain silent […] and the privilege against self-incrimination
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gewährte Schutz vor Selbstbelastung bleibt demnach keinesfalls hinter dem einer ausdrücklichen Regelung zurück. Dem
EGMR zufolge gilt das Schweigerecht unabhängig davon, ob
sich der Beschuldigte bereits in einer Situation sieht, in der er
Zwang widerstehen muss oder nicht. Das Recht zu schweigen
diene prinzipiell der Freiheit einer verdächtigen Person zu
entscheiden, ob sie aussagen oder schweigen wolle.34 Der
EGMR versteht demnach den nemo tenetur-Grundsatz als
positive Gewährleistung dahingehend, eine eigenverantwortliche Entscheidung über die Mitwirkung an der Tataufklärung
treffen zu können.
Im Hinblick auf die Relevanz einer vorherigen Belehrung
ist anzumerken, dass sowohl die EMRK, wie auch der IPbpR,
eine Belehrung zu Beginn der ersten Vernehmung des Beschuldigten nicht ausdrücklich vorsehen.39 Hierbei gilt es
jedoch zu berücksichtigen, dass EMRK und IPbpR als völkerrechtliche Regeln auf Übereinkünfte von Staaten mit unterschiedlichen Rechtssystemen zurückzuführen sind. Ziel
kann demnach nur sein, einen gemeinsamen Mindeststandard
zu garantieren, wobei es für die Ausgestaltung des Verfahrens auf das Recht der Mitgliedstaaten und deren allgemeine
Grundsätze ankommt.
b) Unschuldsvermutung
Das Recht zu schweigen ist ferner eng mit der Unschuldsvermutung der Art. 6 Abs. 2 EMRK bzw. Art. 14 Abs. 2
IPbpR verknüpft. Derjenige, dessen Unschuld vermutet werde, könne nicht gehalten sein, sich selbst zu belasten.35 Für
das Schweigerecht des Beschuldigten folgt aus dieser Verknüpfung zum einen, dass er in Ergänzung dessen auch nicht
verpflichtet ist, aktiv mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten und auf diese Weise zur Sachverhaltsaufklärung beizutragen. Zum anderen verdeutlicht der Bezug zur
Unschuldsvermutung, dass die Beweislast bei der Anklagebehörde liegt und dass es durch eine Würdigung des Schweigens jedweder Art nicht zu einer Verschiebung dieser Beweislast auf den Beschuldigten kommen darf.36 Der Beschuldigte darf sich nicht in die Position gedrängt fühlen, dass er
seine Unschuld zu beweisen hätte und dadurch zu Angaben,
gleich welcher Art, veranlasst wird. Dieser Aspekt zeigt noch
deutlicher als der zuerst genannte auf, dass es allein den
Strafverfolgungsbehörden obliegt, den Beschuldigten zu
überführen. Es dürfen zu diesem Zweck keine durch Druck
oder Zwang erlangten Beweismittel herangezogen werden.37
Wegen dieser Verknüpfung mit der Unschuldsvermutung
wird sie auch „Spiegelbild des Schweigerechts“ genannt.38
c) Negative Schlussfolgerungen aus dem Schweigen
Was nachteilige Schlussfolgerungen aus dem Schweigen des
Beschuldigten anbelangt, so ist den Menschenrechten und
deren Handhabung durch die jeweiligen Spruchkörper zufolge ein Verbot dieser Rückschlüsse naheliegend. Dies gilt
zumindest insofern, als man gemeinsam mit der Rechtsprechung des EGMR den Standpunkt einnimmt, dass das Verbot
der Selbstbelastung von staatlichen Stellen verlange, den
Willen des zum Schweigen entschlossenen Beschuldigten zu
respektieren.40 Gleichwohl misst der EGMR dem Recht zu
schweigen nicht den Charakter eines absoluten Rechts bei.41
Das steht in Übereinstimmung mit der generellen Zurückhaltung des Gerichtshofs, kategorische Festlegungen zu treffen.
In ständiger Rechtsprechung wird daher bezogen auf Art. 6
EMRK stets in einer Gesamtwürdigung untersucht, ob das
Verfahren insgesamt als „fair“ anzusehen ist.42 In Bezug auf
das Schweigerecht wird es daher für zulässig erachtet, dass
are generally recognised international standards which lie at
the heart of the notion of a fair procedure under Article 6“).
34
Hierzu EGMR, Allan ./. Vereinigtes Königreich, Reports
2002-IX, Rn. 50.
35
EGMR, Weh ./. Österreich, Urt. v. 8.4.2004, Rn. 46; Böse,
GA 2002, 98 (123); Guradze, in: Commager u.a. (Hrsg.),
Festschrift für Karl Loewenstein aus Anlass seines achtzigsten Geburtstages, 1971, S. 151 (S. 160); Mahoney, Judicial
Studies Institute Journal, 2004, 107 (121).
36
Vgl. Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2003, S. 123.
37
Grabenwarter, in: Ehlers/Becker (Hrsg.), Europäische
Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2005, § 6 Rn. 47;
Jacobs/White, The European Convention on Human Rights,
3. Aufl. 2002, S. 175; Nowak, UNO-Pakt über bürgerliche
und politische Rechte und Fakultativprotokoll, CCPR-Kommentar, 1989, Art. 14 Rn. 59.
38
So Salditt (Fn. 19), S. 608. Anders hingegen Redmayne, 27
OJLS (2007), 209 unter 3. A., der zumindest für die Selbstbelastungsfreiheit eine derart weitgehende Verknüpfung mit der
Unschuldsvermutung nicht erkennen kann.
39
Esser, Auf dem Weg zu einem Europäischen Strafverfahrensrecht, 2002, S. 528. Das Bedürfnis einer vorherigen Belehrung erkennt auch Trechsel, Human Rights in Criminal
Proceedings, 2005, S. 352, an, äußert aber Bedenken im Hinblick auf eine solche Verpflichtung zur Belehrung der Konvention zufolge.
40
So EGMR, Saunders ./. Vereinigtes Königreich, Reports
1996-VI, Rn. 69.
41
EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I,
Rn. 47; Condron ./. Vereinigtes Königreich, Reports 2000-V,
Rn. 56; Heaney u. McGuinness ./. Irland, Reports 2000-XII,
Rn. 47. Anders hingegen Müller, EuGRZ 2002, 546 (551,
554), der aus den Ausführungen des EGMR das Postulat
eines absoluten, ausnahmslosen Charakters herleitet. Er zitiert hierzu die Entscheidung im Fall Saunders, wobei sich
der EGMR in diesem Urteil jedoch ausdrücklich nicht zu der
Frage der Ausnahmslosigkeit des nemo-tenetur-Grundsatzes
äußert (Rn. 74: „Nor does the Court find it necessary […] to
decide whether the right not to incriminate oneself is absolute
or wheter infringements of it may be justified in particular
circumstances.“). Der EGMR äußerte sich hier lediglich zu
der Verwertbarkeit erzwungener Aussagen und lehnte diese ab.
42
EGMR, Schenk ./. Schweiz, Serie A Nr. 140, Rn. 46; Pélissier und Sassi ./. Frankreich, Reports 1999-II, Rn. 45; Allan
./. Vereinigtes Königreich, Reports 2002-XI, Rn. 42; Jalloh ./.
Deutschland, Urt. v. 11.7.2006, Rn. 95; Esser (Fn. 39),
S. 402; Gollwitzer, Menschenrechte im Strafverfahren, MRK
und IPBPR, Kommentar, 2005, Art. 6 MRK Rn. 64.
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unter bestimmten Voraussetzungen nachteilige Schlussfolgerungen (sog. „adverse inferences“) aus dem Schweigen des
Beschuldigten gezogen werden.43 Dies gilt jedenfalls dann,
wenn bestimmte Schutzvorkehrungen weiterhin die Fairness
des Verfahrens gewährleisten. Im Urteil Murray bezeichnet
der EGMR den Rahmen, innerhalb dessen das Schweigen des
Beschuldigten verwertet werden kann wie folgt: Wird das
Urteil ausschließlich oder hauptsächlich („solely or mainly“)
darauf gestützt, dass sich der Beschuldigte auf sein Recht zu
schweigen berufen hat, liegt ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK
vor. Das Schweigen soll jedoch in Situationen berücksichtigt
werden können, die eine Erklärung erwarten lassen, und der
Beschuldigte eine solche auch ohne weiteres abgeben könnte.44 Gestaltet sich die Beweislage jedoch als derart schwach,
dass eine solche Erklärung des Beschuldigten nicht ohne
weiteres zu erwarten sei, könne sich das Schweigen auch
nicht zum Nachteil des Betroffenen auswirken.45 Gleichwohl
müssten im Fall von zulässigerweise46 gezogenen Schlussfolgerungen diese von gesundem Menschenverstand bestimmt
sein sowie der freien Würdigung unterliegen, damit das Verfahren nicht als unfair anzusehen sei.47 Der EGMR stützt
seine Argumentation auf bekannte Muster: zweifelhafte Beweismittel sind demnach immer dann zulässig, wenn diese
43
EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I,
Rn. 47. Diese Grundsätze bestätigte er in Averill ./. Vereinigtes Königreich, Reports 2000-VI, Rn. 44 f. Einigkeit dahingehend besteht allerdings nicht, wie die abweichenden Meinungen im Anschluss an das Urteil Murray schon zeigen, vgl.
Partly Dissenting Opinion of Judge Pettiti, joined by Judge
Valticos und Partly Dissenting Opinion of Judge Walsh,
joined by Judges Makarczyk and Lohmus. Siehe dazu auch
Berger, Colum. J. Eur. L. 12 (2006), 339 (380 f.).
44
EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I,
Rn. 47.
45
So der EGMR in der Sache Telfner ./. Österreich, Urt. v.
20.3.2001, Rn. 17 f. Siehe auch Jacobs/White (Fn. 37),
S. 176, mit Hinweis darauf, dass ansonsten in einem solchen
Fall die Beweislast auf den Beschuldigten bzw. Angeklagten
verschoben würde.
46
Nicht mehr zulässig wäre dem EGMR zufolge die Ausübung „unzulässigen Zwangs“ auf den Beschuldigten. Dieses
Kriterium kommt zum Tragen im Hinblick auf eine – erforderliche – Belehrung darüber, dass unter Umständen nachteilige Schlussfolgerungen aus dem Schweigen des Beschuldigten gezogen werden dürfen und dem hierdurch ausgeübten
indirekten Zwang seitens der Strafverfolgungsbehörden;
ausführlich hierzu Esser (Fn. 39), S. 522 ff.
47
Der EGMR führt hier das Kriterium des „common sense“
ein (EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports
1996-I, Rn. 51, 54), welches aber wenig hilfreich scheint.
Kritisch hierzu Esser (Fn. 39), S. 524 f. und Kühne, EuGRZ
1996, 571 (572). Butler, C.L.F. 11 (2000), 461 (497) bezeichnet diese Formulierung als „potentielles Sprungbrett für
spätere Ausnahmen zu diesem Recht“ („potential springboard
for later exceptions to the right“).
nicht die alleinige oder die hauptsächliche Grundlage der
strafrechtlichen Verurteilung darstellen.48
Anders hingegen der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen als Kontrollorgan des IPbpR. In seinen Abschließenden Bemerkungen hat er 1995 gegenüber Großbritannien und Nordirland festgestellt, dass deren nationale
Regelungen, nach denen nachteilige Schlussfolgerungen aus
dem Schweigen eines Beschuldigten gezogen werden können, „gegen mehrere Vorschriften des Art. 14 IPbpR verstoßen“.49
3. Zusammenfassung
Dieser kurze Überblick verdeutlicht eine gewisse Diskrepanz
zwischen der nationalen Rechtsprechung und den europäischen Menschenrechtsvorgaben. Während der EGMR den
Grund des Schweigerechts in der grundsätzlichen Anerkennung der menschlichen Entscheidungsfreiheit sieht, folgt der
BGH einem deutlich engeren Konzept, indem er mit Blick
auf § 136a StPO auf die Freiheit von Zwang als Substrat des
Schweigerechts abstellt.50 Uneinheitlich wird außerdem der
Umgang mit den Folgen des Schweigens gesehen. Hier fällt
das englische Recht aus dem Rahmen, da es negative Schlüsse auf die Schuld des Beschuldigten zulässt und damit vom
EGMR jedenfalls partiell Rückendeckung erhält.
III. Internationales Strafverfahrensrecht
Begibt man sich auf die Ebene des internationalen Strafrechts, genauer des Völkerstrafprozessrechts51, so findet man
48
Eine parallele Argumentation findet sich etwa in den Fällen
der Verdeckten Ermittler; vgl. dazu in Gegenüberstellung zur
Rspr. des BGH: Safferling, NStZ 2006, 75.
49
CCPR/C/79/Add. 55, 27.7.1995: „The Committee notes
with concern that the provisions of the Criminal Justice and
Public Order Act of 1994, […] whereby inferences may be
drawn from the silence of persons accused of crimes, violates
various provisions in article 14 of the Covenant […].“
50
Vgl. BGHSt 42, 139 (153). Einen Unterschied im Hinblick
auf die durch den EGMR zugestandene Reichweite dieses
Grundsatzes und die restriktivere Handhabung durch das
deutsche Bundesgericht sieht der BGH in einer späteren Entscheidung selber, vgl. BGH NJW 2007, 3138 (3140). Der
nemo tenetur-Grundsatz habe nicht den Schutz der allgemeinen Entschließungsfreiheit zum Inhalt, sondern es solle eine
Selbstüberführung aufgrund von Zwangsausübung verhindert
werden. Andernfalls würde die Freiheit der Entscheidung
durch jede Täuschung oder List, die von Einfluss auf die
Äußerung des Beschuldigten ist, verletzt. Dem kann u. E. so
allerdings nicht zugestimmt werden. Siehe dazu auch Ransiek
(Fn. 1), S. 47 ff. Relevanz erlangt diese Unterscheidung insbesondere dann, wenn es um heimliche Ermittlungsmethoden
und die Frage geht, ob diese gegen die Selbstbelastungsfreiheit verstoßen. Siehe dazu Weßlau, ZStW 110 (1998), 1 (14,
22 ff.).
51
Zum Begriff s. Safferling, in: Renzikowski (Hrsg.), Die
EMRK im Zivil-, Straf- und Öffentlichen Recht, 2003, S. 123.
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Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen
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auch in den Vorschriften der internationalen Strafgerichtshöfe dieses überaus relevante Verfahrensrecht verankert.
1. Die UN-Tribunale
a) Der rechtliche Rahmen
Für die Ad Hoc-Tribunale der Vereinten Nationen52 beinhalten die Art. 21 Abs. 4 lit. g JStGH-St. und Art. 20 Abs. 4
lit. g RStGH-St. die Freiheit von Selbstbelastung mit ergänzenden Regelungen in den Regeln 42 (A) (iii), 55 (A) und 63
JStGH-VBO.53 Während in den Statuten der Tribunale die
Selbstbelastungsfreiheit lediglich dem Angeklagten zugesprochen wird, gewährt Regel 42 (A) (iii) JStGH-VBO das
Recht zu schweigen auch für den Beschuldigten54 – quasi als
Gegenstück zu der in Art. 18 Abs. 2 JStGH-St., Art. 17
Abs. 2 RStGH-St. geregelten Befugnis des Anklägers, Beschuldigte zu befragen. In Anlehnung an die Begriffsbestimmung, die die Verfahrens- und Beweismittelordnungen des
JStGH und des RStGH in Regel 2 (A) VBO enthalten, wird
der Beschuldigte in dem Moment zum Angeklagten, in dem
die Anklageschrift durch einen Richter des Tribunals bestätigt wurde.55 Insofern lässt sich eine klare Trennlinie zwischen dem Geltungsbereich von Regelung für den Beschuldigten in Regel 42 (A) (iii) JStGH-VBO einerseits und der
Regelung für den Angeklagten in Art. 21 Abs. 4 lit. g JStGHSt., Art. 20 Abs. 4 lit. g RStGH-St., Regeln 55 (A), 63
JStGH-VBO andererseits, erkennen.
Vom Gewährleistungsgehalt und auch vom Verständnis
her beschreibt das „right to remain silent“ in Regel 42 (A)
(iii) JStGH-VBO das Schweigerecht, wie es auch im Sinne
52
Die Kriegsverbrechertribunale für das ehemalige Jugoslawien, „JStGH“ (International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, ICTY) sowie für Ruanda, „RStGH“ (International Criminal Tribunal for Rwanda, ICTR).
53
Im Folgenden wird lediglich nach der Verfahrens- und
Beweismittelordnung, „VBO“ (Rules of Procedure and Evidence, RPE) des JStGH zitiert, da diejenige des RStGH dieser entspricht.
54
Die JStGH-VBO enthielten in ihrer ursprünglichen Fassung von 1994 das Schweigerecht des Beschuldigten noch
nicht. Dieses wurde erst später durch eine Regeländerung
vom 30.1.1995 und die Einfügung von Regel 42 (A) (iii)
JStGH-VBO aufgenommen. Gleichwohl hätte es auch ohne
ausdrückliche Regelung hergeleitet werden können. Siehe
dazu Nsereko, C.L.F 5 (1994), 507, 524 unter Verweis auf
Art. 21 Abs. 4 lit. g JStGH-St. und dem Argument, dass ein
Schweigerecht lediglich für den Angeklagten wenig Sinn
ergeben würde, da die für den Ausgang des Verfahrens relevante Phase diejenige der Vernehmungen im Vorfeld sei.
Ebenso der Report des Generalsekretärs der VN, Report of
the Secretary-General pursuant to Paragraph 2 of Security
Council Resolution 808 (1993), U.N. Doc. S/25704 & Add. 1
(1993), der in Rn. 106 darauf hinweist, dass das Tribunal
international anerkannte Standards betreffend der Rechte von
Angeklagten auf allen Ebenen des Verfahrens zu beachten
habe und hierfür im speziellen auf Art. 14 IPbpR verweist.
55
Dazu auch Regel 47 (H) (ii) JStGH-VBO.
der EMRK bzw. der Rechtsprechung des EGMR und des
IPbpR zu verstehen ist.56 Zunächst ist der Beschuldigte vor
der anstehenden Vernehmung über sein Schweigerecht zu
belehren und darüber in Kenntnis zu setzen, dass jede Aussage seinerseits aufgenommen wird (dazu Regel 43 JStGHVBO) und als Beweis gegen ihn verwendet werden kann. Auf
den Schutz durch diese Vorschrift kann der Beschuldigte
zwar verzichten, allerdings muss dieser Verzicht bewusst,
freiwillig und frei von jeglicher Art der Einflussnahme oder
Zwang sein.57 Die Belehrung hat so zu erfolgen, dass der
Beschuldigte in einer ihm verständlichen Sprache über die
ihm zustehenden Rechte aufgeklärt wird. Einer weiter reichenden Verpflichtung zur Aufklärung unterliegt der Ankläger hingegen nicht. Insbesondere müssen dem Beschuldigten
keine detaillierten Auswirkungen und Folgen der Regel 42
JStGH-VBO dargelegt werden.58 Kritisch angemerkt wird in
dieser Hinsicht, dass sich Regel 42 JStGH-VBO (ebenso wie
Regel 63 JStGH-VBO für den Angeklagten) lediglich auf die
Befragung durch den „Ankläger“ bezieht. So bestünde die
Gefahr, dass die Gewährleistungen nicht zur Geltung kämen,
sofern der Beschuldigte durch andere Angehörige der Strafverfolgungsbehörde befragt werde.59 Allerdings muss in
diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass
Regel 37 (B) JStGH-VBO ausdrücklich vorsieht, dass die
Befugnisse und Verpflichtungen des Anklägers auch auf
dessen Mitarbeiter übertragen werden können. Zu diesen
Verpflichtungen gehört auch die Belehrung des Beschuldigten vor einer anstehenden Vernehmung über dessen Rechte
aus Regel 42 JStGH-VBO, so dass sich hiermit die eben
genannten Bedenken erübrigen würden.
Für den Fall einer Aussage des Beschuldigten verdeutlicht
das Zusammenspiel von Regel 42 und Regel 95 JStGH-VBO
die Verteilung der Beweislast im Hinblick auf die Freiwilligkeit der Aussage. Diesbezüglich gilt, dass Aussagen, die
56
Die Einführung dieser Vorschrift basiert auf dem Gedanken, dass der Beschuldigte, festgenommen und sich den Ermittlungsbehörden gegenüber stehend sehend, eine verletzliche Rolle innehat, die ihn zu unüberlegten Äußerungen veranlassen und zu Missbrauch seitens der Behörden führen
kann, siehe Bagosora (ICTR-98-41), Trial Chamber, Decision
on the Prosecutor’s Motion for the Admission of Certain
Materials under Rule 89 (c), 14.10.2004, Rn. 16.
57
Delalić et al. (IT-96-21), Trial Chamber, Decision on Hazim Delić’s Motions Pursuant to Rule 73, 1.9.1997, Rn. 18:
„A person’s conscious, uncoerced and voluntary exercise of
his rights cannot, within our jurisprudence, be regarded as
involuntary.“
58
Delalić et al. (IT-96-21), Appeals Chamber, Judgement, 20.
Februar 2001, Rn. 552: „[…] there is no duty incumbent on
an investigator to explain in greater depth the implications of
Rule 42, the duty is only to interpret to the suspect the rules
in a language he or she understands‘.“
59
So Creta, Houst. J. Int’l L. 20 (1998), 381 (405) und Falvey, Fordham Int’l L. J. 19 (1995), 475 (492), die sich dafür
aussprechen, die Vorschrift auch auf „agents of the Prosecutor“ zu erstrecken, um mögliche Lücken in der Geltung der
Rechte des Beschuldigten zu schließen.
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Christoph Safferling/Alena Hartwig
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unter Zwang getätigt wurden, gemäß Regel 95 JStGH-VBO
als unzulässig anzusehen sind, und dass die Beweislast für
die Freiwilligkeit der Aussage bei der Anklagebehörde
liegt.60 Der Beschuldigte darf demnach, sofern er auf seinem
Schweigerecht beharrt, nicht dazu veranlasst werden, als
Beweismittel gegen sich selbst zu wirken.61 Insofern wird den
menschenrechtlichen Vorgaben Rechnung getragen und
durch Einführung bestimmter Schutzvorrichtungen das Recht
zu schweigen in seinem Kernbestand geschützt. Damit wird
auch der Zusammenhang zur in Art. 21 Abs. 3 JStGH-St.,
Art. 20 Abs. 3 RStGH-St. verankerten Unschuldsvermutung
erkennbar.
b) Nachteilige Schlussfolgerungen aus dem Schweigen
Was die schon an anderer Stelle problematisierten nachteiligen Schlussfolgerungen anbelangt, sehen zwar weder die
Statuten noch die Verfahrens- und Beweismittelordnungen
eine ausdrückliche Regelung vor.62 Allerdings besteht Einigkeit unter den Kammern des JStGH und RStGH, dass aus
dem Gebrauch des Schweigerechts durch den Beschuldigten
oder Angeklagten keine Rückschlüsse auf dessen Schuld
gezogen werden dürfen.63 Dies gilt ausnahmslos, so dass die
60
Delalić et al. (IT-96-21), Trial Chamber, Decision on
Zdravko Mucić’s Motion for the Exclusion of Evidence,
2.9.1997, Rn. 41 f. und Bagosora (Fn. 56), Rn. 21 im Zusammenhang mit dem Recht auf den Beistand eines Verteidigers, welches wiederum eng mit dem Recht zu schweigen
verknüpft ist. Anderes gilt für den Fall der Abgabe eines
Geständnisses. Hierfür regelt Regel 92 JStGH-VBO, dass
grundsätzlich die Freiwilligkeit eines solchen Geständnisses
vermutet wird und dass aus diesem Grund die Beweislast
(Nachweis der Unfreiwilligkeit bzw. der Anwendung von
Zwang) in einem solchen Fall beim Angeklagten liegt.
61
Dies wird auch deutlich in Tadić (IT-94-1), Trial Chamber,
Separate Opinion of Judge Stephen on Prosecution Motion
for Production of Defence Witness Statements, 27.11.1997.
In diesem Zusammenhang unterstreicht die Berufungskammer in Boškoski & Tarčulovski (IT-04-82), Appeals Chamber, Decision on Johan Tarčulovski’s Interlocutary Appeal on
Provisional Release, 4.10.2005, dass ein vor dem Tribunal
Angeklagter nicht dazu verpflichtet ist, die Anklagebehörde
bei der Beweisführung gegen sich selbst zu unterstützen. Dies
muss ebenso für den Beschuldigten gelten.
62
Calvo-Goller, The Trial Proceedings of the International
Criminal Court, 2006, S. 63. Dies wird zu Recht kritisiert von
Wladimiroff, in McDonald/Swaak-Goldman (Hrsg.), Substantive and Procedural Aspects of International Criminal Law,
2000, S. 415 (447) und Creta, Houst. J. Int’l L 20 (1998), 381
(405).
63
Delalić et al. (IT-96-21), Trial Chamber, Decision on the
Prosecution’s Oral Request for the Admission of Exhibit 155
into Evidence and for an Order to Compel the Accused,
Zdravko Mucić, to Provide a Handwriting Sample, 19.1.
1998, Rn. 46, 50; Kupreškić et al. (IT-95-16), Trial Chamber,
Judgement, 14.1.2000, Rn. 339; Brñanin (IT-99-36), Trial
Chamber, Judgement, 1.1.2004, Rn. 24; Niyitegeka (ICTR96-14-T), Trial Chamber, Judgement and Sentence, 16.5.2003,
Tribunale diesbezüglich einen weiterreichenden Schutz postulieren als – wie oben gesehen – der EGMR.
c) Transnationale Kooperation
Im Hinblick auf das Zusammenspiel von nationalem Recht
und dem Recht der Tribunale gilt zunächst, dass während des
Aufenthaltes des Beschuldigten im Gewahrsamsstaat nur das
nationale Recht mit den dortigen Gewährleistungen gilt. An
dieses Recht sind die Verfahrenskammern der Tribunale nicht
gebunden, Regel 89 (A) JStGH-VBO. Für den Fall, dass die
nationalen Vorschriften ihrem Gewährleistungsgehalt zufolge
hinter denen des JStGH bzw. RStGH zurückbleiben und
dabei Rechte des Beschuldigten, die ihm internationalen
Standards zufolge zustehen würden, verletzt oder missachtet
werden, gibt es die Möglichkeit, derart erlangte Aussagen als
unzulässig zu erachten. Grundsätzliches Kriterium sind nach
Regel 5 (C) JStGH-VBO die „fundamental principles of
fairness“. Bezogen auf das Schweigerecht sind die nationalen
Vorschriften im Zusammenhang mit Art. 18 JStGH-St.
(Art. 17 RStGH-St.) und den Regeln 42, 95 JStGH-VBO zu
betrachten und deren Geltungsbereich als „Test“ für die Zulassung anzusehen. Davon ausgehend ist zu prüfen, ob das
nationale Recht die „fundamental principles of fairness“
unterschreitet bzw. hinter diesen zurückfällt und dadurch eine
Zulassung der Aussage im grundsätzlichen Widerspruch zur
Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens stehen und dieser schweren Schaden zufügen würde.64 Mit anderen Worten, die Relevanz und der Beweiswert der erlangten Beweise fließt als
„Abwägungskriterium“ in die Entscheidung mit ein, diese
zuzulassen.65
d) Zusammenfassung
Durch eine Zusammenschau der Statuten und Verfahrensund Beweismittelordnungen ist folglich ein ausgeprägter
Schutz des Schweigerechts an den Ad Hoc-Tribunalen der
Vereinten Nationen verankert. Dieses schützt den BeschulRn. 46. Zur Ausdehnung dieser Praxis auf die Phase der Festlegung des Strafmaßes siehe Delalić et al. (IT-96-21), Appeals Chamber, Judgement, 20.2.2001, Rn. 783, die das Verbot nachteiliger Schlussfolgerungen damit begründet, dass
sich andernfalls eine ausdrückliche Regelung mit angemessenen Schutzvorkehrungen im Statut finden ließe. Siehe auch
Nsereko, C.L.F. 5 (1994), 507 (540); Creta, Houst. J. Int’l L.
20 (1998), 381 (405); Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2000, S. 358; Jones/Powles, International
Criminal Practice, 3. Aufl. 2003, 8.5.94.
64
Delalić et al. (Fn. 60), 2.9.1997, Rn. 55: „This is because
though the rules relating to silence and confession are contradictory to the relevant rules in Rule 42, they do not fall below
fundamental fairness and such as to render admission antithetical to or to seriously damage the integrity of the proceedings.“ Als Schwelle, die es für die Folge der Unzulässigkeit
zu unterschreiten gilt, wird demnach sowohl Regel 5 (C)
JStGH-VBO als auch Regel 95 JStGH-VBO herangezogen.
65
Hierzu auch Rastan, Leiden J. Int’l L. 21 (2008), 431 (452
und Fn. 82) m.w.N.
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Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen
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digten, ebenso wie den Angeklagten, angemessen vor jeglichem Zwang zur Selbstbelastung. Im Vergleich zu dem in
menschenrechtlichen Übereinkommen garantierten Standard,
gewähren die Vorschriften an den Tribunalen ein mindestens
ebenso hohes bzw. bedenkt man das konsequente Verbot,
nachteilige Schlussfolgerungen aus dem Schweigen zu ziehen, sogar ein höheres Schutzniveau.
2. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH)
a) Rechtlicher Rahmen
Das Statut des IStGH enthält die modernste Formulierung
von Rechten der verdächtigen Person während des gesamten
Strafverfahrens. Der rechtliche Rahmen gewinnt seine Komplexität durch den Versuch, die Rechte des Beschuldigten
(Art. 55 IStGH-St.) von den Rechten des Angeklagten
(Art. 67 IStGH-St.) zu differieren.66 Entsprechend wird im
Folgenden unterschieden.
aa) Zunächst soll näher auf die Beschuldigtenrechte in
Art. 55 IStGH-St. eingegangen werden. Diese Vorschrift
enthält für den Beschuldigten in doppelter Hinsicht einen
Schutz vor Selbstbelastung. Zum einen ist in Absatz 1 festgelegt, dass allgemein Personen während der Ermittlungen
nicht gezwungen werden dürfen, sich selbst zu belasten oder
sich schuldig zu bekennen. Lit. a enthält somit eine direkte
Ausprägung des nemo tenetur-Grundsatzes aus Art. 14 Abs. 3
lit. g IPbpR. Zum anderen umfasst Art. 55 Abs. 2 lit. b
IStGH-St. speziell mit Bezug auf seine Vernehmung das
Recht des Beschuldigten zu schweigen.67 Dieses fließt als
Komponente der Unschuldsvermutung und der Selbstbelastungsfreiheit in den Katalog von Rechten mit ein, die in Absatz 2 speziell dem Beschuldigten in Anbetracht einer anstehenden Vernehmung zugestanden werden.68
Zunächst ist der ermittelnden Institution die Pflicht zur
Belehrung über die Rechte in Art. 55 IStGH-St. auferlegt.
Während sich diese Pflicht für Abs. 2 ausdrücklich aus dem
Wortlaut der Vorschrift ergibt, bedarf es für die Rechte des
Abs. 1 einer darüber hinausgehenden Herleitung, da sich in
66
Safferling (Fn. 51), S. 123.
Ausführlich zur Abgrenzung und zur unterschiedlichen
ratio dieser beiden Vorschriften siehe Zappalá, Human
Rights in International Criminal Proceedings, 2003, S. 78 f.
68
Die Unterscheidung des Geltungsbereichs von Absatz 1
und 2 gestaltet sich im Hinblick auf die Person des „suspect“
(in der Literatur wird dieser Begriff verwendet, obwohl er
sich nicht im Statut des IStGH findet) etwas schwierig. Eine
Abgrenzung könnte derart getroffen werden, dass Personen
nach Abs. 1, die nicht als Zeugen gelten und auf die sich die
strafrechtlichen Ermittlungen fokussieren, mit dem im deutschen Strafprozessrecht geläufigen Begriff des „Verdächtigen“ übersetzt werden und in Absatz 2 der Beschuldigte
bezeichnet ist. Als „Person während der Ermittlungen“ kann
der Betreffende zwar verdächtig sein. Dies bedeutet aber
nicht zugleich, dass der Ankläger speziell gegen den Betreffenden ermittelt, er mithin Beschuldigter nach Absatz 2 ist.
Siehe dazu Edwards, Yale J. Int’l L. 26 (2001), 323 (345
Fn. 76).
67
dessen Wortlaut kein Hinweis auf eine dahingehende Belehrungspflicht findet.69 So ist zum einen darauf hinzuweisen,
dass diese Rechte nur dann effektiven Schutz bieten können,
wenn eine Wahrnehmung durch die betreffende Person überhaupt möglich ist. Zum anderen ist Regel 111 Abs. 2 IStGHVBO heranzuziehen. Danach haben der Ankläger und die
staatlichen Behörden während der Ermittlungen die Gewährleistungen des Art. 55 IStGH-St. zu achten.70 Für den Ankläger regelt Art. 54 Abs. 1 lit. c IStGH-St. außerdem ausdrücklich, dass er im Hinblick auf laufende Ermittlungen die Rechte der Personen, die sich aus dem Statut ergeben, uneingeschränkt zu achten habe.
bb) Während Art. 55 IStGH-St. die Rechte des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren enthält, birgt Art. 67 IStGHSt. die Rechte des Angeklagten. Das Schweigerecht findet
sich in Art. 67 Abs. 1 lit. g IStGH-St. und beruht terminologisch auf Art. 14 Abs. 3 lit. g IPbpR. Hier geht das IStGH-St.
wie schon in Art. 55 Abs. 2 lit. b IStGH-St. insofern über den
Text der Menschenrechtskonvention hinaus, als auch für den
Angeklagten die Gewährleistung auf das Verbot nachteiliger
Schlussfolgerungen erstreckt wird. Dabei vereint Art. 67 Abs.
1 lit. g IStGH-St. den Wortlaut des Art. 55 Abs. 1 lit. a, Abs.
2 lit. b IStGH-St. mit dem einzigen Unterschied, dass der
Beschuldigte nicht gezwungen werden darf, sich selbst zu
belasten71, wohingegen der Angeklagte nicht gezwungen
werden darf, als Zeuge auszusagen.72 Art. 67 Abs. 1 lit. g
IStGH-St. gilt nicht erst ab dem Zeitpunkt, zu dem die betreffende Person formell „Angeklagter“ ist, sondern – wie Regel
121 Abs. 1 IStGH-VBO belegt – bereits zum Zeitpunkt der
ersten Anhörung nach der Überstellung der Person an den
Gerichtshof nach Art. 60 IStGH-St. Im Übrigen sei auf die
69
In Bezug auf die Freiheit des Zwangs zur Selbstbelastung
enthielt zwar Art. 26 Abs. 6 ILC Draft Statute (1994) eine
solche Belehrungspflicht. Allerdings wurde dort dieses Recht
als das Recht eines Beschuldigten konzipiert (dazu auch
Kommentar 6), über die auch nach dem heutigen Art. 55
Abs. 2 IStGH-St. belehrt werden muss. Insofern besteht in
dieser Hinsicht keine Vergleichbarkeit der damaligen Fassung zu dem aktuellen Art. 55 Abs. 1 IStGH-St.
70
Dazu Hall, in: Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome
Statute of the International Criminal Court, 2. Aufl. 2008,
Art. 55 Rn. 4.
71
Art. 55 Abs. 1 lit. a IStGH-St.: „Shall not be compelled to
incriminate himself or herself or to confess guilt“.
72
Art. 67 Abs. 1 lit. g IStGH-St.: „Not to be compelled to
testify or to confess guilt […]“. Der Passus „against himself“,
der sich im IPbpR findet, wurde für das IStGH-St. nicht übernommen, so dass es dem Angeklagten grundsätzlich freisteht, sich zu äußern, und nicht nur dann, wenn entsprechende Beweise gegen ihn vorliegen, vgl. Schabas, in: Triffterer
(Fn. 70), Art. 67 Rn. 46. Die deutsche Übersetzung des Römischen Statuts scheint insofern nicht ganz richtig, als es dort
heißt, dass der Angeklagte nicht gezwungen werden dürfe
„[…] gegen sich selbst als Zeuge auszusagen […]“. Hierdurch erfolgt eine Beschränkung der Freiheit von Zwang zur
Selbstbelastung auf Befragungen oder ähnliches, die einen
Kontext zum Angeklagten aufweisen.
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Christoph Safferling/Alena Hartwig
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obigen Ausführungen zu Art. 55 IStGH-St. verwiesen. Hinzuweisen ist lediglich noch auf den Umstand, dass Art. 67
Abs. 1 lit. i IStGH-St. den Angeklagten vor jeglicher Beweislastumkehr oder Widerlegungspflicht schützt. Dies wird dann
relevant, wenn man sich die Rechtslage an den Ad HocTribunalen vergegenwärtigt, der zufolge ein Geständnis des
Angeklagten als freiwillig und ohne Zwang abgegeben gilt,
sofern nicht das Gegenteil bewiesen wird (Regel 92 JStGHVBO). In einem solchen Fall liegt die Beweislast für das
Vorliegen von Zwang nicht, wie von der Unschuldsvermutung grundsätzlich vorgesehen, beim Ankläger, sondern beim
Angeklagten. Vor einer solchen Umkehr der Beweislast
schützt Art. 67 Abs. 1 lit. i IStGH-St.73
cc) Die dritte Vorschrift, auf die in diesem Zusammenhang noch hinzuweisen ist, ist Art. 66 IStGH-St. Dieser beinhaltet die Unschuldsvermutung und steht damit in direktem
Zusammenhang zu Art. 67 Abs. 1 lit. g, lit. i IStGH-St. Im
Schweigerecht des Angeklagten manifestiert sich die Unschuldsvermutung als universelles Rechtsprinzip. Als zentraler Pfeiler eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens verkörpert
dieses Prinzip einen Schutz vor Vorverurteilungen und
Schuldzuweisungen im Vorfeld der gerichtlichen Feststellung
und sichert demnach die Grundlage für Gerechtigkeit und
Fairness in strafrechtlichen Verfahren.74 Art. 66 Abs. 1
IStGH-St. beinhaltet die generelle Aussage, dass jeder bis
zum Nachweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten hat.
Ferner legt Art. 66 IStGH-St. im zweiten und dritten Absatz
dar, dass die Beweislast für den Nachweis dieser Schuld der
Ankläger zu tragen hat, und dass eine Verurteilung nur für
den Fall möglich ist, dass keine vernünftigen Zweifel an der
Schuld des Angeklagten bestehen. Neben der Beweislastverteilung wird somit zugleich auch das Beweismaß festgelegt.
Die Unschuldsvermutung sticht im Römischen Statut zum
einen durch ihre regulative Eigenständigkeit, da sie nicht
zwischen den Rechten des Angeklagten eingestellt ist, sondern in einer eigenen Vorschrift den Angeklagtenrechten
vorgeht, und zum anderen durch ihre Ausführlichkeit deutlich
hervor. Auf diese Art und Weise sollte der höchstmögliche
Standard für den Schutz der fundamentalen Rechte des Angeklagten sichergestellt werden.75 Es besteht außerdem Ei73
Dazu auch May/Wierda, International Criminal Evidence,
2002, S. 292 und Zappalá (Fn. 67), S. 94, welcher die auf die
zuvor hingewiesene Beweislastumkehr an den Tribunalen
nach Regel 92 JStGH-VBO stark kritisiert („This [Art. 67
Abs. 1 lit. i IStGH-St., Anm. d. Verf.] is a major breakthrough because in the system of the ad hoc Tribunals there
are reversals that virtually require a probatio diabolica.“).
74
Cassese, International Criminal Law, 2. Aufl. 2008, S. 390;
Bassiouni, Introduction to International Criminal Law, 2003,
S. 603; Calvo-Gollar (Fn. 62), S. 227; Zappalá, in: Cassese/
Gaeta/Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International
Criminal Court, Bd. 2, 2002, S. 1340 ff. Zur Unschuldsvermutung in menschenrechtlichen Übereinkommen s. Nowak
(Fn. 37), Art. 14 Rn. 33; Trechsel (Fn. 39), S. 154 ff.
75
Zappalá (Fn. 67), S. 84. Zur geschichtlichen Entwicklung
dieses Artikels s. Schabas (Fn. 72), Art. 66 Rn. 3 ff. und
Baum, Wisc. Int’l L. J. 19 (2001), 197 (203 f.).
nigkeit dahingehend, dass die Unschuldsvermutung trotz
ihrer systematischen Stellung und trotz ihres Wortlautes nicht
bloß für den Angeklagten, sondern bereits zu einem früheren
Zeitpunkt auch für den Beschuldigten Geltung beansprucht.76
So ist neben Art. 67 Abs. 1 lit. a IStGH-St. auch Art. 55
Abs. 2 lit. b IStGH-St. mit dem Verbot, nachteilige Schlussfolgerungen aus dem Schweigen des Beschuldigten zu ziehen, direkter Ausfluss der Unschuldsvermutung und der dort
niedergelegten Beweislastverteilung.
b) Negative Schlussfolgerungen aus dem Schweigen
Ein weiterer Unterschied ergibt sich im Hinblick auf den
Umfang der Gewährleistung des Schweigerechts. Der Wortlaut des Art. 55 Abs. 2 lit. b IStGH-St. besagt ausdrücklich,
dass das Schweigen des Beschuldigten bei der Feststellung
von Schuld oder Unschuld nicht in Betracht gezogen wird.
Hiermit trifft die Vorschrift eine Anordnung, die über sämtliche Regelungen, einschließlich der menschenrechtlichen
Standards, hinausgeht. Eine Diskussion über die Zulässigkeit
nachteiliger Schlussfolgerungen aus dem Schweigen wird
dadurch obsolet: durch eine solche Formulierung verdeutlicht
der Wortlaut unmissverständlich, dass nachteilige Schlussfolgerungen aus dem Schweigen nicht gezogen werden dürfen. Dieses Schutzniveau wird durch die „Unvollständigkeit“
der Regelung relativiert. Im Vergleich zu den Regelungen an
den Tribunalen fehle der Hinweis, dass jegliche Aussage als
Beweis gegen den Beschuldigten verwendet werden könne.77
Sofern anfangs die Hoffnung bestand, dass dies in der Verfahrens- und Beweismittelordnung oder den “Regulations“
nachgeholt werden würde, bleibt lediglich festzustellen, dass
dies bis dato nicht der Fall ist. Trotz dieses Umstandes fällt
das Schweigerecht nicht hinter den Standard zurück, den
menschenrechtliche Übereinkommen vorsehen.
c) Transnationale Kooperation
In Bezug auf den Adressaten dieser Verpflichtung ist das
IStGH-Statut zumindest umfassender als die Verfahrens- und
Beweismittelordnung des JStGH, welche sich lediglich auf
eine Befragung durch den Ankläger beziehen und demzufolge nur diesen mit einer Belehrungspflicht versehen.78 Hingegen nimmt Art. 55 Abs. 2 IStGH-St. neben dem Ankläger
auch einzelstaatliche Behörden und deren Mitarbeiter in die
Pflicht. Was die Bindung einzelner Staaten anbelangt, so
wird durch den in Art. 55 Abs. 2 IStGH-St. gewählten Wortlaut deutlich, dass die Gewährleistungen dieser Vorschrift in
den Vertragsstaaten zu berücksichtigen sind, sofern deren
Behörden auf der Grundlage eines Ersuchens um Zusammenarbeit nach Teil 9 des Statuts bei den Ermittlungen behilflich
sind, wobei idealerweise im Vorfeld eine Umsetzung der
76
Cryer/Friman, An Introduction to International Criminal
Law and Procedure, 2008, S. 356; Cassese (Fn. 74), S. 390;
Schabas (Fn. 63), S. 203 mit Verweis auf Bassiouni, Cornell
Int’l L. J. 32 (1999), 443 (454).
77
Safferling (Fn. 36), S. 124; Hall (Fn. 70), Art. 55 Rn. 12.
78
Siehe zu der diesbezüglich geäußerten Kritik oben, S. 64.
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ZIS 13/2009
792
Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen
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Regelung in nationales Recht hätte erfolgt sein sollen.79 Hierdurch soll ein zusätzlicher Schutz geschaffen werden, da der
IStGH in erheblicher Art und Weise auf die Kooperation der
Staaten und deren Durchsetzungsmechanismen angewiesen
ist.80 Sofern diese Rechte durch die staatlichen Behörden oder
den Ankläger verletzt werden, sind hierdurch erlangte Beweismittel nach Art. 69 Abs. 7 IStGH-St. nicht zulässig.81
Eine gewisse Parallelität besteht diesbezüglich zu den obigen
Ausführungen betreffend den JStGH (sowie den RStGH),
wobei dort die Regeln 42, 95 JStGH-VBO staatliche Behörden nicht in demselben Umfang binden wie Art. 55 IStGHSt. die Vertragsstaaten des Römischen Statuts. Es wird demzufolge insofern ein Unterschied deutlich, als nach dem
Recht an den Tribunalen die nationalen Rechtsordnungen
unbeeinflusst durch die Statuten und Verfahrens- und Beweismittelordnungen bleiben, wohingegen die Vorschriften
des Römischen Statuts als Bestandteil der vertraglichen Verpflichtung auch in den Unterzeichnerstaaten gelten sollen.
Für den Fall einer Verletzung der dem Beschuldigten zugestandenen Rechte (Maßstab sind hier die in den Statuten oder
Verfahrens- und Beweismittelordnungen verankerten Gewährleistungen) kommt es in der Gestalt eines „gemeinsamen
Nenners“ an diesen internationalen Gerichtshöfen zumindest
auch darauf an, ob die Zulassung der auf diese Weise erlangten Beweismittel in einem grundsätzlichen Widerspruch zur
Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens steht und dieser schweren
Schaden zufügen würde.
d) Zusammenfassung
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Garantie des Art. 55
Abs. 2 lit. b IStGH-St. in Teilen über den Maßstab hinausgeht, der in anderen Rechtsordnungen vorhanden ist. Was die
Menschenrechte anbelangt, so garantiert diese Vorschrift den
79
Amnesty International: „International Criminal Court: The
failure of states to enact effective implementing legislation“,
1.9.2004, AI Index: IOR 40/019/2004, S. 33, unter Hinweis
auf eine eher mangelhafte Umsetzung in das nationale Recht
der Staaten. Zu dem Bedürfnis einer solchen Umsetzung
siehe Oosterveld/Perry/McManus, Fordham Int’l L. J. 25
(2002), 767 (787 ff.); Triffterer, in: Kreß/Lattanzi (Hrsg.),
The Rome Statute and Domestic Legal Orders, Bd. 1, 2000,
S. 1, 12 f.
80
May/Wierda (Fn. 73), S. 278; Terracino, J.I.C.J. 5 (2007),
421 (422). In den Worten des Anklägers am IStGH, Luis
Moreno-Ocampo: „[T]here seems to be a paradox: the ICC is
independent and interdependent at the same time. It cannot
act alone. It will achieve efficiency only if it works closely
with other members of the international community.“ (Statement made at the ceremony for the solemn undertaking of the
Chief Prosecutor of the ICC, 16.6.2003).
81
Rastan, Leiden J. Int’l L. 21 (2008), 431 (452), der auf die
Ähnlichkeit dieser Vorschrift zu Regel 95 JStGH-VBO und
zugleich auf den Umstand hinweist, dass Art. 69 Abs. 7
IStGH-St. deutlicher formuliert ist und daher entsprechend
erlangte Beweise – anders als das Gegenstück in der JStGHVBO – eindeutig von der Zulassung ausschließt (sofern die
Verletzung von ausreichender Schwere ist).
konventionellen Mindeststandard und übertrifft diesen in
mancherlei Hinsicht. Gleiches gilt für die in Art. 55 Abs. 1
lit. a IStGH-St. verankerte Freiheit von Zwang zur Selbstbelastung. Allein schon der Umstand, dass Art. 55 IStGH-St.
dieses Recht in doppelter Hinsicht gewährleistet, verdeutlicht
die Fortschrittlichkeit der Vorschrift und den derart postulierten Schutz. Flankiert wird die Regelung der Beschuldigtenrechte durch die Angeklagtenrechte des Art. 67 IStGH-St.
und Art. 66 IStGH-St. als die Zentralnorm der Unschuldsvermutung.
IV. Ausblick
Strafprozessrecht steht im Spannungsfeld zwischen Effizienz
und Fairness. Das zeigt sich auch an dem Umgang mit dem
Recht zu Schweigen, das in diesem Spannungsfeld eine ambivalente Rolle einnimmt. Während es einerseits die Arbeit
der Ermittlungsbehörden zu behindern scheint, garantiert es
zugleich die Güte der Wahrheitsfindung, da der Wahrheitsgehalt einer unter Druck getätigten Aussage des Angeklagten
sehr zweifelhaft ist. Das Recht zu schweigen ist daher nicht
nur eine menschenrechtliche Garantie der Verfahrensfairness
gegenüber dem Angeklagten, sondern zugleich ein wichtiges
Grundelement der rechtsstaatlichen Wahrheitsfindung. Die
seit einiger Zeit zu beobachtende Erosion kategorischer
Rechte im Strafverfahren droht auch das Schweigerecht in
nationalen Rechtssystemen zu beeinträchtigen. In dieser
Situation wird die Rechtsposition des Angeklagten durch
Entwicklungen im internationalen Strafverfahrensrecht gestärkt. Zwar hat das Völkerstrafprozessrecht keinen unmittelbaren Einfluss auf nationale Rechtssysteme; wenigstens mittelbar könnte und sollte das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs allerdings Vorbildcharakter entwickeln.
Eine weitere Besonderheit des Strafverfahrensrechts im
21. Jahrhundert wird hierbei deutlich. Trotz des immer wieder betonten, grundsätzlich nationalen Charakters des Strafprozesses82, ist Strafverfahrensrecht nicht mehr nur eindimensional zu betrachten. Verschiedene Spruchkörper auf
europäischer, aber auch auf internationaler Ebene beeinflussen die Entwicklung des Strafprozesses. Es entstehen Überschneidungen und Spannungen. In dieser dynamischen und
facettenreichen Evolution ist es besonders wichtig, sich auf
die Funktion des rechtsstaatlichen, aufgeklärten Strafverfahrens überhaupt zu besinnen und die traditionellen Errungenschaften immer neu zu begründen. Das gilt auch für die Integration der Rechtsprechung des EGMR. Wegen seiner
Natur als supranationales Organ zur Implementierung der
EMRK bedürfen seine Entscheidungen – wie auch das
BVerfG in seinem sehr umstrittenen Beschluss in der Sache
82
EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Urt. v. 11.7.2006 –
54810/00, in: NJW 2006, 3117 Rn. 94, mit Verweis auf
Schenk ./. Schweiz, Serie A Nr. 140 Rn. 45 f.; Teixera de
Castro ./. Portugal, Slg. 1998-IV, S. 1462 Rn. 34; vgl. Safferling, Jura 2008, 100 (103); ebenso der EuGH in ständiger
Rspr. vgl. etwa EuGH C-176/03 vom 13.9.2005, Kommission
./. Rat, Rn. 47.
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com
793
Christoph Safferling/Alena Hartwig
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Görgülü festgestellt hat83 – genauer Analyse hinsichtlich der
systematischen Integration in das nationale Recht. Nicht
alles, was vom EGMR hinsichtlich anderer Rechtsordnungen
für menschenrechtskonform erachtet wird, wie etwa negative
Schlussfolgerungen aus dem Schweigen nach englischem
Recht84, kann im innerstaatlichen Recht zulässig sein. Ebenso
kann, was bzgl. einer anderen Prozessordnung für menschenrechtswidrig erachtet wurde, sich im deutschen Strafverfahrensrecht als menschenrechtskonform erweisen, weil Fairness
strukturell anders hergestellt wird.85
Angesichts dieser Dilemmata zeigt diese Untersuchung,
dass hinsichtlich des Schweigerechts auf mehreren Ebenen
eine erfreulich weitgehende Übereinstimmung zu verzeichnen ist. Das ist umso begrüßenswerter, als eine Harmonisierung des rechtsstaatlichen Standards hinsichtlich der weiteren
Entwicklung des europäischen wie des internationalen Strafrechts dringend erforderlich ist.
83
BVerfGE 111, 307. Dazu auch Sachs, JuS 2005, 164;
Breuer, NVwZ 2005, 412; Klein, JZ 2004, 1176; MeyerLadewig/Petzold, NJW 2005, 15; Hartwig, German Law
Journal 6 (2005), 869; Safferling, Jura 2008, 100 (107).
84
S.o. bei Fn. 23.
85
Das kann etwa im Fall der verdeckten Ermittler und Lockspitzel gelten, wenn vom BGH das Heil in einer Rechtsfolgen- bzw. Vollstreckungslösung gesucht wird. Hierzu BGH,
Urt. v. 18.11.1999 – BGHSt 45, 321; NJW 2000, 1123. Freilich steht eine Bewertung durch den EGMR selbst für das
deutsche Strafprozessrecht noch aus.
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ZIS 13/2009
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