Wenn die Seele vereist
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Wenn die Seele vereist
teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 3 Frauke Teegen Wenn die Seele vereist Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden Kreuz teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 4 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2008 Verlag Kreuz GmbH Postfach 80 06 69, 70506 Stuttgart www.kreuzverlag.de Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: [rincon]2 medien gmbh, Köln Umschlagbild: Ross M. Horowitz/Getty Images Satz: de·te·pe, Aalen Druck: Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-7831-3041-6 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 5 Inhalt Vorwort 1 Das Trauma verstehen Traumatische Lebenserfahrungen Spaltungen im Bewusstsein Wenn Opfer ihre Täter schützen Wie Körper und Seele reagieren – posttraumatische Belastungsstörungen Exkurs: Die Entdeckung der »Posttraumatischen Belastungsstörung« Wenn die Erinnerung immer wiederkehrt Komplizierte Trauer und andere Folgestörungen Veränderungen im Gehirn 7 13 15 19 26 33 37 45 59 65 2 Traumatische Erfahrungen überwinden Wer wird krank – wer bleibt gesund? Notfallpsychologie Wie man Selbstheilungskräfte stärken kann Traumatherapie Bildersprachen Zeugnisse über Gewalttaten Traumatisierte Kinder und Jugendliche Ein Trauma im Alter bewältigen Reifungsprozesse nach dem Trauma 73 75 80 86 93 106 120 125 131 139 3 Berichte von Überlebenden Attentat auf eine Tennisspielerin: Monica Seles In Extremis: Einen Flugzeugabsturz überleben Entführung einer Lufthansa-Maschine: Gabriele von Lutzau Das Gefängnis im Innern: Béatrice Saubin 149 151 165 184 195 5 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 6 Die Suche nach Sinn: Viktor Frankl Familiengeheimnisse: Gisela Heidenreich Auf der Todesliste der Stasi: Wolfgang Welsch Die Kronzeugin: Leila Zisko Obszöne Anrufe: Richard Berendzen Flucht aus der Licht-Oase: Lea Laasner In der Eiswüste: Jerri Nielsen 205 214 225 243 252 268 287 Nachwort 299 Anmerkungen Weiterführende Literatur Internet-Ressourcen 303 315 316 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 7 Vorwort Vor zwanzig Jahren arbeitete ich als Therapeutin vor allem mit Menschen, die unter Somatisierungsstörungen litten – das sind körperliche Symptome ohne medizinischen Befund. Wenn es den Patienten im Lauf der Behandlungen gelang, ihre körperlichen und seelischen Beschwerden mit Lebenserfahrungen und Gefühlen zu verbinden, traten oftmals grauenvolle und durchaus glaubwürdige Erinnerungen zu Tage. Das Ausmaß sexueller Misshandlungen in der Kindheit, das sich hinter dem körperlichen Leiden versteckte, war erschreckend. Eine Befragung von Hamburger Therapeutinnen und Therapeuten zeigte, dass viele ähnliche Erfahrungen von ihren Patienten berichtet wurden. Aber wie konnte man heilsam mit solchen seelischen Verletzungen umgehen? Waren sie überhaupt zu heilen? Erhebungen wiesen auf ein hohes Ausmaß von Gewalt gegen Kinder durch überwiegend männliche Täter hin. Die Erforschung komplexer Folgestörungen stand ganz am Anfang, Informationen über wirksame Behandlungskonzepte gab es noch nicht. Ich beschloss, die Betroffenen selbst nach ihren Erfahrungen, Beschwerden und Bewältigungsversuchen zu fragen. Mit diesem Forschungsprojekt begann eine abenteuerliche und außerordentlich lehrreiche Phase in meinem Leben. Offensichtlich hatte ich ein Tabuthema berührt. Plötzlich stürmten Frauengruppen in mein Büro. Sie waren nicht damit einverstanden, dass wir bei dem Projekt auch Männer eingeladen hatten, über sexuellen Missbrauch in der Kindheit zu berichten, und dass wir davon ausgingen, dass auch Frauen Kinder missbrauchten. Außerdem, so wurde uns vorgeworfen, sei es unverantwortlich, die Opfer durch eine solche Befragung noch weiter zu schädigen. Ich konnte es nicht fassen, dass Menschen, nur weil sie Schreckliches 7 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 8 erlebt hatten, jegliche Fähigkeit zu Selbstbestimmung – z.B. selbst zu entscheiden, ob sie einen Fragebogen ausfüllen und zurücksenden wollten – abgesprochen wurde. Über 2000 Personen forderten unseren Fragebogen an. 540 Frauen und 35 Männer schickten ihn sorgfältig ausgefüllt zurück – einige hatten aus der Psychiatrie oder sogar aus dem Gefängnis geantwortet. Alle hatten mit ihren Berichten, die vielen sehr schwergefallen waren, dazu betragen wollen, dass die Folgen des sexuellen Kindesmissbrauchs gesellschaftlich stärker wahrgenommen würden. Einige Ergebnisse waren zunächst nicht leicht zu begreifen. Betroffenen, die sich mehrfach in Therapie begeben hatten, ging es deutlich schlechter als Personen, die ähnlich Schreckliches erlebt hatten, kaum Therapieerfahrung hatten, jedoch in guten und vertrauensvollen Partnerschaften lebten. Hilft die Therapie nicht? Doch, erkannte ich in den nächsten Jahren, aber nicht jede Therapie. Traumatisierte Menschen benötigen eine sehr spezifische Behandlung. Auf internationalen Kongressen wurden zunehmend Forschungsergebnisse präsentiert, die einen Einblick in die Besonderheiten des psychischen Erlebens und der biologischen Regulationen von traumatisierten Menschen gaben. Auf dieser Basis wurden schließlich wirksamere Behandlungsmethoden entwickelt. Durch die Begegnungen mit Kollegen aus Skandinavien, den Niederlanden, Großbritannien und den USA wurde mir peinlich bewusst, wie wenig ich über seelische Traumatisierung und die spezifischen Folgeschäden wusste. Mein Wissensdefizit hatte damit zu tun, dass ich in Deutschland arbeitete und dass dieses Thema hier sehr viel später als in anderen Ländern in das Bewusstsein der Fachleute geriet. Auf einem Kongress der Europäischen Gesellschaft für Psychotraumatologie, der 1995 in Paris stattfand, wären wir zwölf deutschen Wissenschaftler fast untergegangen – hätte man uns nicht in der Eröffnungssitzung ganz besonders 8 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 9 begrüßt und gewürdigt. Ein renommierter niederländischer Kollege erklärte später feindselig, man habe sehr lange überlegt, ob man deutsche Wissenschaftler – in Anbetracht der Untaten der Deutschen im Zweiten Weltkrieg – überhaupt in die Europäische Gesellschaft aufnehmen sollte. An herablassende und feindselige Bemerkungen gegenüber Deutschen war ich durch viele Reisen durchaus gewöhnt. Dass dies auch in einem wissenschaftlichen Rahmen geschah, hatte ich nicht erwartet. Mein Ärger inspirierte schließlich mehrere Forschungsprojekte, in denen ich mich mit dem Leiden der deutschen Zivilbevölkerung am Ende des Zweiten Weltkriegs und den Langzeitfolgen befasste. Während der internationalen Tagungen lernte ich, dass die Auseinandersetzung mit seelischem Trauma gefährlich sein kann. In Jerusalem und Istanbul detonierten Bomben in der Nähe der Tagungszentren. Bei Veranstaltungen, in denen zu viele Zeitzeugen über furchtbare Geschehnisse berichteten, verloren auch renommierte Experten die Fassung, etliche Teilnehmer erkrankten. Mir hat es immer wieder geholfen, die oftmals überwältigenden Erfahrungen, die komplizierten Forschungsergebnisse sowie meine Gefühle und Fragen mit Kollegen – vor allem in meiner Muttersprache – offen besprechen zu können. Mit vielen Kollegen entwickelte sich eine fruchtbare und freundschaftliche Zusammenarbeit, u.a. mit Sahika, einer engagierten Professorin an der Universität von Istanbul. Sie ging das Tabuthema »sexuelle Gewalt« sehr viel klüger an als ich. Ihr war deutlich bewusst, dass sie mit der Erforschung sexueller Gewalt gegen Frauen und Kinder ein brisantes Tabu in ihrer Kultur berühren würde. So plante sie ihre Strategie äußert umsichtig: Sie lud eine auswärtige Expertin ein – diese Rolle übernahm ich – und organisierte Vorträge in verschiedenen Fachbereichen ihrer Universität, für die Öffentlichkeit und in der Frauenbewegung. Abends diskutierten wir in romantischen Lokalen am Bosporus oder 9 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 10 eleganten Universitätsclubs am Goldenen Horn, wie ich das Thema für Mediziner, Juristen und andere Gruppen jeweils angehen sollte. Auf der Heimfahrt verstummten wir meist – ein Auto mit zwei Frauen ohne männliche Begleitung konnte jederzeit von einer Polizeistreife angehalten werden. Für den Notfall hatten wir die Telefonnummer eines befreundeten Rechtsanwalts dabei. In den folgenden Jahren erlebten wir auf verschiedenen Tagungen mit großer Befriedigung, dass dem Thema »sexuelle Gewalt« zunehmend mehr Beachtung geschenkt wurde. Trotz ihrer Umsicht konnte auch Sahika negative Reaktionen auf ihr Engagement nicht verhindern: Als sie 1999 als Präsidentin der Europäischen Traumagesellschaft einen Kongress in Istanbul organisierte und dazu wie üblich auch Schriftsteller und Zeitzeugen zum Thema Gewalt einlud, wurden politische Gruppierungen auf sie aufmerksam und versuchten, Einfluss auf ihre Tätigkeit zu nehmen. Über viele Jahre geriet ich in eine Zeitströmung, in der zu Themen der Psychtraumatologie relevante Fragen gestellt wurden und intensiv nach Antworten gesucht wurde. Inzwischen hat sich herauskristallisiert, dass lebensbedrohliche Ereignisse wie schwere Unfälle, Katastrophen und Gewalttaten durchaus nicht selten sind und dass solche Erfahrungen zu massiven Belastungsstörungen führen können. Neben der krankheitsorientierten Forschung haben sich auch Ansätze entwickelt, die sich mit Fähigkeiten und Kraftquellen beschäftigen, die es Menschen ermöglichen, seelische Ausnahmesituationen gut zu bewältigen. Im Zusammenhang mit diesen Erkenntnissen wurden psychosoziale Hilfen entwickelt, die das Erkrankungsrisiko nach katastrophalen Ereignissen begrenzen sollen, wie auch wirksame Behandlungskonzepte, die in relativ kurzer Zeit zu einer deutlichen und stabilen Reduktion posttraumatischer Beschwerden führen können. Meine psychotherapeutische Tätigkeit hat mir gezeigt, 10 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 11 dass sich die Erkenntnisse der Forschung in der Praxis wirklich bewähren. Dabei habe ich auch erfahren, dass Menschen durch Schicksalsschläge seelisch schwer verletzt und zugleich auch sehr stark sein können. Manche hatten eine Hölle der Gewalt überlebt und waren dennoch fähig, die Hoffnung zu wählen und an das Leben zu glauben. Beim Schreiben des vorliegenden Buches lag mir daran, für Menschen, die ein seelisches Trauma erlitten haben, für ihre Angehörigen und andere interessierte Personen wichtige Informationen der Psychotraumatologie verständlich darzustellen. Das Buch gliedert sich in verschiedene Teile. Zunächst werden Erlebnisse während und nach traumatischen Erfahrungen sowie Krankheits- und Genesungsprozesse erläutert und mit zahlreichen Beispielen veranschaulicht. Abschließend kommen Menschen ausführlicher zu Wort, die grauenhafte Ereignisse überlebt und seelisch überwunden haben. Diese Geschichten vermitteln einen Einblick in oftmals qualvolle Erfahrungen und zeigen zugleich, wie die mutige Auseinandersetzung mit dem Leiden Genesungsprozesse fördern und ein tiefes Verständnis für existentielle Fragen erschließen kann. 11 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 13 1 Das Trauma verstehen Und Taten unnatürlich erzeugen unnatürliche Zerrüttung. William Shakespeare, Macbeth Amygdala. Was bedeutet es? Nichts. Es ist eine Stelle. Es ist der dunkle Fleck des Gehirns. Ein Ort, wo erschreckende Erfahrungen beherbergt werden. Michael Ondaatje, Anils Geist Monica Seles, ein Wunderkind des Tennissports, 19 Jahre alt und auf Platz eins der Damen-Weltrangliste, wird in Hamburg von einem Attentäter hinterrücks mit einem Messer angegriffen und schwer verletzt. – Sechzehn junge Männer überleben einen Flugzeugabsturz in den Anden und sehen sich ohne Nahrungsmittel eisiger Kälte ausgesetzt. – Während ihres Rückflugs nach Deutschland werden Urlauber und Crew plötzlich von Terroristen mit Pistolen und Handgranaten bedroht. – Eine junge Frau wird bei der Ausreise aus Malaysia festgenommen und landet in der Todeszelle; ein Liebhaber hatte ihr einen Koffer mit Heroin untergeschoben. – Der erfolgreiche Radrennsportler Lance Armstrong geht zum Arzt und erfährt, dass seine Beschwerden durch einen Hodenkrebs ausgelöst werden. Seine Chancen, die weit fortgeschrittene Krankheit zu überleben, sind äußerst gering. Diese Ereignisse haben etwas gemeinsam: Die Personen durchleben eine seelische Ausnahmesituation, die ihr Leben bedroht und verändert. 13 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 14 Erfahrungen, die mit dem Tod, mit Gewalt und dem Bösen konfrontieren, können eine schwerwiegende seelische Verletzung (griechisch: Trauma) erzeugen. Ein seelisches Trauma wird durch lebensbedrohliche Ereignisse wie schwere Unfälle, Katastrophen, Gewalttaten verursacht. Solche Erlebnisse lösen intensive Gefühle von Furcht, Hilflosigkeit und Entsetzen aus. Sie zu bewältigen kann viele Menschen kurz oder auch langfristig überfordern. Während traumatischer Ereignisse setzen häufig Bewusstseinsveränderungen ein, die dem Überleben dienen: Panik, Wut und Schmerzen werden ausgeblendet, die Aufmerksamkeit ist ganz auf lebensrettende Maßnahmen zentriert. Auch Beziehungen mit extremem Machtgefälle, die durch Demütigungen, Willkür und Gewalt geprägt sind, zwingen die hilflosen Opfer, Angst, Schmerz und Aggression zu unterdrücken. Traumatische Erfahrungen sind durchaus nicht selten; die Mehrheit der Bevölkerung erlebt mindestens einmal im Leben eine solche existentielle Grenzerfahrung, die sie aus den vertrauten Lebenszusammenhängen reißt. Fast alle Betroffenen entwickeln bei einem seelischen Trauma akute Beschwerden – Desorientierung, Gefühlstaubheit, Angstzustände –, die jedoch häufig aus eigener Kraft und mit Hilfe tragfähiger sozialer Beziehungen überwunden werden. Acht bis neun Prozent der Bevölkerung leiden unter einer »Posttraumatischen Belastungsstörung«. Sie zeichnet sich durch folgende Symptome aus: Schmerzliche Erinnerungen an das schreckliche Erlebnis drängen sich immer wieder auf. Die Betroffenen vermeiden Situationen, Gefühle und Gedanken, die an das Trauma erinnern könnten. Sie fühlen sich emotional erstarrt, den anderen nicht mehr zugehörig. Das anhaltende Bedrohungsgefühl hält auch den Körper ständig in hoher Erregung und führt zu Reizbarkeit, Konzentrations- und Schlafstörungen. Wenn das Trauma nicht überwunden wird und die Belastungsstörung anhält, entwickeln sich oft zusätzlich Beschwerden – Depression, 14 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 15 Missbrauch von Alkohol und Drogen sowie körperliche Erkrankungen. Posttraumatische Symptome werden durch Besonderheiten der Erinnerungsbildung während und nach seelischen Ausnahmesituationen erklärt. Eine Schlüsselrolle kommt dabei spezifischen Prozessen und Veränderungen in Gehirnstrukturen zu, die für die bewusste Erinnerung von zentraler Bedeutung sind. Traumatische Lebenserfahrungen Was ist ein belastendes Lebensereignis – und was ist ein Trauma? In der Umgangssprache werden viele Situationen als »traumatisch« beschrieben, z.B. Scheidung, der Verlust des Arbeitsplatzes oder Mobbing. Solche Situationen können sehr belastend sein, »Stress« erzeugen und uns in eine Krise führen – sie sind jedoch nicht wirklich traumatisch. Belastende Lebenserfahrungen Situationen, die uns herausfordern, aber auch überfordern können, sind u.a. mit bestimmten Entwicklungsphasen verbunden: Schuleintritt, Prüfungen und Berufsbeginn, Verlassen des Elternhauses, Elternschaft, Berufsende und Ruhestand. Eine hohe Stressbelastung entsteht auch durch alltäglichen Ärger, Konflikte mit Kollegen und Vorgesetzten, Krisen in der Partnerschaft sowie die Trennung von wichtigen Bezugspersonen. Wenn solche ungünstigen Situationen lange andauern und es nicht gelingt, sich auf die veränderten Gegebenheiten einzustellen, kann es zu Anpassungsstörungen kommen. Im Kontrast zu allgemeinen Belastungen konfrontieren uns traumatische Ereignisse mit existentiellen Grenzsituationen – mit direkter Bedrohung, körperlicher Gewalt, Lebens- und Verletzungsgefahr. Solche Ereignisse liegen außerhalb der 15 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 106 Opfer von Menschenrechtsverletzungen und Überlebende in Katastrophen- und Krisengebieten. Eine psychologische Begleitung, die mit einem Rückblick auf das gesamte Leben verbunden wird, kann die Bewältigung psychischer Traumen im Alter unterstützen. In den Niederlanden wurde in den letzten Jahren auf der Basis der oben beschriebenen klinisch erprobten Interventionen eine Behandlung traumatisierter Patienten per Internet entwickelt. Dabei wird das persönliche Gespräch durch Schreibaufträge ersetzt, die von Therapeuten angeleitet und kommentiert werden. Erste Studien zeigen positive Resultate.12 Interessant erscheint eine Internet-Therapie vor allem für Menschen, die auf Grund ihres Wohnortes keinen Zugang zu Versorgungsmöglichkeiten haben, beruflich viel unterwegs sind, durch Körper- Sprach- oder Hörbehinderung eingeschränkt sind oder aus Schamgefühl den direkten therapeutischen Kontakt scheuen. Die InternetTherapie wird inzwischen auch in Deutschland wissenschaftlich überprüft. Bildersprachen Insbesondere lebensgeschichtlich frühe und sehr schwerwiegende Traumaerfahrungen sind im Gedächtnis nicht über Sprache, sondern über Bilder abgespeichert und daher zunächst nicht bewusst fassbar. Mit der Hilfe nonverbaler Ausdrucksformen, z.B. über die Sprache von Bildern, können jedoch auch frühe traumatische Erfahrungen in das Bewusstsein gehoben und schrittweise zum sprachlichen Ausdruck geführt werden. Die psychologische Aussagekraft von Zeichnungen, Collagen oder Plastiken besteht unabhängig von einem künstlerischen Talent oder von dem vorgegebenen Material. Gespräche über solche Gestaltungen müssen jedoch sehr behutsam geführt werden, denn sie enthüllen ein »unzensiertes«, noch vorbewusstes Wissen, und die Betroffenen 106 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 107 reagieren oft mit Scheu, Angst oder heftiger Selbstkritik auf die Betrachtung. Erforscht man die Bilder jedoch vorsichtig mit einer distanzierenden Perspektive, können wichtige Erinnerungen und Bewertungsmuster zugänglich und neue Sichtweisen erschlossen werden. Ein sicherer Ort Alle Menschen haben schon einmal eine Situation erlebt, in der sie mit sich und ihrer Umwelt in Einklang waren, Ruhe und tiefen Frieden spürten. Solche Erfahrungen werden oft in der Natur und in der Kindheit gemacht und sind meist mit einem realen Ort verbunden, an dem man sich völlig entspannt und sicher fühlte. Vorstellungen, die mit angenehmen Erinnerungen und Gefühlen verbunden sind, werden u.a. bei der Progressiven Muskelrelaxation vorgegeben, um Entspannungsprozesse zu vertiefen. Die Imagination eines persönlichen Ruhebildes ist auch eine bewährte Selbsthilfemöglichkeit, um sehr belastende medizinische Behandlungen (z.B. bei Krebserkrankungen) durchzustehen. In der Traumatherapie wird die Vorstellung eines sicheren Ortes genutzt, um bewusst einen Gegenpol zu extrem beängstigenden Bildern zu schaffen. Bei der Suche nach einer wirksamen Imagination stellen sich bei Menschen mit starken Belastungen oft zunächst Erinnerungen ein, in denen Vorstellungen von Geborgenheit mit beängstigenden Gedanken vermischt sind. Im Gespräch über solche Vorstellungen werden häufig unbewusste Erinnerungen zugänglich. Die folgende Abbildung zeigt das »Ruhebild« einer 65jährigen Frau, die an Brustkrebs erkrankt war. Während der Anleitung zur Entspannung und Imagination erinnerte sie sich sehr klar an ihre geliebte Großmutter, bei der sie sich als Kind verstanden und geborgen fühlte. Sie hatte Freude daran, das Erinnerungsbild zu malen, wurde bei der 107 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 108 Abb.1 Bei der Großmutter. Das Ruhebild enthüllt traumatische Erinnerungen. Betrachtung jedoch sehr unruhig. Das Bild ist einfach und fast unfarbig gestaltet. Die Malerin sitzt rechts neben ihrer Großmutter auf einem Sofa, das zum Teil über die Personen gezeichnet ist. Diese auffälligen »Einkreisungen« können aus psychologischer Sicht auf emotionale Belastungen hinweisen. Das Gespräch zu diesem Bild enthüllte: Die Einkreisung im Unterleibsbereich der Großmutter wie der Patientin deutete auf traumatische Erinnerungen hin. Beide waren vor mehr als 40 Jahren am Ende des Zweiten Weltkrieges durch russische Soldaten vergewaltigt worden. Sie hatten die grauenvollen Erfahrungen geheim gehalten und auch miteinander nie offen darüber gesprochen.1 108 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 109 Spaltungen im Selbstbild Abbildung 2 zeigt das Selbstportrait eines 14-jährigen Mädchens. Es entstand nach dem Amoklauf in Erfurt, als ein ehemaliger Schülers des Gutenberg-Gymnasiums 2002 vierzehn Menschen getötet hatte. Viele Schülerinnen und Schüler gerieten dabei in Lebensgefahr und fast alle waren mit extremer Angst und grauenhaften Eindrücken konfrontiert. Im Rahmen der psychologischen Nachsorge ließ die Kunstlehrerin eine achte Klasse vier Monate nach dem furchtbaren Ereignis Selbstportraits malen. Die Schüler sollten nicht ihr Äußeres, sondern ihr Inneres darstellen und anschließend ihre Bilder schriftlich kommentieren. Die meisten Portraits zeigten einen Bruch des vertrauten Lebensgefühls, einen Riss und eine Spaltung in der Gefühlswelt. Die Jugendlichen spürten in sich »eine helle und eine dunkle Seite«; Erinnerungen an die Gewalt und verstörende Gefühle überschatteten einen Teil ihres Lebens und Erlebens. Abb. 2 Zwei Seiten: Verzweiflung und Fröhlichkeit. Selbstportrait einer Schülerin nach dem Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt 109 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 110 In dem abgebildeten Selbstportrait ist eine Gesichtshälfte ganz mit einem schwarz schraffierten Gitter überdeckt. Das Auge hinter dem Gitter ist geschlossen, der Mundwinkel resigniert nach unten gezogen. Die andere Gesichtshälfte schaut den Betrachter lächelnd an. Die Schülerin schreibt dazu: »Ich möchte mit diesem Bild ausdrücken, dass ich zwei Gesichter habe. Das eine ist total happy und das andere verdeckt von einer Fassade, immer verzweifelt. Ich habe das Bild mit dunklen Farben gemalt, weil die verzweifelte Seite in letzter Zeit sehr oft zum Vorschein kommt, aber von der fröhlichen Seite so gut es geht verdeckt wird.«2 Mit ihrem Bild weist die Vierzehnjährige darauf hin, dass sie noch viel Raum und Verständnis benötigt, um ihre Verzweiflung zuzulassen und zu verarbeiten. Und vielleicht ist sie auch unsicher, ob sie nach dem furchtbaren Ereignis wieder »happy« sein darf. Körperbilder Das Erleben des eigenen Körpers, seiner wechselnden Zustände und seiner Grenze zur Umwelt ist eine wesentliche Basis für unser Selbstbewusstsein und unsere Realitätserfahrung. Das Gefühl der Selbstsicherheit ist eng verbunden mit Nähe oder Entfremdung zum Körpererleben sowie der Fähigkeit, den eigenen Körper als positiv zu empfinden. Menschen, die sexuell und körperlich misshandelt wurden, erleben ihren Körper oft als Ursache von Scham und Verrat an sich selbst. Bei ansteigender Erregung fühlen sie sich dann durch ihre körperlichen Reaktionen bedroht und versuchen, diese Empfindungen von ihrer bewussten Wahrnehmung auszublenden. Die chronische Abspaltung von Körperwahrnehmungen aus dem Bewusstsein kann langfristig zu Störungen des Selbstgefühls und der Erinnerungsfähigkeit wie auch zu körperlichen Beschwerden ohne medizinischen Befund (Somatisierung) und Erkrankungen führen. Einfache 110 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 111 Zeichnungen der eigenen Gestalt veranschaulichen oftmals ganz direkt, wie tiefgreifend das Selbstbild durch Gewalterlebnisse verstört und destabilisiert werden kann. Die folgenden Abbildungen geben Zeichnungen zum Selbst- und Körpererleben von Frauen wieder, die in ihrer Kindheit jahrelang durch Familienmitglieder schwerwiegend sexuell missbraucht worden waren. Im Rahmen einer Studie hatten sie detailliert Auskunft über ihre Erinnerungen an sexuelle und körperliche Gewalt, über Bewältigungsversuche und Folgeschäden gegeben.3 Es wurde u.a. auch der Frage nachgegangen: Wie unterscheiden sich die Lebenswege schwer traumatisierter Frauen, die unter massiven posttraumatischen Störungen leiden, von den Lebenswegen derjenigen, die relativ beschwerdefrei sind? Abbildung 3 a (S. 112) zeigt Körperbilder, die charakteristisch für Frauen sind, die unter schweren und komplexen Belastungsstörungen leiden und sich in ihrem Selbstgefühl extrem beeinträchtigt fühlen. Seit ihrer Kindheit hatten sie versucht, qualvolle Erinnerungen durch chronische Gefühlsabspaltung (Dissoziation) und sozialen Rückzug zu vermindern. Diese Frauen hatten große Schwierigkeiten, ihren Körper zu spüren, und es hatte viel Mut erfordert, die Empfindungen darzustellen. Die Bilder dieser schwer traumatisierten und immer noch hoch belasteten Frauen erinnern an Kinderzeichnungen und reflektieren auffällige Störungen des Körperschemas: Die Proportionen sind kindlich; es fehlen Sinnesorgane, Gliedmaßen, Geschlechtsmerkmale. Mit Rot und Schwarz sind Gefühle von Schmerz, Ekel, Wut und Hass auf den eigenen Körper eingetragen. Abbildung 3 b zeigt Körperbilder, die charakteristisch für Frauen waren, die ihre traumatischen Erfahrungen gut bewältigt hatten und nur noch in geringem Maße unter Folgestörungen litten. Hinsichtlich der Schwere und Dauer der erlittenen Gewalt unterschieden sie sich nicht von der Gruppen hochbelasteter Frauen. Sie hatten jedoch andere 111 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 112 Abb. 3 a Kindheitstrauma. Zeichnungen zum Körpererleben von Frauen mit schwerwiegenden Belastungsstörungen Abb. 3 b Kindheitstrauma. Zeichnungen zum Körpererleben von Frauen mit geringer Belastung Bewältigungsstrategien genutzt: Schon im Jugendalter hatten sie soziale Unterstützung gesucht und sich anderen anvertraut. Hilfe hatten sie u.a. durch Lehrer, Freundinnen und vor allem in vertrauensvollen Partnerschaften erfahren. Auch in diesen Zeichnungen sind mit Farben somatische Erinnerungen an den Missbrauch eingetragen, und es zeigen 112 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 113 sich (leichte) Störungen des Körperschemas: z.B. verkürzte Arme, fehlende Körpergrenze im Genitalbereich. Insgesamt wird jedoch ein entwickeltes Körperbild sichtbar, das eine weibliche Gestalt zeigt und ein positives Selbstgefühl ausstrahlt. In der Traumatherapie können solche einfachen Zeichnungen helfen, das Leid des missbrauchten Kindes, Gefühle anhaltender Verletzlichkeit und somatische Erinnerungen an brutale Gewalt zu verstehen. Behutsame Fragen tragen dazu bei, Erinnerungen und Bewertungsmuster zu klären und Fähigkeiten zur Selbstfürsorge zu stärken. Hilfreiche Fragen könnten z.B. sein: »Was würde das Kind wohl sehen, wenn es Augen hätte?« (S. Abb. 3a, links) »Was sind das für Gefühle, die das Mädchen – im Kopf, in den Schultern, im Hals, im Bauch – spürt?« (S. Abb. 3a, Mitte) – »Was braucht das kleine Mädchen, wie können wir ihm helfen?« Ein Gespräch über das Körperbild kann auch zum Verständnis körperlicher Erregung genutzt werden: »Was passiert in Ihrem Körper, wenn Sie jetzt daran denken und mir davon erzählen? Wie fühlt sich Ihr Bauch gerade an?« Dabei werden häufig Reaktionen zugänglich, mit denen die ansteigende Erregung gemildert wird und unangenehme Empfindungen abgespalten werden. Imagination zum Körpererleben Mit Hilfe von Vorstellungsübungen, die behutsam zum Spüren abgelehnter oder schmerzhafter Körperbereiche anleiten, können belastende Empfindungen und ungünstige Bewertungen erkundet werden. Im Rahmen solcher Übungen wird die Aufmerksamkeit »achtsam« zu verschiedenen Körperbereichen gelenkt und die Person angeregt, sich eine Bild von deren »Befinden« zu machen. Mit der bildhaften Beschreibung vertieft sich das emotionale Erleben, und zugleich tritt meist eine kritische innere Stimme zu Tage, die 113 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 114 diesen Einblick verhindern will. Die gegenläufigen Bedürfnisse können durch geleitete Imagination angesprochen und in einen Dialog verwickelt werden. Eine positive Wendung nimmt dieser Dialog, wenn die kritische Stimme weicher wird und beginnt, Verständnis und Mitgefühl für die andere Seite zu empfinden. Dann kann sich eine neue Sichtweise herausbilden, die eine Lösung des Konflikts oder Widerspruchs erschließt. Die Konfliktlösung zeigt sich – wie das folgende Beispiel veranschaulicht – in gesteigerter Selbstachtung, in der Integration vormals abgespaltener und widersprüchlicher Aspekte der Person sowie in einem erweiterten Verständnis des ursprünglichen Problems. Die eingemauerte Frau Ruth, eine 25-jährige Frau, die chronisch unter Blasenentzündungen litt, war akut an einer schmerzhaften Blasen- und Eileiterentzündung erkrankt. Die Entzündung besserte sich durch eine medikamentöse Behandlung nicht, und es bestand die Gefahr, dass Ruth unfruchtbar werden könnte. Im Rahmen einer psychologischen Krisenintervention erfolgte nach einer Klärung der aktuellen Lebenssituation die Erkundung des schmerzhaften Körperbereiches und der damit verbundenen Gefühle und Gedanken. Mit einem inneren »Mikroskopauge« untersuchte Ruth die Schmerzen im Unterleib und stieß zunächst auf eine »Wattewand«, welche die Wirkung der Medikamente sowie eine Bewusstseinsblockade symbolisierte. Dahinter entdeckte sie die Eileiter, die in eine enge Kammer eingemauert zu sein schienen. Die Eileiter brachten zum Ausdruck, dass die weibliche Empfindungsfähigkeit in Ruth verletzt worden war und dass sie – um ihre Ängste unter Kontrolle zu bringen – hart, überaktiv und »männlich« geworden sei. Als die »männliche« Seite, die durch den Kopf repräsentiert wurde, sich gegenüber den geheimnisvollen Mitteilungen der eingemauerten »weiblichen« Seite abweisend und überheblich zeigte, warnten die Eileiter: »Du tust uns weh, wenn du uns in diese Kammer hier abstellst und nicht einbeziehst in dein Leben. Deshalb produzieren wir Schmerz und geben ihn dir zu fühlen.« Schließlich 114 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 115 entwickelte sich ein Gespräch zwischen den beiden Aspekten. Es offenbarte eine große Furcht der »männlichen« Seite, von heftigen Gefühlen überrannt zu werden und die Kontrolle zu verlieren. Der Dialog endete mit dem Versprechen, einander mehr zu vertrauen, einander zu achten und eine gleichberechtigte Partnerschaft zu leben. Das Nachgespräch (4 Wochen später) zeigte, dass etwas Wesentliches geschehen war. Ruth hatte ein neues Selbstbewusstsein entwickelt: »Ich beginne zu spüren, dass ich etwas in mir habe, das mehr über mich weiß und dem ich vertrauen kann. Es fühlt sich ernsthaft und solide an. Es hat etwas damit zu tun, dass mir die Erfahrungen nicht nur vom Kopf her klar werden, sondern dass ich mit den Empfindungen auch etwas ganz Innerliches und Bewusstes in mir treffe.« Sie hatte den Arzt gewechselt, es war ihr wichtig, von einer Frau betreut zu werden. Sie hatte die Medikamente abgesetzt und per Ultraschall beobachten können, wie die Entzündung langsam abklang. Ruth hatte auch damit begonnen, das tiefgreifende Gefühl der Verletzung ihrer Weiblichkeit mit Erinnerungen zu verbinden. »Es hat mit einem Erlebnis zu tun, das sich so wieder geöffnet hat, das ich als kleines Mädchen mit meinem Vater hatte und wo ich immer dachte, es ist ein Traum. Und wo ich jetzt weiß und es zulassen kann, dass es wahrhaftig geschehen ist. Etwas so Schreckliches, als kleines Mädchen so missbraucht zu werden. Da wird mir als Frau etwas angetan, als Mensch – Vertrauen geht verloren. Es ist wie eine Quelle, aus der alle Schwierigkeiten entstehen.«4 Bilder des schlimmsten Albtraums Eine zentrale Intervention in der Traumatherapie ist die Konfrontation mit traumatischen Schlüsselszenen. Die Erlebnisse und damit verbundenen unerträglichen Gefühle, Körperempfindungen und Gedanken werden in der Vorstellung mehrfach wiedererlebt, bis sie ihren Schrecken verlieren. Werden die Erinnerungen an Bedrohung und Hilflosigkeit aufgemalt, entstehen zunächst meist Bilder, in denen – wie zu Beginn des therapeutisch begleiteten Wiedererlebens 115 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 116 – besonders grauenvolle Erinnerungen ausgeblendet oder harmlos verfremdet werden. Manchmal werden Details, die mit dem Gefühl extremer Entwertung verbunden sind, lange skizziert, bis sie erträglich werden. Häufig entstehen Bilder, welche die schrecklichsten Erfahrung offenlegen, erst im Anschluss an eine Therapie auf der Basis wiedergewonnener Kontrolle und Stabilität. Wie das folgende Beispiel zeigt, kann das Ringen um die konkrete Darstellung der grauenvollen Erinnerungsbilder schließlich auch zur Quelle von Mut, Energie und Befreiung werden: Vergewaltigt und verschnürt Nachdem die Schriftstellerin Nancy Raine jahrelang erfolglos versucht hatte, quälende Erinnerungen an eine lebensbedrohliche Vergewaltigung zu verdrängen, konfrontierte sie sich schließlich unter therapeutischer Anleitung mit den traumatischen Schlüsselszenen. Der größte Schrecken war mit der Erfahrung verbunden, als »machtloses, hässliches, wertloses Objekt« dem Willen des bewaffneten Täters hilflos ausgeliefert zu sein. Sie stellte sich vor, wie sie mit auf dem Rücken gefesselten Händen auf dem Bett lag, die Augen mit Klebeband verschlossen, der Körper von der Hüfte abwärts nackt, der BH aufgehakt, das Hemd aufgerissen. Hinzu kam, dass eine Polizistin, die ihren Bericht über die Vergewaltigung aufgenommen hatte, sich spontan an ein »bratfertig verschnürtes Hühnchen« erinnert fühlte – ein weiteres widerliches Bild der Kränkung, das Nancy Raine verarbeiten musste. Im Anschluss an die Therapie, die ihr geholfen hatte, angstfrei mit den Erinnerungen umzugehen und wieder ein normales Leben zu führen, setzte sie sich weiter mit den traumatischen Erinnerungen auseinander. Sie beschrieb und skizzierte zentrale Symbole – »ein Stück lebloses Fleisch«, »der Hühnerkadaver und das Bett, auf dem er lag« – und fügte sie schließlich zu dem Bild ihres »vergewaltigten Selbst« zusammen. Während ihr Bild allmählich Gestalt annahm, stellte sie fest: Je mehr sie an diesen Elementen arbeitete, desto weniger Macht schienen sie zu besitzen. Der Schmerz wurde zunehmend handhabbar, Gefühle von Entsetzen, 116 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 117 Demütigung und Hilflosigkeit verblassten. Das Bild hängte sie an die Wand ihres Studios, in dem sie einen Bericht über ihre Vergewaltigung schrieb. Sie sah es jeden Tag an, es machte ihr keine Angst mehr. Und schließlich wurde das Erinnerungsbild zu einer »Quelle der Energie.« Auf Anregung einer befreundeten Malerin reichte sie das Bild mit dem Titel »Vergewaltigt und verschnürt« für eine Ausstellung ein. Bei der Vernissage beobachtete sie zunächst etwas verlegen, wie die Leute sich ihren schlimmsten Albtraum ansahen. Dann spürte sie jedoch auch voller Dankbarkeit, dass sie sich von dem Albtraum innerlich hatte befreien können.5 Sandspieltherapie Unbewusste Erinnerungsfragmente können auch durch Gestaltungen mit Ton oder im Sandspiel berührt, dargestellt und dann schrittweise zum sprachlichen Ausdruck geführt und verstanden werden. Die von Dora Kalff entwickelte Sandspieltherapie nutzt einen mit Sand gefüllten Kasten und eine großen Anzahl von Gegenständen und Figuren, um Kinder wie auch Erwachsene zur Gestaltung innerer Erfahrungen anzuregen.6 Man kann mit dem weichen Sand spielen und Gesichter, Wellen, Flächen, Hügel, Grenzen, Labyrinthe, Höhlen formen. Mit den bereitgestellten Figuren lassen sich im Sand auch Szenen aufbauen, belastende Erlebnisse darstellen oder Lösungswege erproben. Zwischen Gestaltung und Aussprache lässt man einige Zeit vergehen, um körperlich-emotionale Veränderungsprozesse nicht zu stören. Das folgende Beispiel zeigt, wie das Sandspiel dazu beitragen kann, mit extrem traumatisierten Menschen, die über ihre Erlebnisse zunächst überhaupt nicht sprechen können, eine Kommunikationsbasis aufzubauen: Eine langjährig hospitalisierte Patientin, die unter einer dissoziativen Identitässtörung7 litt und völlig verstummt war, entdeckte auf einer psychiatrischen Station ein Sandspiel und begann, damit 117 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 118 zu arbeiten. Ihre Ärztin versuchte, sich in die verschiedenen Szenen, die im Sand aufgebaut wurden, einzufühlen. Sie ermutigte die Patientin behutsam, die Gestaltungen zu beschreiben und ihre Erlebnisse und Gefühle auch mit Worten auszudrücken. Es zeigte sich, dass die Patientin im Sand grauenhafte Erinnerungen an erlittene Gewalt aufbaute, über die sie nie hatte sprechen können. Die Gestaltungen im Sand ermöglichten es ihr, Schweigegebote, die mit der Androhung des Todes verbunden gewesen waren, zu umgehen und allmählich zu durchbrechen. Mit der Enthüllung der Biographie wurden extreme Traumatisierungen zugänglich, die sie im Kindes- und Jugendalter erlitten hatte, die zur Entwicklung ihrer massiven Beschwerden geführt hatten und die auch die Spaltung in unterschiedliche Persönlichkeitsanteile erklärten.8 Abbildung 4 veranschaulicht, dass der Sandkasten – ganz ähnlich wie eine Bildfläche – auch zur Darstellung von verschiedenen Erlebnisbereichen diente: Im linken Raum baute die Patientin vergangene Erlebnisse auf, im Zentrum stellte sie die unerträglichsten und bedrohlichsten Erfahrungen dar, und im rechten Bereich des Sandkastens entwickelte sie eine Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen und Bedürfnissen. LINKS (Vergangenheit) MITTE (zentrale Bedeutung) RECHTS (Gegenwart) Darstellung von körperlichen und sexuellen Misshandlungen durch Familienmitglieder in der häuslichen Umgebung. Darstellung vielfältiger Szenen sadistischer Folter im Rahmen eines generationsübergreifenden satanistischen Kults. Figuren und Szenen, die Gefühle, Gedanken, Motivationen im Hier und Jetzt repräsentieren. Abb. 4 Traumatische Erinnerungen werden im Sandspiel nachgestellt9 118 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 299 Nachwort Für Menschen, die Schreckliches erlebt haben, ist zunächst nichts mehr so, wie es vorher war. Sie fühlen sich von einem vertrauten Lebensgefühl abgeschnitten, in einer düsteren Erlebniswelt eingeschlossen, den anderen Menschen nicht mehr zugehörig. Obwohl sie noch am Leben sind, fühlen sie sich nicht lebendig, die Seele scheint wie vereist. Die Berichte von Menschen, die mit brutaler Gewalt und dem Tod konfrontiert waren, weisen jedoch auch darauf hin, dass ein seelisches Trauma im Laufe der Zeit bewältigt und überwunden werden kann. Durch die offene Auseinandersetzung mit den schmerzlichen Erfahrungen und Gefühlen verlieren die Erinnerungen allmählich ihren Schrecken. Nach und nach finden sie wieder eine vertrauensvolle Beziehung zu sich selbst und zu den Mitmenschen. Die Forschung zeigt, dass es der Mehrheit der Betroffenen gelingt, posttraumatische Beschwerden aus eigener Kraft, mit Hilfe tragfähiger Beziehungen oder durch eine wirksame Psychotherapie zu überwinden. Subjektive Sichtweisen sind für die Bewältigung oftmals bedeutsamer als das objektive Geschehen. Die Fähigkeit, positive Erwartungen, die Gefühle von Sinn und Hoffnung stärken, für Genesungsprozesse zu nutzen, wurde möglicherweise im Laufe der Evolution im Erbgut des Menschen verankert. Traumatische Erfahrungen bewirken Veränderungen in der Erlebniswelt, die nicht rückgängig gemacht werden können, da sie die Erfahrung der Wirklichkeit zutiefst berühren und erschüttern. Die qualvollen Erinnerungen und Gefühle, die meist nach lebensbedrohlichen Erfahrungen einsetzen, kann man jedoch normalisieren und überwinden. Und während der Genesung verbinden sich die düsteren Erlebnisse schließlich wieder mit normalen und lichten Lebenserfah299 teegen_wenn_die_seele 07.12.2007 14:25 Uhr Seite 300 rungen. Auf diesem Weg eröffnen sich meist neue Einsichten, und es kann zu unerwartet positiven Entwicklungen kommen. Seelische Verletzungen, das Durchleben von Verlust und Kummer führen viele Menschen durch Reifungsprozesse, die ungeahnte Kraftquellen, Wachstumschancen und weisheitsbezogenes Wissen erschließen können. Krisenhafte Ereignisse, die nicht Teil der natürlichen Entwicklung sind, können eine umfassende Erweiterung des Selbst- und Weltbildes einleiten. Es ist nicht auszuschließen, dass wir alle ein eingeborenes Wissen in uns tragen, das nach einem Trauma sowohl die komplexe Regeneration körperlicher Kräfte als auch eine seelisch-geistige Transformation ermöglicht. Ich hoffe, dass diejenigen Leserinnen und Leser, die selbst schweres Leid erfahren haben, sich durch Erkenntnisse, Beispiele und Geschichten, die in diesem Buch dargestellt werden, verstanden oder auch getröstet fühlen. Vielleicht ermutigen einige Anregungen auch dazu, die eigenen Erlebnisse und Empfindungen zum Ausdruck zu bringen und zu klären. Wenn man den Mut aufbringt, das eigene Leiden aufrichtig zu betrachten, kann man entdecken, dass es nicht nur von vergangenen Erlebnissen herrührt. Das Leiden beruht vielmehr zu einem großen Teil auf der Art und Weise, wie wir mit den Auswirkungen umgehen, die ein Trauma in der Gegenwart für uns hat. Die Erinnerung an ein furchtbares Erlebnis kann man nicht löschen. Aber es kann einen Unterschied machen, ob man anschließend resigniert oder ob man lernt, auch extreme Belastungen als Teil des Lebens anzunehmen. 300