Der Schimmelreiter - Theodor-Storm

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Der Schimmelreiter - Theodor-Storm
Der Schimmelreiter
Interpretation und didaktische Hinweise zur
Rahmenhandlung,
erarbeitet von Dr. J. Lefebvre, August 2009
Zur Frage der Aktualität des „Schimmelreiters“: Dirk
Kurbjuweit: Unser effizientes Leben. 2003,
erarbeitet von Dr. J. Lefebvre, August 2009
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Der Schimmelreiter
Literaturwissenschaftliche Informationen und didaktische Überlegungen, erarbeitet von Dr. G. Eversberg.
Max Kahlke: Der gespenstige Reiter (Holzschnitt, 1919) in: K.-E. Laage: Theodor
Storms Schimmelreiter Land. (Heide), 2003, S.54.
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Der Schimmelreiter
Inhalt:
1. Einleitung
(S.5)
2. Entstehungsgeschichte
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Chronologie der Arbeiten am "Schimmelreiter" (S.6)
Der Arbeitsprozess (S.7-9)
Der ursprüngliche Schluss
(S.9/10)
Dokumente zur Arbeit am "Schimmelreiter"
(S.10-25)
3. Textzeugen
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(S.26-28)
Beschreibung der Handschriften
Beschreibung der Drucke
(S.28)
4. Quellen
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(S.6-25)
(S.26/27)
(S.29-37)
Storms Quellen
(S.29/30)
Der gespenstige Reiter. Ein Reiseabenteuer
Historische Persönlichkeiten (S.33/34)
Hans Momsen aus Fahretoft (S.34/35)
Aus alten Chroniken (S.35-37)
Sagen aus Schleswig-Holstein (S.37)
5. Handlungsräume
6. Erläuterungen
(S.31/32)
(S.38-42)
(S.43-48)
7. Worterklärungen
(S.49)
8. Inhaltsangabe (S.50-52)
9. Kontext zu Storms Werk (S.52-53)
10.
Aufbau und Struktur (S.53-63)

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11.
12.
Die Rahmenerzählung
Der Erzählanfang
Storms Schreibprozess
Fiktive Mündlichkeit
(S.53/54)
(S.54-56)
(S.57-61)
(S.61-63)
Rezeptionsgeschichte
Interpretationsgeschichte
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(S.63/64)
(S.65-77)
Johannes Klein: Geschichte der deutschen Novelle (1956)
(S.65-67)
Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus (1962)
(S.67-69)
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Der Schimmelreiter

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Regina Fasold: Theodor Storm. Stuttgart 1997
(S.69-71)
David Jackson: Annektion oder Befreiung der Vergangenheit? (S.71-77)
13.
Unterrichtsgestaltung
14.
Literatur
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
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15.
16.
(S.85-91)
Überblick
(S.85)
Textausgaben (S.85)
Übersetzungen (S.85/86)
Quellen (S.86)
Kommentierte Ausgaben (S.86)
Erläuterungen und Unterrichtsmodelle
(S.86/87)
Neue Medien
(S.87)
Lesungen
(S.87)
Briefe Storms
(S.87/88)
Storms Leben und Werk (S.89)
Storm als Erzähler
(S.89)
Zu „Der Schimmelreiter“ speziell (S.89/90)
Zu den Filmen (S.91)
Filme


(S.77-84)
(S.91-105)
„Der Schimmelreiter“ in drei Literaturverfilmungen (S.91-97)
Filmographie
(S.98-105)
1. 1933/34
(S.98/99)
2. 1977/78
(S.100/101)
3. 1984
(S.102/103)
 Der Fernsehfilm von 1985 (S.104/105)
Abbildungen
(S.105/106)
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Der Schimmelreiter
1. Einleitung
Fast täglich erreichen das Storm-Archiv Anfragen per Telefon, Post oder E-mail, in denen ganz unterschiedliche
Personen nach Informationen zu Gedichten und Erzählungen Storms fragen. Da suchen Schüler Materialien für
Referate, Lehrer benötigen Bilder und Quellentexte sowie didaktische Hinweise für den Unterricht, Storm-Leser
interessieren sich für die Schauplätze der Novellen oder möchten Näheres über Textausgaben in verschiedenen
Sprachen wissen. Viele dieser Interessenten fragen nach Einzelheiten über Storms „Schimmelreiter“-Novelle.
Theodor Storm gehört zu denjenigen Autoren der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, die bis heute viel
gelesen werden. Früher galten seine Novellen als bevorzugte Schullektüre, da in ihnen menschliche
Grunderlebnisse in schlichter und einfacher Weise sehr poetisch dargestellt werden. In der letzten Zeit kann
man eine erneute Hinwendung zu diesem Autor feststellen, der noch vor einigen Jahren in den Verdacht eines
konservativen, die wirklichkeitsfremde Idylle liebenden Schriftstellers geraten war. Diese neuerliche
Beschäftigung mit Storm in der Schule hat aber auch einen anderen Grund. Nach Jahren der Aufarbeitung bisher
zu Unrecht vergessener und verschwiegener sozialkritischer Autoren wird der Begriff Natur wiederentdeckt,
und es setzt eine neuerliche Identifizierung mit dem überschaubaren Lebensraum ein, aus dem wir stammen
und in dem wir uns bewegen. Storm ist kein Heimatdichter, aber er hat fest in seiner Heimat verwurzelt aus
dieser Identifikation mit dem Land zwischen den Meeren und seinen Menschen seine sprachlich reizvollen
Gedichte und Novellen geschrieben. Moderne Menschen vermissen immer mehr diese verlorene Identität. Da
aber seit einiger Zeit die scheinbar unbegrenzte Fortschrittsgläubigkeit einer zweifelnden Haltung weicht, weil
wir in unserer von moderner Technik so veränderten Welt auch den Sinn unseres Tuns nun wieder in Frage
stellen, gewinnt ein Autor wie Storm für uns Bedeutung, der uns aus einer vergangenen Zeit keine Idyllen vor
Augen führt, sondern der zutiefst menschliche Probleme und Konflikte gestaltet, und das mit einer sprachlichen
Kraft und poetischen Trefflichkeit, die uns bei der Besinnung auf unsere Herkunft und auf den Sinn unseres
Lebensweges berühren kann. Die Schimmelreiter-Novelle steht am Ende des Schaffens Storms; im hohen Alter
und von tödlicher Krankheit gezeichnet, hat er in ihr all sein erzähltechnisches Können aufgeboten und
gleichsam sein literarisches Vermächtnis hinterlassen.
Die vorliegenden Materialien und Erläuterungen sollen interessierten Storm-Lesern das Verständnis der Novelle
„Der Schimmelreiter“ erleichtern und stellen zugleich Materialien aus dem Storm-Archiv bereit. Sie sind aber
auch für Lehrer und Schüler gedacht, die nach biographischen, didaktischen oder literaturhistorischen
Hintergrundinformationen suchen. Die Erläuterungen zum Text bieten Information zur Werkgeschichte, die
sachlichen und sprachlichen Erläuterungen dienen dem unmittelbaren Textverständnis, während die
Dokumente zur Interpretation auf Perspektiven möglicher Deutungen der Novelle verweisen sollen. Eine
ausführliche Rezeptionsgeschichte stellt die Fülle der bisher veröffentlichten Interpretationen der Novelle vor
und zeigt, welche unterschiedlichen Akzenten in den vergangenen rund hundert Jahren betont worden sind.
Das umfangreiche Literaturverzeichnis kann als Anregung genommen werden, sich weiter mit Theodor Storm
zu beschäftigen.
Für Hinweise auf Fehler und für Erweiterungsvorschläge sind wir unseren Nutzern jederzeit dankbar.
Das Material wurde aus den Beständen des Storm-Archivs, Husum und des Storm-Nachlasses der SchleswigHolsteinischen Landesbibliothek, Kiel von Dr. Gerd Eversberg zusammengestellt.
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Der Schimmelreiter
2. Entstehungsgeschichte
Chronologie der Arbeiten am Schimmelreiter
1838
Storm liest die Erzählung "Der gespenstige Reiter"
vergebliche Suche nach der Schimmelreiter-Sage im Zusammenhang mit Storms
Februar 1843
Sagensammlung
1870
"Erinnerung an Lena Wies"; Storm vermutet, die Sage von ihr gehört zu haben.
3.2.1885
Erste Konzeption der Erzählung.
10.2.1885
Bitte um eine Kartenskizze bei der Tochter des Deichbauinspektors Chr. Eckermann.
April 1885
Die Arbeit wird zunächst bis zum Herbst aufgeschoben.
5.12.1885
Storm hofft, Anfang 1886 beginnen zu können und im Sommer fertig zu werden.
Juni/Juli 1886 Beginn der Niederschrift.
Unterbrechung der Arbeit im für die Arbeiten an der Novelle ,,Ein Doppelgänger";
August/Sept.
anschließend schwere Krankheit (Rippenfellentzündung); Beginn der Arbeiten an der
1886
Novelle "Ein Bekenntnis" (März bis Ende Mai 1887).
Anfang Mai
Niederschrift eines ersten Kapitels.
1887
5.6.1887
Weiterarbeit während Storms Besuch in Grube bei seiner Tochter Lisbeth Haase.
20.10.1887
Reinschrift bis Seite 92 "gediehen".
Besuch bei Deichinspektor Eckermann in Heide; Gespräche über "allerlei Technisches in
29.10.1887
Deichsachen".
Reinschrift auf "126 Oktavpostpapier gewachsen, und in Konzept ist schon wieder recht
1.11.1887
viel vorhanden".
5.12.1887
Storm kündigt seinem Verleger Paetel das fertige Manuskript für Mitte Februar 1888 an.
16.12.1887
Erneuter Besuch in Heide bei Deichinspektor Eckermann.
9.2.1988
Reinschrift des "Schimmelreiter" beendet und an den Verlag geschickt.
22.2. 1888
An Paetel einen Nachtrag zum "Schimmelreiter" geschickt.
24.2.1888
Storm erhält die Korrekturbogen vom Verlag zugeschickt.
3.3.1888
Streichung einer kleinen Szene.
Storm erhält den veränderten Schluss nochmals in Revisions-Abzügen zu Durchsicht.
Verleger Paetel unterbreitet ein Angebot für die Buchausgabe des "Schimmelreiter".
5.3.1888
Im April- und Mai-Heft des Jahres 1888 der Deutschen Rundschau (S.1-34 und S.161-203)
wird die Novelle zum ersten Mal abgedruckt.
7.3.1888
Storm erklärt sich mit den Bedingungen für die Separatausgabe einverstanden.
13.3.1888
Storm schickt die Schimmelreiter-Korrekturbogen an Erich Schmidt.
14.4.1888
Rücksendung der Korrekturen an den Verlag.
Storm erhält die ersten 6 Druckbogen der Buchausgabe zur Revision; er bittet darum, dem
6.5.1888
Buch eine Widmung an seinen Sohn Ernst vorzusetzen. Wegen der Kritik von Erich Schmidt
will Storm der Buchausgabe einige Worterklärungen beigeben.
28.5.1888
Storm schickt die letzten Korrekturen und die Worterklärungen an den Verlag.
7.6.1888
Verlagsvertrag über die Oktavausgabe des "Schimmelreiters".
Den Druck der Buchausgabe hat Storm nicht mehr erlebt: sie erschien erst nach seinem Tode, im Herbst 1888.
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Der Schimmelreiter
Der Arbeitsprozess
Die Gestaltung des Schimmelreiterstoffs gehört in die späte Schaffenszeit Theodor Storms. Erst 1885, als der
Dichter bereits im 67. Lebensjahr stand, fasste er den Entschluss, eine Novelle über den Deichbau zu schreiben.
Storm hatte in den Jahrzehnten zuvor gelernt, umfangreiche Studien anzustellen, um sich im Stoff, den er in
seinen historischen Novellen gestalten wollte, heimisch zu fühlen. Auch für dieses Projekt begann er intensive
Vorstudien, die über 1 1/2 Jahre dauern sollten. Die schwere Krankheit, die seine letzten Lebensjahre
überschattete, hinderte ihn immer wieder an der Arbeit. Schließlich konnte er aber kurz vor seinem Tode die
letzte und bedeutendste seiner Novellen beenden. Anfang 1885 schrieb Storm an seinen Freund, den
Germanisten Erich Schmidt, dass er sich mit der alten Deichsage intensiv beschäftigt, und er noch weitere
Studien treiben müsse. Im gleichen Monat schrieb er an die Frau des Bauinspektors Christian Eckermann in
Heide, und erbat von ihr eine Skizze der Landschaft an der Küste bei Husum, so wie sie vor der großen Flut von
1634 ausgesehen hat. Von Eckermann lieh er sich Literatur aus, in der er Informationen über Probleme des
Deichbaus fand. Die Quellenstudien und die Beschaffung des Materials erwiesen sich aber als langwieriger, als
Storm gedacht hatte. So konnte er erst Mitte 1886 mit der Niederschrift seiner Novelle beginnen. Aber auch hier
ergaben sich unerwartete Probleme, die Idee für die Novelle ging auf eine Sage zurück, von der Storm bereits als
junger Mann gelesen hatte. Jetzt im Alter konnte er sich nicht mehr genau daran erinnern, wie der Stoff zu ihm
gekommen war. Von einem gespenstischen Reiter hatte er aber bereits zu einer Zeit gehört, als er als junger
Rechtsanwalt in Husum Sagen, Anekdoten und Märchen seiner näheren Heimat sammelte, die später von Karl
Müllenhoff in seine Edition der "Schleswig-Holsteinischen Sagen" aufgenommen wurden. Zwar gab es in der
Gegend um Husum keine Schimmelreiter-Sage, aber Storm erwähnt in Briefen, so z. B. an seinen Freund Theodor
Mommsen, einen gespenstigen Reiter, der zu bestimmten Zeiten auf dem Deich angetroffen werde. Da Storm
nun aber nicht vorhatte, eine bloße Gespenstergeschichte zu erzählen, sondern eine realistische Novelle, musste
er über die Informationen zum Deichbau hinaus ein Handlungskonzept entwerfen, in dessen Mittelpunkt Hauke
Haien, der geniale Neuerer des Deichbaus, stehen sollte. Im Herbst 1886 legte Storm die Skizzen zum
Schimmelreiter wieder beiseite, weil er nun an seiner Novelle "Ein Doppelgänger" arbeitete. Dann fesselte eine
schwere Krankheit den Dichter bis in den Februar 1887 hinein ans Bett, so dass auch jetzt nicht an der
Schimmelreiter-Novelle weitergearbeitet werden konnte. Nachdem Storm genesen war, nahm er ein anderes
Novellenkonzept auf und schrieb an seiner Erzählung "Ein Bekenntnis". Dann aber, Anfang Mai, holte er den
Schimmelreiter wieder hervor. Das ganze Jahr 1887 war durch die schwere Magenerkrankung Storms
überschattet. Immer wieder musste er seine Tätigkeit am Schreibtisch unterbrechen und sich zu Bett legen.
Schließlich diagnostizierte ein Arzt die Krankheit als Magenkrebs, was Storm in Ansicht des baldigen Todes
gänzlich unfähig zum Arbeiten machte. Wie er neuen Lebensmut und neue Kraft gewann, erzählt Thomas Mann
in einem Nachwort zu einer von ihm herausgegebenen Auswahl Stormscher Erzählungen.
Storm wurde fast einundsiebzig. Seine Todeskrankheit war das Marschenübel, das in einer seiner stärksten
Erzählungen, ‚Ein Bekenntnis‘, verhängnisvoll hineinspielt, der Krebs, und zwar der Magenkrebs. Er gab den
Großartigen vor und verlangte ‚Klarheit‘ von seinem Arzt, unter Männern. Als aber der ihm reinen Wein
eingeschenkt hatte, fiel er zusammen und überließ sich tiefster Schwermut, so daß alle sahen, er würde den
‚Schimmelreiter‘, das Höchste und Kühnste, woran er sich je gewagt, nicht vollenden. Sie sagten: ‚Kinder, das
geht nicht‘, und beschlossen, den alten Dichter, der künstlerisch in einer taciteisch-germanischen sera juventus
stand, aber seine Männlichkeit überschätzt hatte, wohltätig zu belügen. Sein Bruder Emil, der Arzt war, tat sich
mit zwei Kollegen zusammen, und es gab ein Humbug-Konsulium, worauf die Wissenschaft erklärte, das sei
alles Unsinn und keine Rede von Krebs, die Magenbeschwerden seien ganz harmloser Art. Storm glaubte es
sofort, schnellte empor und hatte einen vorzüglichen Sommer, in dessen Verlauf er mit den guten Husumern
seinen siebzigsten Geburtstag sinnig-fröhlich beging und außerdem den ‚Schimmelreiter‘ fortführte und
siegreich beendete, diese mächtige Erzählung, mit der er die Novelle, wie er sie verstand, als epische Schwester
des Dramas, auf einen seither nicht wieder erreichten Gipfel führte.
Ich wollte das zum Schlusse erzählen. Das Meisterwerk, mit dem er sein Künstlerleben krönte, ist ein Produkt
barmherziger Illusionierung. Die Fähigkeit, sich illusionieren zu lassen, kam ihm aus dem Vollendungs- und
Lebenswillen des außerordentlichen Kunstwerks.
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Der Schimmelreiter
Theodor Storm 1886, Photographie von G. Constabel, Hanerau.
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Der Schimmelreiter
Im Sommer 1887 konnte Storm trotz immer wieder quälender Magenschmerzen Kapitel für Kapitel an seiner
Novelle weiterarbeiten. In der zweiten Jahreshälfte kam er mit der Arbeit gut voran, zwar unterbrachen eine
Reise nach Sylt und die Vorbereitungen zur Feier seines 70. Geburtstages im September die Arbeit erneut, aber
im Oktober konnte er seinem Freund Paul Heyse mitteilen, dass er einen großen Teil der Reinschrift der
"Schimmelreiter"-Novelle fertig gestellt hatte. Aber noch galt es genauere Informationen über die in der Novelle
thematisierten technischen Probleme einzuholen. Storm konsultierte erneut den Spezialisten in Fragen des
Deichbaus, Eckermann, der ihn über alle Frage der Deichprofile erschöpfend Auskunft geben konnte. Endlich, am
9. Februar 1888, beendete Storm die Novelle und schickte das 232 Seiten umfassende handgeschriebene
Druckmanuskript an den Verlag Paetel in Berlin. Die Korrekturfahnen wurden mit Umsicht gelesen, aber Storm
erkannte nun, dass der Novellenschluss nicht gelungen war.
Der ursprüngliche Schluss lautete folgendermaßen:
Es soll nämlich, und ich darf das nicht vergessen, damals doch noch einer auf dem neuen Deich zurückgeblieben
sein, während die Übrigen südwärts nach der Stadt und von dort nach ihren Kirchdorf auf der Geest
zurückgeflohen waren, wo sie außer ihrem Deichgrafen nebst Weib und Kind die ganze Marsch
beisammenfanden.
Der Zurückgebliebene aber sollte jener Carstens, der frühere Dienstjunge des Deichgrafen gewesen sein, ein
ebenso abergläubiger, als, wenn seine Neugierde ins Spiel kam, waghalsiger Geselle, und derzeit noch im Dienst
des Ole Peters. Er wollte an der Binnenkante des Deiches dem letzten Ritte seines früheren Herrn gefolgt sein;
und einen ganzen Sack voll hatte er bei seiner Rückkehr auszukramen. "Hu aber, Frau Vollina", sagte er zu seiner
Wirthin, und das Weib kreuzte schon in behaglichem Schauder die Hände über ihren Leib; "da begab sich etwas!
Ich lag dicht hinter ihm am Deich; da stieß er dem Schimmel die Sporen in die Seiten und riß das Maul auf und
schrie; verstehen konnt’ ich’s nicht, der Lärm umher war gar zu grauslich! Aber es wird wohl sein dummes
‚Vorwärts!‘ gewesen sein, womit er allezeit sein Thier zu treiben pflegte. Ja, vorwärts! Was meint Ihr, Frau
Vollina?"
"Ja, was mein’ ich?" plapperte das Weib. "So sprich doch Carsten!"
"Da ist nicht gut zu sprechen, Frau!" fuhr Carsten fort: "So arg ich meine Augen aufriß, ich sah itzt weder den
Schimmel, noch ein ander Pferd; nur den Reiter sah ich, und es war noch, als ritte er mit seinen Beinen in der
Luft; aber ein schwarzes Unding war über ihm und hielt ihn in seinen Krallen. Dann begann ein fürchterliches
Hülfsgeschrei, das lauter war, als Sturm und Wasser; aber, Frau, wen der Teufel in den Krallen hat, dem kann
nur Gott zu Hülfe kommen!"
"Und dann? Und dann?" rief Frau Vollina. "Ja, Frau; dann sah ich weiter nichts; ich hörte nur die großen Wasser,
die in unsren Koog hinabstürzten und lief – denn mir war plötzlich die Angst ins Gemüt gefahren – auf dem
Deich zur Stadt hinunter, um nur mein eigen bißchen Leben aus dieser schreckbaren Einsamkeit zu retten. Aber"
– und er dämpfte seine Stimme, und Frau Vollina neigte ihren runden Kopf zu seinen Lippen – "das
Schrecklichste sah ich gestern Abend; ich war bei hellem Mondschein auf den Deich hinaus, bis gerad’ vor
Jeverssand – das weiße Pferdsgerippe, das fort war, so lang der Schimmel in des Deichgrafs Stall gestanden – es
liegt wieder dort! Geht nur hin und sehet selbst!"
"Aber Frau Vollina stieß einen Schrei aus: "Herr Gott und Jesus, seid uns gnädig!"
– "Das", sagte nach einer Weile der Schulmeister, "ist das Ende von Hauke Haiens Geschichte, wenn Sie sich
dieselbe im Dorfe wollen erzählen lassen. Und so ist es immer weiter gegangen, und der arme Deichgraf, der
tüchtigsten einer, die wir hier gehabt haben, ist allmählich zu einer Schreckgestalt erniedrigt worden: bei
Hochfluthen müssen seine verstäubten Atome sich zu einem Scheinbild wieder um zusammenfinden; das muß
auf seinem Schimmel über die Deiche galoppieren und, wenn Unheil kommen soll, sich in den alten Bruch
hinabstürzen. Credat judaeus Apella1 pflegten wir auf der Universität zu sagen."
Meines eigenen Abentheuers gedenkend wollte ich für den Gespensterglauben einen bescheidenen Vorbehalt
erbitten; aber mein Gastfreund fiel mir in die Rede: "Ja, ja, werther Herr"; sagte er; "Sie wollen einwenden, Sie
haben ihn selbst gesehen! Was Sie gesehen haben, weiß ich nicht: es könnte auch ein Leibhaftiger, das heißt,
ein Mensch gewesen sein; dort draußen auf dem Sophienhof, der Besitzer hat einen Bruder bei sich, einen alten
wunderlichen Junggesellen; die Leute halten ihn für einen Narren, er selbst treibt Astronomie und hält sich für
einen großen Wetterkundigen. Der hat ein hager Angesicht und ein paar tiefliegende Augen und reitet am
liebsten im fliegenden Sturm auf den Deichen hin und wieder; ob er einen Schimmel hat, weiß ich nicht zu
1
Storm zitiert hier aus Horaz, Satiren 1,5,100: "Das möge der Judäer Apelles glauben (ich nicht)!"
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Der Schimmelreiter
sagen; unmöglich ist das nicht. Aber – einerlei, mag reiten wer da will, nur den Deichgrafen Hauke Haien laßt
mir aus dem Spiel; der hat wie kaum ein Andrer seine Ruh’ verdient!
Diese Szene hat Storm bei den Korrekturen wieder getilgt. Der Schluss erschien ihm nun nicht mehr knapp und
nüchtern genug. Stattdessen endete er die Novelle so, wie wir sie heute in allen Textausgaben lesen können. Die
Novelle erschien im April und Mai 1888 in der "Deutschen Rundschau". Storm erhielt im Mai die Druckbogen für
die erste Buchausgabe, die im Verlag Paetel herauskommen sollte. Auch diese Korrektur hat er mit großer
Sorgfalt durchgelesen und mehr als 60 eigenhändige Verbesserungen angebracht. Das Erscheinen der ersten
Buchausgabe seines "Schimmelreiters" erlebte Storm aber nicht mehr, denn er starb am 4. Juli 1888. Im Herbst
erschien die separate Buchausgabe, anschließend wurde die Novelle zusammen mit "Ein Bekenntnis" in den 19.
Band der "Gesammelten Schriften" aufgenommen.
Dokumente zur Arbeit am "Schimmelreiter"
Die folgenden Briefe und autobiographischen Dokumente werden in der Regel
nach den zuverlässigen Textausgaben wiedergegeben, die nach
unterschiedlichen Prinzipien ediert wurden. Wenn auf unveröffentlichtes
handschriftliches Material zurückgegriffen wird, erfolgt die Textwiedergabe
zeichengetreu nach den Quellen. Ergänzungen stehen in <>, Auslassungen
werden durch [...] markiert und Herausgeberkommentare stehen in []. Unsichere
Lesungen werden durch (¿) angezeigt.
1838 oder 1839: Storm liest die Erzählung "Der gespenstige Reiter" in Hamburg erscheinenden Zeitschrift
"Lesefrüchte vom Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes". Es handelt sich um einen Nachdruck aus
dem "Danziger Dampfboot vom 14.4.1838.
13.2.1843: Der Schimmelreiter, so sehr er auch als Deichsage seinem ganzen Charakter nach hierher paßt, gehört leider
nicht unserm Vaterlande; auch habe ich das Wochenblatt, worin er abgedruckt war, noch nicht gefunden. (Theodor
Storm an Theodor Mommsen, S. 49.)
1870: Und dann - ja, dann erzählte Lena Wies; [...] und mochte es nun die Sage von dem gespenstischen Schimmelreiter
sein, der bei Sturmfluten Nachts auf den Deichen gesehen wird und, wenn ein Unglück bevorsteht, mit seiner Mähre sich
in den Bruch hinabstürzt, oder mochte es ein eignes Erlebnis oder eine aus dem Wochenblatt oder sonst wie aufgelesene
Geschichte sein. (Theodor Storm: Lena Wies. Ein Gedenkblatt, geschrieben 1870; veröffentlicht in Deutsche Jugend
1 (1873), S. 71-75; zit. nach LL 4, S. 179.)
25.4.1881 Im Uebrigen haben Sie Ihre vorliegenden Novellen wohl ganz richtig charackterisirt; sie erinnern mich an
einzelne knapp und eindringlich erzählte Geschichten in dem Husumer Wochenblatt meiner Knabenzeit <(>an dem
vorübergehend einzelne gute Leute sollen geholfen haben) die ich bei meiner Urgroßmutter, wo die gebundenen
Jahrgänge hinter einem grünen Vorhängsel standen, immer wieder las. Einzelne jener Geschichten tauchen mir immer
wieder auf; einer, "der Schimmelreiter", bin ich später Jahre hindurch vergebens nachgelaufen. (Theodor Storm an Karl
Gottfried Ritter von Leitner, S. 193.)
3.2.1885: Jetzt aber rührt sich ein alter mächtiger Deichsagenstoff in mir, und da werde ich die Augen offenhalten; aber
es gilt vorher noch viele Studien! Die Sache wird ein paar Jahrhunderte <zu>rück liegen. (Theodor Storm an Erich
Schmidt, Bd. 2, S. 107.)
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Der Schimmelreiter
10.2.1885: Nun komme ich aber noch mit einer Bitte: Zu einer neuen Arbeit, die sich in meinem Kopfe festsetzen will,
möchte ich gern eine kleine nur ganz flüchtige Skizze der Landtheile von Nordstrand, Husum, Simonsberg haben, wie es
eben vor der großen Fluth von ann. 1634 war. Da ich meine, daß Eckermann mir neulich solch ein altes Kärtchen zeigte,
erlaubt er vielleicht, daß Gertrud, die ich freundlich darum bitte, es mir abzeichnet; die Deiche, wenn solche angegeben
sind möglichst deutlich, sowie die Ortsnamen. Es ist die, ich glaube, ostfriesische Sage vom "Schimmelreiter", die jetzt in
mir spukt, die ich in meinem 8 od. 9ten Jahr, Gott weiß wo, las, und nicht habe wiederfinden können. Im Nothfall ist
Fräulein Ziehen vielleicht so freundlich, ein wenig auszuhelfen. (Theodor Storm an Adele Eckermann,
unveröffentlichter Brief, SHLB.)
Zeichnung des Küstenverlaufs vor Husum nach der Karte von Mejer von Gertrud
Eckermann (Febr./März 1885)
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Der Schimmelreiter
20.2.1885: Jetzt spukt eine gewaltige Deichsage, von der ich als Knabe las, in mir; aber die Vorstudien sind sehr
weitläufig. (Theodor Storm an Tochter Lisbeth; Briefe an seine Kinder, S. 232.)
2.4.1885: Dafür danke ich Dir wirklich recht von Herzen, liebe Gertrud; Dir, die Du die saubre Copie gemacht hast und
Euerer Freundin A. Z. Vorläufig steht es hinter der Glasthür meines Bücherschranks; gelegentlich soll ein ensprechender
Rahmen darum und dann das Bild an meine Wand. [...] Grüße, bitte, Deine Eltern und sage Papa, Dodo solle die mir
anvertrauten Schriften an ihn zurückbringen; ich müsse die Arbeit bis zum Herbst aufschieben, denn ich muß mit Vater
vorher allerlei durchsprechen dazu. Ich komme einmal. (Theodor Storm an Gertrud Eckermann, unveröffentlichter
Brief, SHLB.)
1) Säcke mit Erde zur Verdämmung er war nachmittags auf d. Deich hat alles
angeordnet. Sturm etwas stiller Abends stärker, findet die Leute die an verschiedenen
Stellen stehen sollten, auf den einen Fleck.
2) hört beim Hinausreiten das Gebrüll des Viehs, das nach der Geest hinaufgetrieben
wird.
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Der Schimmelreiter
Notizen zur Konzeption in Storms Handschrift, kleiner Zettel aus Karton. (Storm-Archiv Husum)
7.10.1885: Ich mühe mich nun um einen festen Stoff zur Winterarbeit; der "Schimmelreiter", das Deichgespenst, von
dem ich Dir sagte, wäre mir das liebste; aber ich verstehe es noch nicht recht anzufassen. (Theodor Storm an Heinrich
Schleiden, S. 61.)
4. 12. 1885: Dann habe ich große Lust eine Deichnovelle zu schreiben, "Der Schimmelreiter", wenn ich es nur noch
werde bewältigen können. (Theodor Storm an Paul Heyse, Bd. 3, S. 123.)
13.2.1885: Ende Januar geht’s wieder auf die Fahrt. [...] Vielleicht machst Du Dich wiederum auf, uns in Hamburg zu
treffen. Die Deichnovelle wird ja ein paar Ferientage gestatten. (Theodor Storm an Paul Heyse, Bd. 3, S. 125.)
15.1.1886: Vor der Deichnovelle habe ich einige Furcht und wollte diese leichtere Arbeit ["Bötjer Basch"] erst mal
zwischenschieben. (Theodor Storm an Paul Heyse, Bd. 3, S. 128.)
12.2.1886: Ich wollte einmal eine bequemere, weniger formstrenge Arbeit thun ["Bötjer Basch"], bevor ich mich an die
längst gewünschte "Novelle. Der Schimmelreiter" machte, auf einer Deichsage ruhend, die jetzt vor mir liegt, die ich aber
noch immer nicht recht anzufassen vermag. Schließlich wurde mir die andre Sache aber auch nicht leicht u. das gleich
ins Reine schreiben hörte bald auf; denn das Schwere liegt nicht im Stoff, sondern in mir und in meiner Art zu arbeiten.
Nun, Du wirst es demnach sehen. - (Theodor Storm an Heinrich Schleiden, S. 63.)
30.3.1886: Ich begänne so gern die beabsichtigte Deich- u. Sturmnovelle; aber sie müßte gut werden, da sie so
heimathlich ist; doch ich kann nicht; auch fehlt mir so viel im Material, was ich zur Zeit nicht schaffen kann. Die kurze
Zeit und die sich darin noch dazu verkürzende Kraft, das drückt mich mitunter. (Theodor Storm an Erich Schmidt, Bd.
2, S. 125.)
15.5.1886: (aus Weimar): Meine Frau schreibt mir, dass Sie mir treffliches Deichbuch leihen wollen. Herzlichen Dank
dafür und hoffe ich es bis Ende d.M., wo ich wieder zu Haus sein werde dort zu finden. (Theodor Storm an v. Maack;
unveröffentlichte Postkarte, StA.)
25.6.1886: Zur Zeit lauert jeder meiner Verleger auf eine Arbeit, Westermann [auf "Ein Bekenntnis"] und Paetel, von
denen eine ["Der Schimmelreiter"] freilich begonnen ist, aber wegen meines körperlichen Hindernisses nicht vorwärts
will. Dennoch hoffe ich, bis Frühjahr mit beiden fertig zu werden; können Sie mich dann noch brauchen, so verspreche
ich Ihrem Unternehmen meine danach entstehende Arbeit. Mehr kann ich Ihnen leider nicht bieten, so sehr ich’s
wünsche. (Theodor Storm an Karl Emil Franzos, S. 13.)
8.7.1886: Unter so lebendiger Umgebung ist es, abgesehen von meinen abnehmenden Kräften, nicht leicht zu arbeiten.
Dennoch ist der "Schimmelreiter" begonnen, allerlei Studien sind dazu gemacht; [...]. (Theodor Storm an Erich
Schmidt, Bd. 2, S. 129.)
Juli/August 1886: [...] es ist ein heikel Stück, nicht nur in puncto Deich- und andrer Studien dazu, sondern auch, weil es
seine Mucken hat, einen Deichspuk in eine würdige Novelle zu verwandeln, die mit den Beinen auf der Erde steht.
(Theodor Storm an Elwin Paetel, zit. nach Albert Köster, Theodor Storms Sämtliche Werke in 8 Bänden, Leipzig
1920, Bd. 8, S.288.)
Storm unterbricht die Arbeit im Sommer 1886 für die Novelle ,,Ein Doppelgänger".
26.8.1886: In Betreff der Buchausgabe der Novellen war meine Ansicht eigentlich die, Ihnen zum Herbst 4 oder 5
Novellen zu einem stärkeren Bande in Oktav vorzulegen, um, wenn es mit "Vor Zeiten" glückte, ferner auf diesem Wege
fortzufahren. Es würden dazu gehört haben: "Schimmelreiter", [...]. (Theodor Storm an Elwin Paetel;
unveröffentlichter Brief, SHLB.)
29.8.1886: In Arbeit ferner: "Der Schimmelreiter", eine Deichgeschichte; ein böser Block, da es gilt eine
Deichgespenstsage auf die vier Beine einer Novelle zu stellen, ohne den Charakter des Unheimlichen zu verwischen.
(Theodor Storm an Paul Heyse, Bd. 3, S. 140.)
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Der Schimmelreiter
27.9.1886: In den nächsten Tagen setze ich mich wieder an meinen "Schimmelreiter". (Theodor Storm an Paul Heyse,
Bd. 3, S. 144.)
28.9.1886: Ich habe meine Novelle für K. E. Franzos’ "Deutsche Dichtung", die "Ein Doppelgänger" betitelt ist, vor ein
paar Tagen beendet und werde in den nächsten Tagen wieder an die Arbeit meiner Deichnovelle "Der Schimmelreiter"
für die "D. Rundschau" gehen. (Theodor Storm an Sohn Karl, unveröffentlichter Brief, SHLB.)
Wegen einer schweren Rippenfellentzündung unterbricht Storm im Herbst 1886 (Oktober 1886 bis Februar
1887) die Arbeit am "Schimmelreiter und beginnt nach seiner Genesung zunächst mit der Novelle "Ein
Bekenntnis" (März bis Ende Mai 1887).
15.4.1887: Mit der Genesung geht es nicht recht vonstatten; dennoch im Mai fasse ich jedenfalls den mir auf der Seele
liegenden "Schimmelreiter" wieder an. (Theodor Storm an Elwin Paetel; unveröffentlichter Brief, SHLB.)
4. 5. 1887: Der "Schimmelreiter" hat heut ein wunderlich, mir angenehmes Kapitel erhalten. Ich denke über Sommer mit
dieser eigenthümlichen, nicht eben ausgedachten Arbeit fertig zu werden. (Theodor Storm an Elwin Paetel,
unveröffentlichter Brief, SHLB.)
„Eisboßeln” Seite aus Storms Arbeitshandschrift, dem „Concept“ von 1887 (StormArchiv, Husum)
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Der Schimmelreiter
25.5.1887: Es ist hier [in Hademarschen] so fesselnd angenehm, zumal ich eine vor meiner Krankheit begonnene Arbeit
"Der Schimmelreiter" (eine Deichsagen-Gestalt) wieder zur Hand nehmen kann [...]; dennoch reise ich am 2. Juni [...] nach
Kirchdorf Grube [...]. (Theodor Storm an Paul Heyse, Bd. 3, S. 151.)
5.6.1887 Hier [in Grube] ist köstliche Ruhe, meine Arbeit habe ich nach Bequemlichkeit ein wenig fortgesetzt(¿) . - Den
,Schimmelreiter‘ habe ich mitgenommen und(¿) schon ein wenig daran gefördert. (Theodor Storm an Sohn Karl; Briefe
an seine Kinder, S. 185; hier nach der Handschrift in der SHLB, die Textverluste aufweist.)
8. 6. 1887: Am "Schimmelreiter" wird alle Woche 4 oder 5 Mal ein Stückchen geschrieben u. so rückt er langsam weiter;
ich habe noch Reconvalenz-Nachleiden, und allerlei Brust- und Magenkrampf, was mich sehr im Arbeiten beschränkt.
(Theodor Storm an Elwin Paetel: unveröffentlichter Brief, SHLB.)
5.7.1887: Ich befinde mich recht leidlich, bin aber in allerlei verwirrten Arbeiten, wo ich z.B. ohne auswärtige
Correspondenz nicht weiter kann u. dgl. (Theodor Storm an Heinrich Schleiden, S. 69.)
Entwurf des Novellen-Anfangs; „Concept“ von 1887 (Storm-Archiv, Husum)
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Der Schimmelreiter
7.7.1887: [Briefschluss] Dein Vater ThStorm dem es jetzt recht gut geht u. der an seinem "Schimmelreiter" schreibt.
(Theodor Storm an Sohn Ernst, unveröffentlichter Brief, StA.)
20.7.1987: Meine Arbeit rückt so langsam vor; zu Weihnachten dürfte sie fertig werden d.h. zum Novbr etwa; der Elan
zum Arbeiten fehlt, ohne den es nichts wird sondern mich nur krank macht. Sie müssen einige Nachsicht mit dem
Alternden haben. (Theodor Storm an Elwin Paetel; unveröffentlichter Brief, SHLB.)
Erweiterte Fassung des Novellenanfangs; „Concept“ von 1887 (Storm-Archiv, Husum)
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Der Schimmelreiter
20.10.1887: Mein vielgenannter "Schimmelreiter" ist bis S. 92 der Reinschrift gediehen, und Sonntag will ich nach Heide,
um mit meinem Deich-sachverständigen Freunde Bau-Insp. Eckermann ein Nöthiges weiter zu besprechen. Aus einem
Jungen ist Hauke Haien nun auf diesen 92 S. zum Deichgrafen geworden; nun bedarf es der Kunst, ihn aus einem
Deichgrafen zu einem Nachtgespenst zu machen. Ich fürchte, das Thema hätte mit 10 Jahre früher kommen müssen.
(Theodor Storm an Paul Heyse, Bd. 3, S. 161.)
28.10.1887: Gestern Abend 6 Uhr von Heide zurück, wohin Do und ich am Vormittag des 26. (Mittwoch) zu Eckermanns
fuhren; ich um technische Schwierigkeiten im "Schimmelreiter" mit E. zu besprechen. Ich denke, alles ist glücklich
beseitigt. (Aus Storms Tagebuch; "Braunes Taschenbuch", LL 4, S. 558f.)
29.10.1887: Von Mittwoch auf Donnerstag waren Mama u. ich bei Eckermann’s in Heide; ich, um mit ihm über allerlei
Technisches in Deichsachen zu conferiren, dessen ich für meinen "Schimmelreiter" bedurfte, dessen Manuscript nun doch
auf 92 S. Reinschrift angewachsen ist. Bei meinem Magenleiden geht das Arbeiten langsam. (Theodor Storm an
Tochter Elsabe; Briefe an seine Kinder, S. 281; hier nach der Handschrift in der SHLB.)
1.11.1887: Der Magendruck ließ mir bis vor 14 Tagen weder Tag- noch Nachtruhe, und es gab nur vormittags ein paar
Stunden, wo ich schreiben und arbeiten konnte. Trotzdem sind in der Zeit über 100 Geburtstagsbriefe beantwortet, die
Reinschrift meines "Schimmelreiters" ist auf 126 S. Oktavpostpapier á 21 Reihen gewachsen, und in Konzept ist schon
wieder recht viel vorhanden; über einige Szenen freue ich mich; das Ganze wird wohl erst zum Aprilheft der "Deutschen
Rundschau" fertig. (Theodor Storm an Tochter Lisbeth; Briefe an seine Kinder, S. 238.)
2.11.1887: [...]; und so bin ich denn ungeachtet der gegenwärtigen Magenquälerei durchaus lebensfroh und schreibe
getrost an meinem "Schimmelreiter", dem hoffentlich noch Andres folgen wird. (Theodor Storm an Tochter Friederike;
Briefe an seine Kinder, S. 298; hier nach der Handschrift im StA.)
3.11.1887: Der "Schimmelreiter" überschreitet schon S.100 der Reinschrift. (Theodor Storm an Sohn Ernst,
unveröffentlichter Brief, StA.)
5.11.1887: Ich arbeite langsam am "Schimmelreiter", der hoffentlich zum Aprilheft der Deutsch. Rundschau druckreif
wird. (Theodor Storm an Tochter Elsabe; Briefe an seine Kinder, S. 182; hier nach der Handschrift in der SHLB.)
7.11.1887: [...] mein Magenleiden hatte einen Grad erreicht, daß es mir nachts den Schlaf raubte und mir tags die
Stunden ernster Beschäftigung auf ein Minimum herabdrückte, und da verlangte "Der Schimmelreiter", eine sehr
schwierige Novelle, die in das Aprilheft der "Deutschen Rundschau" soll, täglich wenigstens ein Stück weitergeschoben
zu werden. (Theodor Storm an Alfred Biese. In: Theodor Storm: Briefe. Hg. von Peter Goldammer, 2. Bde. Berlin 2.
Aufl. 1972, Bd. 2, S. 380.)
11.11.1887: Beim "Schimmelreiter" übrigens werden Ihnen die 3 Seiten plus zu Gute kommen; ich bin schon auf S. 121
der Reinschrift und noch lange nicht zu Ende. (Theodor Storm an Elwin Paetel; unveröffentlichter Brief, SHLB.)
27.11.1887: Wie weit bist Du denn mit Deinem "Deichreiter"? werden wir ihn noch in diesem Jahr zu hören oder zu
lesen bekommen? Ich bin sehr gespannt darauf. (Heinrich Schleiden an Theodor Storm, S. 71.)
3.12.1887: Meinen corpus anlangend, so leide ich täglich, mitunter auch nächtlich, an Magendruck u. Krampf in der
Brust, so daß mir nur Vormittags ein paar Stunden zur Arbeit bleiben. Das Schlimme ist, daß es sich durch jede
freundschaftliche Unterhalt<un>g sehr verschlimmert. Trotzdem ist der "Schimmelreiter<"> auf 127 S<eiten>
Reinschrift (Brief Oktavseiten a 21 Reihen) und ca 30 solche S<eiten> im Conc<e>pt gewachsen. Ich hoffe ihn zum
Aprilheft in die D<eutsche> Rundschau zu liefern. (Theodor Storm an Wilhelm Petersen, S. 176.)
5.12.1887: "Der Schimmelreiter" schreitet stark vorwärts u. wird jedenfalls zum 15 Febr. eingeliefert werden können. Ist
das früh genug zum Aprilheft? Es wird die bei Weitem größte Novelle, die ich geschrieben. (Theodor Storm an Elwin
Paetel, unveröffentlichter Brief, SHLB.)
9.12.1887: Schon vor meiner Krankheit begonnen und hoffentlich im Februar für die D<eutsche> Rundschau beendet
haben werde ich eine andre Erzählung, deren Stoff und einzelne Partieen Ihnen vielleicht mehr zu sagen werden [als die
Novelle "Ein Bekenntnis"]. Sie heißt "Der Schimmelreiter" und spielt irgendwo hinter den Deichen in der nordfriesischen
Marsch. (Theodor Storm an Gottfried Keller, S. 133.)
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Der Schimmelreiter
12.12.1887: [...] ich habe eben mehr als 4 Quartseiten Concept an meinem "Schimmelreiter" geschrieben; [...]. (Theodor
Storm an Tochter Elsabe; Briefe an seine Kinder, S. 282; hier nach der Handschrift in der SHLB.)
14.12.1887: Für den "Schimmelreiter", auf den ich mich freue, halte ich das Aprilheft der "Deutschen Rundschau" frei; es
genügt, wenn das Manuscript bis 15. Februar f. hier eintrifft. (Elwin Paetel an Theodor Storm; unveröffentlichter
Brief, SHLB.)
16.12.1887: Vorgestern wieder in Heide Conferenz über den "Schimmelreiter" gehalten, für den Sie mir aber wohl Aprilund Maiheft werden frei halten müssen. Mein Sachverständiger ist mein Freund, der Provinzial-Bau-Inspector
Eckermann dort [...]. Er war sehr mit nur zufrieden; ich werde nächstens auch einen Koog eindeichen können. (Theodor
Storm an Elwin Paetel; unveröffentlichter Brief, SHLB.)
18.12.1887: Im Januar werde ich wohl mit dem "Schimmelreiter" fertig, dem Größten, was ich bisher schrieb. Ich denke,
wenn auch nicht das Ganze, so wird Dich einzelnes interessiren. (Theodor Storm an Paul Heyse, Bd. 3, S. 162.
3.1.1888: Sie [die Ausgabe der "Sämmtlichen Werke" bei Westermann] reicht in 7 Doppelbänden bis 1882; das Spätere,
worin manches das Beste, wird voraussichtlich in diesem Herbst in 2 Doppelbänden sich anschließen. Nur "Ein
Bekenntniß", das ich im letzten Frühjahr nach meinem fünfmonatlichen Krankenlager schrieb, und etwa ein erste im
Aprilheft der Rundschau Erscheinendes ("Der Schimmelreiter") bleiben noch außen vor. (Theodor Storm an Max
Schmidt; unveröffentlichter Brief, StA.)
5.2.1888 (nach Storms letztem Besuch in Husum im Januar): Ich selbst habe fortgefahren zu arbeiten, wo ich in
Husum aufhalten mußte und werde in drei Tagen fertig sein. Bei Durchsicht des Ganzen habe ich den Glauben
gewonnen, daß mein "Schimmelreiter", wenn er auch kein Meisterstück geworden - die sind wohl nicht mehr für mich doch Ihnen ein gewisses Interesse abgewinnen wird. Ich begann ihn schon im Sommer 1886. (Theodor Storm an Gräfin
Emilie zu Reventlow, S. 44.)
9.2.1988: Heute Vormittag 11 Uhr den "Schimmelreiter" beendet, heut Abend 5 Uhr ihn als Wertsendung von 3000 M.
zur Post gebracht. (Aus Storms Tagebuch; "Braunes Taschenbuch", LL 4, S. 561.)
Anfang der Reinschrift, die Storm am 9. Februar 1888 an den Verlag Paetel in Berlin
schickte. (Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Kiel)
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Der Schimmelreiter
11.2.1888: Uebrigens habe ich die Vormittage dort [in Heiligenstadt] wie nach Rückkehr hier [in Hademarschen] an
meinem "Schimmelreiter" gearbeitet, den ich am 9tn dMs beendet habe und den Du zunächst in dem April- und Maiheft
der "Deutschen Rundschau" wirst lesen können. Ich hätte ihn wohl vor 10 Jahren schreiben sollen; jetzt ist denn
geworden, was rebus sic stantibus werden können. Im Sommer 86 begann ich damit, dann kam die Krankheit, dann
begann ich im letzten Spätsommer wieder. (Theodor Storm an Paul Heyse, Bd. 3, S. 166.)
17.2.1888: Mir geht es leidlich; nur daß ich mitunter den Schlaf einer Nacht opfern muß, so heute von ½3 Uhr an; sonst
fühle ich mich nicht schwach, habe in Husum auch immer die Vormittage an meinem "Schimmelreiter" gearbeitet und
ihn hier am 9. d. M. vollendet und an Paetel geschickt, in dessen "Deutsche Rundschau" das circa 240 S. (Oktav-Postpap.Seiten a 21 Reihen) lange opus im April- und Maiheft erscheinen wird. Ganz zufrieden bin ich mit meiner Arbeit nicht;
ich hätte sie vor zehn Jahren schreiben sollen. (Theodor Storm an seine Tochter Elsabe; Briefe an seine Kinder, S.
285; hier nach der Handschrift in der SHLB.)
22.2. 1888: An Paetel einen Nachtrag zum "Schimmelreiter" geschickt. (Aus Storms Tagebuch; "Braunes
Taschenbuch", LL 4, S. 561.)
Ein Blatt aus dem „Nachtrag” zum „Schimmelreiter”, den Storm am 22. Februar an
den Verlag schickte. (Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Kiel)
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Der Schimmelreiter
23.2.1888: Die Correctur des ganzen "Schimmelreiter" ist bereits gestern an Sie abgegangen; ich sende nun Ihre, soeben
eingetroffene Veränderungen nachträglich in die Druckerei und lasse Ihnen von Seite 69 bis Schluß nochmals veränderte
Correktur-Abzüge zugehen. Wäre es nicht das Richtigste, wenn wir den "Schimmelreiter" als selbstständigen Oktavband,
ohne Hinzufügung einer andren Novelle, zum Herbst herausbrächten? (Elwin Paetel an Th. Storm; unveröffentlichter
Brief, StA.)
24.2.1888: Korrektur v. Schimmelreiter erhalten, 78 Seiten ohne den Nachtrag. (Aus Storms Tagebuch; "Braunes
Taschenbuch", LL 4, S. 562.)
24.2.1888: Meine große Novelle "Der Schimmelreiter" beendigte ich am 9 dM.; eben erhalte ich die Correkturbogen; es
sind 78 Seiten der Rundschau; ich glaube, daß manches darin interessiren wird; im Ganzen hätte ich das Stück wohl
besser vor 10 Jahren geschrieben. Die gewisse Greisenmüdigkeit hindert doch; man schreibt nicht mehr so gern um.
(Theodor Storm an Sohn Karl; Briefe an seine Kinder, S. 185; hier nach der Handschrift in der SHLB.)
3.3. 1888: Eine letzte kleine Szene wurde gestrichen, weil sie zu sehr aus der Stimmung fiel. (zitiert nach Albert Köster
im Kommentar zu Theodor Storms Sämtliche Werke, Leipzig 1923, Bd. 8, S. 288, aus einem verlorenen Brief Storms an
Elwin Paetel, der aber von Storm in einem zweiten Brief an den Verleger vom selben Tage erwähnt wird : Heute
Vormittag einen Brief an Sie abgeschickt [...]. (Theodor Storm an Paetel; unveröffentlichter Brief, SHLB.)
5.3.1888: Möge alle Welt den tiefen Eindruck, von nachhaltiger Wirkung, und gleichzeitig hohen Genuß vom
"Schimmelreiter" empfangen, wie ich und darauf auch meine Frau, der ich die Correkturbogen vorgelesen habe! - Den
für das Maiheft der "Deutschen Rundschau" bestimmten Schluß - von pag 35 ab - erhalten Sie mit den heute von Ihnen
eingetroffenen Veränderungen nochmals in Revisions-Abzügen zur Durchsicht.[...] Hinsichtlich der Oktav-Ausgabe des
"Schimmelreiter", der wegen seines Umfangs (er wird ca. 185 Seiten in der Ausstattung von "Vor Zeiten" ergeben) als
Miniatur-Ausgabe nicht gedruckt werden kann, schlage ich bei 2000 Auflage und bei einem Ladenpreis von 4 bis
höchstens 5 Mark für geheftete Exemplare - ähnlich wie bei "Aquis submersus" - ein Honorar von 1000 Mark vor, möchte
aber den Vorbehalt machen, daß es mir gestattet ist, die zunächst zu druckenden 2000 Exemplare mit "Erste" und
"Zweite" Auflage - je nach Bedarf - zu bezeichnen. -(Elwin Paetel an Theodor Storm; unveröffentlichter Brief, SHLB)
7.3.1888: Mein verehrter Freund, daß Ihnen und Ihrer lieben Frau, der ich freundlichen Gruß zu sagen bitte, meine
Arbeit etwas abgewonnen, ist mir recht erquickend. Ich danke Ihnen für die Mittheilung. Ich habe den sagenhaften Stoff
ins rein Menschliche hinübergezogen; darin lag die Schwierigkeit für die Ausführung und was darin nicht zur rechten
Erscheinung gekommen ist, ist hiedurch zurückgehalten; - dazu die 70! [...] Mit den in Ihrem Schreiben v. 5 d. M.
vorgeschlagenen Bedingungen für die Oktavausgabe des "Schimmelreiters" bin ich einverstanden. (Theodor Storm an
Elwin Paetel; unveröffentlichter Brief, StA.)
10.3.1888: Meinen "Schimmelreiter", den ich im Spätsommer 86 begonnen, hab' ich am 9. Februar beendet und heute
die letzte Korrektur besorgt; es ist mein längstes Stück. 77 Seiten der "Deutschen Rundschau", wo er im April- und
Maiheft erscheint. [...] Den "Schimmelreiter", welcher Ernst in Buchform gewidmet wird, werdet Ihr zu Weihnacht lesen.
Mitunter freilich ist mir, ich hätte ihn besser vor 10 Jahren geschrieben; nun, Ihr werdet selbst urteilen! (Theodor Storm
an Tochter Lisbeth; Briefe an seine Kinder, S. 238; 239.)
13.3.1888: Schimmelreiter-Korrecturbogen an Erich Schmidt. (Aus Storms Tagebuch; "Braunes Taschenbuch", LL 4, S.
562.)
7.4.1888: Und unter solchen Umständen [Storm meint seine krankheitsbedingten körperlichen Beschwerden] ist auch
"der Schimmelreiter" geschrieben, nur der Anfang im Sommer 86, vor der Krankheit. "Novelle" braucht es nicht genannt
zu werden; etwa: "Eine Deichgeschichte" oder "Eine Geschichte aus der Marsch". Einige Wort- und Sacherklärungen
kann ja die Buchausgabe immerhin bringen. Wenn die Katastrophe aus der Niederlage des Deichgrafen im Kampfe der
Meinungen stärker hervorgehoben würde, so würde seine Schuld wohl zu sehr zurücktreten. Bei mir ist er körperlich
geschwächt, des ewigen Kampfes müde, und so läßt er einmal gehen, wofür er sonst stets im Kampf gestanden; es
kommt hinzu, daß seine zweite Besichtigung bei heller Sonne die Sache weniger bedenklich erscheinen läßt. Da aber,
während Zweifel u. Gewissensangst ihn umtreiben, kommt das Verderben. Er trägt eine Schuld, aber eine menschlich
verzeihliche. Für die Buchausgabe ist in der Druckvorlage S. 194 noch von mir hinzugefügt:
ritt hart an der Binnenseite des Deiches; ein paar Mal, wo er dort hätte vorüber müssen, ließ er sein schon gesatteltes
Pferd wieder in den Stall zurückführen; dann wieder, wo er dort nichts zu thun hatte, wanderte er, um nur rasch und
ungesehen von seiner Werfte fortzukommen, plötzlich und zu Fuß dahin; manchmal auch war er umgekehrt: er hatte es
sich nicht zumuthen können, die unheimliche Stelle auf[s] Neue zu betrachten; und endlich – mit den Händen etc.
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Der Schimmelreiter
Es muß für ihn bedacht werden: die Scheu, nach endlich vollendetem Werk den Kampf auf’s neue zu beginnen. Es muß
wohl "Akt" heißen. Es sind Viehtrift-Wege; servitus actus – die Servitut der Viehtrift. "Selbstverstand" wäre doch wohl zu
vertheidigen; das Wort ist besser als "selbstverständlich", weil es weniger abstract ist. "Avosetten" sind säbelschnäbliche
Strandvögel. Es ist mir übrigens sehr lieb, daß auch das Werk, wie es jetzt ist, eine Wirkung auf Sie ausgeübt hat; denn
zu einer Umarbeitung werde ich schwerlich kommen; meine Greisen-Müdigkeit erschrickt davor, und – die Sache ist sehr
heikel, was ich während der Arbeit deutlich genug empfunden habe; man verliert hier sehr leicht auf der einen Seite, was
man auf der andern dadurch gewönne. "Transeat cum ceteris", pflegt Heyse zu sagen. (Theodor Storm an Ferdinand
Tönnies)
14.4.1888: Die plötzliche Correctur hat mich etwas überrumpelt, folgt übrigens morgen zurück. Nur muß ich Sie bitten,
in dem zweiten Theil, den ich anbei schicke, die roth gestrichenen Correcturen in die Druckvorlage nachzutragen. Die
schwarzen übrigen sind bereits in dem Druck für die Rundschau berücksichtigt. (Theodor Storm an Elwin Paetel;
unveröffentlichter Brief, SHLB.)
26.4.1888: Unsern Leipziger Commissionär, Herrn Franz Wagner, beauftragten wir, die per 1. Mai an fällige
Honorarrate f. d. "Schimmelreiter" von M. 1000.- Ihnen einzuschicken. (Verlag Paetel an Theodor Storm,
unveröffentlichter Brief, StA.)
30.4.1888: 1000 M. Honorar von Paetel. (Aus Storms Tagebuch; "Braunes Taschenbuch", LL 4, S. 563.)
Im April- und Mai-Heft des Jahres 1888 der Deutschen Rundschau (S.1-34 und S.161-203) wurde die Novelle
zum erstenmal abgedruckt.
2.5.1888: Nur einen Glückwunsch, lieber Alter, zum Schimmelreiter. Ein gewaltiges Stück, das mich durch und durch
geschüttelt, gerührt und erbaut hat. Wer machte Dir das nach! Ich lese es wieder in ruhigerer Zeit, heute hab ich's nur
athemlos durchgejagt, als säße ich selbst auf dem Gespenstergaul, und kann Dir nur im Fluge die Hand drücken und
von Herzen Heil! Heil! rufen, da ich in schwerer Arbeit tief vergraben bin. (Paul Heyse an Theodor Storm, S. 173.)
6.5.1888: Diese Tage erhielt ich aus Ihrer Firma die ersten 6 Druckbogen der Buchausgabe zur Revision, worin ich noch
2 oder 3 Worte zu corrigiren hatte; es wäre mir lieb, wenn mir auch die übrigen Bogen so in Reindruck zu gingen. Dem
Buche bitte ich die Widmung vorzusetzen: Meinem Sohn| Ernst Storm,| Rechtsanwalt und Notar in| Husum|
zugeeignet. Außerdem noch eine Frage: Erich Schmidt u. der Züricher Prof. Baechthold sind ein wenig durch die
"Deichlandsprache" im Lesen gehindert worden, meinen aber doch, daß die Sache dadurch so "echt" werde. Soll ich auf
dem Blatt, was der Widmung gegenüberstehen würde, einige Worterklärungen geben, oder ist es zu lassen u, etwa bei
einer zweiten Auflage es unter den Text folgen zu lassen? Der Erfolg der Publication scheint übrigens Ihrer Erwartung
zu entsprechen: E. Schmidt schrieb mir [Storm zitiert aus einem verschollenen Brief]: "Ich staune über die Wucht und
Größe, die Sie als Siebziger für den "Schimmelreiter" aufbieten konnten, dessen Thema auf so furchtbare Weise
zeitgemäß geworden ist. Alles Meer- und Strandhafte des Gegenstandes ist so sehr ersten Ranges, daß ich ihm nichts
überzuordnen wüßte; und in der Seele des Mannes brandet's gleich leidenschaftlich. Wundervoll eine Verbindung des
Abergläubisch-Geheimnisvollen mit dem sachkundigen Realismus, der da weiß, wie man Deiche baut u.s.w., wie die
Fluth frißt u.s.w. Die epische Fabel spielt naturgemäß eine zweite Rolle." Nur die Exposition wünscht er mehr
zusammengezogen. Was er hier unter "Exposition" versteht, ist mir nicht ganz klar. P. Heyse schrieb mir: "Nur einen
Glückwunsch, lieber Alter, zum "Schimmelreiter". Ein gewaltiges Stück, was mich durch u. durch geschüttelt, gerührt
und erbaut hat. Wer machte Dir das nach? Ich lese es wieder in ruhigerer Zeit; heut’ hab’ ich es nur athemlos
durchgejagt, als säße ich selbst auf dem Gespenstergaul; und kann Dir nur im Fluge Heil! Heil! rufen, da ich in schwerer
Arbeit tief vergraben bin." - - So bleibe ich denn vielleicht der Einzige, der nicht ganz zufrieden ist; denn auch andre, wie
Dr. Tönnies mit seinem Freunde, Ihrem Prof. Paulsen u. A. haben sich ähnlich ausgesprochen. (Theodor Storm an Elwin
Paetel; unveröffentlichter Brief, SHLB.)
Anfang Mai 1888: Mein "Schimmelreiter scheint allerdings durchzuschlagen; Erich Schmidt schrieb mir dieser Tage
[Storm zitiert aus einem verschollenen Brief]<:> "Ich staune über die Wucht und Größe, die Sie als Siebenziger für den
"Schimmelreiter" aufbieten konnten; alles Meer- und Strandhafte des Gegenstandes ist so sehr ersten Ranges, daß ich
ihm nichts überzuordnen wüßte; und in der Seele des Mannes brandet’s gleich leidenschaftlich. Wundervoll eine
Verbindung des Abergläubisch-Geheimnißvollen mit dem sachkundigen Realismus, der da weiß, wie man Deiche baut,
wie die Fluth frißt u.s.w. Die epische Fabel spielt naturgemäß eine zweite Rolle." Nur die Exposition ist ihm etwas zu
schwerflüssig. So Erich Schmidt und andere literärisch schwerwiegende Männer. Ich selbst aber wollte, daß ich das
Thema vor etwa 10 Jahren bearbeitet hätte und nicht erst am letzten Rand meines Lebens. (Theodor Storm an Heinrich
Schleiden, S. 74.)
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Der Schimmelreiter
7.5.1888: Wer noch so magisch-tragisch wie Du den alten Schimmel aufzäumen kann, dem wird auch noch manches
andere gelingen u. in solchem Gelingen soll er sich des Lebens freuen. Schon das Urtheil von Dr. E. Schmidt, der doch
wohl nach Scherers Heimgang der erste unserer Literarhistoriker ist, darf Dir genügen u. muß Dir das Vertrauen in die
eigene Kraft stärken. (Heinrich Schleiden an Theodor Storm, S. 76.)
9.5.1888: E. Schmidt u. Heyse haben mir indeß wahre Jubelbriefe über den "Schimmelreiter" geschrieben; E. Schm
[Storm zitiert aus einem verschollenen Brief]: "Ich staune über die Wucht u. Größe, die Sie dafür aufzubieten hatten;
alles Strand- u. Meerhafte ist so sehr ersten Ranges, daß ich dem nichts überzuordnen wüßte, u. in der Seele des Mannes
brandet’s gleicherweise! Wundervoll die Vermischung des Abergläubisch-Geheimnißvollen mit dem sachkundigen
Realismus, der da weiß, wie man Deiche baut u.s.w." Nur die Exposition (ich bin nicht sicher was er hier darunter
versteht) wünscht er gedrängter, u. die "Landesdeichsprache" ist ihm etwas hinderlich. Heyse schreibt: "Nur ein
Glückwunsch, lieber Alter, zum ‚Sch‘. Ein gewaltiges Stück, das mich durch u. durch geschüttelt, gerührt u. erbaut hat.
Wer macht Dir das nach! Ich lese es wieder in ruhigerer Zeit, heut hab ich’s nur athemlos durchjagt, als säße ich selbst
auf dem Gespenstergaul, und kann Dir nur im Fluge die Hand drücken u. von Herzen Heil! Heil! rufen. etc." Ich weiß
wohl, daß mein Mißtrauen begründeter ist, als ihr Entzücken; aber schon, daß es auf sie den Eindruck hat machen
können, thut mir gut, in der gekommenen Zeit, wo ich mir selber nicht mehr trau’, wie einst. Dann ist es ja auch ganz
gedeihlich, daß einer aus der alten Schule einmal wieder etwas geleistet hat, was den Besten das Herz erregt. So wäre
der Zeitpunkt des Abtretens jetzt nicht ungünstig. (Ferdinand Tönnies an Theodor Storm, S. 125)
17.5.1888: Einen Pfingstbrief sollst Du doch noch haben, lieber Freund, und einen Dank, daß Du mir den Eindruck, den
mein "Schimmelreiter" Dir gemacht, so unmittelbar überliefert hast. Ich hatte bei Dir u. E. Schmidt, der über die "Wucht
u. Größe", die ich dafür aufzubieten hatte, erstaunt und alles Strand- und Meerhafte darin so sehr ersten Ranges findet,
daß er dem nichts überzuordnen wüßte, ("u. in der Seele des Mannes brandet’s gleicherweise") eine solche Wirkung
nicht erwartet; - um so erquickender ist sie mir, da ich von Bleichsucht, Schlaflosigkeit etc. etc. augenblicklich so
herunter bin, [...]. Noch muß ich bemerken, daß E. Schmidt im "Schimmelreiter" die Exposition etwas "schwerflüssig"
fand; ich muß mir noch erklären lassen, was er hier unter "Exposition" verstand. Uebrigens stimmt Dein und E.
Schmidts Urtheil sehr schön zu einem Ausspruch in einem Artikel von Johannes Wedde (Hambg, Herm. Grüning, 88) ich
sei "ein merkwürdiges Beispiel der sera juventus, die Tcitus dem deutschen Stamme nachrühmt." Möchte Euch beim
späteren Lesen auch noch etwas von solchem Eindruck bleiben! (Theodor Storm an Paul Heyse, Bd. 3, S. 173; 174.)
18.5.1888: Ihren Pfingstbrief sollen Sie doch haben, wenn’s auch mühselig geht; denn das zurecht leben nach 5 Monaten
Krankenlager will nicht mehr gelingen. Seit der "Schimmelreiter" von der Hand war, ist es immer etwas weiter
hinabgegangen; sonst hätte ich längst Ihren lieben Brief beantwortet. Heyse schreib mir eine wahre Jubelkarte: "Ein
gewaltiges Stück, das mich durch u. durch geschüttelt, gerührt und erbaut hat! Wer thut Dir das nach!<"> etc. etc. Er
wird wohl beim zweiten Lesen etwas zurückgehn. [...] In p<un>cto der "Landesdeichsprache" werde ich für meine
Binnenlandsfreunde am Schlusse der Buchausgabe einige Worterklärungen bringen; u. so hoffentlich auch Freund
Baechthold zufriedenstellen. (Theodor Storm an Erich Schmidt, Bd. 2, S. 149; 150.)
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Der Schimmelreiter
Erläuterungen „Für binnenländische Leser”; Korrekturbogen für die erste Buchausgabe
mit handschriftlichen Korrekturen von Theodor Storm. (Storm-Archiv, Husum)
18.5.1888: Auf Correcturbogen 10, den u. 11 ich eben erhalte, verstehe ich nicht, daß die erste Seite (145) genau
denselben Text enthält, wie die letzte Seite (144) des Correcturbogen. Darf ich um Aufklärung bitten? (Theodor Storm
an Elwin Paetel; unveröffentlichter Brief, SHLB.)
19.5.1888: Mein alter Herzensjunge und schlechter Briefsteller, Du sollst doch Deinen Pfingstgruß von mir haben, wenn
er mir auch etwas sauer fällt; denn seit Absendung meines "Schimmelreiters" im März an die D. Rundschau, der mir
übrigens von E. Schmidt glänzenden Zuruf [Storm zitiert aus einem verschollenen Brief]: "Ich staune über die Wucht und
Größe, die Sie dafür aufzubieten hatten; alles Strand- u. Meerhafte darin ist so sehr ersten Ranges, daß ich dem nichts
überzuordnen wüßte und in der Seele des Mannes brandet’s gleicherweise" und von P. Heyse eine wahre Jubelkarte
eingetragen hat: " Ein gewaltiges Stück, das mich durch u. durch geschüttelt hat. Wer macht Dir das nach! Ich lese es
später in ruhigerer Zeit, heut hab’ ich’s nur athemlos durchjagt, als säß’ ich selbst auf dem Gespenstergaul, und kann
Dir nur im Fluge die Hand drücken u. von Herzen Heil! Heil! rufen. Dein alter ewiger P. H." Das thut einem doch wohl,
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Der Schimmelreiter
mein lieber Junge, in einer Zeit, wo man sich stark ergreisen fühlt, und stimmt auch zu den Worten von Johannes
Wedde in seiner Schrift "Th. St. Einige Züge zu seinem Bilde": "Eine ununterbrochene Steigerung der Meisterschaft leitete
durch alle Jahrzehnte herauf von dem anmuthigen Stimmungsbilde zu dem voll tragischer Wucht den Leser
überwältigenden Roman. Ein merkwürdiges Beispiel der sera juventus (späten Jugend) die Tcitus dem deutschen
Stamme nachrühmt." (Theodor Storm an Sohn Karl, unveröffentlichter Brief, SHLB.)
28.5.1888: Anbei die letzte Correctur, und außerdem meine Worterklärungen, die sich mir inzwischen für Binnenländer
doch recht nothwendig erwiesen haben. Sie würden dann nebst den paar Druckfehlern, die ich Ihnen neulich
überreichte, hinten an kommen; in etwaiger neuer Auflage möchte ich sie lieber vorn haben. Gelegentlich bitte ich, mir
einen Contract über den "Schimmelreiter" (Oktavausgabe) zu schicken; [...]. (Theodor Storm an Elwin Paetel; SHLB.)
4.6.1888: In Betreff des "Schimmelreiters", der Ihnen nach dem Bucherscheinen sofort werden soll. Hab ich Ihnen den
mir von P. Heyse u. E. Schmidt brieflich mitgeteilten Eindruck mitgeteilt, den er ihnen gemacht hat; bitte aber dringend,
bei einer etwaigen Besprechung Ihrerseits nichts davon verlauten zu lassen. E. Schmidt hat noch hinzugefügt, daß es
ihm etwas zu lang dauere, bevor die grogschlürfenden Männer im Krug an den Schimmelreiter kommen. Ich finde das
nicht; es ist ja von S.3 auf S.4 (Aprilheft der Rundschau) abgetan. Das Weib mit dem Kinde und dem geretteten Hündlein
treibt die Angst der Liebe ihm entgegen, so gehen sie mit ihm unter, sie gehören zusammen im Leben wie im Tode.
(Theodor Storm an A. Biese, STSG 30 (1981), S. 85.)
5.6.1888: Es geht mir, nach Vollendung des "Schimmelreiter" der Ihnen demnächst zu gehen wird, leider, körperlich so
schlecht wie möglich; [...]. (Theodor Storm an Heinrich Seidel, S. 80.)
6.6.1888: Hiebei der gewünschte Contrakt über die Buch-Ausgabe des "Schimmelreiter" in 2 Exemplaren, von denen ich
das eine unterzeichnet zurückerbitte. - Demnächst werde ich Ihnen die Bogen 10 bis 13 in Reindruck senden lassen und
bitte Sie schon heute, dieselben dann freundlichst sofort nach Druckfehlern durchsehen zu wollen und mir, wenn Sie
solche finden, anzuzeigen, damit ich dann das Druckfehlerverzeichnis zum Druck geben kann. Die Erklärungen für
Binnenländer habe ich nun doch noch vor den Text, wie Sie gewünscht, und zwar unmittelbar hinter die Widmung
bringen lassen. (Elwin Paetel an Th. Storm; unveröffentlichter Brief, StA.)
7.6.1888: § 2. Die erste Auflage in einer Stärke von zweitausend Exemplaren soll im Herbst 1888 zum Ladenpreise von 4
bis 5 Mark für das geheftete Exemplar erscheinen; doch steht es der Verlagsbuchhandlung jeder Zeit frei, diese
zweitausend Exemplare mit "Erste" und "Zweite" Auflage - je nach Bedarf - zu bezeichnen. [...] ("Verlags-Contrakt" über
die Buchausgabe des "Schimmelreiters", von Verleger und Autor mit gleichem Datum unterschrieben; StA.)
8.6.1888: Beifolgend, lieber Herr und Freund, das eine Contract-Exemplar mit Dank zurück. Da Sie mir 12 geb. u. 12 geh.
Autor-Exemplare für diese erste Auflage zugesetzt haben, so bedarf ich außerdem nur noch 1 geb. Exemplar, das Sie
gefälligst an Herrn Heinrich Seidel, Carlsbad 11, senden wollen in meinem Auftrag. Sonst mit allem Ihres Briefes vom 6.
Juni d. J. einverstanden, daß die Worterklärungen im "Schimmelreiter" nach vorn kommen, ist mir lieb. (Theodor Storm
an Elwin Paetel; SHLB.)
27.6.1888: Hierbei überreiche ich Ihnen die per 1. Juli fällige letzte Honorar-Rate für den Abdruck des "Schimmlereiter"
in der "Deutschen Rundschau" mit 1330 Mark; die Buchausgabe werde ich wahrscheinlich Anfang September zur
Versendung bringen. (Elwin Paetel an Theodor Storm; unveröffentlichter Brief, StA)
29.6.1888: Das Resthonorar für den "Schimmelreiter Abdruck" der Deutschen Rundschau von Paetel erhalten. (Aus
Storms Tagebuch; "Braunes Taschenbuch", LL 4, S. 564.)
Die Buchausgabe hat Storm noch selbst korrigiert; er hat das Erscheinen der Buchausgabe aber nicht mehr
erlebt: sie erschien erst nach seinem Tode, im Herbst 1888.
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Der Schimmelreiter
Umschlag der ersten Buchausgabe (Berlin 1888), die erst nach Storms Tod erschien
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Der Schimmelreiter
3. Textzeugen
Das Verzeichnis der Textzeugen in chronologischer Folge ihrer
Entstehung
Die Handschriften
H1
Arbeitsmanuskript, 131 Seiten, aus einem Handschriften-Konvolut. Bei diesem Konzept handelt es sich um Teile
der "Kladde", die von Karl Ernst Laage im Kommentar (LL 3, S. 1049) noch als verschollen bezeichnet wird.
(Storm-Archiv Husum) Entstanden von Juni bis Februar 1888 und von Storm als "Concept" bezeichnet (Brief an
Wilhelm Petersen, 3.12.1887).
H2
Vollständige Reinschrift, 232 Seiten, auf einem dazugehörigen Zettel von Storm bezeichnet als "Eigenhändiges
Druckmanuscript zum Schimmelreiter 1886-1888" (Storm-Nachlass, SHLB Kiel). Entstanden zwischen
Spätsommer 1887 und Februar 1888; am 9.2.1888 an Elwin Paetel geschickt.
H3
Nachtrag von 4 Seiten mit größeren und kleineren Ergänzungen zum Schlussteil, am 22. Februar 1888 an Elwin
Paetel geschickt (Storm-Nachlass, SHLB Kiel).
H4
Nachtrag für die Buchausgabe im Brief Storms an Ferdinand Tönnies vom 7.4.1888 (Storm-Nachlass, SHLB Kiel).
Die Drucke zu Lebzeiten
Korrekturbogen des Schlussteils für den Erstdruck D1 (ohne die handschriftlichen Nachträge aus H3) mit
1
d handschriftlichem Vermerk Storms "Früherer Druck und anderes Ende, als später festgestellt wurde"
(Storm-Nachlass, SHLB Kiel).
1
D Erstdruck in Deutsche Rundschau (April und Mai 1888), S.1-34 und 161-203.
Wiederabdruck in Halbmonatshefte der Deutschen Rundschau, Jg. 1887/88, Bd. 3 (April/Mai/Juni), S. 81-114,
D1a
161-180, 241-264 (mit D1 textidentisch).
Vollständige Revisionsbogen (nach dem Erstdruck) für die erste Buchausgabe (D2), handschriftlich von
2a
d Storm korrigiert, ohne die Worterklärungen "Für binnenländische Leser" (Stadtmuseum Heiligenhafen, jetzt
Depositum im Storm-Archiv Husum).
Fünf Revisionsbogen (nach dem Erstdruck) für die erste Buchausgabe (D2), Seiten 1-16 und 113-176 (Bogen
2b
d 1, 8, 9, 10, 11) sowie mit den Worterklärungen "Für binnenländische Leser" handschriftlich von Storm
korrigiert und mit der Überschrift "Der Schimmelreiter 1886-1888." versehen (Storm-Archiv Husum).
Erste Buchausgabe Der Schimmelreiter. Novelle von Theodor Storm, Berlin: Paetel 1888, mit der Widmung
D2 "Meinem Sohn Ernst Storm, Rechtsanwalt und Notar in Husum, zugeeignet" mit vorangestellten
Worterklärungen "Für binnenländische Leser" und mit einer "Druckfehler-Berichtigung".
D3 Sämtliche Schriften, Braunschweig: Westermann 1889, Bd. 19, S. 99-326 mit der Datierung "1888".
Beschreibung der Handschriften
H1 Arbeitsmanuskript (Mai 1887 - März 1888), Standort: Storm-Archiv, Husum; Nachlass Ernst Storm
131 Seiten aus einem Handschriften-Konvolut (Storm-Archiv Husum).
Entstanden von Juni 1877 bis Februar 1888 und von Storm als „Concept“ bezeichnet (Brief an Wilhelm Petersen,
3.12.1887).
Die 131 Seiten des Arbeitsmanuskripts liegen nicht mehr in ihrer ursprünglichen Reihenfolge; da nur wenige
Blätter von Storm nummeriert wurden und einige Papier-Formate vom Hauptteil des Manuskripts abweichen,
wurde es wie vorgefunden belassen und mit Bleistift rechts oben auf Vorder- und Rückseite durchnummeriert.
Zu dem Manuskript gehören sechs Seiten aus Privatbesitz (Kopie im StA, Signatur FN 5,3), die bereits seit
längerem der Storm-Forschung bekannt sind und hier als Seiten 0/1-0/6 an den Anfang eingeordnet wurden.
Das Manuskript besteht aus verschiedenen Papiersorten; Storm hat hauptsächlich unlinierte einmal gefaltete
Doppel- und davon abgetrennte Einzelblätter gelblichen Papiers verwendet; die erste Sorte von besserer Qualität
im Format 16,5 cm : 20,9 cm (alle Angaben Breite, Höhe), die zweite von schlechterer Qualität im Format 17 cm :
21,5 cm. Letztere Blätter sind stärker vergilbt und weisen Brüche an den Rändern auf, die gelegentlich zu
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Der Schimmelreiter
leichteren Textverlusten geführt haben. Außerdem enthält das Manuskript Einzelblätter verschiedenen Formats,
die teilweise an andere Blätter angeklebt oder angeheftet wurden.
Die zugehörigen 6 Seiten aus Privatbesitz lassen die Papierqualität nicht erkennen, bestehen aber vermutlich
aus drei Doppelbogen.
Das Papier ist durchgängig mit schwarzer Tinte, bei einigen Blätter mit Bleistift meist doppelseitig beschrieben.
Neben den Sofortkorrekturen hat Storm gelegentlich Nachträge an die Zeilenränder jeweils mit Tinte oder
Bleistift geschrieben. Spätere Verbesserungen, Streichungen und Ergänzungen sind vor allem mit Bleistift
vorgenommen worden; Markierungen mit rotem und blauem Farbstift (Winkel, Haken, Striche und
Piktogramme) dienten als Hilfen, um Manuskriptteile zusammenzufügen.
Außer dem Novellentext enthält das Manuskript eine Karte und drei Blätter, auf die Storm Erzählkonzepte
notiert hat (hier als „Notizen zur Konzeption“ 1-3 der Edition des Novellentextes nachgestellt).
H2
Reinschrift (Herbst 1887 - 9. Februar 1888), Standort: Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Kiel; StormNachlass
232 Seiten, auf einem dazugehörigen Zettel von Storm bezeichnet als „Eigenhändiges Druckmanuscript zum
Schimmelreiter 1886-1888“.
Entstanden zwischen September/Oktober 1887 und Februar 1888; am 9.2.1888 an Elwin Paetel geschickt.
14 Hefte mit kariertem oder liniertem Papier im Format 14,2 : 22,1 cm, gefaltete Doppelblätter in unterschiedlich
umfangreichen Lagen, später gebunden, davon 12 Hefte bezeichnet und nummeriert und sämtliche Blätter
nachträglich mit Bleistift rechts oben auf den beschriebenen Seiten paginiert (Heft 1: pag. 1-10; Hefte 2-12: pag.
1-222; also 232 Blätter).
Von Storm mit schwarzer Tinte nur auf der Sv der paginierten Blätter beschrieben, gelegentliche Nachträge auf
Sr mit Einweisungszeichen. Die Beschriftung der Hefte von Storm mit Blaustift, ebenso diverse
Unterstreichungen. Heftanfänge weisen gelegentlich Setzer-Namen in Bleistift auf.
H3
Ergänzungen zum Schlussteil (Februar 1888), Standort: Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Kiel; StormNachlass
Von Storm als „Nachtrag“ bezeichnete Textergänzung von 4 Seiten auf einem linierten Doppelblatt (Format 13,8
: 22,4 cm) zum Schlussteil der Novelle, am 22. Februar 1888 an Elwin Paetel geschickt. Dieser hat mit roter Tinte
Anmerkungen für den Setzer hinzugefügt, die sich auf die Stellen (Zeiten und Zeilen) des ersten, später
veränderten Satzes für den Zeitschriftendruck beziehen (d1), an denen die Ergänzungen eingefügt werden
sollten.
Da Storm über keine Kopie der Reinschrift verfügte, hat er die Ergänzungen auf der Grundlage seines
Arbeitsmanuskripts vorgenommen. Von den insgesamt acht Änderungen betreffen 1-3 und 8 jeweils einen
Abschnitt, während sich 4-7 lediglich auf einzelne Sätze beziehen. Für die kürzeren Ergänzungen 4-7 lassen sich
keine Spuren im Arbeitsmanuskript erkennen.
H4
Ergänzung für die Buchausgabe (Anfang April 1888), Standort: Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Kiel;
Storm-Nachlass
Nachtrag für die Buchausgabe im Brief Storms an Ferdinand Tönnies vom 7.4.1888 (Storm-Nachlass, SHLB Kiel).
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Der Schimmelreiter
Beschreibung der Drucke
d1 Korrekturbogen des Schlussteils für den Erstdruck D1, Standort: Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Kiel;
Storm-Nachlass
Teile der Korrekturbogen des zweiten Teils der Novelle ohne die handschriftlichen Nachträge aus H3 mit
handschriftlichem Vermerk Storms „Früherer Druck und anderes Ende, als später festgestellt wurde“. Die 14
Seiten der bereits umgebrochenen Korrekturbogen (S. 65-78) weisen andere Seitennummern auf als der spätere
Zeitschriftendruck. Die Abzüge enthalten jeweils folgende Seiten; 65.57, 69-72, 73-76 und 77-78.
D1 Erstdruck in Deutsche Rundschau (April und Mai 1888), S. 1-34 und 161-203
D1a Wiederabdruck in Halbmonatshefte der Deutschen Rundschau, Jg. 1887/88, Bd. 3 (April/Mai/juni), S. 81-114,
161-180, 241-264
gleicher Satz wie D1
d2a Revisionsbogen für die erste Buchausgabe (D2), Standort: Stadtmuseum Heiligenhafen, jetzt Depositum im
Storm-Archiv Husum
Das Exemplar wurde nachträglich beschnitten (geringe Textverluste bei den handschriftlichen Korrekturen
Storms) und gebunden; vor die eigentlichen Korrekturbogen wurde das Titelblatt geklebt: „Der|
Schimmelreiter.| ——| Novelle| von| Theodor Storm.| | Berlin.| Verlag von Gebrüder Paetel.| 1888.|“ Es
folgen 14 Bogen, gesetzt in der Pierer’schen Hofbuchdruckerei Stephan Geibel in Altenburg; handschriftlich von
Storm korrigiert, ohne die Worterklärungen „Für binnenländische Leser“. Der später in der Buchausgabe auf
Seite V platzierte Schmutztitel „Der Schimmelreiter.| _____|“ wurde als letztes Blatt eingeklebt. Die Bogen
weisen Druckereistempel mit folgenden fortlaufenden Daten auf: Bogen 1 und 2: 12. April, Bogen 3 und 4: 13.
April, Bogen 5 und 6: 18. April, Bogen 7 und 8: 30. April, Bogen 9: 4. Mai, Bogen 10 und 11: 16. Mai, Bogen 13 und
14: 25. Mai 1888. Ein Briefmarken- und Stempelrest („Berlin“) auf Seite 96 belegt, dass die Bogen in mehreren
Sendungen an vom Verlag Paetel an Storm geschickt wurden. Den Erhalt der ersten 6 Druckbogen bestätigte
Storm in einem Brief an den Verlag Paetel vom 6. Mai 1888, die der Bogen 10 und 11 am 18. Mai.
d2b Fünf Revisionsbogen für die erste Buchausgabe (D2). Standort: Storm-Archiv, Husum; Nachlass Ernst Storm
Seiten 1-16 und 113-176 (Bogen 1, 8, 9, 10, 11) sowie mit den Worterklärungen „Für binnenländische Leser“ (2
Seiten) handschriftlich von Storm korrigiert und mit der Überschrift „Der Schimmelreiter 1886-1888.“ versehen.
Blattfolge der Bogen 1:
[I] Der| Schimmelreiter.| ——| Novelle| von| Theodor Storm.| | Berlin.| Verlag von Gebrüder Paetel.| 1888.|
[II] Alle Rechte, vornehmlich das der Uebersetzung in fremde Sprachen,| vorbehalten.|
[III] Meinem Sohn| Ernst Storm,| Rechtsanwalt und Notar| in Husum| zugeeignet.|
[IV]
[V] Der Schimmelreiter|
[VI]
[VII]
Die Bogen weisen die gleichen Stempelabdrucke wie das Exemplar d2a auf.
D2 Erste Buchausgabe
„Der Schimmelreiter. Novelle von Theodor Storm, Berlin: Paetel 1888“, mit der Widmung „Meinem Sohn Ernst
Storm, Rechtsanwalt und Notar in Husum, zugeeignet“ mit vorangestellten Worterklärungen „Für
binnenländische Leser“ und mit einer „Druckfehler-Berichtigung“ am Schluss; VIII und 223 Seiten.
D3 Sämtliche Schriften, Braunschweig: Westermann 1889, Bd. 19, S. 99-326 mit der Datierung "1888".
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Der Schimmelreiter
4. Quellen
Storms Quellen
Gespenstische Geschichten haben Storm schon sehr früh interessiert. In der Zeit, in der Storm Sagen aus
Schleswig-Holstein sammelte, stieß er auch auf eine Reihe von Gespenstergeschichten, die er zu einem
Manuskript zusammenstellte, das er unter dem Titel „Neues Gespensterbuch“ veröffentlichen wollte. Zu dieser
Veröffentlichung ist es allerdings nicht gekommen, aber das Manuskript hat sich in Privatbesitz erhalten und
wurde 1991 erstmals von Karl Ernst Laage herausgegeben. Eine Schimmelreiter-Sage allerdings finden wir
weder in den von Storm gesammelten Sagen, noch in seiner Manuskriptsammlung „Neues Gespensterbuch“. Das
erklärt sich leicht, denn am 13. Februar 1843 schrieb er an seinen Freund Theodor Mommsen: „Der
Schimmelreiter, so sehr er auch als Deichsage seinem ganzen Charakter nach hier her paßt, gehört leider nicht
unserm Vaterlande; auch habe ich das Wochenblatt, worin er abgedruckt war, noch nicht gefunden.“
In der Regionalliteratur Schleswig-Holsteins wird immer wieder auf eine Schimmelreitersage verwiesen, die ihre
Wurzeln in Nordfriesland haben soll. Sogar im „Schleswig-Holsteinischen Wörterbuch“, hg. von Otto Mensing
(Bd. 4, Neumünster 1933) kann man lesen: „In Eiderstedt geht die Sage von dem Deichgrafen, der bei hoher Flut
den Damm durchstechen ließ und sich mit seinem Schimmel in den Bruch stürzte, worauf das Wasser langsam
zurücktrat; man sieht ihn nachts auf seinem Pferde aus dem Bruch hervorstürzen.“ Kurz nach der Uraufführung
der ersten „Schimmelreiter“-Verfilmung im Januar 1934 schrieb der Heimatforscher Felix Schmeißer aus Husum:
"Seine eigentliche Heimat [...] hat er hier oben an der Nordseeküste, und zwar wie in Nord- so auch in
Eiderfriesland und jenseits der Eider auch noch im verwandten Dithmarschen. Denn in allen drei Landschaften
ist mir noch vor einigen Jahrzehnten die Sage vom gespenstischen, sich unheilverkündend in eine Wehle
stürzenden Schimmelreiter von alten Leuten erzählt worden."1 Neben dieser Behauptung Schmeißers belegt eine
zweite Äußerungen aus den späten zwanziger Jahren, daß den Zeitgenossen Storms die Erzählung als
ursprüngliche Nordfriesische Sage erschien, denn J. Jaspers übernahm sie 1929 in einem Artikel über
Sturmflutsagen. Eine Erzählung von einem gespenstischen Reiter findet man auch in der Sammlung "Friesische
Legenden von Texel bis Sylt", die 1928 von Hermann Lübbing herausgegeben wurde. Eine inhaltlich
übereinstimmende Sage teilt Rudolf Muus 1933 in seiner Sammlung "Nordfriesische Sagen" mit. Beide
Herausgeber haben eine Text nacherzählt, der erstmals 1890 von Heinrich Momsen aus Garding unter der
Überschrift "Der Schimmelreiter" herausgegeben worden war und der Anfang des 20. Jahrhunderts in eine
pädagogische Sammlung zur Heimatkunde der Halbinsel Eiderstedt gelangte. Die Schimmelreiter-Sage findet
sich auch in neuen Anthologien friesischer Sagen, die 1993 und 1994 auf den Markt kamen. 2
Viele Besucher Husums und des Kreises Nordfriesland wollen sehen, wo der Schimmelreiter entlangritt und
nacherleben, wo und wie Storms bekannteste Gestalt gewirkt hat. Von kaum einer anderen literarischen Figur
hat sich in den Köpfen der Leser ein so realistisches Bild eingeprägt wie das von Hauke Haien und von seinem
Kampf gegen die Gewalten der Sturmflut. Dazu haben auch die drei Filme beigetragen, die 1933, 1978 und 1984
nach der Novelle gedreht wurden und in denen eine eindrucksvolle Visualisierung der Novellenhandlung
vorgenommen wurde. Die Landschaft an der Küste Nordfrieslands ist für viele ohne den Deichbaumeister Hauke
Haien und ohne den Spuk des gespenstischen Reiters nicht mehr vorstellbar. Da liegt die Vermutung nahe, daß
Storm, als er mit den Vorarbeiten zum „Schimmelreiter“ begann, auf eine Sage zurückgriff, die in seiner
nordfriesischen Heimat mündlich tradiert worden war. Allerdings irren Felix Schmeißer und andere
Heimatforscher, denn die Existenz einer Schimmelreiter-Sage läßt sich vor dem Erscheinen von Storms
gleichnamiger Novelle (1888) weder in Nordfriesland noch in Dithmarschen belegen. Es gibt lediglich einen
Hinweis in der vonm Karl Müllenhoff herausgegebenen Sagensammlung, dass in Lauenburg an der Unterelbe
von einem Schimmelreiter erzählt wurde (s. unten).
1
Felix Schmeißer: Storms Schimmelreiter. Seine Vorgeschichte und sein Schauplatz. In: Husumer Nachrichten vom 17.1.1934.
Gerd Eversberg: Mündlichkeit/Schriftlichkeit/Drucktext. Literarische Produktion als Medienwechsel (am Beispiel von Sage und Spukgeschichte). In:
Gerd Eversberg u. Harro Segeberg (Hg): Theodor Storm und die Medien. Berlin 1999, S. 49-66. Vergl. auch die Studie von Reimer Kay Holander: Theodor
Storm. Der Schimmelreiter. Kommentar und Dokumente. Berlin 1976.
2
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Der Schimmelreiter
Storm konnte sich im Alter nicht mehr genau daran erinnern, wo er zum ersten Mal die Schimmelreiter-Sage
gelesen oder gehört hatte. Er glaubte zunächst, dass er sie durch Lena Wies, jene Husumer Bäckerstochter, die
ihn so nachhaltig als Knaben beeinflusst hat, gehört habe. Zumindest schreibt er in seinem Gedenkblatt „Lena
Wies“: „Und dann – ja, dann erzählte Lena Wies; [...] und mochte es nun die Sage von dem gespenstischen
Schimmelreiter sein, der bei Sturmfluten nachts auf den Deichen gesehen wird und, wenn ein Unglück
bevorsteht, mit seiner Mähre sich in den Bruch hinabstürzt, oder mochte es ein eignes Erlebnis oder eine aus
dem Wochenblatt oder sonst wie aufgelesene Geschichte sein.“ Storm glaubte noch im Jahre 1881, die
Schimmelreiter-Sage im „Husumer Wochenblatt“ gelesen zu haben. Aber das ist nicht richtig, denn in dieser
Zeitschrift ist eine solche Erzählung nicht zu finden. Der Dichter gibt uns in der Novelle selbst einen Hinweis auf
die Quelle, für das, was er zu erzählen beabsichtigt. Der anonyme Ich-Erzähler im Anfangs-Rahmen erzählt, er
habe vor „einem halben Jahrhundert“ im Hause seiner Urgroßmutter eine „in blaue Pappe“ eingebundene
Zeitschrift gelesen, er vermag sich aber nicht mehr zu erinnern, „ob von den »Leipziger« oder von »Pappes
Hamburger Lesefrüchten«.“ Nachforschung haben gezeigt (Karl Hoppe In: Westermanns Illustrirte Deutsche
Monatshefte 1949, Nr.5, S. 54-47), dass hier auch wirklich für Theodor Storm die Quelle für die SchimmelreiterSage liegt. 1838 erschien in Hamburg die „Lesefrüchte vom Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes“,
die von J. J. C. Pappe herausgegeben wurden. Der Band zwei enthält den Nachdruck einer Gespenstergeschichte
aus der Zeitschrift „Danziger Dampfboot“ Nr. 45 vom 14.4.1838. Die Sage hat ihren Ursprung an der Weichsel
und wurde 1838 erstmals mit der Überschrift „Der Deichgeschworene zu Güttland“ veröffentlicht.
Danziger Dampfboot vom 14.4.1838; hier wurde die Quelle für Storms Novelle
erstmals veröffentlicht.
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Der gespenstige Reiter. Ein Reiseabenteuer
Es war in den ersten Tagen des Monates April, im Jahre 1829 - so erzählte mir mein Freund - als Geschäfte von
Wichtigkeit mein persönliches Erscheinen in Marienburg erforderlich machten; ich mußte mich also zu einer
Reise dahin entschließen, so gern ich sie auch bis zur schönern Jahreszeit aufgeschoben hätte, denn wer selten
reiset, macht so eine Partie lieber bei schönem Wetter; allein die Nothwendigkeit der Sache machte, daß ich
meine Reise beschleunigen mußte.
Ein gemiethetes Reitpferd stand um vier Uhr Nachmittags vor meiner Thüre; ich ließ den Braunen nicht lange
warten, schwang mich hinauf, und nach wenigen Minuten hatte ich Danzig im Rücken.
Mein Weg längs der Chaussee ging gut, und das einzige Hinderniß, welches ich zu bekämpfen hatte, war das
kalte, unangenehme, regnigte Wetter.
Durchfroren und durchnäßt kam ich bei ziemlicher Dunkelheit in Dirschau an; stieg im erstgelegenen Gasthof
ab, um ein wenig zu ruhen, meinem sich einfindenden Appetit durch einen lmbiß zu begegnen, und durch einen
erwärmenden Trunk meine Glieder zu erfrischen; fragte unter Anderm den Wirth, wie es mit der Weichsel
stände, und bekam zur Antwort: „Schlecht; Ihr Hinüberkommen wird nicht allein beschwerlich, sondern auch
gefährlich seyn;“ doch ich durfte mich nicht abschrecken lassen, weil ich nach meinem Bestimmungsorte
mußte, und wo möglich wollte ich dort noch an demselben Abend eintreffen; ich bezahlte dem Wirthe meine
Rechnung und eilte weiter; aber angekommen an der Weichsel, wurde ich von den Fährknechten zu meinem
Schrecken unterrichtet, daß das heutige Hinüberkommen für keinen Preis ausführbar sey, wenn ich nicht mit
Gewalt in die Arme des Todes eilen wolle; auch sahe ich zum Theil die Unmöglichkeit der Sache wohl selber ein;
doch wurde mir der Vorschlag gemacht, daß ich bis zur Güttländer Fähre reiten solle, weil dort das
Hinüberschaffen vielleicht noch zu bewerkstelligen seyn würde. Ich ließ mir dieses nicht zwei Mal sagen, griff in
die Zügel, lenkte um, und fort ging's zur Güttlander Fähre. Dunkler und dunkler wurde es rings um mich, nur hin und wieder drang das Leuchten eines Sternes durch die
Nebelwolken, fremd war mir die in schwarze Schatten gehüllte Gegend, kein menschliches Wesen erblickte ich,
und nur das Brausen des Sturmes und das Geprassel des, durch das Wasser immer höher gehobenen und
geborstenen Eises waren meine schaurigen Begleiter. - Da plötzlich höre ich dicht hinter mir das rasche
Trappeln eines Pferdes, und freudig, in dem Wahne, einen Gesellschafter nahe zu haben, blicke ich mich
erwartungsvoll um und sehe - Nichts - wohl aber trabt es immer schärfer und näher, mein Brauner schnaubt
und stampft, kaum vermochte mein spitziger Sporn, ihn vorwärts zu treiben, und ein kalter Schauer überlief
meinen ganzen Körper; doch beruhigte ich mich, da mein sonderbarer Begleiter verschwunden zu seyn schien;
als ich ihn aber plötzlich wieder, ohne ihn zu sehen, vor mir hersprengen hörte, war es, als wollten mir meine
Glieder die Dienste versagen, ein Fieberfrost durchrieselte mich, und mein Pferd wurde höchst unruhig; was
aber die Unheimlichkeit noch mehr vermehrte, war: daß dieses unbegreifliche Wesen mir plötzlich und
pfeilschnell vorüber zu sausen schien, so hörte sich das ungewöhnliche Geräusch wenigstens an, welches sich
wieder allmählig verlor, um aber, wie es schien, mit erneuter Schnelligkeit zurückzukehren; es wieder hören,
dicht hinter mir haben, die anscheinende Gestalt eines weißen Pferdes, mit einem schwarzen,
menschenähnlichen Gebilde darauf sitzend, mir im fliegenden Galopp vorbeireiten zu sehen, war Eins; mein
Brauner machte einen Seitensprung, und es fehlte nicht viel, so wären wir Beide den Damm, ohne es zu wollen,
hinabgestürzt.
Ich habe die letzten Feldzüge mitgemacht, feindliche Kugeln tödteten neben mir meine besten Kameraden, vom
Kanonendonner bebte die Erde, doch mich machte nichts erbeben; aber hier auf dem Weichseldamme, ich
gestehe es zu meiner Schande, zitterte ich an allen Gliedern. Da hörte ich in der Ferne das Bellen eines Hundes, und wurde das Blinken eines Lichtes gewahr. Ha! dachte ich,
da werden sich auch Menschen befinden, wie du einer bist; schnell ritt ich dem Lichtscheine entgegen, und kam
an eine sogenannte Wachtbude; ich stieg ab, und fragte die darin versammelte Menge, ob ich bei ihnen die
Nacht über verweilen könnte - denn für heute war ich des Reisens satt- und meine Frage wurde mit „Ja“
beantwortet.
Froh, ein schützendes Obdach gefunden zu haben, brachte ich zuerst mein Pferd in Sicherheit, setzte mich dann
ruhig in eine Ecke, pflegte mich, so gut es sich thun ließ, und hörte die Gespräche der Landleute, die hier auf
Eiswache waren, mit an; ließ aber wohlbedächtig, um mich nicht Neckereien Preis zu geben, nichts von meinem
überstandenen Abenteuer merken.
Da war's, als rauschte irgend etwas dem Fenster vorbei. Mit einem Schreckensausruf sprangen mehre Männer
auf, und Einer von ihnen sagte: „Es muß irgendwo große Gefahr seyn, denn der Reiter auf dem Schimmel läßt
sich sehen;<„> und der größte Theil eilte hinaus.
Der Reiter nun befremdete mich nicht, wohl aber die gemachte Bemerkung, weshalb ich den neben mir
sitzenden alten Mann ersuchte mir hierüber eine genügende Erklärung zu geben, worauf ich folgende Auskunft
erhielt:
„Vor vielen Jahren, da sich auch unsere Vorfahren hier einst versammelt hatten, um auf den Gefahr drohenden
Eisgang genau Acht zu haben, bekleidete ein entschlossener, einsichtsvoller und allgemein beliebter Mann aus
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Der Schimmelreiter
ihrer Mitte das Amt eines Deichgeschworenen. An einem jener verhängnißvollen Tage entstand eine Stopfung
des Eises, mit jeder Minute stieg das Wasser und die Gefahr; der erwähnte Deichgeschworene, der einen
prächtigen Schimmel ritt, sprengte auf und nieder, überzeugte sich überall selbst von der Gefahr und gab zu
deren Abwehr die richtigsten und angemessensten Befehle; dennoch unterlagen die Kräfte der schwachen
Menschen der schrecklichen Gewalt der Natur, das Wasser fand durch den Damm einen Durchweg, und
schrecklich war die Verheerung, die es anrichtete. Mit niedergeschlagenem Muthe kam der Deichgeschworene
in gestrecktem Gallopp beim Deichbruche an, durch den sich das Wasser mit furchtbarer Gewalt und
brausendem Getöse auf die so ergiebigen Fluren ergoß; laut klagte er sich an, auf diese Seite nicht genug Acht
gegeben zu haben, sah darauf still und unbewegt dieses Schrecken der Natur einige Augenblicke an; dann schien
ihn die Verzweiflung in vollem Maaße zu ergreifen, er drückt seinem Schimmel die Sporen in die Seiten, ein
Sprung - und Roß und Reiter verschwinden in den Abgrund. - Noch scheinen Beide nicht Ruhe gefunden zu
haben, denn sobald Gefahr vorhanden ist, lassen sie sich noch immer sehen.“ Ich setzte am (andern) Morgen meine Reise weiter fort, sah den Reiter nicht wieder, wohl aber die schreckliche
Verheerung, die das Wasser im obengenannten Jahre angerichtet hatte.
Hiemit schloß mein Freund, betheuerte die Wahrheit der Sache, und schien durch mein Kopfschütteln
verdrießlich werden zu wollen.
(Das Danziger Dampfboot.)
Lesefrüchten vom Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes. (Ernsten und fröhlichen Inhalts.) Gesammelt von
J.J.C. Pappe, Jahrgang 1838, Zweiter Band. Hamburg, 1838, S. 125-128.
Titelblatt der „Lesefrüchte”; in dieser Zeitschrift wurde auf den Seiten 125-128 die
Weichselsage vom „Gespenstigen Reiter” wieder abgedruckt, und in dieser Zeitschrift
las der 20jährige Storm erstmals vom „Schimmelreiter”.
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Der Schimmelreiter
Historische Persönlichkeiten
Storm hatte, als er sich mit der Niederschrift und Konzeption seiner „Schimmelreiter“-Novelle beschäftigte,
diesen Text nicht mehr vorliegen, er konnte Motive aus dieser Erzählung also nur aus der Erinnerung in seine
Novelle übernehmen. Über diese Quelle hinaus verwendete er allerdings auch eine Reihe anderer schriftlicher
Quellen. Zunächst sind einige historische Gestalten, die für den Deichbau und für die Küstenschutzmaßnahmen
in Nordfriesland eine bedeutende Rolle gespielt haben, von Storm für die Gestaltung seiner Personen verwendet
worden. Da ist Johann Claussen Rollwagen (1563-1623), der in Tönning saß und sich um das Deichwesen in
Eiderstedt, auf Nordstrand und nördlich von Niebüll verdient gemacht hat. Weiter hat er die Gestalt des Hans
Momsen aus Fahretoft (1735-1811) als Vorbild für seinen Hauke Haien genommen. Dieser Hans Momsen war
besonders als Mathematiker, Astronom und Navigationslehrer bekannt. Darüber hinaus spielen historische
Gestalten von Deichmeistern aus der näheren Umgebung für Storms Vorstellung von seiner Novellenwelt eine
bedeutende Rolle, unter ihnen Hans Iwert Schmidt (1774-1824) und sein Sohn Johann Iwersen Schmidt (17981875), die Deichgrafen in der Hattstedter Marsch waren, an deren Außendeich Storm seine Erzählung
angesiedelt hat.
Lundenberg, Hof des Deichgrafen Johann Iwersen Schmidt (1798-1875) in der
Hattstedter Marsch. Aquarell von Julius Grelsdorff (1779). Vorbild für den
„Deichgrafenhof“ in der Novelle
Zu diesen Personen studierte Storm Quellenmaterial und prägte sich die Wirkungsstätten aus eigenem
Augenschein genau ein. So konnte er in seiner Novelle die erfundenen Örtlichkeiten um das Dorf, in dem Hauke
Haien groß wird und schließlich lebt und wirkt, die Örtlichkeiten draußen an der Nordsee am alten Deich und
den späteren neu eingedeichten Koog „Hauke Haien-Koog“, mit den vorher von ihm selbst erlebten und
erfahrenen Bildern der Marsch und der Deichlandschaft zu einem neuen Handlungsraum verknüpfen, in dem er
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Der Schimmelreiter
die dramatischen Ereignisse um Hauke Haien ansiedelte. Über die großen Sturmfluten, die die Küstenlinie vor
Nordfriesland im 17. Jahrhundert gravierend verändert haben, informierte sich Storm in der einschlägigen
Chronikliteratur. Seine umfangreiche Bibliothek enthielt eine Reihe von Werken, die die Ereignisse dieser Zeit
anschaulich beschrieben. So konnte er zunächst auf „Anton Heimreichs Nordfriesische Chronik“ vom Jahre 1668
zurückgreifen, in der die nordfriesischen Harden (Verwaltungsbezirke) mit den bestehenden Bedeichungen und
den Schäden durch die Wasserfluten detailliert beschrieben werden. Man findet in Storms Novelle teilweise
wörtliche Übernahmen, in dem Teil, in dem die große Sturmflut beschrieben wird. Auch der „Sammlung einiger
Husumischer Nachrichten“ von J. Laß, die in Flensburg 1750 ff. erschien, entnahm Storm eine Reihe von
Informationen für seine Novellenhandlung. Schließlich verwendete er ein Buch von Johann Nicolai Tetens
„Reisen in die Marschländer an der Nordsee zur Beobachtung des Deichbaus“ (1788). In diesem Buch wird
beschrieben, wie ungeeignet die alten friesischen Deiche sind, um großen Sturmfluten zu trotzen. Und es
werden neue Deichprofile vorgestellt, die eine lange, flache Seite zum Meer aufweisen, an denen sich die Energie
der Welle verzehren kann. Genauso plante Hauke Haien seine Deichprofile, und diese wurden seit dem 18.
Jahrhundert vor der nordfriesischen Küste auch erfolgreich gebaut. Storm übertrug die von Tetens beschriebene
historische Entwicklung aus dem 18. in das 19. Jahrhundert, denn Hauke Haien und sein soziales Umfeld
entspricht dem Leben in Nordfriesland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Genau wie die Räume, die
Storm für seine Novelle in der Fantasie konzipierte, die wirkliche Geografie an der Küste Nordfrieslands nur wie
einen Steinbruch nutzte, um die einzelnen Örtlichkeiten so neu zusammenzusetzen, wie der Dichter sie in seiner
Novelle gestalten wollte. So verwendete er auch historische Erfahrungen in seiner Heimat seit dem 17.
Jahrhundert als Versatzstücke und kombinierte sie zu einem neuen Ganzen. Hauke Haiens energisches Wirken
und sein schließliches Scheitern, das ist keine wirklichkeitsgetreue Abbildung historischer Ereignisse an der
Nordseeküste. Storm will vielmehr mit seiner Novelle einen Menschen im Kampf gegen die Naturgewalten, aber
auch gegen die Dummheit und Ignoranz seiner Mitmenschen zeigen, der den Fortschritt vertritt und dadurch
erfolgreich für das Wohl der anderen wirken kann. Zugleich ist Hauke Haien aber unfähig, sich auf die anderen,
weniger Einsichtigen einzulassen. Er isoliert sich mehr und mehr und muss schließlich erkennen, dass er von
den Leuten gefürchtet wird. Er scheitert auch an der Hybris, weil er glaubt, alle Probleme technisch lösen zu
können, und Storm kritisiert in dieser Gestalt den ungebrochenen Fortschrittsglauben seiner Zeit.
Es folgen einige Auszüge aus Chroniken und Sagensammlungen, die von Storm bei seinen Recherchen benutzt
wurden:
4.1 Hans Momsen aus Fahretoft
Hans Momsen. Ein Zahl-, ein Maß- und auch ein Kraftmann. Ein Friese.
(Die Friesen rechnen gut.) (Nach Paulsen und Sörensen in den Prov. Berichten 1813 und 14.)
Hans Momsen, geboren 1735 in Fahretoft und gestorben in Fahretoft 1811, gehört zu den merkwürdigsten
Männern, die unser Vaterland aufzuweisen gehabt und nach ihrem Tode den Nachkommen darzustellen
hat; während sie leben thun sie es selber.
Was ist er gewesen? Ein Landmann und eines Landmannes Sohn, der als ein solcher sich zu einem
Mathematiker und zu einem Künstler gemacht hat. Er hat sich dazu gemacht, das ist in einem so genauen
Wortsinn zu nehmen, wie bei nicht Vielen, die auch etwas aus sich oder sich zu etwas gemacht haben. Die
Schule des Orts kann sich Momsens als ihres Zöglings nicht rühmen, im Gegentheil, sein Schullehrer hatte
gar kein Wohlgefallen daran, daß der Schüler schön ritzen und pricken konnte, wie seine Risse und Figuren
genannt wurden. Das Haus hob ihn auch so wenig, daß der Vater vielmehr höchst unzufrieden damit war,
wenn der Sohn zeichnete, goß, löthete, drechselte. Und Privatstunden hat Momsen nicht eine einzige
gehabt; wer sollte sie ihm geben in Fahretoft? Doch der Schmid daselbst war sein Freund.
Wie meistens die ersten Anreize, die dem Geist eine Richtung geben, im Verborgenen gelegen sind, also bei
Momsen auch, indessen, was ihn insonderheit für die Mathematik ein- und hingenommen hat, darüber
findet sich eine Nachricht. Sein Vater, der etwas vom Landmessen verstand, zeichnete einmal die Figur
eines gemessenen Stück Landes. Der Sohn sah zu und fragte den zeichnenden und berechnenden Vater
einmal, warum dieß eben so und nicht anders wäre. Die Frage schien dem Vater nicht übel, er konnte sie
aber nicht beantworten, die Theorie ging ihm ab, und sagte: Suche auf dem Boden unter meinen Büchern da
eins heraus, das Euklid betitelt ist, das wird dir sagen, was du verlangst. Er fand den Euklid, aber der war in
einer Sprache geschrieben, die er nicht verstand, in holländischer. Mit Hülfe einer holländischen Fibel und
einer holländischen Bibel ward er aber bald der Sprache mächtig, dagegen die Figuren machten ihm
ziemlich lange zu schaffen. Wo er ging und stand, trug er seinen Euklid bei sich, und studirte ihn so fleißig,
daß er in seinem vierzehnten Jahr ihn doch völlig inne hatte. Daneben trieb er viele andre Dinge, bauete
kleine Mühlen, Schiffe, arbeitete in Stahl, Messing, Kupfer und Blei. Dem Vater gefiel das wenig und um die
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Der Schimmelreiter
Grillen, wie ers nannte, dem Sohn recht gründlich auszutreiben, schickte er ihn nach der Confirmation, im
Sommer 1752, an den Deich, wo er von Ostern bis Martini den ganzen Tag Erde schieben mußte. Allein hier
auch setzte er seine Studien fort in den Zwischenstunden, und eine Nacht um die andere wandte er für
seine wissenschaftlichen und mechanischen Arbeiten an. Im Winter darauf war er fleißig besonders in
Verfertigung verschiedener Instrumente, Meßketten, Boussolen, Bestecke u. a. m., die alle sich durch
Genauigkeit und Schönheit auszeichneten.
Neue Schleswig-Holsteinische Provinzialberichte. In: Schleswig-Holsteinscher Gnomon. Lesebuch in Sonderheit für
die Schuljugend. Kiel 1843, S.43f.
4.2 Aus alten Chroniken
Wie auch An. 1636 am tage Petri Stuelf. Zu Londen in des landschreibers behäusung ein sonderbahres
blutzeichen ist geschehen, massen da er sich waschen wollen, er nicht allein zu unterschiedenen mahlen
blut gefunden, sondern auch im handbecken 5. todtenköpffe gesehen, die theils wie ein erbs, theils etwas
grösser gewesen, und ist die materia derselben so hart gewesen, daß da andere leute dazu gefodert
worden, etwas davon sey abgefallen.
(S. 322.)
Also ist auch An. 1648. Den 12. Jun. Und An. 1653. den 1. Maij ein starcker hagel gefallen, so beyde grosse
steine und schlossen herunter geworffen, und ist für dem letzten ein groß geschmeiß einer sonderlichen art
von fliegen fast wie ein schnee herunter gefallen, daß man nerlich die augen dafür hat können auffthun,
wie denn auch A. 1663. ein starcker hagel neben einem grossen wirbelwind den 28. Jun. In Pilworm
entstanden, so ein haus an der newen kirchen halb herunter geworffen, und die fenster hin und wieder
eingeschlagen.
(S.325)
Wie denn auch An. 1655. den 4. Aug. ein schrecklicher Südweststurm entstanden dadurch der teich von
Bretstede nacher Husum überall eingebrochen, auch zu S. Annen in Dithmarschen ein einbruch ist
geschehen, und in dem im vorigen jahre new beteichtem Friedrichskoge bey 150. Ruthen teiches fast gantz
sein weggeschlagen. (S. 408)
M. Antoni Heimreichs Ernewrete NordFresische Chronick. Außgegeben Anno 1668.
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Der Schimmelreiter
Titelblatt von Heimreichs Nordfriesischer Chronik; Exemplar aus Storms Bibliothek
Der 11te Sept. des 1751sten Jahrs ist annoch unvergessen, jedoch bleibt der 7 Octobr. dieses Jaars in mehrerem
ja fürchterlicherm Andenken, zumahl da bekannt, daß die Gefahr, so dieser Tag theils durch einen abscheulichen
Sturm-Wind, theils durch die ausserordentliche wütende Wellen des schäumenden und hoch auflauffenden
Wassers, so wohl Jungen als Alten angedrohet hat, bis auf die späteste Zeiten Spuren nachlassen werde. Ich
beziehe mich überhaupt in Hinsicht anderer Oerter auf die politische Zeitungen vom Octobr. Monaht h. a.
<huius anni>. In Hinsicht der Stadt Husum, und derer auf der Nähe derselben belegenen Orter, und Halligen
aber bemerke folgende erschreckende Umstände.
Der Wind wehete an demselben Tag erstlich aus dem Westen, nachhero drehete selbiger sich nach NordWesten, und fing an dergestalt heftig zu werden, daß auch die aller älteste Leute dergleichen Sturm-Wind
gehöret zu haben, sich nicht entsinnen können. [...]
So heftig dieser Sturm war, so heftig fing das Wasser an zu steigen. Die Wuht desselben war unbeschreiblich. Es
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Der Schimmelreiter
schiene als wann die gethürmte Wellen des mit aller Macht brausenden Wassers auf einmahl Häuser und Keller
umstürzen und anfüllen wollten. Des Nachmittags zwischen 1 und 2 Uhr waren die Wasser-Reihe, die Krämer
Strasse und die Gasse bey der Brücken völlig unter Wasser gesetzet. [...] die wütende Wellen rauschten mit der
grössesten Wuht und unerhörter Geschwindigkeit über die höchste Teiche und Dämme weg, gleichdann diese
an unterschiedenen Oertern solcher Wuht nicht widerstehen konnten; der Porrenkoog, so an der Wester-Seite
der Stadt Husum liegt, bekam dahero unterschiedene Kamm Stürzungen. Es ward selbiger zwischen 5 und 6 Uhr
Abends mit salzem Wasser angefüllet, und kaum hatte man Zeit die Milch-Kühe aus selbigem zu retten.
Die Hattstetter-Marsch brach durch und bekam eine Wehle von 7 Ruhten und 16 Ruhten tief, welche jedoch
nach Ablauf einiger Wochen GOtt Lob! wieder zugeschlagen wurde.
J. Laß: Sammlung Husumscher Nachrichten, Zweyter Fortsetzung, 8 Stücke, nebst Register. Flensburg 1756, S. 309f.
4.3 Sagen aus Schleswig-Holstein
In Lauenburg: Ein Deichgraf reitet den Deich an der Elbe entlang um nachzusehen. Man zwingt ihn in die
Fluthen hinein zu reiten. Seitdem sieht man ihn allnächtlich auf seinem weißen Pferde.
(Anmerkung zu Nr. 243)
Das vergrabene Kind
Bei H e i l i g e n s t e d e n war am Stördeich ein großes Loch, das man auf keine Weise ausfüllen konnte, soviel
Erde und Steine man auch hineinwarf. Weil aber der ganze Deich sonst weggerissen und viel Land
überschwemmt wäre, muste das Loch doch auf jeden Fall ausgefüllt werden. Da fragte man in der Noth eine alte
kluge Frau: die sagte, es gäbe keinen andern Rath als ein lebendiges Kind da zu vergraben, es müste aber
freiwillig hinein gehn. Da war da nun eine Zigeunermutter, der man tausend Thaler für ihr Kind bot und die es
dafür austhat. Nun legte man ein Weißbrot auf das eine Ende eines Brettes und schob dieses so über das Loch,
daß es bis in die Mitte reichte. Da nun das Kind hungrig darauf entlang lief und nach dem Brote griff, schlug das
Brett über und das Kind sank unter. Doch tauchte es noch ein paar Mal wieder auf und rief beim ersten Mal: „Ist
nichts so weich als Mutters Schooß?“ und beim zweiten Male: „Ist nichts so süß als Mutters Lieb?“ und zuletzt:
„Ist nichts so fest als Mutters Treu?“ Da aber waren die Leute herbeigeeilt und schütteten viel Erde auf, daß das
Loch bald voll ward und die Gefahr für immer abgewandt ist. Doch sieht man bis auf den heutigen Tag noch
eine Vertiefung, die immer mit Seegras bewachsen ist.
(Nr. 331)
Die Meerweiber
Bei W e n n i n g s t e d e, am Fuße des rothen Kliffs, dem hohen westlichen Ufer Silts, trieb einst eine Meerfrau
auf den Strand. Zwei Silterinnen, die eben zur Stelle waren, ergriffen sie, trugen sie nach Hause und setzten sie
in einen Kübel, der zur Hälfte voll Wasser war; allein das Meerweibchen schrie und weinte jämmerlich, und
wollte sich nicht zufrieden geben. Da befahl der mitleidige Bauervogt des Orts den Frauen, das arme Wesen
wieder ins Wasser zu tragen; es wäre sonst auch halb umgekommen. ...]
(Nr. 453)
Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg, Kiel 1845.
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Der Schimmelreiter
5. Handlungsräume
Wenn man heute an der nordfriesischen Küste versucht, die Schauplätze zu erwandern, die Storm im 19.
Jahrhundert als Vorbild, für die in der Novelle geschilderten Ereignisse dienten, so wird ganz deutlich, wie der
Dichter die vorhandene geografische Wirklichkeit zu einer neuen, fiktiven Erzählwelt komponierte und
umformte.
Der „Nie koog” vor der Hattstedter Marsch auf einer Karte des Husumer Kartographen
J. Mejer aus Danckwerths „Landbeschreibung“ von 1652 (Vor der Sturmflut von 1634)
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Der Schimmelreiter
Der Schauplatz der „Schimmelreiter“-Novelle; Zeichnung nach der Erzählung
(Entwurf: Dr. K.E. Laage)
Das Dorf Hauke Haiens siedelte der Dichter am südlichen Ende der Hattstedter Marsch an, und er stellte sich
vor, dass die alte Deichlinie dort läge, wo wir heute den alten Außendeich vor der Hattstedter Marsch noch
vorfinden.
Unter den Entwurfspapieren Stroms (vergl. das "Concept") haben sich mehrere Skizzen erhalten, die zeigen, wie
sorgfältig der Autor das geographische Umfeld seiner Novellenhandlung geplant hat. In der folgenden
Zeichnung sind die wichtigsten räumlichen Verhältnisse des geplanten Kooges eingezeichnet. Entscheidend war
für Storm, die Himmelsrichtungen genau festzulegen, damit er die Ereignisse bei der verheerenden Sturmflut so
schildern konnte, dass die erfundene Welt der Novelle mit der Wirklichkeit vor der Hattstedter Marsch so weit
wie möglich übereinstimmt. Damit erfüllte Storm eine Forderung, die zu seiner Zeit an die realistische Literatur
gestellt wurde. Man beachte, dass die Wehle, die er über der Nordost-Ecke andeutet, mit den wirklichen
Verhältnissen an der Küste vor Hattstedt nur dann übereinstimmt, wenn man das erfundene Bild an einer WestOst-Linie durch den Koog spiegelt. Dann deckt sich diese Landmarke nämlich mit der in Wirklichkeit an der
Südost-Ecke des "Neuen Koogs" liegende Wehle.
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Der Schimmelreiter
Skizze des "Hauke Haien-Kooges" in Storms "Concept"
Mittlerweile ist an dieser Stelle ein neuer Koog entstanden, ein großer Außendeich verbindet das Festland mit
der alten Insel Nordstrand. Storms Vision von Hauke Haiens neuem Koog ist Wirklichkeit geworden; allerdings
in einer viel größeren Wasserbaumaßnahme, die heute als „Beltringharder Koog“ vor Hattstedt die Nordsee
abschirmt.
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Der Schimmelreiter
Karte des Küstenverlaufs (Landesvermessungsamt Schleswig-Holstein, 1962)
Eingezeichnet ist der alte Küstenverlauf und die große Wehle (W). Heute liegt der
„Hattstetter Neue Koog“ durch die Vordeichung („Beltringharder Koog“) nicht mehr
direkt an der Nordsee
Wenn man mit dem Novellentext in der Hand an dieser Stelle den Deich betritt, dann kann man genau
lokalisieren, an welcher Stelle der „Schimmelreiter“ über den alten Deich hinwegjagt und wo die Arbeiter unter
Hauke Haiens Anleitung den neuen Deich bauen mussten. Aber Storm hat in der Fantasie manches verschoben
und gespiegelt, so dass seine neue erzählte Wirklichkeit in sich auch stimmig ist. Das ist die künstlerische
Freiheit, die erforderlich ist, um eine überzeugende Welt in der Dichtung zu konstruieren, die mit der
Wirklichkeit manches gemeinsam hat, die aber kein Abbild dieser Wirklichkeit sein will.
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Der Schimmelreiter
Der „Schimmelreiterkrug” bei Sterdebüll im „Hattstetter Neuen Koog“ mit dem Akt, der
vom Deich zum Wirtshaus hinabführt. Vorbild für das „Wirtshaus“ in der Novelle
Die Stadt in der Nähe des Dorfes zeigt Züge von Storms Heimatstadt Husum; dort lässt sich auch das Haus der
Urgroßmutter Feddersen identifizieren, das in der Rahmenerzählung eine Rolle spielt. Es handelt sich um das
alte Bürgerhaus an der Schiffbrücke, Ecke Twiete, das allerdings vor Jahrzehnten bereits durch einen Neubau
ersetzt wurde
Das Haus der Urgroßmutter Feddersen in Husum, Schiffbrücke/Ecke Twiete
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Der Schimmelreiter
6. Sachliche und sprachliche Erläuterungen
Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Textausgabe der Novelle Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Hg. von
Gerd Eversberg. Hollfeld 1996. (Königs Lektüren Bd. 3005).
Für die sachlichen und sprachlichen Erläuterungen wurden neben den Kommentaren zu den im
Literaturverzeichnis aufgeführten Werkausgaben Storms der im Reclam-Verlag erschienene und von Hans
Wegener verfasste Kommentar zu Storms „Schimmelreiter“ (Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 1976)
sowie die im Literaturverzeichnis aufgeführten Veröffentlichungen von Karl Ernst Laage zu Rate gezogen.
Storm fügte der im Jahre 1888 erschienenen Buchausgabe auf Anraten von Erich Schmidt und Jacob
Baechtold folgende Worterklärungen bei:
Für binnenländische Leser:
Schlick
Marsch
Geest
Haf
Fenne
Springfluten
Werfte
Hallig
Profil
Dossierung (oder
Böschung)
Interessenten
Bestickung
Vorland
Koog
Priel
Watten
Demath
Pesel
Lahnungen
der graue Ton des Meeresbodens, der bei der Ebbe
bloßgelegt wird.
dem Meere abgewonnenes Land, dessen Boden der
festgewordene Schlick, der Klei, bildet.
das höhere Land im Gegensatz zur Marsch.
das Meer.
ein durch Gräben eingehegtes Stück Marschland.
die ersten nach Voll- und Neumond eintretenden Fluten.
zum Schutze gegen Wassergefahr aufgeworfener Erdhügel
in der Marsch, worauf die Gebäude, auch wohl Dörfer liegen.
kleine unbedeichte Insel.
das Bild des Deiches bei einem Quer- oder Längenschnitt.
die Abfall-Linie des Deiches.
die wegen Landbesitz bei den Deichen interessiert sind.
Belegung und Besteckung mit Stroh bei frischen
Deichstrecken.
der Teil des Festlandes vor den Deichen.
ein durch Eindeichung dem Meere abgewonnener
Landbezirk.
Wasserlauf in den Watten und Außendeichen.
von der Flut bespülte Schlick- und Sandstrecken an der
Nordsee.
ein Landmaß in der Marsch.
ein für außerordentliche Gelegenheiten bestimmtes Gemach,
in den Marschen gewöhnlich neben der Wohnstube.
Zäune von Buschwerk, die zur besseren Anschlickung vom
Strande in die Watten hinausgesteckt werden.
Verzeichnis der Abkürzungen:
ahd.
dän.
franz.
althochdeutsch
dänisch
französisch
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Der Schimmelreiter
fries.
mhd.
mnd.
ndd.
lat.
S. 3
S.4
S. 5
friesische
mittelhochdeutsch
mittelniederdeutsch
niederdeutsch
lateinisch
Was ich zu berichten beabsichtige: Die Novelle weist einen zweifachen Rahmen auf; Storm
als Autor berichtet im ersten Abschnitt von einer früher gelesenen Geschichte (es handelt
sich um die unter den Quellen abgedruckte Erzählung „Ein Reiseabenteuer“), der Erzähler
berichtet dann von der Begegnung mit dem einsamen Reiter, seinem Ritt und der Einkehr
ins Gasthaus. Die eigentliche Novelle von Hauke Haien ist wiederum eingebettet in die
Erlebnisse mit den Männern dort, erzählt vom Schulmeister. Dieser kommentiert die
Erzählung zusätzlich bei den Unterbrechungen. Der erste Rahmen wird zum Schluss nicht
wieder aufgegriffen.
Frau Senator Feddersen: Senator ist die Bezeichnung für den damaligen Stadtrat von
Handels- und Küstenstädten, wie Husum; man nannte die Frauen nach dem Titel ihrer
Gatten. Elsabe Feddersen (1741 bis 1829) war die Großmutter Storms mütterlicherseits.
„Leipziger“ oder von „Pappes Hamburger Lesefrüchten“: Zwei Zeitschriften des 19.
Jahrhunderts. Die erste erschien unter dem Titel „Leipziger Lesefrüchte, gesammelt in den
besten literarischen Fruchtgärten des In- und Auslandes“ in den Jahren 1832 bis 1846; die
zweite bestand von 1811 bis 1842 und wurde in Hamburg von Johann Joseph Christian
Pappe (1768 bis 1856) unter dem Titel „Lesefrüchte vom Felde der neuesten Literatur des Inund Auslandes“ herausgegeben. Hier wurde die Erzählung „Der gespenstige Reiter“ nach
dem Erstdruck im „Danziger Dampfboot“ (vergl. unter Quellen!) 1838 im 2. Band
abgedruckt und von Storm gelesen.
linde: mdh: linde, nhd. lind: geschmeidig.
jene Zeit: die Jugendzeit Storms in Husum; vergl. die Skizze zu seiner Biografie. Die Sage
vom Schimmelreiter spielt in der Mitte des 18. Jahrhunderts; Storm siedelt die
Rahmenhandlung in die 30er Jahre des 19. Jahrhunderts an.
unseres Jahrhunderts: das 19. Jahrhundert.
Deich: hohe, künstlich aufgeschüttete Erdwälle an der schleswig-holsteinischen
Nordseeküste, nach den Vorbildern der Holländer als Schutz vor den Sturmfluten
geschaffen. Die Deiche wurden von Deichverbänden unterhalten, an denen die Landbesitzer
beteiligt waren. Die Verfassung der Deichverbände ist aus dem nordfriesischen Recht
entstanden; das Amt des Deichgrafen wurde jedoch Anfang des 17. Jahrhunderts aus den
Niederlanden importiert. Auch das neue, nach der Seeseite flach auslaufende Deichprofil
geht auf niederländische Entwicklung zurück.
Marsch: von fries. marste, engl. marsh; Sumpf; fruchtbares, tief liegendes Land, „dem Meer
abgewonnenes Land, dessen Boden der festgewordene Schlick, der Klei, bildet“ (Storm).
Wattenmeer: von niederl. Wadden, wo man waten kann, „von der Flut bespülte Schlickund Sandstrecken an der Nordsee“ (Storm); nur durch kleine Fahrzeuge mit geringem
Tiefgang befahrbar.
Halligen: „kleine unbedeichte Insel“ (Storm); ein erhöhtes Stück Land, das bei Flut
überschwemmt werden kann, auf dem aber auf Hügeln (Werften) Gehöfte liegen, die vom
Hochwasser nicht erreicht werden.
die Hufen: Plural des bis ins 19. Jh. gebräuchlichen fem. die Hufe neben der mask. Form der
Huf.
Quartier: lat.-franz.; Unterkunft.
Harden: nach dem dän. herred, Bezirk; im Herzogtum Schleswig bezeichnete die Harde eine
Verwaltungseinheit, die mehrere Kirchspiele umfasste.
Perinette- und Grand-Richard-Äpfel: früher angebaute Äpfelsorten.
Böen: Pl. für Böe, heftiger Windstoß.
fiel mir bei: veraltet für fiel mir ein.
Binnenseite des Deiches: die dem Land zugewandte Seite.
im Kooge: der Koog ist „ein durch Eindeichung dem Meere abgewonnener Landbezirk“
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Der Schimmelreiter
S. 6
S. 7
S. 8
(Storm). auch: Polder
Wehle: fries. wial, Weel; mnd. wêl: ein bei einem Deichbruch hinter dem Deich
ausgewühltes Loch, das mit Wasser gefüllt bleibt.
unbewegt: in der Reclam-Ausgabe ist angemerkt: „Außer in der benutzten Druckvorlage
der Sämtlichen Werke und in der ersten Gesamtausgabe von Storms Schriften
(Braunschweig 1889) steht auch in dem Schimmelreiter-Manuskript Storms, das in der
Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel aufbewahrt wird, an dieser Stelle
‚unbewegt‘, was mitunter als sinnwidrig aufgefasst und in ‚bewegt‘ geändert wurde.
Versteht man das vorangehende ‚trotz...‘ als ‚selbst wenn man noch den beschützenden
Deich in Betracht zieht‘, so erscheint ‚unbewegt‘ korrekt. Bei dem herrschenden Wetter
verdiente ‚bewegt‘ kaum die Beifügung ‚auffallend‘.“
Dieser Interpretation stimme ich nicht zu, denn wenn man das Folgende „der Reiter konnte es
nicht getrübt haben“ mitbetrachtet, so scheint ‚bewegt‘ sinnvoll zu sein.
Werften: Werfte, Werft, Warft; ndd. Warf: „Zum Schutze gegen Wassergefahr
aufgeworfener Erdhügel in der Marsch, worauf die Gebäude, auch wohl Dörfer liegen“
(Storm).
Binnendeiches: neben dem Außendeich, der direkt an der Angriffsfläche der Flut gebaut
wird, schützen kleinere Binnendeiche auf der Landseite die niedriggelegenen Landstriche,
falls der Hauptdeich einmal bricht vor weiterer Überflutung. In Gegenden, in denen neue
Kooge gebaut worden sind, kann der frühere Außendeich auch zum Binnendeich geworden
sein.
Ricks: Holzpfähle mit Querbalken vor den Häusern, woran an Ringen die Tiere
festgebunden werden konnten.
„Is wull so wat“: ndd., mag wohl sein.
auf plattdeutsch: Mit den Begriffen Plattdeutsch oder Niederdeutsch werden alle die
Mundarten zusammengefasst, die von der 2. oder hochdeutschen Lautverschiebung nicht
betroffen waren. Bis ins 17. Jahrhundert war das Niederdeutsche auch Schriftsprache,
wurde dann aber durch das Hochdeutsche verdrängt und lebt nur noch in den vielfältigen
gesprochenen Dialekten weiter. Im vorigen Jahrhundert belebten Heimatschriftsteller wie
der Freund Storms, Klaus Groth (1819 bis 1899), die heimatliche Dialektsprache als
Schriftsprache durch ihre Dichtungen in Mundart.
dem Friesischen: Das Friesische ist ein Zweig der westgermanischen Sprachen und mit dem
Englischen verwandt; es wurde schon früh durch das Niederdeutsche verdrängt und lebt
nur noch in Lehnwörtern und Flurbezeichnungen etc. weiter.
„Diekgraf und Gevollmächtigten un wecke von de annern Interessenten! Dat is um’t
hoge Water!“:ndd.; Der Deichgraf und die Gevollmächtigten und einige andere
Interessenten. Das ist wegen des Hochwassers.
Diekgraf: ndd. für Deichgraf, leitender Beamter des Deichwesens. Die Gevollmächtigten
waren angesehene gewichtige oder begüterte Besitzer, als Vertreter der bäuerlichen
Selbstverwaltung von den Deichinteressenten gewählt, die auch als Helfer und Berater des
Deichgrafen wirkten.
Interessenten sind „die wegen Landbesitz bei den Deichen interessiert sind“ (Storm).
Punschbowle: heißes Getränk, ähnlich wie Grog aus Rum zubereitetes Getränk, das vor
allem in größerer Runde in einer großen Glaskugel bereitet wird.
umgelegt: verändert, angepasst.
Anno 17: Sturmflut im Jahre 1717, die größte des Jahrhunderts und darum im Volke noch
lange nachwirkend.
Schulmeister: der einzige Lehrer des Dorfes.
verfehlte Brautschaft: ein zerbrochenes Verlöbnis.
behangen geblieben: ndd. he is behungn blewen; den eigenen Absichten entgegen an
einem Ort bleiben.
In der Mitte des vorigen Jahrhunderts: um 1750.
Sielsachen: Siele sind Schleusen im Deich zum Ablaufen lassen des Wassers ins Meer;
Sielsachen meint Fragen des Sielbaus. ausgesonnen: ausgedacht.
Hans Momsen von Fahretoft: 1735 bis 1811, lebte in Fahretoft, rund 30 Kilometer
nordwestlich von Husum, war Sohn eines Landmessers. Auch von ihm wird die Geschichte
vom holländischen Euklid und von holländischen Hilfsbüchern erzählt, von Selbststudien
und schließlicher Meisterschaft, von Spannungen mit dem Vater, Verbannung unter die
Deicharbeiter und Fortbildung während der kargen Ruhepausen. Dann freilich schlägt er
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einen anderen Weg ein; im Sommer Landvermesser, gehört er im Winter ausschließlich
seinen Liebhabereien. Er bildete sich zu einem vielfältig informierten Privatgelehrten und
kann als Vorbild für die Gestalt des Hauke Haien gelten.
Bussolen: eine Kapsel mit einem Glasdeckel, worin über einer Gradeinteilung eine
Magnetnadel schwingt; Instrument für die Landvermessung.
Seeuhren: speziell konstruierte Uhr für die Schiffe, die trotz der Schwankungen stets die
richtige Zeit anzeigt.
Teleskopen: Fernrohre.
Orgeln: gemeint ist das Musikinstrument, das der Feinmechaniker wohl auch herzustellen
verstand.
Fennen: „ein durch Gräben eingehegtes Stück Marschland“ (Storm), vom mhd. venne,
Sumpf- oder Schlammland.
aufs Landmessen: Bei der Landverteilung des Marschlandes kam der Vermessung große
Bedeutung zu.
Nordwest: Sturm aus dieser Richtung ist besonders gefährlich, weil sich dann in der
Deutschen Bucht das Wasser aufstaut.
zu ritzen und zu prickeln: Karten „reißen“ heißt zeichnen.
Fibel oder Bibel: Die Fibel war das Buch, mit dessen Hilfe die Kinder früher das Alphabet
lernten; die Bibel war daneben meist das einzige Buch im Hause und wurde deshalb wie ein
Lesebuch benutzt.
frug: veraltet für fragte.
Euklid: um 300 v. Chr., „Vater der Geometrie“, sammelte und begründete das gesamte
damalige mathematische Wissen; ein Werk „Stoicheia“ galt lange Zeit als Muster eines
mathematischen Lehrbuches und wurde bis ins 19. Jahrhundert dem Schulunterricht
zugrunde gelegt.
holländischer Euklid: in holländischer Sprache. in Ernst oder Schimpf: Schimpf hat hier die
Bedeutung von Scherz.
Marschmann: Marschenbauer.
ingleichen: auf gleicher Weise.
Ostern bis Martini: Martini, 11. November, Tag nach dem Heiligen der katholischen Kirche.
Zwischen diesen beiden Kirchenfesten wurde der Hauptteil der landwirtschaftlichen
Arbeiten erledigt. Danach wurde gefeiert, vergl. Martinsgans.
kurieren: von lat. curare, heilen.
Das Wunderkind aus Lübeck: Christian Heinrich (Henrik) Heineken (Heinicken) (1721 bis
1725) sprach mit vier Jahren fließend Deutsch, Französisch und Latein und soll erstaunliche
Kenntnisse in allen Wissensbereichen seiner Zeit gehabt haben. Das schwächliche Kind ist
früh verstorben.
Haf: „das Meer“ (Storm), das Meer überm Watt.
Allerheiligentag: 1. November, Feiertag. Ehrentag für alle Heiligen und Märtyrer der
katholischen Kirche.
Äquinoktialstürme: (lat.) bezeichnet die Tag- und Nachtgleiche, die zweimal im Jahr, zu
Beginn des Frühlings und des Herbstes, auftritt, wenn die Sonne genau zwölf Stunden über
und zwölf Stunden unter dem Horizont steht. Da in diesen Jahreszeiten häufig starke
Stürme auftreten, werden sie nach dem astronomischen Phänomen benannt.
Springflut: „die ersten nach Voll- und Neumond eintretenden Fluten mit besonders hohem
Wasserstand“ (Storm).
Rohrdach: das mit Schilfrohr gedeckte Dach, wie es heute noch in Schleswig-Holstein
häufig zu finden ist.
Kleierde: fette, graue, tonige Erde der Marsch.
Unschlittkerze: ahd. ungislahti, das zum Essen nicht zu verwendende Geschlachtete; nach
dem Schlachten werden aus dem Talg Kerzen gegossen.
Seeteufel: eine großköpfige Fischart auch: Lotte.
gnidderschwarz: glänzend schwarz.
einen stumpfen Pull von Seegras: ein rundes Knäuel aus Seegras.
blödes Mädchen: geistig behindertes Kind.
eingesegnet: konfirmiert.
Angorakater: eine besondere Katzenrasse mit langen Haaren, die in der Nähe der
kleinasiatischen Stadt Angora (= Ankara) gezüchtet wurde.
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Kate: Bauernhaus des kleinen Bauernknechts oder Tagelöhners.
Geest: vom fries. güst, fruchtbar, brach; „das höhere Land im Gegensatz zur Marsch“
(Storm).
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7. Worterklärungen „Für binnenländische Leser“
(d2b)
Textgrundlage: Fünf Revisionsbogen (nach dem Erstdruck) für die erste Buchausgabe (D²), Seiten 1-16 und 113176 (Bogen 1, 8, 9, 10, 11) sowie mit den Worterklärungen „Für binnenländische Leser“ handschriftlich von
Storm korrigiert und mit der Überschrift „Der Schimmelreiter 1886-1888.“ versehen (Storm-Archiv Husum). Die
handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen hat Storm mit schwarzer Tinte ausgeführt; sie werden in fetter
Schrift im Satz dargestellt.
Für binnenländische Leser.
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Schlick, der graue Thon des Meerbodens, der bei der Elbe Ebbe<¬> bloßgelegt wird.
Marsch, dem Meere abgewonnenes Land, dessen Boden der fest gewordene Schlick, der Klei, bildet.
Geest, das höhere Land im Gegensatz zur Marsch.
Haf, das Meer.
Fenne, ein durch Gräben eingehegtes Stück Marschland.
Springfluthen<¬>, die ersten<¬> nach Voll- und Neumond eintretende | fluthen | ersten<¬>
Fluthen<¬>.
Werfte, zum Schutze gegen Wassergefahr aufgeworfener Erdhügel in der Marsch, worauf die Gebäude, auch
wohl Dörfer liegen.
Hallig, kleine unbedeichte Insel.
Profil, das Bild des Deiches bei einem Quer- oder Längsschnitt.
Dossirung, (oder LB<¬>öschung), die Abfall-Linie des Deiches. | Böschung<¬>
Interessenten, die wegen Landbesitz bei den Deichen interessirt sind.
Bestickung, Belegung und Besteckung mit Stroh bei frischen Deichstocken.strecken.<¬>
Vorland, der Theil des Festlandes vor den Deichen./
- VIII –
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
Koog, ein durch Eindeichung dem Meere abgewonnener Landbezirk.
Priehl, Wasserlauf in den Watten und Außendeichen.
Watten, von der Fluth bespülte Schlick- und Sandstrecken an der Nordsee.
Demath, ein Landmaaße in der Marsch.
Pesel, ein für außerordentliche Gelegenheiten bestimmtes Gemach, in den Marschen gewöhnlich neben der
Wohnstube.
 Lahnungen, Zäune von Buschwerk, die zur besseren An- schlickung vom Strande in die Watten hinausgesteckt
werden.
———/ Bogen 1:
<1>
Der Schimmelreiter| - 1886-88. -<¬>
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Der Schimmelreiter
8. Inhaltsangabe
Im ersten weiten Rahmen berichtet der Autor, was ihm vor etwa einem halben Jahrhundert beim Lesen alter
Zeitschriften im Hause der Urgroßmutter bekannt geworden; im zweiten Rahmen kommt dann der Erzähler zu
Wort, der um das Jahr 1830 bei starkem Unwetter einen Deich in Nordfriesland entlangreitet, wobei ihm
mehrmals eine auf hagerem Schimmel mit fliegendem Mantel unheimlich lautlos vorbeihuschende
Männergestalt erscheint, die schließlich in einer Wehle verschwindet. Im nahe gelegenen Wirtshaus findet der
Mann Schutz vor dem Unwetter; die anwesenden Männer von der Deichwache erklären ihm, es sei der Unheil
verkündende „Schimmelreiter“ gewesen. Der Schulmeister jedoch, der gegen den Aberglauben der anderen
spricht, beginnt eine Geschichte zu erzählen, die nun den Kern der Novelle bildet. Mehrfach kommentierend und
wertend vom Erzähler und vom Schulmeister unterbrochen, stellen sich dem Leser folgende Ereignisse dar: Um
die Mitte des 18. Jahrhunderts lebt in dieser Landschaft ein Deichgraf, der von Deich- und Sielsachen mehr
versteht als alle anderen Bauern. Schon sein Vater, Tede Haien, ein Kleinbauer, gilt aufgrund seiner Studien als
klügster Mann der Umgebung; sein einziger Sohn, Hauke, hat vom Vater die grüblerische Art und den Drang
nach rastloser und gründlicher Weiterbildung geerbt. Mit scharfen Augen beobachtet er das Meer, liegt am
liebsten draußen auf dem Deich oder treibt sich in den weiten Watten umher. Früh kommt ihm der Gedanke,
wie das Land am besten vor dem „Blanken Hans“ zu schützen sei. Dabei verliert er den Boden der Wirklichkeit
und versenkt sich in das geheimnisvolle Walten überirdischer Geister, die er in den wallenden Nebeln der
Abenddämmerung zu schauen vermeint. Das Ergebnis alles Sinnierens und Suchens ist für Hauke klar: die
Deiche sind nutzlos, weil falsch konstruiert. Durch ein Buch wird er mit den Grundlagen der Mathematik
bekannt, doch der Vater steckt den nutzlos herumlaufenden Sohn unter die Schlickarbeiter, um ihn an planvolles
Schaffen zu gewöhnen. Wie sehr die Entwicklung des Jungen, einsam in Gesellschaft des wortkargen Vaters,
ganz sich selbst überlassen, ohne Mutter und etwas wild aufgewachsen, zum Schlechten geraten droht, zeigt
sich, als er den Angorakater der alten Trin Jens in plötzlich aufwallendem Zorn erwürgt. Der Vater gibt ihn in
den Dienst des altersmüden, geistig schwerfälligen und verfressenen Deichgrafen Tede Volkerts als Kleinknecht.
Damit ist vor allem dessen Tochter Elke einverstanden, denn die vielen Rechnungen von Amtsgeschäften
bereiten dem Vater viele Kopfschmerzen; fortan kann er auf die Hilfe des Schulmeisters verzichten und alles
dem anstelligen Hauke überlassen, der auch bald unentbehrlich wird. Ein Feind fürs Leben erwächst ihm freilich
gleichzeitig in Ole Peters, dem Großknecht, als dieser Haukes geistige Überlegenheit verspürt und Elkes
Zuneigung für den verhassten Knecht erkennt. Beim winterlichen Eisboßeln bemüht er sich vergeblich, Hauke
auszuschließen; er muss sogar erleben, wie dieser als gefeierter Sieger aus dem Turnier hervorgeht, und mehr
noch, wie Elke beim abendlichen Tanzvergnügen nur mehr Augen für Hauke hat. Endlich kündigt Ole seinen
Dienst und heiratet trotzig die grobe, dicke Vollina, Tochter des Deichbevollmächtigten Jeß Harders. Wachen
Sinns überwacht Hauke den Deich und bringt frischen Schwung in die vernachlässigten Geschäfte des
Deichgrafen. Zwischen ihm und Elke hat sich aus einer anfänglichen Wertschätzung eine zarte Liebe entwickelt.
Kurz vor seinem Tod stellt der Vater dem Hauke seine neuerworbenen und ersparten Vermögenswerte vor und
bestärkt ihn im Vorhaben, einmal selbst Deichgraf zu werden. Nach dem Tod des Vaters übernimmt er,
inzwischen zum Großknecht aufgerückt, die Katenstelle des Vaters, wird von Elke umsichtig gefördert und
verwaltet weiter fleißig die Deichgeschäfte. Die beiden jungen Leute verbinden sich inniger und versprechen
einander die Ehe. Nicht lange danach stirbt Elkes Vater, und als der Oberdeichgraf bei der Beerdigung die Frage
nach einem angemessenen Nachfolger aufwirft, überzeugt ihn Elke zwar gemessen mit feinem Takt, doch
zugleich mit dem ganzen Stolz einer Friesin davon, dass kein anderer als Hauke Haien zum Deichgrafen geeignet
sei, und wird dabei von ihrem Paten Jewe Manners würdig und wirkungsvoll unterstützt. Hauke und Elke
heiraten, Hauke wird Deichgraf und waltet mit unermüdlichem Eifer, aber auch mit unerbittlicher Strenge
seines Amtes. Das hässliche Wort, er sei nur Deichgraf seiner Frau wegen, das Ole Peters aufbringt, verhärtet
sein Wesen und lässt in ihm den Entschluss aufkeimen, durch eine außerordentliche Leistung unter Beweis zu
stellen, dass er sein Amt wirklich aus eigener Kraft ausfüllen kann. Der Plan Haukes besteht darin, ein Stück
Wattenmeer durch einen neuartigen Deich, der zur Seeseite allmählich abfällt, abzutrennen und dadurch neues
Weideland zu gewinnen. Viele Widersacher finden sich in der Gemeinde, allen voran Ole Peters, der heimlich
gegen den Deichgrafen hetzt. Trotz dieser Widerstände gelingt es Hauke, die Finanzierung zu sichern und den
neuen Deich in der Planung voranzutreiben. Gleichzeitig vergrößert er den väterlichen Besitz und wird in seiner
unermüdlichen und rastlosen Tätigkeit von seinem treuen Weib unterstützt. In dieser Zeit bemerken der junge
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Der Schimmelreiter
Knecht Iven Johns und der Kleinknecht Carstens auf der Hallig Jeversand, wo bei Tage die gebleichten Gerippe
einiger Schafe und eines Pferdes auszumachen sind, ein weidendes Pferd in trüber, nebliger Stimmung des
Mondlichts. Die Begier, Unheimliches zu schauen, beflügelt allmählich ihre Fantasie, und sie beschließen, zur
Hallig zu fahren und nachzuschauen, was das für ein geheimnisvolles Pferd sei. Doch enttäuscht müssen sie
erfahren, dass es dort kein Pferd gibt, dass nur die gebleichten Knochen herumliegen. Dennoch bestärkt sie die
fantastische Einbildung im Glauben an eine übernatürliche Erscheinung. Gleichzeitig kauft Hauke von einer
zwielichten Gestalt ein heruntergekommenes, völlig verwahrlostes Pferd; einen Schimmel, den nur er füttert
und pflegt, an den Carsten nicht herangehen darf. Dieses eigentümliche Pferd erholt sich rasch unter den
Händen des Deichgrafen und nur dieser reitet mit ihm aus. Carstens aber erzählt jedem, der es hören will, dieser
Schimmel sei jenes ausgeblichene Gerippe von Jeversand, das nun verschwunden ist. Er kündigt seine Dienste
und erzählt abergläubisch von einem angeblichen Teufelspakt des Deichgrafen. Nachdem der Oberdeichgraf
Haukes Plan genehmigt hat, setzt dieser ihn mit Hilfe des greisen und angesehenen Jewe Manners allen
Widerständen zum Trotz durch. Die Eindeichung des neuen Koogs wird in Angriff genommen und schreitet
unter Haukes umsichtiger und energischer Leitung zügig fort; auf seinem Schimmel reitend überwacht er den
ganzen Sommer hindurch die Arbeiten, lobt die Fleißigen, spornt immer wieder an und tadelt oder entfernt die
Nachlässigen, bis dann der Winter dem Werk Einhalt gebietet und es unfertig liegen bleiben muss. Das üble
Gerede um Hauke geht weiter; er merkt zunächst nichts, denn er ist zu sehr mit dem Werk beschäftigt. Doch
wenn er mit seinem Schimmel von einer Arbeitsstelle zur anderen reitet, so spürt er, wie sich alle feindselig
oder doch abweisend gegen ihn verhalten, und Iven schürt diese Feindseligkeit, indem er den „Schimmelreiter“
mit dem falschen Glanze des Aberglaubens umgibt. Im neunten Jahre ihrer Ehe bringt Elke endlich ein lange
ersehntes Kind zur Welt; doch Elke ist durch Geburt und Kindbettfieber sehr geschwächt und scheint dem Tode
nahe. Da ringt Hauke mit Gott und bezweifelt dessen Allmacht, ja maßt sich größere Rechte an seiner Frau an;
dieser gotteslästerliche Ausbruch des besorgten Gatten verbreitet sich in der Gemeinde rasch und verstärkt bei
den engstirnigen Menschen die Vorstellung, dass der Deichgraf sich dem Teufel verschrieben hat. Auch Hauke
erfährt davon, und Trotz und Strenge verhärten sein Wesen. Er findet Ruhe allein bei der Wiege des geliebten
Kindes und bei seiner Frau, die treu zu ihm steht. Nach dem Tode des hoch angesehenen Jewe Manners rückt Ole
Peters in das Amt des Bevollmächtigten ein und bereitet Hauke mehr Schwierigkeiten als vorher. Mit dem
Beginn des Frühjahrs werden die Arbeiten am neuen Koog wieder aufgenommen und im Herbst soll der neue
Deich geschlossen werden. Da entdeckt Hauke bei einem Inspektionsritt, wie ein hergelaufenes Hündchen von
den Arbeitern in den Deich eingegraben werden soll, als lebendiges Opfer, ohne dass solch ein Werk nach dem
Volksglauben nicht gedeihen könne. Der Reiter springt dazwischen, verbietet die abergläubische Tat und nimmt,
als er die finsteren Gesichter und die drohend erhobenen Fäuste und Spaten erblickt, den kleinen Hund mit sich.
Er gibt ihn seiner Tochter Wienke als Spielgefährten. Endlich ist der neue Deich geschlossen, und die Abnahme
durch die Behörde gestaltet sich für Hauke und Elke zum Freudenfest und zum Höhepunkt ihres gemeinsamen
Lebens. Mit Stolz vernimmt Hauke bald, dass die Leute den Koog mit seinem Namen als „Hauke-Haien-Koog“
bezeichnen. Er hat in weiser Voraussicht zahlreiche Anteile darin erworben und vermehrt seinen Besitz
beträchtlich. Die Feindschaft mit Ole Peters vergrößert sich aber ebenfalls. Die Jahre vergehen, der neue Koog
wird in fruchtbares Land verwandelt, der Deich bewährt sich und die Ausbesserungskosten sind gegenüber
früher gesunken. Die zunehmende Gewissheit, dass Wienke schwachsinnig ist, bedrückt Hauke. Lange zögert er
ein Gespräch mit Elke darüber hinaus. Doch als die beiden sich endlich aussprechen, verbindet sie dieses
gemeinsame Leid nur noch mehr, und sie umsorgen das arme Kind mit großer Liebe, Wärme und Geborgenheit.
Vergebens sucht Hauke, eine Ursache für diesen Schicksalsschlag zu finden. Das Mädchen spielt versonnen und
einsam mit dem geretteten Hündchen und mit einer Lachmöwe, manchmal sitzt es bei der alten Trin Jens, die
Hauke zu sich genommen hat. Oft reitet der Vater mit dem Kind hinauf auf den Deich, doch das Mädchen hat
Angst vor dem unheimlichen Meer. Als Hauke, von einem schweren Fieber noch nicht völlig geheilt, eine von
Mäusen unterwühlte Stelle im alten Deich findet, will er bei der Versammlung der Deichbevollmächtigten eine
gründliche Reparatur durchsetzen, doch seine Gegner, voran Ole Peters, überhäufen ihn mit Vorwürfen, er
belaste mit seiner übertriebenen Vorsicht die Finanzkräfte der Gemeinde. Hauke wird nachdenklich und
verzichtet entgegen seiner früheren energischen Art in diesem Falle darauf, die schadhafte Stelle gründlich zu
flicken. Er ist bereit, die weniger sorgfältige Ausbesserung vorläufig hinzunehmen, doch wohl ist ihm bei
diesem Zurückweichen nicht, und er quält sich mit ständigen Selbstvorwürfen. Im Herbst setzt unerwartet eine
heftige Sturmflut ein. Hauke stürzt sich auf seinen Schimmel und kann im letzten Moment verhindern, dass ein
Durchbruch durch den neuen Deich vorgenommen wird; das sollte auf Weisung Ole Peters geschehen, um den
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Der Schimmelreiter
alten Deich zu entlasten. Doch da bricht der alte Deich genau an der Stelle, die nicht hinreichend ausgebessert
worden ist. Hauke achtet nicht auf die Gefahren und versucht zu retten, was noch zu retten ist. Doch die
tosenden Fluten ergießen sich in das Land hinter dem alten Deich. Da sieht er einen Wagen von seiner Warft
kommen. Auf ihm sitzen Elke und Wienke; ahnungslos, in welche Gefahr sie sich begeben, ist Elke um das
Schicksal ihres Mannes besorgt. Vergebens strengt Hauke seine Stimme an, die beiden zu warnen, der Wagen
stürzt in die tosenden Fluten und beide werden ins Meer fortgerissen. Noch einmal schweift Haukes entsetzter
Blick auf die erleuchteten Fenster seines nun verwaisten Hauses. Er drückt dem Schimmel die Sporen in die
Weichen und verschwindet, seinen Lieben folgend, in der brodelnden Tiefe. Die toten Körper sind offenbar
später ins Meer hinausgeschwemmt worden. Aber der Koog steht immer noch; der neue Deich hat gehalten und
wird auch noch viele Jahre halten. Seit dieser Zeit erscheint der Schimmelreiter als Verkünder nahenden
Unglücks und warnt die Bauern auf seinem gespenstigen Ross vor Deichbrüchen.
9. Stellung im Kontext zu Storms Werk
Von allen Prosawerken gilt die Altersnovelle „Der Schimmelreiter“ als die bedeutendste Leistung des Husumer
Dichters. Entsprechend vielfältig sind die innerhalb des 20. Jahrhunderts vorgelegten Interpretationen, und
kaum ein anderer Erzähltext Storms wurde hinsichtlich seiner Entstehung und seiner Quellen genauer
untersucht. Die publikumswirksame literarischen Fiktion wurde sogar in die kollektive Vorstellung derjenigen
Leser übertragen, die in der Region leben oder sich durch ihre Storm-Lektüre dem Handlungsraum der
Erzählung nahe fühlen. So ist die literarische Gestalt zu einer vermeintlichen Sagengestalt geworden, eine
Umkehrung des sonst üblichen Prozesses, in dem regionale Sagengestalten von Schriftstellern zu literarischen
Figuren umgeformt werden.
Begonnen hatte Storm in den 1840er Jahren mit kleineren Skizzen, in denen er zunächst historische Texte,
darunter auch schriftlich und mündlich überlieferte Materialien, zu Erzähltexten formte. Vom Novellisten Storm
ist zu dieser Zeit noch wenig zu erkennen; der Dichter schreibt Stimmungsbilder, in denen er typische
Situationen aus bürgerlichen Lebensverhältnissen erzählt. Mit „Immensee“ findet er um 1850 zu einer
geschlossenen Form. Noch sind es tastende Versuche, die sich auch in gründlicher Umarbeitung der beiden
ersten längeren Erzählungen zeigen, doch gelingt es Storm hier zu ersten Mal, die sonst isolierten
Stimmungsbilder durch eine erzähltechnische Klammer zu einem Ganzen zu komponieren. Dazu verwendet er
seine Fähigkeit zur Schilderung von Empfindungen und Stimmungen, die Gefühle transportieren können, wie er
es in seiner Lyrik gelernt hat; zugleich orientiert es sich an der Erzählkunst der Romantik, die er zunächst noch
kopiert.
1852 sichtet Storm seine bisherigen lyrischen Werke und veröffentlicht seine „Gedichte“ in Kiel. Der schmale
Band mit 87 Gedichten wird von der Literaturkritik aufmerksam zu Kenntnis genommen und auch gelobt; der
Absatz aber bleibt bescheiden. Und auch ein zweites Buchprojekt mit dem Titel „Sommergeschichten und
Lieder“ kann in diesen Jahren diesmal in Berlin verwirklicht werden; durch „Immensee“ wird Storm nun
weiteren Kreisen bekannt; die resignative Stimmung, die dieser Novelle ihr eigentümliches Gepräge verleiht,
trifft offenbar die Zeitstimmung nach der gescheiterten Revolution. Die Novelle wird zur erfolgreichsten Arbeit
zu Storms Lebzeiten; insgesamt sind bis 1888 30 Auflagen gedruckt worden.
Zwischen 1853 und 1864 lebt Storm in Preußen und arbeitet dort als beamteter Jurist; vor allem durch die
kritische Begleitung der Berliner Freunde, unter denen Theodor Fontane der bedeutendste war, erwarb sich
Storm nach und nach eine hohe literarische Meisterschaft. Zunächst erkannte er die Bedeutung von tragfähigen
Stoffen für die Novellistik und eignete sich die Technik der Rahmenerzählung an, die es ihm ermöglichte, durch
die Einführung von fiktiven Erzählerpersönlichkeiten Distanz zum Erzählten zu erzeugen. Als er sich dann Ende
der 1850er Jahre an realistische Stoffe wagte, mit denen er bedeutsame gesellschaftliche Veränderungen in
Deutschland darzustellen vermochte, gelang ihm der Durchbruch. Nach seiner Rückkehr nach Husum
entstanden Jahr für Jahr ein bis zwei Novellen, in denen er sich unterschiedlichen Stoffen zuwandte und immer
neue Rahmenvarianten des Erzählens erprobte.
Storms konnte sich nach 1870 am literarischen Mark etablieren und galt den Zeitgenossen als bedeutender
Erzähler, der die realistischen Stoffe poetisch zu verallgemeinern verstand. Der poetische Realismus verlangt die
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Der Schimmelreiter
Darstellung von wirklich wichtigen Themen der Zeit, also von gesellschaftlichen Veränderungen, die das 19.
Jahrhundert geprägt haben. Dies sollte aber in einer „schönen“ Form geschehen, das heißt, man erwartete vom
Novellisten, dass er die harte und oft brutale Wirklichkeit in einem „goldenen“ Schimmer der Poesie künstlerisch
so darstellte, dass die einzelnen Lebensschicksale, von denen er erzählte, für den Leser als allgemein gültige
Erscheinungen wahrgenommen und auch genossen werden konnten. Das setzte einer gesellschaftskritischen
Literatur enge Grenzen, die Storm aber immer wieder auszufüllen verstand, ohne die Regeln von Schicklichkeit
und Anstand zu verletzen.
Nach 1875 wandte sich Storm vor allem historischen Ereignissen zu und verfasste eine Reihe von
Chroniknovellen; aber immer blieben seine Themen mit den gesellschaftlichen Veränderungen in Familie und
Gemeinschaft verbunden, wie er sie in seiner bürgerlichen Welt erlebte. Seine Themen kreisen vor allem um die
Frage, wie der Mensch sein Leben jenseits von christlicher Religion und ohne göttliche Transzendenz selber
gestalten könne. Dabei nahm Storm eine kritische Haltung gegen den Adel ein, dessen Privilegien er ablehnte
und forderte ein auf aufgeklärtes, reines Menschentum gegründetes demokratisches Gemeinwesen. Mit
zunehmendem Alter beschäftigte er sich immer öfter mit Problemen der Vergänglichkeit und fragte nach den
Gründen des menschlichen Scheiterns und der menschlichen Schuld.
Im Detail wie im Ganzen erweist sich Storms Schreibprozess im Alter als außerordentlich strukturiert und
zielgerichtet; der Dichter hatte von Anfang an ein klares Konzept vor Augen; dies betraf nicht nur den Stoff der
Erzählung, sondern auch die Form, in die er seine Novellen kleiden wollte. Die lange Erfahrung mit
Erinnerungsmotiven, die genaue Kenntnis von Rahmenstrukturen und nicht zuletzt die Meisterschaft, mit der
Storm Situationen angemessen schildern konnte, ermöglichten es dem schwer kranken Autor, am Ende seines
Lebens mit dem „Schimmelreiter“ noch einmal ein Meisterwerk zu schreiben, mit dem er nicht nur die Summe
seiner novellistischen Schaffens zog, sondern das zugleich in Richtung auf den Roman verweist; eine Gattung, in
der er vielleicht auch noch Bedeutendes zu leisten imstande gewesen wäre, hätte der Tod dies nicht verhindert.
Noch vor Beendigung der Reinschrift äußerte Storm gegenüber Paul Heyse, er hätte dieses Werk besser zehn
Jahre früher schreiben sollen; vielleicht wäre es ihm zu diesem Zeitpunkt leichter gefallen; die Souveränität, mit
der er trotz der vielen Probleme bei der Niederschrift sein Projekt vorantrieb und schließlich zu einem guten
Abschluss brachte, ist erstaunlich und steht im Widerspruch zu mancher wehleidiger Äußerung, die er während
seiner letzten Lebensjahre getan hat. Verständlicherweise kamen ihm zum Abschluss der Arbeit noch einmal
Zweifel. Emilie Gräfin zu Reventlow gegenüber gab er am 5. Februar 1888 seiner Hoffnung Ausdruck, dass sein
„Schimmelreiter“ ihr ein gewisses Interesse abgewinnen möge, obwohl „er auch kein Meisterstück geworden“
sei. Diesem zu selbstkritischen Urteil hat sich keiner seiner Leser angeschlossen. Im Gegenteil: Storms Ruhm
gründet bis heute im Wesentlichen auf der Größe seiner letzten Novelle.
10. Aufbau und Struktur
Die Rahmenerzählung
Die Novelle ist kunstvoll konstruiert; zunächst eröffnet ein äußerer Rahmen, in dem ein unbenannter Erzähler
auftritt, die Erzählung. Er berichtet von einem Ereignis aus seiner Jugend, als ihm im Hause seiner Großmutter
die Lektüre einer spannenden Gespenstergeschichte so beeindruckte, dass er sie bis zu seinen jetzigen Tagen
nicht vergessen konnte. Man hat diesen Erzähler mit dem Autor Theodor Storm identifiziert, da die
Rahmenerzählung und der Erzählort starke autobiografische Züge tragen und man unschwer das Haus von
Storms Urgroßmutter Feddersen in der Nähe des Husumer Hafens erkennen kann. Genauere Vergleiche der
Mitgeteilten Einzelheiten und der biografischen Hintergründe zeigen aber schnell, dass bereits dieser erste
Erzählrahmen fiktiv ist, also eine reine Erfindung Storms darstellt. Überhaupt muss der Leser sich hüten, die
Angaben in der Novelle mit historischen Ereignissen und wirklichen Orten in Nordfriesland gleichzusetzen, da
literarische Texte immer eine eigene, erfundene Welt konstruieren, die erst im Bewusstsein des Lesers mit Hilfe
von dessen Fantasie „wirklich“ wird.
Der Erzähler des äußeren Rahmens eröffnet nun, indem er von Erinnertem aus seiner Vergangenheit erzählt,
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Der Schimmelreiter
einen inneren Erzählrahmen. Für diesen hat Storm einen anderen Erzähler erfunden, einen Geschäftsmann, der
während einer Reise zu einer nahe gelegenen Stadt, in der man leicht Husum wiedererkennen kann, von Norden
über den Deich reitet. Während einer stürmischen Nacht erscheint diesem zweiten Erzähler ein gespenstiger
Reiter. Als er in einem nahen Wirtshaus vor dem Unwetter Schutz sucht, lernt er dort einen alten Schulmeister
kennen, der nun als dritter Erzähler die Geschichte von Hauke Haien vorträgt.
Durch diese dreifache Erzählerfiktion schafft der Autor zwischen sich und dem Leser mehrere Instanzen, die das
Erzählte als wahr verbürgen. Storm thematisiert das Verhältnis von wirklichem Ereignis und der Erzählung
davon, indem er den Erzähler der zweiten Ebene und den Schulmeister immer wieder über die Wahrheit des
Erzählten diskutieren lässt. Ja, der Autor geht noch einen Schritt weiter.
Die eigentliche Binnenerzählung handelt von Hauke Haien und seinem Kampf gegen die Nordsee. Sie ist in zwei
Teile gegliedert und entwirft zunächst ein Charakterbild des jungen Hauke, der aus einfachen Verhältnissen
zum Deichgrafen aufsteigt. Im zweiten Novellenteil wird berichtet, wie dieser Hauke Haien ein neues Deichprofil
konstruiert und durch den Neubau eines Kooges dem Meer Land abgewinnt, das nicht nur die Menschen in der
Marsch vor Sturmfluten schützen soll, sondern ihre wirtschaftliche Lage verbessert. Hauke setzt sich gegen alle
Anfeindungen durch, scheitert aber am Schluss, da er einmal den falschen Ratschlägen seines Widersachers Ole
Petersen nahgegeben hat.
Da der Schulmeister aber in einer anderen Epoche lebt und Hauke Haien nie kennen gelernt hat, musste er sich
die Fakten für seine Erzählung vom Deichgrafen aus anderen Quellen zusammenstellen. Darunter befinden sich
auch solche Erzählungen, die den Schimmelreiter zu einem Gespenst gemacht haben, das im Grab keine Ruhe
findet. Somit wird die Frage, inwieweit das Bild von Hauke sowie seines Wirkens und Scheiterns, das der
Schulmeister vor dem Erzähler der zweiten Ebene ausbreitet, überhaupt authentisch sein kann. Es lassen sich
aus dem Text unterschiedliche Erzählinstanzen herausarbeiten, die ganz verschieden und zum Teil auch
Widersprüchliches über die Gestalt des Deichgrafen sagen, ja die wirkliche Existenz des Helden wir sogar einmal
vom Schulmeister infrage gestellt.
Aus dieser komplexen Struktur der Novelle ergibt sich für den Leser die Notwendigkeit, ein eigenes Bild von
Hauke Haien und den erzählten Ereignissen zu konstruieren. Gerade das kann den Reiz der Lektüre ausmachen,
da die vielen Interpretationen zeigen, wie unterschiedlich die Lesarten selbst geübter Literaturwissenschaftler in
den letzten Jahrzehnten gewesen sind.
Der Erzählanfang
Vom Eingansrahmen der Erzählung haben sich drei Textstufen erhalten, die im Folgenden nacheinander
wiedergegeben werden. Die Handschrift Storms wird dabei so abgebildet, dass gestrichene und über bzw. unter
der Zeile nachgetragene Passagen leicht erkennbar werden (vergl.die Beschreibung der Textzeugen).
„Concept“ Storms Entwurfshandschrift (H1: Storm-Archiv Husum)
1. Fassung
<S. 115 (oben)>
Anfang__________________<mit Bleistift> Anfang
Der Schimmelreiter
Was ich berichten will, ist mir vor über einem halben Jahrhundert in meiner Urgroßmutter Hause, ich weiß
nicht mehr ob aus dem lebendigen Munde eines Erzählers oder aus irgend einem Buche kund geworden; ich
kann daher die Wahrheit der Thatsachen weder verbürgen, noch, wenn jemand sie bestreiten sollte, dafür
aufstehen; nur soviel kann ich versichern, daß ich sie seit jener Zeit nie aus dem Gedächtniß verloren und
wiederholt, wiewohl vergebens, nach der Quelle dieser Erinnerung geforscht habe.
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Der Schimmelreiter
Es war im dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts - so sagte der damalige Erzähler –
2. Fassung
<Seite 0/1>
Der Schimmelreiter
Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor etwa einem halben Jahrhundert in meiner Urgroßmutter, der
alten Frau Senator Feddersen, Hause kundgeworden, während ich, an ihrem Lehnstuhl sitzend, mich mit
mit dem Lesen eines in blaue Pappe gebundenen Zeitschriften-Heftes beschäftigte; ich vermag mich nicht zu
erinnern, ob von den Leipziger oder von Pappe's Hamburger „Lesefrüchten“. Noch fühl ich es wie gleich
einem Schauer, wie dabei von Zeit zu Zeit die linde Hand der Ueberachtzigjährigen mitunter liebkosend
über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt. Vergebens habe ich seitdem jenen Blättern nachgeforscht, und
ich kann daher um so weniger weder die Wahrheit jener der Thatsachen verbürgen, noch, wenn jemand sie
bestreiten sollte, dafür aufstehen; nur so viel kann ich versichern, daß ich sie seit jener Zeit, obgleich ihr sie
durch keinen äußeren Anlaß in mir aufs Neue belebt wurden, niemals aus dem Gedächtniß verloren habe.
***
Reinschrift (H2:Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel)
Was ich zu berichtigen habe, ist mir vor etwa reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner
Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen, kund geworden, während ich, an ihrem Lehnstuhl sitzend,
mich mit dem Lesen eines eines in blaue Pappe eingebundenen Zeitschriftenheftes beschäftigte; ich vermag
mich nicht mehr zu entsinnen, ob von den „Leipziger“ oder von „Pappes Hamburger Lesefrüchten“. Noch
fühl' ich es gleich einem Schauer, wie dabei die linde Hand der Ueberachtzigjährigen, mitunter liebkosend
über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt. Sie selbst und jene Zeit sind längst begraben; vergebens auch
habe ich seitdem jenen Blättern nachgeforscht, und ich kann daher um so weniger weder die Wahrheit der
Thatsachen verbürgen, als, wenn jemand sie bestreiten wollte, dafür aufstehen; nur so viel kann ich
versichern, daß ich sie seit jener Zeit‚/ <Blatt> 2 obgleich sie durch keinen äußeren Anlaß in mir aufs Neue
belebt wurden, niemals aus dem Gedächtniß verloren habe.
***
Deutung des Textbefundes
Der Anfang dieses äußeren Rahmens ist in zwei Versionen überliefert, von denen die kürzere die ältere
Fassung sein muss. Der Erzähler berichtet von einem Erlebnis, das er ca. 50 Jahre vor der Niederschrift des
Textes an einem eindeutig identifizierbaren Ort hatte, im Hause der Urgroßmutter, mit dem Storm das Haus
in Husum, Twiete/Ecke Schiffbrücke meint, das der Familie seines Urgroßvaters mütterlicherseits, des
Senators Joachim Christian Feddersen (1770-1801) gehörte. Der Erzähler ist sich nicht sicher, ob das zu
Berichtende aus mündlicher oder lschriftlicher Tradition stammt. Er kann die Wahrheit des Erinnerten nicht
verbürgen, hebt aber hervor, dass er die Tatsachen nie aus dem Gedächtnis verloren habe und beteuert,
wiederholt, aber vergeblich nach der Quelle geforscht zu haben.
Die zweite Version des Anfangs ist länger und offenbar das Ergebnis eines Erinnerungsprozesses; die
Textelemente der ersten Fassung werden vollständig übernommen, aber um fast das Doppelte erweitert.
Die intensive Erinnerung hat nämlich Klarheit über das Erlebte gebracht; das zu Erzählende wurde nicht
durch mündlichen Bericht der Urgroßmutter tradiert, sondern stammt aus einer Zeitschrift, deren Titel so
genau angegeben wird, dass die Spur von späteren Literaturhistorikern erfolgreich aufgenommen werden
konnte. Sogar an die Farbe des Umschlags kann sich der Erzähler noch genau erinnern. Auch wird die
Unsicherheit der Erinnerung (“oder“) in der ersten Version nun zur doppelten Bestätigung des Vorgangs,
denn die Urgroßmutter ist in der Erinnerung als zärtliche Greisin präsent, die ihrem Enkel während dessen
Lektüre „liebkosend“ über das Haar streicht. Dadurch erhält die Atmosphäre des Lesevorgangs etwas von
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Der Schimmelreiter
jener Behaglichkeit, die für Storm eine der Voraussetzungen nicht nur für rezeptive sondern auch für
produktive Textarbeit war. Hier wird auch deutlich, dass es sich um eine Fiktion und nicht - wie immer
wieder fälschlich behauptet - um einen autobiographischen Bericht handelt. Denn 1838/9, in den Jahren
also, auf die der in der Erzählung gemeinte Zeitpunkt der Lektüre jener Gespenstergeschichte verweist, war
„Frau Senator <Elsabe> Feddersen“ (1741-1829) bereits seit zehn Jahren tot.
Das Haus der Urgroßmutter Feddersen in Husum, Schiffbrücke/Ecke Twiete
Die Wahrheit der Tatsachen kann vom Erzähler zwar immer noch nicht verbürgt werden, doch ihre Präsenz
im Gedächtnis wird durch ein zusätzliches Argument qualitativ aufgewertet: Der Erzähler hat sich nicht nur
- freilich erfolglos - bemüht, der Quelle nachzuspüren, er hat die Tatsachen niemals aus dem Gedächtnis
verloren, „obgleich sie durch keinen äußeren Anlass in mir aufs Neue belebt wurden“. Damit wird der
Erinnerung eine höhere Authentizität zugesprochen als dem schriftlichen Dokument. Diese Position des
äußeren Rahmenerzählers entspricht genau derjenigen des Schulmeisters, der im inneren Erzählrahmen
betont, es sei eine „Kunst“, seine Erinnerung an Hauke Haien ohne Aberglaube zu erzählen (Königs
Lektüren, S. 8), denn die Tatsachen, von denen er dem Erzähler der zweiten Ebene so erzählt, wie er „sie
nach bestem Wissen nur berichten konnte“ (Königs Lektüren, S. 123), stammen ausschließlich aus einander
zum Teil widersprechenden oralen Traditionen.
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Der Schimmelreiter
Storms Schreibprozess
Ein Blick auf das Fragment der „Sylter Novelle“, das der Dichter in der Anfangsphase seiner Arbeiten am
„Schimmelreiter“ im August 1887 während eines Aufenthaltes auf der Insel Sylt nach einer mündlichen
Erzählung Christoph von Tiedemanns niedergeschrieben hat, weist ein ähnliches Verfahren auf. Auf sechs
Blättern skizziert Storm zunächst aus dem Gedächtnis das vorher mündlich Gehörte, vermischt die fremde
Erzählung mit eigenen Erinnerungen an Sylter Sagen, mit denen er seit 1844 durch seine Korrespondenz mit
dem Sylter Heimatforscher und Dichter C. P. Hansen eng vertraut war, und beginnt schon auf Seite 2 der
Handschrift mit dem eigentlichen Poetisieren des Stoffes, indem er einzelne Szenen ausschmückt und zur
Niederschrift von Dialogen ansetzt.
Ganz ähnlich verfährt er auch beim „Schimmelreiter“. Storm beginnt mit einer einzelnen Szene, von der eine
anschauliche Vorstellung bildet und sie dann mit vollständigen Dialogen niederschreibt. Das „Concept“ besteht
aus einer Fülle solcher Einzelszenen, die miteinander noch nicht verbunden sind und einander oft mit einigen
Wörtern und manchmal ganzen Sätzen überschneiden. Es muss also allmählich zu einem Kompendium solcher
Einzelszenen gewachsen sein, die in unterschiedlicher Genauigkeit ausgeführt waren. Erst bei der Herstellung
der „Reinschrift“ hat Storm die Einzelszenen zu einem kontinuierlichen Erzählfluss zusammengestellt und noch
nicht endgültig ausformulierte Einzelheiten konkretisiert. Viele Spuren im „Concept“ zeigen, dass er sie zum Teil
vorher bereits zu Szenenkomplexen zusammengestellt hatte; das sind vor allem Markierungen mit rotem und
blauem Farbstift (Haken, Gitter und Piktogramme), die als Hinweise für die Zuordnung der einzelnen Erzählteile
gedient haben. Bei der Rekonstruktion des „Concepts“, das in seiner heutigen Erscheinung nicht mehr die
ursprüngliche Reihenfolge der Blätter ausweist, hat sich dies in allen Fällen unklarer Textzuordnung bestätigt.
In einer sehr frühen Arbeitsphase muss sich Storm mit zwei Szenen beschäftigt haben, die im späteren
Novellentext weit auseinander liegen: der ersten Beschreibung von Vater und Sohn Haien und der Erzählung
von der Wasserfrau durch die alte Trien' Jans . In beiden Fällen ist er sich nämlich über die Namen der Personen
noch nicht im Klaren gewesen, als er zu schreiben begann. Das „Concept“ zeigt zunächst die Namen „Hauke
Heins“ und „Tede Heins“; etwas später wird Haukes Vater vom alten Deichgrafen als „Tede Hauken“
angesprochen. Trien' Jans heißt zuerst die „alte Magd Vollina“; Storm streicht diesen Namen und ersetzt ihn
durch „Trien Jans“. Die endgültige Schreibweise mit dem Apostroph erscheint erst in der „Reinschrift“. „Trien
Jans“ heißt die Alte auch schon in der später niedergeschriebenen Szene, die aber in der Novelle an früherer
Stelle erscheint, als Hauke ihr den Angorakater erwürgt. Auch Ole Peters heißt zunächst, als Hauke beim
Deichgrafen als Kleinknecht eingestellt wird, „Harke Volkerts“ und später beim Eisboßeln „Harke Peters“.
Aus diesem Textbefund, der Storms Unsicherheit bei der Namenssuche belegt, schließe ich, dass es kein früheres
Konzept gegeben haben kann als das von Storm als „Concept“ bezeichnete Manuskript. Dieses ist aus
Einzelszenen allmählich herangewachsen, war das einzige Manuskript während des Schreibprozesses zwischen
Frühling und Winter 1887, diente als Grundlage für die Herstellung der „Reinschrift“ und wurde auch nach
Absendung der Druckvorlage an den Verlag weiter benutzt.
Folgendes Beispiel soll zeigen, wie Storm einzelne Szenen erarbeitet hat. Die bereits erwähnte Erzählung von
der Wasserfrau (Königs Lektüren, S. 101ff.) lässt im „Concept“ vier Erzählteile erkennen. Nach einer Einleitung
mit genauer Beschreibung des Erzählortes, der Küche, mit der Erzählerin Trien' Jans und ihrer Zuhörerin Wienke
folgt die zweiteilige Sagen-Erzählung, an die sich ein Dialog zwischen Trien' Jans und Hauke Haien anschließt.
Der Gesamttext erscheint im „Concept“ folgendermaßen (die Abschnittsnummerierung wurde von mir zur
besseren Orientierung hinzugefügt):
So lebten die Menschen in auf dem Deichgrafshofe still beisammen; wäre das Kind nicht dagewesen, es hätte viel gefehlt.
Allmählich ging der Sommer, die Zugvögel waren waren <so! > vorbei durch gezogen, die Luft war ohne
Lerchenlaut leer vom Gesang der Lerchen; nur vor den Scheunen wo sie Körner pickten, her sah hörte man hie u.
da noch eine mit Gekreisch davon fliegen; denn es war Alles hart ge-froren. In der Küche des Haupthauses saß die alte
Trien Jans auf dem Holzstuhl, der hinter dem Heerde stand. Sie Es war, als sei sie in den letzten
Wochen wieder aufgelebt; sie saß am Vormittage gern dort in der Küche; ihr es war keine f Rede davon,
(1) daß ihre Beine sich sie n. dahin trage hätten tragen können. Das S Das Kind kniete an ihrer Seite u. sah
sie an mit seinen stillen Augen in die Flammen, die aus dem Herdloch flackerten ihre eine Hand klemmte sich um den Aermel der
Alten, die Andre lag in ihrem eignen fahlblonden Haar. Die Flamme fleckerte im Heerdloch, Die Alte
erzählte: „Du weißt“, sagte sie, und neigte ihren schweren Kopf über den des Kindes, „ich stand in
Dienst bei deiner Urgroßmutter, als Hausmagd u. dann / <Seite 63> mußte ich die Schweine füttern;
da war es - es ist grausam lange her - aber eines Abends war es, der Mond schien, da ließen sie die
Schleuse schließen u. /
(2) <Seite 39> die alte - saß in der Küche am Feurheerd etc du weißt sagte sie zu d. kl. Wienke ich stand in Dienst bei d. Großvater,
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Der Schimmelreiter
das war ein klug „Da ließen sie die Hafschleuße schließen u. sie konnte nicht wieder zurück in See. Oh wie
schrie sie und griff mit ihren Fischhänden sich in die struppigen langen harten Haare. Ja, Kind ich sah es
u. hörte sie selber schreien! Die Gräben waren alle voll von Wasser u. der Mond schien darauf, daß sie
wie Silber glänzten u. sie schwamm aus einem Graben in den andern; aber hinaus in die See das konnte
sie nicht. und hob die Arme u. schlug, was sie an Händen hatte, zusammen, als wenn sie betete; aber
beten können diese Creaturen nicht und so konnte sie nicht hinaus. Ich saß hier vor der Thür auf dem
großen Stein, wo ich s jetzt sitze u. sah weit über die Fennen; und das Wasserweib sie schwamm immer zu in
den Gräben und wenn sie die Arme hob, so glitzerten auch die wie Silber u. Demanten; denn der Mond
schien immer noch. Zuletzt sah ich sie nicht mehr, und die Vögel in der Luft Wasserfrösche, die die ganze Zeit
geschwiegen hatten, begannen wieder zu quarren, erst in einem Graben und bald pfeifen u. zu schnattern im
ganzen Koog herum.“
Es war die nur alte Magd Vollina Trien Jans, die in der Küche am Feuerheerd saß; denn es war Winter und
draußen lag Alles unter Frost; aber in der Küche war es warm. Das Kind, Ddie schwachsinnige Wienke,
kniete an ihrer Seite und sah mit todten glasigen Augen zu ihr auf. Die Finger der einen Hand klemmten
(3) sich um den einen Aermel der Alten, die andre lag in ihrem eignen fahlblonden Haar: „Konnte sie nicht
beten? Was sagtest du? Wer war es?“ frug sie. „Kind“, sagte die Alte; „die Wasserfrau war' es; d das sind
Undinger, die nicht sellig werden können.“ „Nicht selig!“ wiederholte das Kind u. ein langer Seufzer
kam aus der kleinen Brust. /
<Seite 40> Läßt ihn sitzen?
„Vollina Trien Jans!“ rief eine tiefe Stimme von der Küchenthür, und die Alte zuckte leicht zusammen; es
war der Deichgraf Hauke Haien, der dort am Ständer lehnte. „Was redet Sie dem Kinde da? gHab ich Ihr
nicht geboten, Sie solle Ihre Mären für sich zu behalten oder sie draußen an die Gäns u Hühner
erzählen.
(4)
Die Alte sah ihn mit einem bösen Blick an und schob die Kleine von sich fort. „Das sind nicht Mären“,
murmelte sie in sich hinein; „mein Großohm hat's es mir selbst erzählt.“ „Ihr Großohm, Vollina Trien? Ihr
Sie wollte es ja eben selbst gesehen haben!“ „Das ist egal; aber Ihr glaubt nichts, Hauke Haien; Ihr wollt
wohl meinen Großohm noch zum Lügner machen!“ Dann rückte sie näher an den Herd u. streckte ihre
Hände über das Feuerloch.
Die Abschnitte 2, 3 und 4 gehören zu den ersten Textteilen, die der Dichter niedergeschrieben hat, das kann
man - wie ich oben bereits ausgeführt habe - an dem korrigierten Namen der alten Magd erkennen. Storm
konnte Sagen von Wasserfrauen in Karl Müllenhoff Sagensammlung finden, an der er selber mitgearbeitet hatte.
In einer von C. P. Hansen beigesteuerten Erzählung wird eine Meerfrau an den Strand gespült und von zwei
Sylterinnen nach Hause getragen. Sie schreit so lange, bis man sie wieder in ihr Element zurückbringt. Storm
entwickelt zunächst die Vorstellung von einer Meerfrau, die nicht wieder in die See zurück kann, weil man die
Hafschleuse geschlossen hat. Die kurze Erzählung der alten Magd (2) suggeriert ein persönliches Erlebnis mit
intensiven sinnlichen Wahrnehmungen, indem sie betont, alles selber gehört und gesehen zu haben. Dieses
Erlebnis wird durch eine genaue Beschreibung der Fennen und Gräben sowie des Mondes und der von diesem
beleuchteten Meerfrau als authentisch verbürgt. Als die Erzählerin die Wasserfrau nicht mehr sehen kann, hört
sie stattdessen die „Wasserfrösche“ im ganzen Koog herum „quarren“. Es ist also das poetisierte Bild einer
Sommernacht, das Storm zunächst skizziert. Der Schreibstrom bricht ab und wird unmittelbar danach auf dem
selben Blatt wieder aufgenommen. Es entsteht der Abschnitt (3), in dem nun die Reaktion der schwachsinnigen
Zuhörerin auf das Erzählte geschildert wird. Diese hat nur verstanden, dass Wasserfrauen nicht beten können,
eine Deutung der wahrgenommenen verzweifelten Gestik jenes von seinem Element abgetrennten Wesens
durch die Erzählerin. Auf ihre entsprechende Frage reagiert die Erzählerin mit der Erklärung, dass Wasserfrauen
„Undinger“ seien und nicht selig werden könnten.
Der Neubeginn des Erzählstroms in Abschnitt (3) nennt neben dem Ort (“in der Küche am Feuerheerd“ auch die
Zeit (“es war Winter“). Dadurch entsteht aber ein sehr starker Kontrast zu dem Vorstellungsbild, das im
Abschnitt (2) imaginiert wird, und das durch die erwähnten Frösche mit Sommer konnotiert ist. Also streicht
Storm (wann genau, lässt sich am Text nicht ablesen) die Frösche und ihr Quarren und ersetzt sie durch eine
andere Wahrnehmung: „die Vögel in der Luft“ begannen zu „pfeifen u. zu schnattern“; damit wird der harte
Kontrast gemildert, der zunächst durch den Kontrast von Sommer und Winter enstanden ist. Außerdem sucht er
nach einer Alternative zu dem Adjektiv, mit dem er Wienkes geistige Beschränkteit charakterisieren will. Die
zunächst „toten Augen“ erscheinen ihm zu hart und er ersetzt sie durch die „glasigen Augen“. Im selben
Arbeitsgang wird Abschnitt (4) niedergeschrieben und erst danach Abschnitt (1).
In Abschnitt (1) verwendet Storm die bereits vorhandenen Erzählteile (2) und (3). Die Erzählung findet während
des Winters in der vom Herdfeuer erwärmten Küche statt. Storm übernimmt außerdem das in Abschnitt (3)
skizzierte Bild der gespannten Aufmerksamkeit der kleinen Zuhörerin („ihre eine Hand klemmte sich um den
Aermel der Alten, die Andre lag in ihrem eignen fahlblonden Haar“). Damit ist die Substanz der Erzählung von
der Wasserfrau einschließlich Zeit und Raum, in denen erzählt wird, fertig skizziert und bildet eine in sich
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Der Schimmelreiter
stimmige Einzelszene.
In Abschnitt (4) wird die Sage von dem Wasserweib nun mit der ganzen Novellenhandlung und ihrer komplexen
Erzählstruktur in Beziehung gesetzt. Die ganze Szene wird zunächst von der Gespenstergeschichte getragen, die
von einem jener Menschen in der Novelle erzählt wird, der Naturereignisse durch magische Kräfte zu erklären
versuchen. Trien' Jans gehört zu der Gruppe von Erzählern, die sich mit dem Aberglauben identifizieren, den der
Schulmeister vor Beginn seiner Erzählung erwähnt; zugleich repräsentiert sie aber auch diejenigen, von denen
der Deichgraf der Rahmenerzählung sagt, sie könnten das Geschehen „richtig“ erzählen (Königs Lektüren, S. 7).
Und er meint dies im Gegensatz zur Erzählung des Schulmeisters, der es nur „am besten“ erzählen könne.
Der Gegensatz zwischen dem Schulmeister und der Deichgrafenmagd Antje Vollmers als potenziell „richtiger“
Erzählerin spiegelt sich auch in der hier in Betracht stehenden Szene, da sie von Storm erweitert wird. Bisher ist
der Leser davon ausgegangen, dass die Sage von der Wasserfrau von Trien' Jans nur der kleinen Wienke erzählt
wurde, der blöden Tochter des Deichgrafen. Aber ein bisher unsichtbarer Zuhörer meldet sich zu Wort: Hauke
Haien hat nämlich im Nebenzimmer zugehört. Er mischt sich ein und gebietet der Magd, seiner Tochter keine
„Mären“ zu erzählen. Zwar weist Trien' Jans das Wort „Mären“ zurück, aber ihre Begründung, sie habe es selber
vom „Großohm“ erzählt bekommen, widerspricht der von ihr zuvor selbst behaupteten unmittelbaren
Wahrnehmung des erzählten Vorgangs. Auf diesen neuen Widerspruch weist Hauke sofort hin, aber die Alte
kontert: „Das ist egal; aber ihr glaubt nichts“ und beendet damit das Gespräch. Der Zusammenhang zwischen
der Wasserfrau und der für sie tödlichen Schleuse, der sich als Deutung aus der Mär von Trien' Jans herauslesen
ließe, bleibt Hauke im Gegensatz seiner Tochter Wienke verschlossen. Zunächst weigert er sich, dem Erzählten
irgendeine Wahrhaftigkeit zuzugestehen. Im Anschluss wird der Gegensatz vom „richtig“ und „am besten“
Erzählenkönnen dem aufmerksamen Leser an einem Beispiel veranschaulicht. Hauke reitet unmittellbar nach
dieser Konfrontation mit Wienke hinaus ans Meer; als sie dort undeutliche Erscheinungen im Nebel sehen,
versucht der Vater seiner Tochter die Ursache der unheimlichen Gestalten zu erklären. Er kann es „am besten“,
in dem er Vögel als Ursachen der verzerrten Bilder nennt, die nach Fischen jagen. Aber Wienke versteht diese
Erklärung nicht. Die geistig zurückgebliebene Tochter des Deichgrafen kann offenbar nur die von Trien' Jans
„richtig“ erzählte Mär begreifen. Das Beispiel zeigt, in welch frühem Stadium Storm es bereits versteht, gerade
erst konzipierte Szenen in Hinblick auf das Ganze der Novellenkonzeption zu funktionalisieren, in unserem
Beispiel sogar vor der Überarbeitung des Erzählkerns der Sage von der Wasserfrau.
[...]
Ein anderes Beispiel (Königs Lektüren, S. 21ff.) zeigt, wie dieser Erweiterungs- und Präzisierungsprozess vom
„Concept“ zur „Reinschrift“ von Storm noch gesteigert wird. Es handelt sich um die erste Begegnung zwischen
Elke und Hauke, nachdem der Junge beschlossen hat, sich um die Stelle eines Kleinknechts beim Deichgrafen zu
bewerben. Die Szene lautete im „Concept“:
„Dank auch, Vater,“ sagte Hauke und stieg zu seiner Kammer hinauf, wo er sich auf die Bettkante setzte und
darüber nachsann, weshalb denn sein Vater ihn über Elke Volkerts angefahrn rufen habe. Er kannte sie
freilich; <nachträglich eingefügt> das ranke 18jährige Mädchen mit dem braunen schmalen Antlitz und den
schwarzen Brauen, die wet über den trotzigen Augen u. der feinen langen Nase in einander liefen aber doch nur so
oben hin; nun wenn er zum alten Tede Volkerts ging, wollte er sie doch besser darauf ansehen, was es mit dem
Mädchen auf sich habe. Und gleich wollte er gehen, damit kein anderer ihm die Stelle abjage. Als er dann
seine Sonntagsjacke und seine ein paar festen Stiefeln angezogen hatte er bald am Leibe.
Als der lange Junge aufgeschossene junge Mensch danach die hohe Werfte, die an den Seiten des Aufstiegs überall mit Kohl u.
Rüben bepflanzt war, hinaufsprang sah er die Tochter des HausWirths neben der niedrigen Hausthür stehen; der eine
etwas hagere Arm hing schlaff herunter, die andre Hand schien hinter sich in den Eisenring zu greifen, die
zu be von denenje einer zu jeder zur ZSeite der Hausthür in der Mauer waren, damit, wer vor an die Thür ritt,
sein Pferd daran befestigen konnte. Die Dirne schien von dort ihre Augen auf über den Deich nach dem
Meer hinaus zu haben, wo eben an dem stillen Abend die Sonne in das Meer Wasser hinabsank und zugleich das
braune
Mädchen mit ihrem letzten Schein umgoldete.
Hauke wundert sich, dass sein Vater eine Anspielung auf sein Verhältnis zu Elke Volkerts ausgesprochen hat.
Der Text konstatiert zunächst knapp, dass Hauke sie kennt, schränkt aber ein „nur so oben hin“. Hauke
beschließt, sich das Mädchen genauer anzuschauen und zieht seine besten Kleidungsstücke an. Der zweite
Abschnitt erzählt nur vom Gang zum Hause des Deichgrafen und davon, dass Elke gerade vor dem Hause steht.
Eine nachträglich in das „Concept“ eingefügte Ergänzung aber gibt eine genaue Beschreibung der
Deichgrafentochter, die nicht mehr übereinstimmt mit Haukes erster Erinnerung an eine Wahrnehmung von
Elke „nur so oben hin“. Der Text bestimmt nun das Alter Elkes (18 Jahre) und beschreibt ihre Figur sehr genau:
sie ist „rank“, hat ein „braunes schmales Antlitz“, „schwarze Brauen“, einen „feine lange Nase“ und - eine
besonders genaue Beobachtung- „trotzige Augen“. Die Textergänzung konterkariert Haukes frühere Aussage im
inneren Monolog, nach der er sie nur oberflächlich angesehen haben will, denn er kann sich aus der Erinnerung
ein sehr genaues Bild machen. Dies nun bestätigt dem Leser , dass der Vater Haukes im vorausgehenden
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Der Schimmelreiter
Gespräch mit seinem Sohn diesen wegen Elke nicht ohne Grund „scharf“ angesehen hat. Aber dieses auf den
späteren Handlungsprozess vorausdeutende Signal erschien Storm noch nicht deutlich genug. In der
„Reinschrift“, Seite 37-38, ist daraus folgendes geworden:
'Dank auch, Vater!' sagte Hauke und stieg zu seiner Schlafstatt auf dem Boden; hier setzte er sich auf die
Bettkante und sann, weshalb ihn denn sein Vater um Elke Volkerts angerufen habe. Er kannte sie freilich,
das ranke achtzehnjährige Mädchen mit dem bräunlichen schmalen Antlitz und den dunklen Brauen, die
über den trotzigen Augen und der schmalen Nase in einander liefen; doch hatte er noch kaum ein Wort
mit ihr gesprochen; nun, wenn er zu dem alten Tede Volkerts ging, wollte er sie doch besser darauf
ansehen, was es mit dem Mädchen auf sich habe. Und gleich jetzt wollte er gehen, damit kein Andrer ihm
die Stelle abjage; es war ja kaum noch Abend. Und so zog er seine Sonntagsjacke und seine besten Stiefel
an und machte sich verließ guten Muths auf den Weg das Haus.
<nachträglich eingefügt> Das langgestreckte Haus des Deichgrafen war durch seine hohen Werfte, besonders
durch den höchsten Baum des Dorfes, eine gewaltige Esche, schon von weitem sichtbar; der Großvater des
jetzigen, der alte erste Deichgraf des Geschlechtes, hatte in seiner Jugend sie eine solche osten der Hausthür hier gesetzt;
aber die beiden ersten Anpflanzungen waren vergangen, und so hatte er an seinem Hochzeitsmorgen diesen
dritten Baum gepflanzt, der noch jetzt mit seiner immer mächtiger werdenden Blätterkrone in dem hier unablässigen Winde wie
von alten Zeiten rauschte.
Als nach einer Weile einiger Zeit der lange aufgeschossene Mensch Hauke die mit Rüben und Kohl bepflanzte
hohe Werfte hinaufstieg, welche an den Seiten mit mit Rüben und Kohl bepflanzt war, sah er droben die Tochter des
Hauswirths neben der niedrigen Hausthür stehen. Ihr einer etwas hagerer Arm hing schlaff herab, die
andere Hand schien hinter im Rücken nach dem Eisenring zu greifen, von denen je einer zu beiden Seiten
der Thür in der Mauer war, damit, wer vor die Thür das Haus ritt, sein Pferd daran befestigen könne. Die Dirne
schien von dort ihre Augen über den Deich hinaus nach dem Meer zu haben, wo an dem stillen Abend die
Sonne eben in das Wasser hinabsank und zugleich das bräunliche Mädchen mit ihrem letzten Schein
vergoldete.
Zunächst wird der ursprüngliche Text vollständig aus dem „Concept“ übernommen und sprachlich überarbeitet
noch einmal ausführlicher formuliert. Dann aber fügt Storm erneut einen Text ein, in dem das Haus des
Deichgrafen beschrieben wird. Das Auffällige an dem Anwesen ist die hohe Esche, die vom jetzigen Deichgrafen
gepflanzt wurde. Es handelt sich um die dritte ihrer Art, denn „die beiden ersten Anpflanzungen waren
vergangen“. Das dreifache Baumleben wird so zum Symbol für den Stammbaum der Deichgräflichen Familie,
deren Verstand - wie wir bald aus einer provozierenden Äußerung von Tede Haien erfahren werden - im dritten
Gliede verschlissen ist. Der zusätzliche Hinweis des Erzählers, dass der jetzige Deichgraf diesen Baum „an
seinem Hochzeitsmorgen“ gepflanzt hat, verweist zunächst auf die Fruchbarkeit seiner Eheverbindung, der aber
- zu seinen Leidwesen - gar kein Sohn, sondern nur eine Tochter entsprungen ist. Gleichzeitig ist es die erste
Wahrnehmung, die Hauke vom Haus des Deichgrafen hat, noch bevor er Elke erblickt. Dadurch verweist der
Text symbolisch auch auf die künftige Hochzeit der beiden. Storm poetisiert im Prozess der Szenenerweiterung
also seine Texte nicht nur, er schafft auch Symbolkomplexe, die auf eine weitere Bedeutungsebene verweisen,
die hinter den Landschafts- und Situationsschilderungen verborgen ist. Für den geübten Leser setzt er deutlich
erkennbare und damit auch deutbare Zeichen, die ein Verstehen des zunächst verborgenen Textsinns
ermöglichen.
Storm hat an insgesamt 16 Stellen der „Reinschrift“ auf den freien Seiten Texte nachgetragen, zumeist kurze
Einschübe, aber auch längere Abschnitte. Mehrfach notiert er „Zur Verdeutlichung“, woraus erkennbar ist, dass
diese späten Ergänzungen bei einem nochmaligen Lesen bereits geschriebener Textpassagen, vielleich sogar des
fertigen Manuskripts, entstanden sein müssen. Insgesamt umfassen diese Einschübe 165 Zeilen, von denen nur
35 bereits im „Concept“ entworfen wurden. Der Text des längsten Nachtrags („Reinschrift“, S. 77, 55 Zeilen) fehlt
dort ganz. Es handelt sich um die Unterbrechung der Erzählung des Schulmeisters, bevor er von der Zeit nach
Haukes Weggang vom Hofe des Deichgrafen berichtet. Eingefügt ist ein Abschnitt des inneren Erzählrahmens,
in dem zwei Männer die Erzählung im Wirtshaus unterbrechen, als sie davon berichten, wie der gespenstige
Schimmelreiter sich in den Bruch gestürzt hat. Durch dieses Ereignis ändert sich die Situation im Wirtshause
schlagartig, denn fast alle Zuhörer verlassen die Stube, um draußen Wache zu halten. So bleiben Erzähler und
Schulmeister allein zurück. Der Schulmeister bittet seinen übrig gebliebenen Zuhörer, mit auf seine Kammer zu
kommen, wo die Erzählung von Hauke Haien ihre Fortsetzung finden soll. Mit dieser Erweiterung beabsichtigte
Storm aber mehr, als eine Zäsur der langen Erzählung; als die anderen nämlich aufgrund des Berichts von der
Gespenstererscheinung hinausgelaufen sind, bleibt der Schulmeister auf seinem Platz sitzen und zeigt „ein
überlegenes, fast mitleidiges Lächeln“ (Königs Lektüren, S. 48). Und er begründet seine überlegene Haltung mit
den Worten: „Ich wohne hier im Hause; und glauben Sie mir, ich kenne die Wetter hier am Deich; für uns ist
nichts zu fürchten.“ Die Textergänzung soll also noch einmal nachdrücklich die aufgeklärte Position des
Schulmeisters von der abergläubischen Furcht der übrigen Marschbewohner abgrenzen; wie in der
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Binnenerzählung stehen auch in der Rahmenerzählung die beiden möglichen Sehweisen von Naturgewalten und
Deichtechnik einander unvermittelt gegenüber. Hauke Haiens Taten haben bis heute, also bis in die erzählte Zeit
des Rahmens, nichts am abergläubischen Wesen der einfachen Menschen geändert, signalisiert uns der Text.
Aus: Gerd Eversberg: „Vor der Deichnovelle habe ich einige Furcht“ Storms letzter Schreibprozess im Spiegel der
„Schimmelreiter“-Textzeugen. In: G.E. u.a. (Hg.): Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Geburtstag.
Würzburg 2000, S. 323-348.
Fiktive Mündlichkeit im „Schimmelreiter“
Der Erzählvorgang selbst ist für die gesamte Novellistik Storms bedeutsam; Erzählen und Erinnern werden zu
zentralen Mitteln seiner realistischen Darstellung. Storm wählt das Erinnerungsmotiv, „um in dem Leser den
Eindruck hervorzurufen, dass aus der Erinnerung heraus erzählt wird“. Auch dadurch erreicht der Autor eine
gewisse Nähe zu lebendigem mündlichen Erzählen. Diese Fiktion der Mündlichkeit ist aber nicht nur für die
Entwicklung der Stormschen Erzählkunst von Bedeutung, sie bleibt charakteristisches formales Merkmal bis zur
Altersnovelle „Der Schimmelreiter“.
In der kunstvoll geschachtelten Rahmenerzählung seines Hauptwerks werden die Ereignisse um den
Deichgrafen Hauke Haien von drei Erzählern mitgeteilt; in einem äußeren Rahmen berichtet der namenlose
Erzähler von seiner Jugendzeit, in der er auf die Geschichte vom gespenstischen Reiter beim Durchblättern von
Zeitschriften gestoßen sein will; der Erzähler beschreibt die Erinnerung an die Lektüre aber so, als ob es sich um
eine mündliche Erzählung gehandelt habe. Er lässt nun diese Ereignisse von einem Reisenden erzählen, dem
beim Ritt über den Deich bei einer Sturmflut ein Gespenst erscheint.
In einem Gasthof entfaltet erst der dritte Erzähler, ein alter Schulmeister, die Geschichte von Hauke Haien als
mündlichen Bericht. Allerdings hat der Schulmeister den Deichgrafen nicht gekannt, er kann also auch nur das
erzählen, was ihm mündlich zugetragen wurde.
Mich wollte nachträglich ein Grauen überlaufen: „Verzeiht!“ sprach ich, „was ist das mit dem Schimmelreiter?“
Abseits hinter dem Ofen, ein wenig gebückt, saß ein kleiner hagerer Mann in einem abgeschabten schwarzen
Röcklein; die eine Schulter schien ein wenig ausgewachsen. Er hatte mit keinem Worte an der Unterhaltung der
Anderen teilgenommen; aber seine bei dem spärlichen grauen Haupthaar noch immer mit dunklen Wimpern
besäumten Augen zeigten deutlich, daß er nicht zum Schlaf hier sitze.
Gegen diesen streckte der Deichgraf seine Hand: “Unser Schulmeister“, sagte er mit erhobener Stimme, „wird
von uns hier Ihnen das am besten erzählen können; freilich nur in seiner Weise und nicht so richtig, wie zu
Haus meine alte Wirtschafterin Antje Vollmers es beschaffen würde.“
„Ihr scherzet, Deichgraf!“ kam die etwas kränkliche Stimme des Schulmeisters hinter dem Ofen hervor, „daß Ihr
mir Euern dummen Drachen wollt zur Seite stellen!“
„Ja, ja, Schulmeister!“ erwiderte der Andere; „aber bei den Drachen sollen derlei Geschichten am besten in
Verwahrung sein!“
„Freilich!“ sagte der kleine Herr; „wir sind hierin nicht ganz derselben Meinung“; und ein überlegenes Lächeln
glitt über das feine Gesicht.
„Sie sehen wohl“, raunte der Deichgraf mir ins Ohr; „er ist immer noch ein wenig hochmütig; er hat in seiner
Jugend einmal Theologie studiert und ist nur einer verfehlten Brautschaft wegen hier in seiner Heimat als
Schulmeister behangen geblieben.“
Dieser war inzwischen aus seiner Ofenecke hervorgekommen und hatte sich neben mir an den langen Tisch
gesetzt. „Erzählt, erzählt nur, Schulmeister“, riefen ein paar der Jüngeren aus der Gesellschaft.
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Der Schimmelreiter
„Nun freilich“, sagte der Alte, sich zu mir wendend, „will ich gern zu Willen sein; aber es ist viel Aberglaube
dazwischen, und eine Kunst, es ohne diesen zu erzählen.“
„Ich muß Euch bitten, den nicht auszulassen“, erwiderte ich; „traut mir nur zu, daß ich schon selbst die Spreu
vom Weizen sondern werde!“
Dieser Textauszug vom Anfang der Novelle zeigt, dass Storm die dreifache Erzählerfiktion um eine weitere
ergänzt; der Schulmeister wird in einem Atemzuge mit der alten „Wirtschafterin Antje Vollmers“ genannt. Diese
repräsentiert die einfachen Leute vom Lande, die von Hauke Haien - genau wie der Schulmeister - nur aus
älteren Erzählungen wissen; im Gegensatz zu diesem glauben sie aber an Spuk und an Übernatürliches und
würde daher das Vergangene in ganz anderer Weise erzählen. Selbst der Schulmeister, der vom Deichgrafen
gerade als Gelehrter charakterisiert wurde und später der Aufklärung zugerechnet wird, relativiert das, was er
zu erzählen beabsichtigt, mit dem Hinweis, dass viel Aberglauben dazwischen sei, und erst der fiktive Zuhörer,
der Erzähler der zweiten Ebene also, traut es sich zu, die Spreu vom Weizen zu sondern.
Eine ähnliche Konstellation von Aufklärung und Aberglauben finden wir innerhalb der Erzählung wieder; dort
stehen sich der rational kalkulierende Hauke Haien und einige Knechte und Mägde gegenüber, die in einem
„Konventikel“ eine Mischung von Aberglauben und radikalem Pietismus praktizieren.
Durch diesen Erzählgriff erscheint Hauke Haien in der Erzählung des Schulmeisters einerseits als vernünftiger
Neuerer und vorausdeutendes Genie, andererseits aber auch als unheimlicher Teufelsbündner, wie er von den
abergläubischen Mägden und Knechten gesehen wird. Beide Sichtweisen werden in der Erzählung kunstvoll
miteinander verflochten, und der zuhörende Reisende erklärt dem Leser nicht, ob und wie es ihm gelungen ist,
die „Spreu vom Weizen“ zu trennen. Im Gegenteil, am Ende der Erzählung des Schulmeisters bleibt als einzige
Gewissheit, dass die Körper Haukes und der Seinen verschwunden blieben, nicht einmal Gräber gibt es von
ihnen.
Spuren, die von der Existenz Hauke Haiens künden, sind nur der Deich und die Erinnerung von Menschen;
letztere ließ sich aber auch im komplexen Erzählvorgang - die Erzählung des Schulmeisters wird mehrfach
durch dialogische Reflexionen auf das Problem unterbrochen - nicht in Gewissheit und Vermutung, wirklich
Geschehenes und bloß Fantasiertes trennen.
Als der Deichgraf der Rahmenerzählung in den Gasthof zurückkehrt, relativiert er gegenüber dem Reisenden die
Erzählung des Schulmeisters auf seine Weise noch einmal:
„Alles vorüber!“ sagte er. „Aber unser Schulmeister hat Ihnen wohl schön was weis gemacht; er gehört zu den
Aufklärern!“
“Er scheint ein verständiger Mann!“
„Ja, ja, gewiß; aber Sie können Ihren eigenen Augen doch nicht mißtrauen; und drüben an der anderen Seite, ich
sagte es ja voraus, ist der Deich gebrochen!“
Ich zuckte die Achseln: „Das muß beschlafen werden! Gute Nacht, Herr Deichgraf!“
Damit lässt Storm den Leser vollends im Unklaren darüber, ob die Ereignisse, die vorher mit dem Namen Hauke
Haien in Verbindung gebracht wurden, der Sphäre der nüchternen Aufklärung angehören, oder ob sie nur
Ausgeburten einer abergläubischen Fantasie sind. Und da der Reisende - dem Leser zeitlich und vom modernen
Bewusstsein nahe - selber bloß einen Spuk wahrgenommen hat, bleib für den Leser die Frage nach der Existenz
Hauke Haiens offen. Die andere Möglichkeit, die von den Nichtaufgeklärten geglaubt wird, gewinnt durch den
Erzählvorgang sogar noch an Wahrscheinlichkeit. Jeder erzählt von Hauke Haien so, wie er ihn sieht; jeder
dieser Erzählansätze wird wieder relativiert, obwohl Storm seine Erzähler im Prozess des Erzählens sich des
Erzählten mehrfach vergewissern lässt. Das Mittel, um den Leser schließlich im Unklaren zu lassen, ist die
Fiktion des mündlichen Erzählens. Sie eröffnet unterschiedliche, ja konträre Deutungsmöglichkeiten.
Mit der Fixierung einer Erzählung als Text und mit ihrer Veröffentlichung wird Oralität nicht immer endgültig
in Literarität überführt, wie das Beispiel der Schimmelreiter-Sage in Nordfriesland zeigt, von der am Beginn die
Rede war. Storm sammelt mündliches Erzählgut seiner Heimat nicht nur, um es zu dokumentieren und ihm
einen angemessenen Platz innerhalb der Kulturgeschichte des deutschen Sprachraums zuzuweisen, sondern er
benutzt es auch als Material, das von ihm nach der ersten Überführung in ein handschriftliches Manuskript in
unterschiedlicher Weise literarisch verwendet wird. Der Grad der Veränderung vorgefundenen Textmaterials
spiegelt die zunehmende erzählerische Souveränität des Autors. Aber selbst innerhalb eines fixierten
literarischen Textes, der den Prozess hin zum „Werk“ durchlaufen hat, kann das Verhältnis von Mündlichkeit
zur Schriftlichkeit so in der Schwebe gehalten werden, dass der Textsinn mehrdeutig bleibt. Storm führt uns das
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Der Schimmelreiter
im „Schimmelreiter“ durch eine komplexe Erzählstruktur vor.
Aus: Gerd Eversberg: Mündlichkeit/ Schriftlichkeit/ Drucktext. Literarische Produktion als Medienwechsel (am Beispiel
von Sagen und Spukgeschichten). In: Theodor Storm und die Medien. Berlin 1999, S. 49-66.
11. Rezeptionsgeschichte
Die Geschichte der Deutung des „Schimmelreiters“ stellt nach Regina Fasolds Forschungsbericht 1 einen
wesentlichen Teil der Rezeptions von Storms Gesamtwerk dar. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wird –
wie bereits von der älteren Storm-Forschung – Hauke Haien als „Willensmensch“ und „schöpferische
Einzelpersönlichkeit“ gefeiert, weil er sich aus der Masse der wenig aktiven Menschen heraushebt. Der Konflikt
zwischen Individuum und Gemeinschaft endet für den Helden tragisch, weil er unausweichlich ist (Franz
Stuckert und Walter Silz). Dagegen hat Peter Goldammer als Ursache für das Scheitern des Deichgrafen dessen
gesellschaftliches Versagen betont, also seine Unfähigkeit, sich auf die Mentalität seiner Mitmenschen in der
dörflichen Gesellschaft einzustellen.
„Der Schimmelreiter”, Gemälde von Alexander Eckener, 1941. (Storm-Haus, Husum)
In den folgenden Jahrzehnten hat es verschiedene Versuche gegeben, die Frage nach der Ursache von Hauke
Haiens Untergang zu beantworten; dabei wurde betont, dass der Deichgraf als reiner Vernunftmensch wichtige
Bereiche des menschlichen Lebens ausklammert und das Irrationale der Natur nicht begreift. Jost Hermand sah
in Hauke Haien den Prototypen des „gründerzeitlichen Übermenschen“, dessen Scheitern in seiner
Selbstüberschätzung gründet. Storm übt danach in seiner Novelle Kritik an den Auswüchsen der
gesellschaftlichen Veränderung zur Entstehungszeit, also den späten 1880 Jahren im deutschen Kaiserreich.
Nach 1970 konzentrierte sich die Forschung vor allem auf den landesgeschichtlichen Hintergrund der Novelle
(Holander, Laage, Lohmeier und Barz); es wurden die Quellen und die Entstehungsgeschichte der Erzählung
erarbeitet und das Verhältnis von Novellenfiktion und der realen Deichbaugeschichte ermittelt. Die Erforschung
der Schreibprozesse Storms wird bis heute fortgesetzt und konnte durch die Sicherung immer neuer Dokumente
sehr verfeinert werden.
1
Regina Fasold: Theodor Storm. Stuttgart 1997. (Sammlung Metzler 304), S. 158ff. Aus dieser Darstellung werden einige wichtige Ergebnisse
vorgetragen; die erwähnten Beiträge werden im Literaturverzeichnis aufgelistet.
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Der Schimmelreiter
Wolfgang Frühwald deutet den „Schimmelreiter“ vor dem Hintergrund von Darwins Theorie vom Kampf ums
Dasein, während Winfried Freund aus einer geschlechtsspezifischen Sicht argumentiert und der männlichen
Welt von Hauke Haien eine weiblich bestimmte Welt gegenüberstellt, in der Fürsorge, Mitgefühl und Vertrauen
herrschen. Harro Segeberg fragt in seiner umfangreichen Studie nach der Aktualität des Textes für die
Gegenwart und betont den Geschlechterkampf, in dem Hauke Charakterschwächen zeigt, die es ihm verwehren,
über seine technisch-rationale Weltsicht hinauszukommen und einen Blick auf die belebte Natur zu werfen, wie
das Elke in ganz anderer Weise vermag.
In den letzten Jahren ist die Ebene des Aberglaubens der bäuerlichen Welt wieder in den Blick genommen und
Haukes Tun als Teufelpaktgeschichte gelesen worden; welche Bedeutung diese Tradition im Zusammenhang mit
Storms weltanschaulichen Positionen hat, ist noch nicht hinreichend beleuchtet worden. Schließlich hat man in
der 1990er Jahren verstärkt auf die Erzählstruktur der Novelle geachtet und sieht die Bedeutung dieser
Erzählung vor allem in der Mehrdeutigkeit des Textes, der dem Leser unterschiedliche Sichtweisen auf Hauke
Haien und seine Welt ermöglicht. Storm gibt keine eindeutige Erklärung für das, was sein Held tut und erleidet,
er bietet aber eine ganze Reihe von Erklärungen an, indem er eine Vielzahl von Erzählern von Ereignissen
sprechen lässt, deren Authentizität an keiner Stelle verbürgt ist. Der Erzählvorgang selbst ist für die gesamte
Novellistik Storms bedeutsam; Erzählen und Erinnern werden zu zentralen Mitteln seiner realistischen
Darstellung. Storm wählt das Erinnerungsmotiv, um in dem Leser den Eindruck hervorzurufen, daß aus der
Erinnerung heraus erzählt wird. Auch dadurch erreicht der Autor eine Nähe zum mündlichen Erzählen. Diese
Fiktion der Mündlichkeit ist charakteristisches formales Merkmal des „Schimmelreiter“. In der kunstvoll
geschachtelten Rahmenerzählung werden die Ereignisse um den Deichgrafen Hauke Haien von drei Erzählern
mitgeteilt; in einem äußeren Rahmen berichtet der namenlose Erzähler von seiner Jugendzeit, in der er auf die
Geschichte vom gespenstischen Reiter beim Durchblättern von Zeitschriften gestoßen sein will; der Erzähler
beschreibt die Erinnerung an die Lektüre aber so, als ob es sich um eine mündliche Erzählung gehandelt habe.
Er läßt nun diese Ereignisse von einem Reisenden erzählen, dem beim Ritt über den Deich bei einer Sturmflut
ein Gespenst erscheint. In einem Gasthof entfaltet erst der dritte Erzähler, ein alter Schulmeister, die Geschichte
von Hauke Haien als mündlichen Bericht. Allerdings hat der Schulmeister den Deichgrafen nicht gekannt, er
kann also auch nur das erzählen, was ihm mündlich zugetragen wurde. Dieser Text der Novelle zeigt, daß Storm
die dreifache Erzählerfiktion um eine weitere ergänzt; der Schulmeister wird in einem Atemzuge mit der alten
Wirtschafterin Antje Vollmers genannt. Diese repräsentiert die einfachen Leute vom Lande, die von Hauke Haien
- genau wie der Schulmeister - nur aus älteren Erzählungen wissen; im Gegensatz zu diesem glauben sie aber an
Spuk und an Übernatürliches und würde daher das Vergangene in ganz anderer Weise erzählen. Selbst der
Schulmeister, der vom Deichgrafen gerade als Gelehrter charakterisiert wurde und später der Aufklärung
zugerechnet wird, relativiert das, was er zu erzählen beabsichtigt, mit dem Hinweis, daß viel Aberglauben
dazwischen sei, und erst der fiktive Zuhörer, der Erzähler der zweiten Ebene also, traut es sich zu, die Spreu
vom Weizen zu sondern.
Eine ähnliche Konstellation von Aufklärung und Aberglauben finden wir innerhalb der Erzählung wieder; dort
stehen sich der rational kalkulierende Hauke Haien und einige Knechte und Mägde gegenüber, die in einem
Konventikel eine Mischung von Aberglauben und radikalem Pietismus praktizieren. Durch diesen Erzählgriff
erscheint Hauke Haien in der Erzählung des Schulmeisters einerseits als vernünftiger Neuerer und
vorausdeutendes Genie, andererseits aber auch als unheimlicher Teufelsbündner, wie er von den
abergläubischen Mägden und Knechten gesehen wird. Beide Sichtweisen werden in der Erzählung kunstvoll
miteinander verflochten, und der zuhörende Reisende erklärt dem Leser nicht, ob und wie es ihm gelungen ist,
die Spreu vom Weizen zu trennen. Im Gegenteil, am Ende der Erzählung des Schulmeisters bleibt als einzige
Gewißheit, daß die Körper Haukes und der Seinen verschwunden blieben, nicht einmal Gräber gibt es von
ihnen.
Spuren, die von der Existenz Hauke Haiens künden, sind nur der Deich und die Erinnerung von Menschen;
letztere ließ sich aber auch im komplexen Erzählvorgang - die Erzählung des Schulmeisters wird mehrfach
durch dialogische Reflexionen auf das Problem unterbrochen - nicht in Gewißheit und Vermutung, wirklich
Geschehenes und bloß Phantasiertes trennen.
Als der Deichgraf der Rahmenerzählung in den Gasthof zurückkehrt, relativiert er gegenüber dem Reisenden die
Erzählung des Schulmeisters auf seine Weise noch einmal; damit läßt Storm den Leser vollends im Unklaren
darüber, ob die Ereignisse, die vorher mit dem Namen Hauke Haien in Verbindung gebracht wurden, der Sphäre
der nüchternen Aufklärung angehören, oder ob sie nur Ausgeburten einer abergläubischen Phantasie sind. Und
da der Reisende - dem Leser zeitlich und vom modernen Bewusstsein nahe - selber bloß einen Spuk
wahrgenommen hat, bleib für den Leser die Frage nach der Existenz Hauke Haiens offen. Die andere
Möglichkeit, die von den Nichtaufgeklärten geglaubt wird, gewinnt durch den Erzählvorgang sogar noch an
Wahrscheinlichkeit. Jeder erzählt von Hauke Haien so, wie er ihn sieht; jeder dieser Erzählansätze wird wieder
relativiert, obwohl Storm seine Erzähler im Prozess des Erzählens sich des Erzählten mehrfach vergewissern
lässt. Das Mittel, um den Leser schließlich im Unklaren zu lassen, ist die Fiktion des mündlichen Erzählens. Sie
eröffnet unterschiedliche, ja konträre Deutungsmöglichkeiten.
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12. Dokumente zur Interpretation
Die folgenden Auszüge aus der Literatur über Theodor Storm sollen beispielhaft zeigen, wie man die Novelle des
Dichters unterschiedlich deuten kann. Die Interpretation ist das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit einem
Text, sie ist aber nicht eindeutig und zwingend, das heißt, verschiedene Interpreten können ganz verschiedene
Deutung ein und desselben Werkes anfertigen. Die Deutung hängt von sehr viel verschiedenen Faktoren ab. So
gibt es innerhalb der Literaturwissenschaften unterschiedliche Methoden (Wege), literarische Werke zu deuten.
Man kann beispielsweise die Biografie des Autors bei der Deutung seiner Texte berücksichtigen, oder die
Interpreten haben ein besonderes Weltbild und deuten Literatur von diesem Standpunkt aus.
Gerade beim Schimmelreiter zeigt ein Vergleich der hier abgedruckten Deutungen, wie wenig von der
Vielschichtigkeit möglicher Bedeutungszusammenhänge durch einseitige Interpretationsmethoden erfasst wird.
Zugleich zeigen diese Interpretationsbeispiele, dass von einer Deutung nicht die gesamte Vielfalt möglicher
Bedeutungen erfasst werden kann. Erst die Zusammenschau unterschiedlicher Methoden wird uns das
Verständnis erleichtern, das ja eigentlich für jeden interessierten Leser die ganz persönliche Deutung des Werks
voraussetzt.
Johannes Klein: Geschichte der deutschen Novelle (1956)
Das Werk als Schicksal: „Der Schimmelreiter“
Storms letztes Werk, kurz vor seinem Tode fertig geworden, ist die monumentalste deutsche Novelle seit dem
„Kohlhaas“ und unfertig wie dieser. Wie der „Kohlhaas“ begeistert er und befremdet dann, läßt keine letzte
menschliche Annäherung zu, ja über den „Kohlhaas“ hinaus wird das Menschliche zu groß und einsam. Und
trotz äußerer Abrundung sind die Teile nicht gleichmäßig durchgeführt. Es ist das letzte Werk eines todkranken
Dichters und enthält alles Heldentum eines Geistes, der sich gegen einen gebrechlichen Leib durchsetzt. Daß
aber das letzte Werk bei allen Fragwürdigkeiten das gewaltigste ist, bleibt ein seltener Fall. Es bedeutet viel,
wenn man Storm neben Kleist nennen muß. Nicht nur innerhalb der Geschichte unserer Novelle, sondern auch
unseres Geisteslebens überhaupt ist damit eine Wertordnung berührt. Das ist umso wichtiger, als die Wege
beider Dichter so verschieden waren. Kleist trat mit seinen Novellen als ein Fertiger auf und starb früh. Storm
reifte in einer langsamen Entwicklung und vollendete sich im Alter.
Der Grundzug des „Schimmelreiters“ ist dem des „Kohlhaas“ verwandt. Bei Kleist kämpft ein einzelner gegen die
übermächtige Ungerechtigkeit der Welt, bei Storm ein einzelner gegen die Elementarmacht und menschliche
Verstocktheit. Kleists Kohlhaas und Storms Hauke Haien erliegen, um einen Ausdruck Schillers zu gebrauchen,
in Sympathie mit der ewigen Übermacht.
Wir haben es mit einer doppelten Rahmennovelle zu tun. Die erste umschließt die zweite, und dadurch rückt
das halb geschichtliche, halb gespenstische Geschehen in noch größere Ferne.
[...]
Zwei Leitmotive fügen sich zueinander: das des Schimmelreiters, mit dem die Hauptgestalt in die Mitte tritt, – es
wird durch das Motiv des Gespensterpferdes ins Unheimliche gerückt – sowie das des Opfers. Seinem Werk
hingegeben, muß Hauke selber als lebendiges Opfer sein Werk festigen. Jedes Werk schaut über Jahrhunderte
und nicht nur über ein kurzes Leben, ist also aus dem Dasein von Fleisch und Blut allein noch nicht verständlich.
Das Volk wählt den ihm gemäßen Ausdruck und entmenschlicht den Schimmelreiter. So irrt der Geist des Toten
noch immer um sein Werk und warnt bei Gefahr. So lebt der Schöpfer in seinem Werk. Die Rahmenhandlung
führt auf dies Weiterleben hin. – Gegenmotiv zu den Leitmotiven sind die Vögel, die in den Eisbrüchen Fische
fangen, groß wie Nebelgespenster. Ein Augen-Erlebnis wird Sinnbild für das Elementare, mit dem der
Menschengeist ringen muß. All das ist aus der Wirklichkeit genommen; die seltsamen Gebilde, die vom Meer
aufsteigen, der Dunst, der die Gestalten verändert, scheinen vom Wirklichen ins Gespenstische zu wachsen ...
Storm beläßt diese Mittelwelt mit Absicht in sich und macht sie glaubhaft; so rührt sie an die Grenzen der uns
bekannten Wirklichkeit. – Damit erfüllen die Motive den Sinn, den sie bei Storm seit der mittleren Zeit hatten:
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Der Schimmelreiter
weiterzutreiben und zu deuten. Das Motiv des Pferdes, das Motiv des Opfers sagen, was gemeint ist, so daß
Storm die Tragik seines Helden nicht zu erklären braucht; darin deuten sie. Und sie treiben zugleich weiter, weil
Hauke sich durch sein abergläubisch betrachtetes Tier wie durch die Verhinderung des Deichopfers unbeliebt
macht, die steigende Unbeliebtheit ihn innerlich schwächt und schließlich schuldig macht.
Alles ist auf die innere Mitte: den Deichbau bezogen, und im Mittelpunktsereignis: der Sturmflut, vollendet sich
das novellistische Profil. Es ist eine Charakternovelle, aber mit dem Einschlag von Schicksalhaftigkeit, der für
Storm typisch ist. Hauke Haiens Untergang beginnt dort, wo er den Widerstand gegen die Welt aufgegeben hat,
wo er sich selber untreu wird. In der Wechselwirkung zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft ist er zu
lange Einzelner gewesen und gerät nun ins Gegenteil: er läßt sich gleichmachen. Mit dem Bruch in seinem
Wesen ist auch der Bruch in seinem Werk vollzogen. Diese Entwicklung des Charakters ist folgerichtig, aber er
ist so groß, daß er in sich etwas Ungewöhnliches, fast Gewittriges trägt, und damit wird er unausweichlich:
schicksalhaft. Aber hier geht das Schicksal nicht blind über den Einzelnen hinweg, sondern es ist an den
Menschen gebunden; es verdeutlicht und erfüllt sich in ihm. Die gespenstischen Züge, die man dem
Schimmelreiter andichtet, sind nicht nur von außen her, vom Unverständnis der Menschen aus erklärlich,
sondern sie entsprechen einem innersten Trieb Storms, die Wirklichkeit zu erweitern, durchsichtig zu machen,
ewige Hintergründe für sie zu finden. Zum letzten Mal leistet seine Gestaltung weit mehr als seine
Weltanschauung.
Nach Art der Meisternovellen ergibt sich im „Schimmelreiter“ aus Motiven und Geschehnis die Idee: die
Einsamkeit des bedeutenden Menschen, der Wesentliches für die Menschheit gegen sie durchsetzen muß. Er
muß als Eigenzweck verfolgen, was ihm nicht eigen ist. Er muß daher die Verfolgung auf sich nehmen, die
jeden Eigensüchtigen trifft, und doch trifft sie ihn in seinem Gewissen nicht. So peinigt sie ihn mit Recht und
Unrecht zugleich. Er muß sich an der Schöpferkraft genügen lassen; ihm ist ein großes Maß zugemessen, nur
das Glück der Gemeinschaft nicht. Obendrein trifft ihn jede Schuld mit verdoppelter Wucht. Wo es natürlich ist,
einzustimmen, ist es für ihn Verbrechen, und er sehnt sich doch nur nach Frieden. Wo er ihn schließt, verdirbt
er die mit, zu denen er sich endlich hatte finden wollen. Die Liebesgemeinschaft ist für ihn nur im Bewußtsein
künftigen Heils für das Ganze da, aber nicht als Geschenk der Gegenwart. Das ist Vorbestimmung, aber es wird
mißverstanden als Hochmut und gedeutet als Schuld. Es wird Schuld, wenn der Verbitterte den Riß vertieft,
noch mehr, wenn er in persönlichem Haß um sein Werk als um das Persönlichste kämpft. Schuld ist es, und
doch unausbleiblich, denn woher nähme er sonst die Kraft, selbstlos die Zukunft derer zu lieben, die ihn hassen?
Er nimmt sein persönliches Anliegen zu Hilfe und gerät in den tragischen Widerspruch. Daher verbindet Hauke
den eigenen Gewinn mit dem Gewinn des Werkes, wenn auch der Grund nicht Gewinnsucht, sondern Stolz ist.
Diesem Werkmenschen tritt als Gegengestalt Ole Peters gegenüber, hinter ihm die Bevölkerung, in einigen
Fällen die Arbeiter. Ole Peters ist kein Massenmensch, der gegen den Einzelnen stünde, hat nichts von den
herdenhaft Dumpfen, die sich gegen den Überlegenen aufpeitschen lassen. Er vertritt das selbstbewußte
Mittelmaß, das überall nein sagt, wo es um ein Übermittleres geht, um Gründe nie verlegen, immer im Recht.
Erst schädigt er das Werk, denn rechnet er den Mißerfolg des verstümmelten Werkes seinem Schöpfer zur
Schuld an. Große Dinge zu fassen, ist er nicht klug genug, aber zu klug, um den gefährlichen Anspruch des
Weitblickenden nicht zu wittern. Er ist innerlich zu arm, um das Menschlichste zu fördern, aber zu reich, um
sich als Werkzeug mißbrauchen zu lassen. Er ist die Verzweiflung der schöpferischen Naturen und doch oft die
beste, ausführende Kraft: unfähig, zu schaffen, unentbehrlich, Geschaffenes zu erhalten. Er leistet Widerstand;
er erkennt nicht an. Aber was geleistet ist, übernimmt er.
Diese Urtragödie des schöpferischen Menschen vollzieht sich in der Stimmung großer Landschaft, und die
Landschaft dient dazu, die überzeitliche Gebundenheit dieses einsamen Menschen an ein Gemeinsames zu
verdeutlichen. Er ist ja selber, als ob er aus ihr gewachsen wäre. Die Landschaft ist nicht der Stimmung wegen
da: sie handelt mit. In ihr ist ja, über den Menschen hinaus, der große Widerpart: das Meer, dem Herzen
befreundet und zugleich die äußerste Gefahr. Die Landschaft ist immer da, und ihre Stimmungen sind nicht nur
in der Seele des Menschen empfunden, sondern sie sind wie Zustände einer ungeheuren Gestalt, bald zugeneigt,
bald feindlich. Sie nimmt schließlich den Menschen Hauke in ihre tödliche Gemeinschaft auf; sie bewahrt damit
die Größe seiner geistigen Gestalt. Der gedichthafte Realismus Storms geht ins Mythische über.
Dabei bleibt es tröstlich, daß Elke Volkerts, ein starker Mensch, diesem Mann die Hand reicht, daß sie mit Liebe
neben seiner Einsamkeit her geht, auch wenn diese Liebe in einem tieferen Sinn unfruchtbar bleiben muß, weil
das Kind schwachsinnig ist. Hauke Haien ist das Glück der letzten Liebeserfüllung verweigert; es ist kein Zufall,
daß gerade jenes Motiv der Vögel, die gleich Nebelgespenstern sind, wieder auftaucht, wenn er mit seinem
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Der Schimmelreiter
Kinde auf dem Deich wandert. Bei der Entschiedenheit, mit der Elke liebt und glaubt, könnte er der
Liebeserfüllung näher sein als irgendein anderer. Wie weit sie geht, ist gesagt, wenn Hauke in der Angst um
Elke sogar Gott anfleht. Wie weit sie nicht geht, ahnt man nur.
Dem entspricht die herbe, knappe Sprache, die selten vorher, ausgenommen in „Hans und Heinz Kirch“, bei
Storm eine solche Gedrungenheit angenommen hatte. Sie lebt gleichsam aus dem inhaltstiefen Schweigen.
Beispiele sind die Unterredung zwischen Hauke und seinem Vater, als für ihn ein Platz außerhalb der
väterlichen Hütte gefunden werden muß, oder der Auftritt, als Hauke und Elke einander nach dem Eisboßeln
finden. –
Bei der Größe des Werkes zeigen sich jene voraus angedeuteten Schwächen. Die inneren Linien sind nicht
ungebrochen, auch nicht immer sichtbar. Zuweilen laufen sie sozusagen unterirdisch. Die Entwicklung Haukes
ist nicht immer klar; manches muß man erschließen oder ergänzen. So erfährt man nicht, was in Hauke vorgeht,
wenn er Ehrgeiz und Haß verschließt. Seine Liebe zu Elke steht dadurch im Verdacht, daß sie durch Ehrgeiz
entstellt ist. Die Auswirkung dieser Züge wird nicht greifbar, die erregenden Widersprüche und Fragen, die sich
daraus ergeben würden, sind nicht ausgenutzt. Aber man hat, wie bei allen wesentlichen Dingen, zu fragen, was
da ist und weniger, was fehlt.
Knappheit und Lebensnähe der Darstellung haben durch Storm einen hohen Grad erreicht, ebenso hoch steht
die Gedichthaftigkeit. Die novellistische Form ist in epochenmachender Weise bei ihm durchgebildet worden.
Als er den „Schimmelreiter“ unter Qualen vollendete, bewies er, daß er wie jeder bedeutende Dichter nicht nach
seinem Glück, sondern nach seinem Werk getrachtet hatte.
Johannes Klein: Geschichte der deutschen Novelle von Goethe bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1956, S. 266ff.
Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus (1962)
„Der Schimmelreiter“
Die Novelle „Der Schimmelreiter“, seiner letzten, durch die Nähe des Todes eher gestärkten Novelle, hat Storm
lange Reifezeit gelassen. Er blieb in ihr nicht bei der Psychologie; er ließ auch die bürgerlichen Sicherungen
hinter sich. In ihr sind alle Grundmotive und Stimmungen seiner Spätzeit vereinigt; verdichtet zum SpukhaftDämonischen der Dinge und zum irrational Verhängnishaften des Mensch-Seins. Die doppelt zurückspiegelnde
Rahmengebung, die das ergreifend Unerhörte des Vorgangs wie seine sagenhafte Ungewißheit, die
Betroffenheit durch ihn wie seine Distanz im Unfaßbaren einprägen soll, deutet auf eine künstlerisch nicht voll
bewältigte Spaltung zwischen Storms lyrischem Stimmungsstil und dem mehr dramatisch-balladesken
Tatsachenstil. Sie deutet auf eine unklare Mischung von subjektivierter Erzählweise und aus sich sprechender
objektivierter Gegenständlichkeit. Dies beeinträchtigt die Einheit des Erzählgefüges. Storm fand in „Der
Schimmelreiter“ in einem psychologisch wahrscheinlichen und dennoch zum Dämonisch-Gespenstischen
entrückten Ablauf, in einem mit Erregungsakzenten gestrafften Lebensbild und in dessen von außen und innen
zuwachsender Tragik die knappe, herbe Gestaltung dessen, was sich in ihm seit 1870, noch immer nicht voll
ausgeschöpft, vorbereitet hatte. Die psychologisch-rational nicht auflösbaren Spannungen, die er zur
Formeinheit von Heldenballade und Tragödie, Wirklichkeitsereignis und mythisierender Sage brachte, prägen
ein, wie er kraft ihrer Stilisierungen die Novelle zur Symbolsprache des Irrationalen führen konnte. Es bleibt
nicht beim Stimmungsreiz, obwohl der äußere Rahmenansatz auf ihn einzustimmen scheint; ebenso ist die
einsame Figur des Hauke Haien, trotz ihrer gesteigerten Individualität, nicht auf das Psychologische begrenzt.
Hauke Haien gewinnt aus Landschaft und Volkstum, denen Storm hier die dichteste Eigenwirklichkeit gegeben
hat, als sozialer Emporkömmling und seelischer Aristokrat, als geradezu vermessener Individualist des Willens
und der Tat eine umfassendere Typik. Sie weitet sich in das Mythische, je mehr sich sein Leben der
Verwobenheit von Schuld, Schicksal und Tod entgegenbewegt, unter das Gesetz des Verhängnishaften gerät.
Dies prägt sich aus, wo in seiner Katastrophe der Zufall, die Folgen seiner Taten und das Schicksal mit
schwebenden Konturen ineinander übergehen. Ein psychologisches Geschick, sozial begründet, durch
Volksnatur und Umwelt determiniert, geht in die Traumwirklichkeit des Magisch-Gespenstischen über, die sich
in Gerücht und Sage spiegelt. Volkstypus und Landschaft, das Elementare, Ungebändigte eines eigensinnig
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harten Charakters, Wille und Getriebenheit, Leidenschaft und Verhängnis bilden das Ganze eines vielschichtigen
Schicksals. Es wird durch die gestufte Rahmenhandlung, durch beständige Übergänge im Halbdunkel gehalten,
dem Begreifen angenähert und während seiner Steigerung zur Katastrophe mehr und mehr entrückt. Das
Verhältnis zwischen dem mythischen und geschichtlichen Bereich, dem Magischen und Psychologischen bleibt
absichtlich im Unklaren.
Storm hat in der Symbolsprache des „Schimmelreiter“ die Grenzen des Realismus und seines Immanenzdenkens
geöffnet, aber nicht verlassen. Die Novelle muß auch als Zeichen des dichterischen Ungenügens an dessen
eingeschränkter Stilform verstanden werden. Der mißlungene Rahmen erweist, wie die Novelle über seine
bisherige Formtypik hinausstrebte. Auch die rationalistisch-moralische Schlußbemerkung des
schulmeisterlichen Innenerzählers, die mit dem Widerspruch von Heiligem und Nachtgespenst spielt und die
Hauke auf „einen tüchtigen Kerl“ reduzieren will, der die anderen „um Kopfeslänge überwachsen hat“, fällt
gegenüber der Innenhandlung, ihrer „Urgewalt der Verbindung von Menschentragik und wildem
Naturereignis“, ihrem „Dunklen und Schweren an Meeresgröße und -mystik“ ins Leere. Diese Innenhandlung
weist auf eine Irrationalität, die Storm mittels Vorstellungen der Volksmythik im Schweben zwischen Wahn und
Wahrheit dargestellt hat. Die Volksmythik deutet auf übermenschliche Mächte im und jenseits des
Innerweltlichen. Sie brachen schon in „Hans und Heinz Kirch“ in der nächtlichen Todeserscheinung des Sohnes
durch; in „Der Schimmelreiter“ ist Storms imaginative Tiefensicht, sein dichterisches „zweites Gesicht“ ganz zu
sinnlich-atmosphärischer Bildgestaltung gekommen. Hauke Haien, vom Träumerischen zum Tathaften
gewandelt, stellt die dynamische Steigerung jener spröden und besessenen Leidenschaftsnaturen dar, die
Storms spätere Menschentypik durchziehen. In ihm lebt eine junge Generation, die in tatkräftiger Anspannung
des Selbstwillens ins Maßlose drängt, die Enge des Veralteten sprengt, das Herkommen auflöst – bis zur
Herausforderung des Schicksals, zum Umschlag des gerechten Tuns in das Gewalthafte. Es geht hier nicht um
eine moralische Schuld, obwohl die Frage nach seiner Verantwortung, seinem Vergehen am besonnenen Maß
anklingt, mehr um eine Existenzschuld, die im Unbedingten des Willens liegt, den zwar das objektive Werk
rechtfertigt, der aber im subjektiv Ichhaften vermessen wird. Storm hat alles getan, um dies Geschick aus der
Vielschichtigkeit und Relativität seines So-Sein-Müssens in dieser Umwelt verständlich zu machen; er hat mit
großer Kunst der bei allem Detail verhaltenen Sprache des „Symptomatischen“ die innere Motivation im
Schwebend-Vieldeutigen gelassen. Dazu gehört das Aussparen der verbindenden Erzählglieder, einer
psychologischen Verdeutlichung. Die Novelle wird vom Szenischen, Bildhaften, einer pseudodramatischen
Vergegenwärtigung in Bild und Bewegung beherrscht. Die gleiche Stilform des Erzählaufbaus kehrt bei C. F.
Meyer und Fontane wieder – als Ausdruck eines gesteigerten Objektivismus der Erzählführung. Storm hat den
„Schimmelreiter“ auf einem vielspurigen Verweben der Widersprüche aufgebaut, das keine einsinnige Auflösung
zuläßt. Denn erst das Irrationale in Zufall, Schuld und Geschick macht die immanente Paradoxie, den tragischen
Widerspruchscharakter des Lebens aus. Hauke Haiens Kampf um die Sicherungen von Land und Leben gegen die
Elemente löst gerade deren zerstörerischen Einbruch aus. Sein Wille, sie zu beherrschen, gibt ihn ihnen preis.
Der klare Rechner wird zum besessenen Träumer, der das Maß des Möglichen überfordert. Der Abkömmling
kleiner Bauern arbeitet sich zum Herrn der Deichgemeinschaft empor, aber er wird von denen abhängig, die er
als dumpfe Masse bekämpft und verachtet. Seine Leidenschaft zu Tat und Geltung ist das Zeichen einer
Schwäche, die der Emporkömmling, der durch seine Frau zum Deichgrafen Beförderte, der Vater des blöden
Kindes, fühlt. Er will die Ordnung, aber er löst das Chaotische aus. Er strebt nach Dauer, aber in seinem Haus
und Kinde ist ein Verfall vorgekündigt. Er verdankt die Hälfte seiner Existenz seiner Frau und er reißt, indem er
sich ihrer würdig zeigen will, sie und sein Kind in den Untergang. Gerade den kühnen Geist spinnt die Sphäre
des Aberglaubens ein, in der sich Wahn und Wahrheit mischen. Er kann sich nicht aus ihr lösen. Im Willen, Herr
zu sein, wird er zum Opfer seines Werkes. Es dient der Gemeinschaft, aber er braucht Gewalt gegen sie. An die
Pflicht zum Ganzen hingegeben, ist er zu erstarrender Einsamkeit verurteilt. Sein Ermüden und Nachgeben,
scheinbar ein sich mäßigendes Einlenken, wird zur Schuld, als die entscheidende Anstrengung gefordert wird.
Er rettet die hilflose Kreatur vor der Opferung, aber er muß sich selbst, hilflos, mit dem Verlust von Weib und
Kind der Seele seines Lebens beraubt, opfern: „Herr Gott, nimm mich; verschon die andern!“ Das Heillose und
das Recht verquicken sich bis zum letzten Augenblick. Der Herrgott bleibt über dieser Wirklichkeit fern: „Du
weißt ja auch, der Allmächtige gibt den Menschen keine Antwort – vielleicht, weil wir sie nicht begreifen
würden.“ In Hauke Haien verwirklichen sich Kraft, Trotz und Schwäche, die Lebensleidenschaft und Einsamkeit
des auf sich gestellten Menschen. Es gehört zum Unheimlichen dieses Widerspruchs, daß der Schimmelreiter,
der im Leben von der Dauer seines Namens träumte, nach seinem Tod als ein ruheloses Gespenst an seinen
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Der Schimmelreiter
Deich gebannt ist, unerlöst an sein Schicksal gefesselt, so daß er zugleich in seinem Werk als Held, Retter und
Schrecken des Volkes nachlebt. Noch der letzte Satz der Novelle nimmt diesen Widerspruch auf, wenn auch ins
Stimmungshaft-Tröstliche getönt. Daß Storms Erzählwerk mit dieser Einsicht in die Ausgesetztheit des
Menschen im radikalen Widerspruch schloß, prägt ein, welchen tragischen Aspekt seine Weltauslegung
gewonnen hatte. Der Mensch, vergeblich kämpfend, groß in seiner Natur- und Seelenkraft, seinem Ehrgeiz zu
Ehre und Werk, der das Heldische in das bürgerliche Arbeits- und Willensethos, in die Moralität des sozialen
Dienstes und Opfers umsetzt, bleibt gleichwohl ohne Schutz und Trost, einsam und als Geopferter, dem
rätselhaft Paradoxalen des Schicksals gegenüber. Das Meer, das die sichernden Dämme benagt und durchbricht,
ist das Symbol jenes Verhängnishaften, das, im Menschen ausgelegt, aus dem Natürlichen und dem
Übernatürlichen einbricht und zerstört, wie groß auch die Anspannung wird, es abzuwehren. Das Vernichtende,
eine Macht aus dem Unfaßbaren, ist unaufhaltsam.
Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848-1898. Stuttgart 1962, S. 662ff.
Regina Fasold: Theodor Storm. Stuttgart 1997
Der Schimmelreiter ist Storms umfangreichste, komplexeste und zugleich künstlerisch anspruchsvollste Novelle.
Über die besonders Interessante Verarbeitung verschiedener Quellen und über die Textgenese, an deren Ende
die Streichung eines ursprünglich vorgesehenen Schlusses in den Korrekturfahnen zum Zeitschriftendruck steht,
ist ausführlich nachzulesen in LL, Bd.3, S.1049-1082. Der ursprüngliche Schluß der Novelle, den Laage erst 1979
auffand, wird zitiert in ebd., S. 1060-1062. Er ist für die Interpretation insofern unverzichtbar, als er die
Intention des Autors im Zusammenhang mit der mythischen Ebene dieses Textes verdeutlicht: Die ursprüngliche
Fassung desavouierte sehr stark die irrationalen Vorstellungen als eine Sicht abergläubischer Menschen ohne
intellektuelles Gewicht und menschliches Format, wogegen die letzte Fassung die aufklärerische Kritik an den
verschiedenen Formen des animistischen Weltbilds der Dorfbewohner zurückdrängt.
Die Herausforderung an die Interpreten dieses meistgedeuteten Textes stellt sich sowohl auf der Ebene der
Erzähltechnik, des doppelten Rahmens und der drei Erzähler mit ihrer Perspektivierung des Erzählten als auch
auf der Ebene des erzählten tragischen Lebensgeschicks der Hauptfigur selbst, das sich eng mir dem Mythos
vom Schimmelreiter verbindet. Hauke Haiens sozialer Aufstieg vom Kleinknecht zum Deichgrafen in einem
nordfriesischen Dorf Mitte des 18. Jahrhunderts hat anders als noch in Hans und Heinz Kirch nicht >nur< den
Erwerb von Besitz und Ansehen durch ein Amt zum Ziel, sondern seine >Karriere< ist auch gekrönt mit dem
alle bisherigen Leistungen auf diesem Gebiet übertreffenden Werk, dem Deich, der sich später mit seinem
Namen verbinden wird. Der Kampf um den sozialen Aufstieg und um das in diesem Aufstiegskonzept
funktionalisierte Werk wird wie in früheren Storm-Novellen auch von familiären Auflösungsprozessen begleitet,
die am Ende in eine Katastrophe tragödienhaften Ausmaßes einmünden, wie sie Storm vorher nicht gezeigt hat:
alle Familienmitglieder, Frau, Kind, Mann und Haustiere kommen in einer großen Sturmflut um, die nicht von
ungefähr deutlich mit Attributen einer Sintflut im christlichen bzw. eines Weltuntergangs im heidnischgermanischen Sinne versehen ist. Die große Symbolkraft dieses Textes erwächst aber nicht zuletzt daraus, daß
Storm durch eine glücklich zu nennende Stoffwahl sein Motivarsenal in weitere, menschliche Bezugsfelder zu
stellen vermag: Hauke Haiens „Kampf“ vollzieht sich zum einen in der differenziert entfalteten Beziehung zur
Dorfgemeinschaft und zum anderen in einer ganz spezifischen Grenzregion zwischen Kultur und Natur, in einer
Küstenlandschaft, in welcher die Bewohner auf Lehen und Tod mit der Gewalt des Meeres ringen. In dieser
Allgegenwart der übermächtigen und zerstörerisch wirkenden Elemente entwickelt der Mensch offenbar - so der
Text auf einer eigenen Diskursebene - zwei, einander ausschließende Grundhaltungen zur Natur: Auf der einen
Seite steht ein vormodernes, atavistisch anmutendes, angstbesetztes Verhältnis, das auf einem begrenzten
Wissen beruht und eng mit einer konservativen Lebensauffassung verbunden erscheint, das in seiner
Naturdeutung jedoch einem ins Unbewußte abgesunkenen kollektiven Erfahrungsbereich verbunden bleibt und
somit den einzelnen wie die Gemeinschaft ganzheitlich erfaßt. Der Ausdruck dieses Verhältnisses ist der
Mythos. Alternativ dazu steht die aufklärerische, auf einem wissenschaftlichen Weltbild beruhende und in
Büchern wie dem Euklids festgehaltene Naturdeutung Hauke Haiens, die rational bestimmt ist, abgelöst von der
eigenen Affektwelt und einer progressiven, veränderungswilligen Lebensauffassung verbunden, der jedoch auch
deshalb im Naturverhältnis deutliche Züge von Vermessenheit innewohnen. Letztere kommen zum Ausdruck in
dem bei Hauke Haien von Beginn an vorhandenen Willen zur absoluten Unterwerfung und Kontrolle des Meeres
und einer damit einhergehenden Geringschätzung der Naturgewalt und des bereits geschaffenen
Menschenwerks. Diese beiden ambivalent strukturierten Grundhaltungen, die durch die verschiedenen
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Der Schimmelreiter
Erzählinstanzen perspektiviert sind und in dem janusköpfigen, doppelgängerischen Hauke Haien als Aufklärer
und als gespenstischer Schimmelreiter fokussiert erscheinen, müßten in ihrer ganzen, kompliziert angelegten
Geltung im Text analysiert werden, enthalten sie doch die noch heute interessierende Zivilisationsproblematik
schlechthin, die dem tragischen Lebensgeschick des Haupthelden seine exemplarische Bedeutung verleiht.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist, daß Storm den Grundwiderspruch des Menschen, Natur- und
Kulturwesen zu sein und damit in einem schwer durchschau- und noch weniger beherrschbaren
Abhängigkeitsverhältnis zu dieser ersten Natur zu stehen, in der entwicklungsromanartig angelegten
Sozialisation des Hauke Haien noch einmal spiegelt. Von Beginn an zeigt der Autor an diesem Charakter, daß
bestimmte, den späteren Aufstieg wie das zu schaffende, überragende Kulturwerk geradezu voraussetzende
Willenseigenschaften - zielorientiertes Durchsetzungsvermögen, asketisches Arbeitsund Tatethos z.B. - auf
einem starken Aggressionstrieb Haiens beruhen, der zerstörerisch wirken kann - wie die Katerszene sehr
deutlich vor Augen führt -, würde er nicht in der Kulturleistung sublimiert: „Ja, man wird grimmig in sich, wenn
mans nicht an einem ordentlichen Stück Arbeit auslassen kann.“, rechtfertigt Hauke Haien die Tötung des Katers
der Trien' J ans vor seinem Vater und verläßt daraufhin dessen Haus, um Kleinknecht beim Deichgrafen Volkerts
zu werden. Das rigide Unterwerfen der eigenen >Natur< unter das kulturstiftende Aufsteigerkonzept gewinnt
seine ganze expansive Dynamik aber erst durch eine psychische Disposition des Haupthelden, deren
Symptomatik in verschiedenen Spielarten in allen Stormnovellen zu beobachten war. Der so willensstarke Mann
ist im Grunde ein selbstwertschwacher Mensch, dessen Identitätsschwäche bereits in seinem
>Familienroman< angezeigt ist. Er wie seine spätere Frau Elke Volkerts wachsen mutterlos auf, ohne
allerdings das „um den weiblichen Einfluß verkürzte Elternhaus einer weiteren Analyse zu unterziehen.
„Mutterseelenallein“ entwickelt dieser beziehungsgestörte Junge, dem es nicht einfiel, mit „denen zu verkehren,
die mit ihm auf der Schulbank gesessen hatten“, das intensivste Verhältnis gerade zum mütterlichen Element
schlechthin, zum Meer, in dem er sich am Ende auflösen wird. In diesem Verhältnis Hauke Haiens zur See wird
aber frühzeitig eine Verkehrung der vom Erzähler als >normal< empfundenen Beziehung deutlich, denn „den
Allerheiligentag, um den herum die Äquinoktialstürme zu tosen pflegen, von dem wir sagen, daß Friesland ihn
wohl beklagen mag, erwartete er wie heut die Kinder das Christfest“. Diesen mütterlichen Bereich Meer vorzugsweise in winterlicher Kälte und im Sturm aufgesucht und offenbar ohne Erwartung einer Spiegelung erfährt Hauke Haien grundsätzlich als Vernichtungsbedrohung. Die in allen Kulturen vorhandene
Bedeutungsebene von Lebensursprung und Lebenserhalt im Mythos von Wasser und Meer - in Storms Märchen
Die Regentrude in eindrücklichen Bildern vorgeführt und noch in der Novelle Psyche bemerkbar - scheint hier
völlig getilgt. Das Wasser ist im Schimmelreiter allein ein Reich des Todes und der Toten, wobei der Erzähler
offen läßt, ob nicht gerade das Grauen vor diesem alles verschlingenden Abgrund den Jungen an den Strand
gefesselt hält. Haiens Beziehung zum Meer deutet im Grunde auf eine innerpsychische Realität, die in der
Vernichtungsbedrohung durch eine aggressive Mutterimago besteht, die die Gewißheit der eigenen Identität,
konstelliert in einer gelungenen Beziehung zwischen Mutter und Sohn, grundsätzlich verweigert und gegen
deren massive Frustration nur der Aufbau von Allmachtsphantasien schützt, die die Realität der Todesdrohung
entwertet: „>Ihr könnt nichts Rechtes>, schrie er in den Lärm hinaus, >sowie die Menschen auch nichts
können!>“. Hauke Haien wird später den Deich sowohl als überdimensionalen Spiegel vor die mütterliche See
stellen, deren schimmernden Fläche ihn niemals gespiegelt hat, als auch als Abwehrkonstrukt gegen die Angst
vor der Zerstörungsgewalt des chaotisch Elementaren errichten. Man kann das seinem aufklärerischen
Rationalismus entsprungene Werk auch als letztlich erfolgloses Bestreben deuten, vergessen zu machen, daß er
dieser grausamen Mutter Sohn war. [...] Die Tragik Hauke Haiens besteht aus der Perspektive seiner Sozialisation
gerade darin, daß seine überragenden intellektuellen Fähigkeiten und seine Willenskraft von Grund auf
kompensatorischen Charakter tragen mußten und ein menschliches Defizit zur Voraussetzung hatten, das sich
in den entscheidenden Augenblicken seines späteren Lebens zwangsläufig gegen ihn kehrt. Durch den hier
angedeuteten Zusammenhang eröffnet sich auch auf die Bindung Haiens an Trien' Jans noch eine spezifische
Sicht: Trien' Jans stellt eine Mutterfigur dar, die deutlich die hexenhaften Züge der >bösen< Mutter trägt, die
sie aber realiter nie war (d.h. auch, daß die Erzählinstanz, der >aufklärerische< Schulmeister, sie mit diesen
Artributen belegt; der Vorgang erforderte eine eigene Analyse). Dieser Mutter erschlägt Haien den Angorakater,
das Geschenk ihres Sohnes, der im Meer umkam, als er „seiner Mutter beim Porrenfangen hatte helfen wollen“,
ein Tier, das von ihr zärtlich wie ein Kind gehegt wurde und ihr Sohn und Mann zugleich ersetzte. Mit dem
Kater tötet Haien somit auch das Substitut eines Sohnes, der geliebt worden ist, das Erinnerungsstück an eine
ihm versagte gute Mutter-Kind-Beziehung.
Die mit der narzißtischen Selbstwertstörung verbundene enorme Kränkbarkeit des „Wunderkinds“ wird
schließlich im Handlungsverlauf, nachdem der Aufstieg zum Deichgrafen bereits geglückt erscheint, zum
Ausgangspunkt für das ehrgeizige Deich-bauprojekt wie letztlich für den Untergang der Familie. In seiner
gesamten Persönlichkeit tief getroffen von dem im Dorfkrug leicht hingeworfenen Wort, er sei nur Deichgraf
„von seines Weibes wegen“, bricht Hauke Haiens starke, archaisch anmutende Vitalnatur im ohnmächtigen Zorn
über die ihm zugefügte Kränkung durch: „>Hunde!< schrie er, und seine Augen sahen grimmig zur Seite, als
wolle er sie peitschen lassen.“ Von seiner Frau daraufhin vor einen Spiegel gestellt, um ihm zu helfen, sich
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Der Schimmelreiter
seiner selbst zu versichern - „>Da steht der Deichgraf!< [...] >nun sieh ihn an; nur wer ein Amt regieren kann,
der hat es!“< - kommt Hauke Haien die Idee von einem Spiegel kolossalen Ausmaßes: Der Deich ist das den
Schöpfer überdauernde Bild seines Größen-Selbst, das er in den Todesraum der Meerlandschaft hineinstellt. Man
erkennt hier einen wesentlichen Aspekt des bereits aus dem Frühwerk Storms bekannten persönlichen Mythos
der dort als toposhaftes Motiv vom lebendig bleibenden Bild der toten Frau, vom mortifizierten Leben in der
Kunst erscheint. Die Gemeinsamkeit zwischen dem vom Erinnernden geschaffenen Bild der Frau in Immensee,
Posthuma, Im Sonnenschein etc. und Haiens Deich im Schimmelreiter besteht darin, daß in diesen >Werken<
das angstbesetzte Natürliche der Kontrolle des Schöpfers unterworfen wird, der in der Beziehung zum
Lebendigen um seinen Selbstverlust bangt. Der neue Deich, so muß betont werden, wird, einer narzißtischen
Größenphantasie folgend, gegen alle Widerstände begonnen und am Ende mit dem eigenen und dem Leben
anderer bezahlt, um sich und der Welt zu erweisen, was die bisherige rastlose Tätigkeit offenbar nicht vermocht
hatte: die Gewissheit der eigenen Identität und die endgültige Überwindung der chronischen Unsicherheit und
Unzufriedenheit mit sich selbst. Erst als sein Name sich wirklich mit dem neuen Koog verbindet, der offiziell den
Namen einer „herrschaftlichen Prinzessin“ trägt, ist Haien am Ziel, das er als rauschhaften Triumph erlebt:
„>Hauke-Haienkoog! Hauke-Haienkoog<. In seinen Gedanken wuchs fast der neue Deich zu einem achten
Weltwunder; in ganz Friesland war nicht seines Gleichen! Und er ließ den Schimmel tanzen; ihm war, er stünde
inmitten aller Friesen; er überragte Sie um Kopfeshöhe, und seine Blicke fiugen scharf und mitleidig über sie
hin.“.
Die Gründe für den Bau des neuen Deichs dagegen, die Haien nach dem Gang ans Meer mit Elke offen bespricht,
sind für ihn von sekundärer Natur, obwohl sie aus seinen Überzeugungen erwachsen, in denen er integer wirkt,
und obwohl nur sie allein, wie er weiß, ein solches Werk in den Augen der Welt legitimieren: die Angst vor der
Jahrhundertflut und ihrem Vernichtungswerk an Menschen und Gütern, denen gegenüber er Verantwortung
trägt. Aber Verantwortungsgefühl und Besitzstreben letzteres als dritter Grund für den neuen Koog angeführt -,
setzen nicht die enormen Energien frei, die für die Umsetzung der großen Idee nötig sind. Diese erwachsen
Hauke Haien allein aus dem Begehren, die tiefe Kränkung zu überwinden, welche in ihm das Gefühl der eigenen
Nichtigkeit erweckt hatte. In diesem manischen Begehren, das wie ein unsichtbarer Motor seine Handlungen
antreibt und das er selbst Elke nicht gestehen kann, bleibt er seinen Mitmenschen unverständlich. Aber noch in
dem Mythos vom Teufelspferd, mit dem sie ihn ins Übermenschliche vergrößern und in dem Angst und
Bewunderung vor der unbegreiflichen Macht seiner inneren, verborgenen Realität mitschwingt, wird nicht nur
der Wille zum Begreifen und Deuten sichtbar, sondern letztlich auch eine Wahrheit über den großen einzelnen.
(Der Text enthält über das >Teufelspferd< hinaus eine Fülle von Zeichen, die einen intertextuellen Bezug zu
christlichen und germanisch-heidnischen Mythologemen eröffnen, deren Bedeutung für die Vita des Helden es
noch zu erschließen gilt). Der Weltuntergangscharakter in den letzten dramatischen Szenen während der
Sturmflut beschwert rückwirkend die Menschenhandlungen erneut mit einer Schuld, deren ganzes Ausmaß den
Beteiligten verborgen bleiben muß, weil sie die figurenimmanenten, von einem historischen Wertesystem
geprägten Vorstellungen von Verantwortung und Schuld generell überschreitet. Am Ende steht - wie in anderen
Novellen Storms auch (vgl. Carsten Curator und Hans und Heinz Kirch) - der sich einer irrationalen Macht
überantwortende Mensch mit der demütigen Bitte um Gnade. Aber Hauke Haiens Selbstopfer, mit dem er diese
Gnade zu erflehen scheint, ist gleichbedeutend mit der Vollendung seines Werks, deren Bedingung gerade die
Vernichtung des Lebendigen darstellt oder - wie es auf der Ebene des animistischen Weltverständnisses der
Dorfbewohner heißt: „soll Euer Deich sich halten, so muß was Lebiges hinein!“
Regina Fasold: Theodor Storm. Stuttgart 1997. (Sammlung Metzler 304), S. 152-158.
David Jackson: Annektion oder Befreiung der Vergangenheit.
"Der Schimmelreiter" (2001)
Die Novelle „Der Schimmelreiter” stellt die reife Endfassung von Storms Humanismus dar. Während sie die
epischen und dramatischen Züge der späteren Werke beibehält, erzielt sie eine ihnen oft abgehende
thematische sowie auch stoffliche Dichte. Dies liegt an der langen Entstehungszeit des Werkes und an der
Tatsache, dass detaillierte, fachliche Beratungen während der Vorbereitungsarbeiten eine Schlüsselrolle gespielt
haben.
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Der Schimmelreiter
Das komplizierte Erzählgefüge ist sowohl Medium als auch Botschaft. Ein erster Erzähler, der in der Gegenwart,
d.h. den späten 1880er Jahren schreibt, erzählt, wie er als Kind „vor reichlich einem halben Jahrhundert” (LL 3,
634) zum ersten Mal bei seiner Urgroßmutter einer Zeitschriftengeschichte begegnete. Der Erzähler dieser
Geschichte, d.h. der zweite Erzähler, berichtet von Vorfällen, die „im dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts”
(LL 3, 634) stattfanden. Er beschreibt, wie er bei einem nächtlichen Ritt auf einem sturmumwehten Deich einer
unheimlichen Gestalt auf einem Schimmel begegnet. Nachdem er ein Wirtshaus erreicht hat und sich im Kreise
des Deichgrafen und seiner Helfer befindet, erzählt ihm der alte Dorfschulmeister die Geschichte von Hauke
Haien, einer in der Mitte des 18. Jahrhunderts lebenden Gestalt, aus der die Dorfgemeinschaft das Deichgespenst
konstruiert hat. Der Schulmeister hat seine Geschichte im Lauf der von ihm im Dorf verbrachten vierzig Jahre
aus den Überlieferungen „verständiger“ Leute und ihrer Nachkommen zusammengestellt. (LL 3, 695) Obwohl er
sich von diesem Bild distanziert, weil er es für lauter Aberglauben hält, fügt er auch Material einer von der
Haushälterin des Deichgrafen Antje Vollmers (LL 3, 639) erzählten Fassung in die Geschichte ein.
Storms Schulmeister-Erzähler wird mit einer scharf herausgearbeiteten persönlichen und auch sozial-historisch
bedingten Identität ausgestattet. Als ehemaliger Theologiestudent hat er Porträts seiner Professoren an den
Wänden seines Zimmers hängen (LL 3, 679), und sein ganzer geistiger Habitus kündet von seiner theologischen
Herkunft. Sein christlicher Glaube enthält rationalistische Elemente, wohingegen die Dorfbewohner, ob
orthodox oder sektiererisch, in beiden Fällen abergläubig sind. Der Schulmeister ist das Produkt einer
ökonomisch statischen, absolutistischen Gesellschaft. Von seinem Standpunkt in den 1830er Jahren blickt er auf
die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück und bemerkt, dass damals von König und Regierung nie die Rede war (LL
3, 688). Obgleich implizit daraus hervorgeht, dass sich die Lage in der Zwischenzeit verändert hat, fehlt,
wenigstens in dieser dörflichen Gemeinschaft, noch jegliche Spur von Forderungen nach Reformen. Was die
Novelle so faszinierend und für Storm so typisch macht, ist, dass gezeigt wird, wie der Schulmeister, auch wenn
er durch die Institutionen und Ideologien des alten Regimes geprägt worden ist, sich tastend anderen Normen
und Idealen entgegenbewegt. Wie andere Stormsche Helden, die die Stütze fortschrittlicher Ideologien und
ökonomischer Kräfte entbehren und auf ihre eignen inneren Kräfte angewiesen sind, vermag er jedoch nicht,
gewisse Widersprüche zu lösen und gewisse ambivalente Haltungen zu überwinden.
Veranschaulicht wird, wie zeitgenössische Anliegen die Darstellungen der Vergangenheit färben. Des
Schulmeisters Deutung von Haukes Leben spiegelt die Probleme wider, die ihn in seiner eignen Gesellschaft
beschäftigen. In dieser Hinsicht ähnelt die Novelle der Erzählung „Die Hochzeit des Mönchs” von C. F. Meyer
(1884), die Storm kannte. Auch dort dient das Verhältnis zwischen Rahmen und Binnengeschichte dazu, die
Beziehungen zwischen Schriftsteller, Erzähler und Gönner bzw. Lesepublikum zu untersuchen; auch sie geht
dem Nexus zwischen aktuellen Problemen und historischen Stoffen nach. Im „Schimmelreiter” dient die Kritik
an Hauke Haiens Schwiegervater und der Gemeinschaft in der Zeit um 1750 als Tarnung für die Kritik des
Schulmeisters an dem Deichgraf und den Dorfbewohnern der Rahmenerzählung. Wie Meyers Novelle
unterstreicht „Der Schimmelreiter” die Grenzen, die aller Kritik an Institutionen und Behörden gesetzt sind.
Die Haltung des Schulmeisters Hauke gegenüber ist durch und durch ambivalent. Dieser missgestaltete
Junggeselle ist nur infolge einer verfehlten Brautschaft in dieser Gemeinschaft geblieben. Vermutlich bekam er
einen Korb, weil er keinen Boden besaß und weil seine schlecht bezahlte Stelle wenig Ansehen genoss. Aus
diesen Gründen fühlt er sich zu Hauke Hauen als seinem idealen Alter Ego hingezogen. Hauke ist ja eine
dynamische Gestalt, die allerlei Probleme überwindet, um ein fortschrittlicher Deichgraf zu werden. Vor allem
erfreut er sich der Liebe und der Unterstützung seiner Frau Elke, die ihm treu bleibt, obwohl sie als Tochter des
Deichgrafen auf einen Ehemann mit viel mehr Grund und Boden einen Anspruch gehabt hätte. Man könnte also
vermuten, dass der Schulmeister Hauke als ein vorbildhaftes Muster darstellen würde. Mit seinen traditionellen
Vorstellungen einer akademischen Ausbildung betrachtet er diesen Autodidakten aber sehr argwöhnisch (LL 3,
639); da er selbst dazu erzogen worden ist, seine gottgegebene Stellung innerhalb des sozialen Gefüges zu
akzeptieren, kann er Haukes Ambitionen nicht restlos gutheißen. Die Attraktivität neuer Begriffe von
individueller Selbsterfüllung wird durch ältere Normen ausgeglichen, die solches Verhalten als Größenwahn und
Hybris verdammen (LL 3, 725). Vertrauen in die Menschennatur und in die Fähigkeit der Menschen, praktische
ebenso wie theoretische Probleme zu lösen, spielt keine Rolle in einem System, in dem die orthodoxe Kirche
ebenso wie die Sekten die Ohnmacht des Menschen und die Vergeblichkeit aller Menschenwerke betonen.
Fasziniert den Schulmeister Hauke Haiens Weigerung, sich einschüchtern zu lassen, - Verhalten, das mit seiner
eigenen Unfähigkeit kontrastiert, mehr zu tun als nur indirekte Kritik zu äußern - , so schließt dies
Schuldgefühle und Selbstvorwürfe dafür nicht aus, dass er selber den Mängeln der Gemeinschaft so
ressentimentbeladen und kritisch gegenübersteht. Diese Gefühle färben seine Darstellung Haukes.
Obwohl er sich in diese Richtung bewegt, nimmt der Schulmeister keine rein humanistische Position ein. Er
verwirft zwar den Glauben an den Teufel, an Gespenster und übernatürliche Zeichen; dennoch fährt er fort, sich
als „ein ehrlich Christenherz” (LL 3, 645) zu bezeichnen; er heißt die Meinung noch gut, dass das geistig
behinderte Kind Wienke eine göttliche Strafe darstellt (LL 3, 645); und er kann nicht entscheiden, ob Elkes
Genesung durch Haukes Gebet oder durch die Arznei des Arztes herbeigeführt worden ist. Vor allem kann er
trotz all seiner auf Hauke projizierten Zweifel seinen Glauben an die göttliche Vorsehung und an eine
moralische Weltordnung nicht überwinden. Wenn die Wirklichkeit tatsächlich das Weltgericht ist, so muss der
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Der Schimmelreiter
Deichbruch als Strafe und Hauke Haiens Tod als göttlichen Vergeltung verstanden werden sein.
Dementsprechend wird Haukes Tod in das tradierte Schema von Schuld, Sühne und Buße eingegliedert.
Trotz der Deutungen des Schulmeisters gelingt es dem Text, Hauke als einen wahren Helden der Humanität zu
schildern. Wie in „Auf dem Staatshof” schafft Storm mit großem Können einen Abstand zwischen der Sehweise
seines Erzählers und den durch den Text vermittelten Wertungen und Deutungen. Hauke ist ohne jegliche
ideologische Stütze: In seiner Kindheit sind seine Fibel und die Bibel seine einzigen Lesestoffe (LL 3, 639). Er
wächst ohne die liebevolle Anleitung einer Mutter und - anfangs wenigstens - ohne jegliche Ermunterung
seitens seines Vaters auf, der seine Fragen nicht beantworten kann, sich über seine vermeintliche
Vermessenheit mokiert, und sogar versucht, sein Interesse an der Geometrie zu unterdrücken, um
sicherzustellen, dass er seine Nachfolge antritt und Kleinbauer bleibt (LL 3, 641). Dank seiner Naturanlage und
seiner vererbten Talente setzt er sich trotzdem durch. Er bringt sich Niederländisch bei, um ein holländisches
Exemplar des Euklid lesen zu können; er übt sein geometrisches Talent durch praktische Versuche und
wissenschaftliche Beobachtungen - Tätigkeiten, die in dieser Gemeinschaft nicht groß angeschrieben sind. Er
setzt sich gegen die durch grausige Geschichten erzeugte abergläubische Furcht zur Wehr und besteht
stattdessen darauf, nach vernünftigen, wissenschaftlichen Erklärungen für angeblich geheimnisvolle
Erscheinungen zu suchen. Dass er die richtige Lösung findet, wird deutlich, als er später die abergläubigen
Geschichten widerlegen will, die Trien’ Jans seiner Tochter erzählt. Er erklärt ihr, dass die scheinbar seltsamen
menschlichen Gestalten in Wirklichkeit Vogelgestalten sind (LL 3, 734). Wie Fritz Basch leidet er als junger Mann
an der Enttäuschung über seine beschränkten Verhältnisse. Das Entscheidende aber ist, dass er, nachdem er den
Kater von Trien’ Jans erwürgt hat, Überlegungen über seine Tat anstellt und Schritte unternimmt, um seinen
Energien den nötigen sinnvollen Spielraum zu sichern. Trotz seiner schlechten Aussichten in einer Gesellschaft,
in der der Besitz eine so große Rolle spielt und wo Ämter dementsprechend übertragen werden, gelingt es ihm
mit Elkes Hilfe, Deichgraf zu werden. Er entwirft und lässt einen Deich bauen, der der ganzen Gemeinschaft
Profit bringt und sie schützt.
In geistiger Hinsicht kämpft er sich zu Positionen durch, die seine christliche Orthodoxie in Frage stellt. Er
zweifelt daran, dass Gott Wunder vollbringen kann, d.h. dass er als Antwort auf Gebete Naturgesetze außer
Kraft setzen kann. Er stellt auch die Lehre der göttlichen Allmacht in Frage (LL 3, 715). Während die Frommen
Stürme und Überschwemmungen als göttliche Heimsuchungen betrachten, es sogar für sündhaft halten, Deiche
zu bauen, kommt er selber dazu, sein Amt dahin zu definieren, die Gemeinde vor unseres Herrgottes Meer zu
schützen. (LL 3, 741). Er macht sich eine Art Pantheismus zurecht: „Ja, Kind, das Alles ist lebig, so wie wir; es
gibt nichts Anderes; aber der liebe Gott ist überall.” (LL 3, 734) Die Erkenntnis, die noch ausbleibt, ist, dass es
nur die Natur gibt.
In den Novellen „Im Schloß” und „Ein Doppelgänger” hatte Storm die Denkprozesse eines Kindes untersucht.
Auch hier veranschaulichen die Szenen zwischen Hauke und Wienke, wie ein kindischer bzw. primitiver Geist
natürliche Erscheinungen animistisch deutet. Die Dorfbewohner und - in gewisser Hinsicht - der
Rahmenerzähler dagegen behalten solche Züge bei. Zu gleicher Zeit unterstreichen diese Szenen Haukes
Entschlossenheit, selbst Wienke wahre Erklärungen zu bieten. Das Tragisch-ironische daran ist, dass, während
die abergläubige Gemeinschaft auf solche Worte nicht achten will, Wienke es nicht kann. Der Text vermittelt die
feuerbachsche Botschaft, dass der einzige sorgende Vater kein göttlicher, sondern ein irdischer ist. Obwohl er
nicht allmächtig und allwissend ist - was Wienke aber glauben möchte - ist Hauke der einzige Mensch, der das
Kind und die Gemeinschaft schützen kann. Die Eltern und sogar die eingespannte Trien’ Jans können „göttliche”
Liebe spenden, und das „Heil” Haukes und Elkes hängt von ihrer gegenseitigen Liebe ab.
Szenen werden eingeflochten, die die tiefe psychologische Anziehungskraft spezifischer christlicher Lehren
verdeutlichen. Die Novelle knüpft so an viele andere Stormsche Novellen an, indem sie das Vereinsamungsgefühl
und das von Menschen empfundene Bedürfnis schildert, Liebe und Zärtlichkeit zu genießen. Nach dem Verlust
ihres Sohnes projiziert die Witwe Trien’ Jans z.B. ihre seelischen Bedürfnisse auf einen Kater. Auch die Religion
bietet surrogate Lösungen. Es wird etwa gezeigt, wie Elke sich nach dem Tod ihres Vaters an einen himmlischen
Vater wendet und Trost in ihrem Glauben an ein Weiterleben im Jenseits sucht. Der Text, wie die frühere Skizze
„In Urgroßvaters Haus” (LL 4, 170) deutet jedoch an, dass von den beiden Inschriften, die in der Novelle erwähnt
werden, es die humanistische („Hest du din Dågwark richtig dån,/ Da kommt de Slåp von sülvst heran” (LL 3,
684) ist, die der Wahrheit näher kommt. Dagegen kann man die zweite Inschrift eher als die vanitas vanitatumBotschaft („Dat is de Tod, de Allens fritt,/Nimmt Kunst u. Wissenschaft di mit;/ De kloke Mann is nu vergan, Gott
gäw em selik Uperstan” (LL 3, 682) verstehen. Das Bedürfnis, an die Vorsehung und an eine moralische
Weltordnung zu glauben, bestimmt viele der Personen in der Novelle, z. B. Jewe Manners (LL 3, 708). Am Ende
der Novelle wird deutlich, wie illusionär diese Vertrauen in die Vorsehung ist. Diejenigen, die wie die
Dorfbewohner behaupten, dass Hauke von Gott gestraft wird, übersehen ihrerseits die Tatsache, dass Elke und
Wienke auch dabei umkommen. Was aus der Novelle hervorgeht, ist eine gott-lose Welt, in der alles von
menschlichen Eigenschaften und natürlichen Faktoren abhängt.
Freilich schildert der Schulmeister, wie Hauke die Hoffnung ausdrücken, sein eigenes Opfer möge die
Vernachlässigung seiner amtlichen Pflicht büßen und die Gemeinde retten. Letzten Endes lehnt er ja Haukes
Projekt als Hybris ab und glaubt als Christ noch an Schuld und Sühne. Nur gibt es hier keinen Gott, der vergibt.
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Der Schimmelreiter
Haukes Tod will anders gedeutet werden. Nachdem er sich vergewissert hat, dass das Dorf sicher ist, stürzt er in
die Fluten, weil ohne Elke und sein Kind sein Leben sinnlos geworden ist. Sein Ende ist in diesem Sinn ein
Liebestod.
Ein letztes Mal berührt Storm eine Kernlehre des Christentums: die Lehre, dass der Opfertod Jesu Christi die
sündhafte Menschheit erlöste. In der Szene, in der die Deicharbeiter im Begriff sind, einen jungen Hund zu
opfern, damit der Deich sich halte (LL 3, 722), wird der heidnische Ursprung solcher Blutopfer angedeutet. Die
Stoßrichtung der Novelle dagegen geht dahin, anzudeuten, dass Hauke Haiens Taten, nicht sein Tod das
Wichtige sind. In dem ursprünglichen Ende geht der Erzähler auf dem Weg zu einer rein materialistischen
Auffassung des Menschenlebens noch einen Schritt weiter, indem er spöttisch darauf hinweist, die Sage
erfordere, dass bei Hochflut Haukes verstäubte Atome sich zu einem Scheinbild zusammenfinden müssen. (LL 3,
1061)
Die Novelle bestätigt weder die Idee eines gespenstischen Lebens nach dem Tod noch wird die orthodoxe Lehre
von der Unsterblichkeit der Seele vermittelt. Dagegen wiederholt sie noch einmal Storms Preisung der
menschlichen Liebe. Mehrmals wird dem Leser diskret vor Augen geführt, wie Elke Hauke ermuntert und
schützt und seinetwegen aktiv wird. Ihre Liebe ist der Eckpfeiler, der seinen ganzen Erfolg trägt. Sie unterstützt
und tröstet ihn während der Jahre der Vorbereitung und des Bauens, auch wenn ihre selbstaufopfernden Mühen
für sie Einsamkeit bedeuten und auch wenn sie sich zuerst mit scheinbarer Kinderlosigkeit und dann mit der
Tatsache abfinden muss, dass Wienke geistig benachteiligt ist. Haukes totale Liebe zu ihr wird auch klar
gemacht. Der wirkliche menschliche Höhepunkt der Novelle ist eigentlich die Szene, in der sie beide sich selbst
und einander zugestehen, dass Wienke geistig zurückgeblieben ist. In einer Gemeinschaft, in der Kinderlosigkeit
oder die Geburt eines geistig zurückgebliebenen Kinds dem Unmut Gottes zugeschrieben wird, haben beide
Elternteile im Stillen mit Schuldgefühlen und schmerzerfüllten Grübeleien fertig werden müssen. In dieser Szene
wird die erlösende Kraft wahrer Kommunikation und „Beichte” unterstrichen: „Da warf sich Elke an ihres
Mannes Brust und weinte sich satt und war mit ihrem Leid nicht mehr allein” (LL 3,372). Die Szene erinnert an
die Gefühle, die dem Gedicht „An deines Kreuzes Stamm o Jesu Christ” zugrunde liegen. Die eheliche Liebe und
die Kommunikation zwischen Mann und Frau machen allein den wahren Trost, die wahre Stütze aus. Zwar mag
Hauke immer noch nicht imstande sein, seine Begriffe von Schuld zu verwerfen, aber er erkennt, dass es ihre
höchste menschliche Pflicht ist, ihren natürlichen Instinkten zu gehorchen und das Kind zu lieben und zu
unterstützen. Deutet man Hauke Haien als gründerzeitlichem Unternehmer oder als Führergestalt, so besteht
die Gefahr, vom Bild des liebevollen Vaters völlig abzusehen, den es glücklich macht, dass sein geistig
behindertes Kind sich an seine Brust schmiegt.
In seiner Darstellung der „Unzulänglichkeiten” sowohl des Individuums als auch der Gesellschaft im
Allgemeinen knüpft die Erzählung an frühere Novellen darin an, dass sie die Rolle vererbter Züge untersucht.
Haukes Vater äußert die pessimistische Überzeugung, dass der Familienverstand im dritten Glied verschleißt (LL
3, 655) Fortschritt und individuelle Leistungen werden also immer bedroht sein. Hauke erbt seine Talente von
seinem Vater; seine Tochter erbt die seinen aber nicht; sie steht im dritten Glied. Auch wirkt in ihr defektes
Erbgut von ihrem Großvater mütterlicherseits. Wie man es von einem ernsthaften humanistischen Bild des
Lebens erwartet, spielen Krankheiten, Altern und Tod eine beträchtliche Rolle in der Novelle. Haukes eigene
„Schuld” resultiert aus seiner Krankheit. Hirnschläge, Krebs und andere Todesursachen werden erwähnt. Das
Entscheidende ist jedoch, wie man auf sie reagiert. Gezeigt wird, wie Elke sich Sorgen um ihren Vater macht;
Hauke gibt scheinbar seine Hoffnungen auf, Deichgraf zu werden, um seinen kränkelnden Vater zu pflegen;
später nimmt Elke Trien’ Jans in ihr Haus und sorgt für sie; ihrerseits sorgt Trien’ dann für Wienke. Storms
Humanitätsglaube akzeptiert das Vorhandensein von Schmerzen und Leiden, betont jedoch, wie wichtig es ist,
sie durch Liebe und Nächstenliebe aufzuheben oder zu erleichtern. Wie in der Novelle „Im Schloß” werden auch
hier lahme Tiere und Vögel gepflegt.
Wenn „natürliche”, körperliche Faktoren menschliche Bestrebungen und Errungenschaften bedrohen, so gilt das
Gleiche für die Hemmnisse, die die Gesellschaft reformgesinnten, aufgeklärten Gestalten in den Weg legen. Ole
Peters symbolisiert nicht „tiefere” traditionelle und dörfliche Tugenden: Er verkörpert vielmehr kleinliche,
egoistische Ambitionen und böswilliges Ressentiment einem Mann gegenüber, der ihm geistig überlegen ist und
der seinen Plan durchkreuzt, die Tochter des Deichgrafen zu heiraten. Der Widerstand gegen Haukes Projekt
wird sehr kritisch dargestellt. Hauke Haien ist kein rücksichtsloser gründerzeitlicher Unternehmer, der nur an
seinen eigenen Profit denkt; das Deichprojekt soll ein kooperatives Gemeinschaftsprojekt sein. Da es allen zum
Vorteil reichen wird, wird erwartet, dass auch alle daran teilnehmen. Geschildert wird, wie Hauke sein
Möglichstes tut, um die Gemeinschaft zu Rate zu ziehen und sie bei jeder Etappe mit einzubeziehen - aber
vergebens. Auf dieser Ebene wenigstens funktioniert die Demokratie nicht. Die Lage entspricht Storms eigner
Enttäuschung über die Weigerung des „Volkes” und der „kleinen Leute”, dem Bildungsbürgertum zu folgen.
Das will aber nicht heißen, dass er irgendein Führerprinzip oder irgendeine autoritäre Alternative empfiehlt.
Dass die Dorfbewohner nicht willig sind, mit Hauke zusammenzuarbeiten, gefährdet das Projekt und die
Gemeinschaft; es verstärkt in Hauke negative Eigenschaften und treibt ihn in seine private Sphäre zurück. In
einer unvollkommenen Welt müssen, so wird suggeriert, menschliche Verarmung, Selbstentfremdung und
Enttäuschung als der Preis des Fortschritts hingenommen werden. Was für tragische Lose die Wohltäter der
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Der Schimmelreiter
Menschheit auch immer ereilen mögen, das Wichtige - das nie verdunkelt werden sollte, aber tragischerweise
oft wird - ist, dass ein sinnvolles Projekt zuende geführt wird. Storms „Existenzialismus” war sehr
humanistischer Natur.
Die Deutungen, die Hauke als arrogant und gebieterisch hinstellen, beruhen oft auf der Annahme, dass die
Dorfbewohner sich der Vernunft gebeugt und sein Projekt unterstützt hätten, wenn er geselliger gewesen wäre,
ihre Sorgen geteilt und ihren Aberglauben hingenommen hätte und wenn er für seine Sache gründlicher
geworben hätte. Solche Visionen sozialer Eintracht und vernünftiger Kooperation zum Besten des Gemeinwohls
entsprechen aber nicht Storms reifer Auffassung der Beziehung zwischen dem aufgeklärten Individuum und
einer entfremdeten unvollkommenen Gesellschaft. Seiner Meinung nach konnte es ein so harmonisches
Verhältnis nicht geben, solange humanitätsfeindliche Ideologien und Institutionen vorherrschten. Individuen,
die den Kampf, die Gesellschaft zu ändern, aufgeben, verraten sich selbst und setzen die vorhandene
Selbstentfremdung fort. Andererseits - und dies bringt auch Tragisches mit sich - werden diejenigen, die sich
weigern, sich resignierend dem Status quo anzupassen, entweder in die Vereinsamung getrieben oder sie laufen
Gefahr, durch die Behörden und die Öffentlichkeit schikaniert zu werden. Ist man mit Staat und Gesellschaft
eins, so ist das der Beweis für Selbstentfremdung und Selbstverrat, d.h. für wahre Schuld.
Die Schuldfrage wird hier ein letztes Mal behandelt. Suggeriert wird, dass Haukes Schuld nicht Hybris, nicht
undemokratisches Verhalten ist; vielmehr liegt sie darin, auf den Rat anderer Mitglieder des Deichausschusses,
vor allem Ole Peters, geachtet zu haben. Dies ist das erste und das einzige Mal, das Hauke dies tut und er tut es
wider sein eigenes besseres Wissen. Wäre er nach seiner Krankheit nicht immer noch schwach gewesen und
hätte er vor der Aussicht zusätzlicher großer Bauarbeiten und erneuter Kämpfe mit dem Deichausschuss nicht
zurückgeschreckt, so hätte er anders gehandelt. Das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft wird
auch hier zugunsten des Individuums akzentuiert. Es wird nicht empfohlen, dass Hauke seine persönlichen
Ambitionen überwinden und die Weisheit der vorliegenden Verhältnisse anerkennen sollte. Indem er die
Ratschläge der Gemeinschaft beachtet, verrät und vernichtet er sich selbst und seine Familie, und fast wäre auch
die ganze seinem Schutz anvertraute Gemeinschaft vernichtet worden.
In einer Gott-losen Welt werden Gut und Böse neudefiniert. Es kommt nicht mehr darauf an, ob Handlungen
einer Gottheit gefallen oder missfallen; Hauptsache ist, dass sie dem Wohl der Gemeinschaft dienen. Pflichten
sind menschliche, soziale nicht gottbezogene, theologische. Wenn Institutionen und offizielle Ideologien keine
aufgeklärten, progressiven Ziele und Normen fördern, dann soll die kleine Zahl von Individuen, die eine gewisse
kritische Unabhängigkeit noch wahren, den Versuch anstellen, aufgrund der von der Aufklärung herrührenden
Traditionen ihre eigenen Wertsysteme auszuarbeiten. Im „Schimmelreiter” wird betont, wie man die Pflichten
erfüllen soll, die einem Amt anhaften, vor allem wenn das oberste Ziel dieses Amtes darin besteht, der
Gemeinschaft zu dienen und sie zu schützen. Die Frage, ob Taten, Unterlassungen oder Nachlässigkeit (LL 3, 661)
diesem Allgemeinwohl schaden, wird zum entscheidenden Wertungskriterium. Ein solcher Begriff der Pflicht
bzw. der Schuld ist für einen Mann typisch, der von aufgeklärten, kantischen Begriffen des sittlichen Imperativs
durchdrungen war und die Ansicht vertrat, dass es das Ziel vernünftig-humaner Beamter sein musste, das
Allgemeinwohl zu fördern. (Dieses Beamtenideal setzt im Gegensatz zum wilhelminischen ein erhebliches Maß
an persönlicher Autonomie voraus.) Die Pflichtvernachlässigung des Deichgrafen und seiner Helfer im
Erzählrahmen ebenso wie ihr Unwillen, in Regen und Kälte hinauszugehen, sind symptomatisch für ihr
allgemeines Versagen, was Unterhalt und Verbesserung der Deiche angeht. Elkes Vater erliegt der Versuchung
der Völlerei, die ihm ein Mittel bietet, um mit seinem Verdruss und seiner Einsamkeit fertig zu werden. Seine
Pflicht vernachlässigt er auf kriminelle Weise. Schuld hat für Storm nichts mit Teufelspakten oder mit dem
Verlust des ewigen Heils zu tun; es geht hier darum, ob man unduldsam, apathisch, feige und nur egoistisch ist.
Indem der Text ironisch die viel ernsthafteren Versuchungen vorwegnimmt, mit denen sich Hauke konfrontiert
sieht und auch auf die biblische Geschichte ironisch anspielt, berichtet der Rahmenerzähler davon, wie er den
Reizen der Grand-Richard-Äpfel seines Vetters fast erlag. (LL 3, 635). Trotz wichtiger Geschäfte verschob er
wegen des schlechten Wetters seine Abreise; auch hätte er seinen Ritt abgebrochen und wäre zu seinem Vetter
zurückgekehrt, wenn er nicht mehr als die Hälfte der Reise schon zurückgelegt hätte, als ihn Sturm und
Dunkelheit auf dem Deich überraschten. Wie beim Deichgraf im Wirtshaus liegt es auf der Hand, dass er seinen
Komfort und seine Bequemlichkeiten nicht entbehren will. So wird suggeriert, dass nur wenige Menschen
dieselbe Entschlossenheit, dem Gemeinwohl zu dienen, an den Tag legen werden, wie Hauke es tut.
Storms Erlebnisse hatten ihn gelehrt, sich vor offiziellen Helden und Heiligen zu hüten. Er folgte dem Rat
Mommsens nicht und verzichtete auf große Gestalten auf großer geschichtlicher Bühne zugunsten seiner
kleinen bürgerlichen Helden. Dadurch, dass sie die Errungenschaften eines kleinen, unbekannten Deichgrafen
lobt, ist Storms Novelle ein demokratisches Werk. Es gibt zu verstehen, dass kleinere, aufgeklärte, praktische
Maßnahmen zum Wohl seiner Mitmenschen auf die Dauer einen größeren Wert beanspruchen können als die
angeblichen Glanztaten der von Historikern und den regierungsfreundlichen Medien gepriesenen Helden und
weltgeschichtlichen Männern. 1888 hatte Storm längst seinen vertrauensvollen Glauben verloren, dass Vernunft
und Wahrheit Werte waren, die überall triumphieren würden, wenn überholte Institutionen und Ideologien erst
einmal entlarvt wären. „Der Schimmelreiter” setzt sich also nicht nur mit dem Problem auseinander, wie trotz
massiven institutionellen und ideologischen Widerstands aufgeklärte Projekte durchgeführt werden können; die
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Der Schimmelreiter
Novelle bietet auch pessimistische Überlegungen zur Frage, ob humane, kritische Ideen und die
Errungenschaften aufgeklärter Reformer bewahrt und verbreitet werden können. Nachdem er im Lauf seines
Lebens das Scheitern so vieler seiner Hoffnungen hatte erleben müssen, konnte im alten Storm keine große
Zuversicht aufkommen, dass Intelligenz und Sittlichkeit imstande wären, den Lauf der Ereignisse entscheidend
zu beeinflussen.
Der Rahmenerzähler veranschaulicht, wie diejenigen, die die Geschichten vor das Lesepublikum bringen, die
Stoßrichtung von Stoffen, die ursprünglich eine kritisch-humanistische Botschaft vermitteln sollten, oft
entweder bewusst neutralisieren oder abschwächen. Es kann aber auch geschehen, dass solche Vermittler dem
Publikumsgeschmack Rechung tragen müssen, wenn ein Werk überhaupt veröffentlicht werden und wenigstens
etwas von seiner kritischen Botschaft übrig bleiben soll. Der Schulmeister selbst hat keinen Zugang zu den
Medien. Im Fall des Rahmenerzählers – er könnte selber Publizist sein - lässt sich letzten Endes nicht ermitteln,
ob er sich als Verbündeten des Schulmeisters empfindet, aber gleichzeitig erkennt, dass er den Erwartungen
seiner Zeitschriftenleser entgegenkommen muss, wenn seine Geschichte bei ihnen gut ankommen soll. Solche
Rücksichten könnten dazu führen, dass er das Gespenstige herausstreicht. Möglich ist aber auch, dass er selber
abergläubig ist. Auf jeden Fall deutet der Text an, dass Angst, Kälte, Müdigkeit und seine Fantasie aus den
Möwen, die ihm in kargen Licht streifen, den gespenstigen Schimmelreiter bilden.
Storm erkannte, dass Gelehrte das Wesen der Religion enträtseln wollten, ebenso wie der Schulmeister sein
Leben dazu widmet, der Entstehung der Schimmelreiter-Sage auf den Grund zu kommen; nur bestand die
Gefahr, dass ihre Thesen auf einen kleinen Kreis gebildeter Leser beschränkt blieben. Nichts bürgte dafür, dass
sie an ein breiteres Publikum je vermittelt oder in Formen übertragen werden konnten, die einer breiten
Leserschaft zugänglich wären. In den 1840er Jahren hatte Storm geglaubt, die „Volksseele” erzeuge spontan
Ideen und Motive, die enttäuschte menschliche Bedürfnisse erkennen ließen. Diese Zuversicht hegte er schon
lange nicht mehr. Im Alter neigte er eher zum Glauben, dass die unteren Klassen eine angeborene Veranlagung
zum Aberglauben hatten, die es den dominanten sozialen Gruppen ermöglichte, ihre systemstabilisierende
Ideologie zu untermauern und die menschliche Selbstentfremdung fortzusetzen.Das Überleben und die
Verbreitung humanistischer Ideen waren für Storm genau so problematisch wie die Aufgabe, die Erinnerung an
Verfechter aufgeklärter Prinzipien zu bewahren. Hätte nicht der Schulmeister es zu seiner Lebensaufgabe
gemacht, Hauke Haiens Leben zu rekonstruieren, so wäre es nur in örtlichen Sagen überliefert worden. Während
etwa Gotthelf und Stifter sich mit dem Problem auseinander gesetzt hatten, wie sicherzustellen war, dass
zukünftige Generationen die durch gottlosen Materialismus angerichteten Kalamitäten nicht vergessen sollten,
lag für Storm das Problem ganz anders. Infolge der sozialen und politischen Interessen derjenigen, die Schulen
und Universitäten beherrschten, wurden die Verfechter der Aufklärung in vergangenen Jahrhunderten entweder
ignoriert und vergessen oder ihr Leben ebenso wie ihre Botschaft entstellt und pervertiert. Kein einziger
kritisch-aufgeklärter Bericht über den geschichtlichen Hauke Haien wäre überliefert worden, wäre nicht der
erste Erzähler als Kind auf diese Geschichte gestoßen und hätte er sie nicht fünfzig Jahre später wieder erzählt.
Die Frage nach der Überlieferung historischen Wissens, der Schaffung von Mythen und ihrer sozial-politischen
Funktion hatte Storm immer beschäftigt. Welche Faktoren sind am Werk, wenn Historiker, Theologen und
Schriftsteller ihren Kanon geschichtlicher Gestalten zusammenstellen, deren Gedächtnis aufzubewahren ist?
Welche Faktoren gelten als bestimmend, welche „Tatsachen” werden überliefert, welche vergessen? Welche
Taten werden hervorgehoben, welche heruntergespielt? Und welche Zwecke verfolgen diese Darstellungen?
Verhält es sich nicht so, dass Mythen und Sagen verifizierbare historische Fakten verdrängen, um spezifische
ideologische Ziele zu fördern? Seiner letzten Novelle vertraute Storm seine reifen Gedanken über diesen
Gegenstand an. Für ihn als Erben einer philosophischen Tradition, die versucht hatte, den den biblischen
Berichten vom Leben Jesus Christi zu Grunde liegenden Kern freizulegen und die Faktoren zu untersuchen, die
übernatürliche Mythen und Sagen erzeugten, ziemte es sich, dass er den „Schimmelreiter” als seine letzte große
schriftstellerische Herausforderung betrachtete. Aufgrund des ihm durch eine Weichselsage gebotenen Stoffes
musste er vom Gespenst zur geschichtlichen Gestalt zurückgelangen und den ganzen Prozess der
Mythenerzeugung kritisch nachzeichnen. Der Schulmeister redet von Gewaltmenschen und bösen stiernackigen
Pfaffen, die in Helden verwandelt worden sind (LL 3, 754). Während die Behörden in vergangenen Jahrhunderten
Verfechter der Vernunft und der Wahrheit wie Sokrates und Jesus Christus einfach brutal abschlachteten,
konnten sie, so wird angedeutet, in neueren Zeiten dasselbe Ziel erreichen, indem sie sie in Gespenster
verwandelten, d.h. dafür sorgten, dass die Medien und die meinungsbildenden Institutionen ihre Positionen und
Leistungen entwerteten und verzerrten bzw. sie als Menschen verleumdeten oder diskreditierten. Zwar ist
Storm mit seinem Schulmeister nicht gleichzusetzen; aber vielleicht wird doch suggeriert, dass Hauke Haien
zusammen mit Sokrates und Jesus Christus gleichsam eine Dreifaltigkeit von Wahrheitssuchern ausmacht. Es
gibt jedoch vielleicht noch eine kontrastierende Parallele zwischen Jesus Christus und Hauke. Beide werden in
„Gespenster” verwandelt. Im Fall Jesu Christi vernichtete die Kirche den humanistischen Kern seiner Botschaft,
indem sie aus ihm einen Gott machte. Im Fall Hauke Haien wird die humanistische Bedeutung seines Lebens
dadurch pervertiert, dass er zum Spuk gemacht wird. Mit bitterer Ironie wird gezeigt, wie er durch genau die
Gemeinschaft in ein Gespenst verwandelt wird, der seine Mühen zugute kommen. Er wird in jemanden
verwandelt, der einen Vertrag mit dem Teufel eingeht, auf einem satanischen Pferd in den Tod reitet und dann
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Der Schimmelreiter
bei jedem Dammbruch dazu verdammt ist, als ruhelos umhergetriebenes Gespenst zu erscheinen. Die
Gemeinschaft selbst übernimmt quasi die Arbeit des Establishments, indem sie Hauke zu einem Symbol für die
sündhafte Torheit rein menschlicher Bestrebungen macht. Wenn das Establishment daran interessiert ist,
Aufklärung und Humanität zu bekämpfen und wenn der Aberglaube in der Menschenbrust immer neu keimt,
wie können vereinzelte Individuen die Hoffnung hegen, aufgeklärte Ideen aufzubewahren und zu verbreiten?
Am Ende seines Lebens hatte Storm nur noch wenige Illusionen.
LL 3: Theodor Storm: Sämtliche Werke, hg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier, Bd. 3: "Der
Schimmelreiter", Frankfurt am Main 1988.
David A. Jackson: Theodor Storm. Dichter und demokratischer Humanist. Eine Biographie. Berlin 2001 (Husumer
Beiträge zur Storm-Forschung, Bd. 2), S. 319-333.
13. Hinweise zur Unterrichtsgestaltung
Inhalt:
Rezensionen
 H. Kerber: „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm. München: Park Körner. Unterrichtsvorbereitungen aus
dem Computer o. J.
 Klaus Hildebrandt: Theodor Storm: Der Schimmelreiter. München: Oldenbourg, 2., überarbeitete und
korrigierte Auflage 1999, (Oldenbourg-Interpretationen, Bd, 42.)
 Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Novelle, hg. von Johannes Diekhans. Erarbeitet und mit Anmerkungen
versehen von Widar Lehnemann. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 1999.
 Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Mit einem Kommentar von Heribert Kuhn. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Verlag 1999. (Suhrkamp BasisBibliothek 9.)
 Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Hg. von Claudia Lorenz und Christiane von Schachtmeyer. München:
Oldenbourg 2000. (Lektüre, Kopiervorlagen)
 Burkhard Seidler, Herwig Grau und Dietmar Wagner: Literaturkartei: „Der Schimmelreiter“. Mülheim: Verlag
an der Ruhr 2000.
Hyperlinks zu Internet-Adressen Unterrichtsentwürfe
Rezensionen:
 H. Kerber: „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm. München: Park Körner. Unterrichtsvorbereitungen aus dem
Computer o. J.
Die Diskette wird in einer Kunststoffmappe (DIN A5) geliefert und enthält den vollständigen Novellentext (nach
der Reclam-Ausgabe) sowie 50 Dateien. Ein Überblick mit Hinweisen zur Arbeit mit dem Material nebst einem
Datei-Verzeichnis ist auf fünf Blättern beigegeben. Die Dateien müssen in ein Unterverzeichnis der Festplatte
ausgepackt werden und können dann direkt als Word-Dateien (.doc) in ein entsprechendes
Textverarbeitungsprogramm eingelesen werden.
Sämtliche Dateien sind in einer Sammeldatei zusammengefasst; wenn diese eingelesen wird, öffnen sich über
150 Seiten, die man wie ein Buch durchblättern kann. Am Anfang steht der Novellentext; die Materialien und
Kommentare für die Unterrichtsreihe sind wie ein Anhang oder Kommentar angefügt. Ein didaktischer
Kommentar erläutert die Intentionen des Verfassers und gibt Hinweise zur Arbeit mit den Materialien. Darin
heißt es: „Die Unterrichtsreihe ist so aufgebaut, dass für die Besprechung der literarischen Aspekte der Novelle
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Der Schimmelreiter
keine Stundenfestlegung erfolgt, vielmehr eine Aufgliederung in Unterrichtseinheiten (UE) vorgenommen wird.
Zweck dieser Anordnung ist die Absicht, den pädagogischen Rahmen des Lehrers nicht unnötig festzulegen und
damit einzuschränken. Die einzelnen Unterrichtseinheiten sind aber, wo es sich von der Sache her nahe legt, in
aufeinanderfolgende Unterrichtsschritte gegliedert, so dass sich daraus die Gesichtspunkte für den
Unterrichtsverlauf ergeben. Es kann so durchaus der Stoff einer Unterrichtseinheit (UE) je nach den
Voraussetzungen der Schüler und der Einschätzung des Lehrers auf mehrere Unterrichtsstunden verteilt
werden. Auch besteht die Möglichkeit, aus dem Angebot alternativ die Elemente zu verwenden, die für den
Lehrer der gewünschten Intensität und dem Leistungsvermögen der Klasse zu entsprechen scheinen.“ Dies ist
vor allem bei der Besprechung der formalen Aspekte (SCHICHTE.* , RAHMEN.* , ZAESUREN.* , ERZLMET.* ), aber
auch bei der Behandlung von Haukes Auseinandersetzung mit den natürlichen, psycho-sozialen und den
gespensterhaft-dämonischen Faktoren (ORDCHAOS.* , DAEMON.* , NATUR.* ) möglich. Diese methodische
Aufarbeitung des Stoffes wird in den Dateien mit der Bezeichnung *.DID vorgestellt.
Diese Präsentation setzt schon eine gewisse Erfahrung mit dem Medium voraus, da - anders als in einem Buch Inhalt, Gliederung und spezifische Zuweisung einzelner „Seiten“ (hier „Dateien“) zu bestimmten Themen
überlagert werden durch Dateitypen, die von pragmatischen Differenzierungen bestimmt werden. Konkret
bedeutet das ein Nebeneinander von Texten, Erläuterungen für den Lehrer und Arbeitsmaterialien für die
Schülerhand, z. B. Arbeitsblätter, Lösungsvorschläge sowie Graphiken und Tafelskizzen. Diese Einzeltexte lassen
sich nach Filetypen in den Dateinamen unterscheiden und identifizieren. Der sachlogische Aufbau ist dem
didaktischen Kommentar nachgestellt und entspricht dem Inhaltsverzeichnis des Kommentarteils:
0.
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Geographischer Schauplatz, Küstenschutz an der Nordsee
Die Erzähler und die Rahmen
1.1. Die Erzähler und die Erzählschichten
1.2. Die Rahmen
Die Figur Hauke Haiens und dessen soziales Umfeld
2.1. Haukes Jugend
2.2. Hauke im Dienst des Deichgrafen
2.3. Der Deichbau - Haukes Lebenswerk
2.4. Der Aberglaube im Dorf
2.5. Die Begegnung der Menschen mit der Natur
2.6. Hauke Haiens Grenzsituation zwischen den Bereichen Chaos und Ordnung - Die Verteufelung
(Dämonisierung) Haukes
2.7. Haukes Krankheit und Untergang
Die Zäsuren und die Erzählmethode
3.1. Die Zäsuren und deren Funktion
3.2. Die Erzählmethode
Leben und Werk Theodor Storms
Gattungstypologie und Realismus
5.1. Gattungsmerkmale der Novelle
5.2. Die Epoche des Realismus
Quellen
6.1. Historische Ereignisse
6.2. Historische Persönlichkeiten
6.3. Sagen
Man tut gut daran, zunächst den gesamten Anhang der vollständigen Dateien durchzublättern, um einen
Überblick zu gewinnen. Danach muss der Lehrer ein eigenes Konzept für seinen Unterricht entwickeln und sich
dafür die entsprechenden Materialien aussuchen. Am besten geht das, wenn er sich die entsprechenden Seiten
einmal ausdruckt und dann mit Hilfe der beiliegenden „Kurzbeschreibung des Inhalts“ diejenigen Dateien
auswählt, von denen er Schülermaterialien erstellen will. Ein solches Verfahren entspricht demjenigen bei der
Benutzung von didaktischen Kommentaren, denen Arbeitsblätter beigegeben sind.
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Der Schimmelreiter
Durch die Linearität der Dateipräsentation in der Gesamtdatei ist das Arbeiten mit Einzeldateien zwar nach
logischen Überlegungen möglich, die Präsentation zeigt aber gegenüber einer CD-ROM deutliche Schwächen, da
es keine direkten Verknüpfungen gibt.
Ein vollständiger Ausdruck des Kommentars erweist sich als sinnvoll, da das Blättern in einer umfangreichen
Datei sehr anstrengend ist.
Eine Überprüfung einiger Dateien von Arbeitsblättern zeigt, dass eine Anpassung an das jeweils verwendete
Seitenlayout vorgenommen werden muss, was zeitaufwendig sein kann.
Das Literaturverzeichnis weist auffällig wenig Sekundärliteratur nach; die gesamte literaturwissenschaftliche
Erforschung der „Schimmelreiter“-Novelle bleibt auch innerhalb der sachlichen und didaktischen Kommentare
unerwähnt; innerhalb der Materialien findet sich lediglich ein längerer Storm-Essay von Winfried Freund (vom
Reclam-Verlag übernommen); die Quellen lassen eine intensive Verwendung des von Karl Ernst Laage
erarbeiteten Kommentars zum „Schimmelreiter“ vermuten, was aber nicht ausgewiesen wird.
So ist es wenig verwunderlich, dass einige Stellen der sachlichen Erläuterungen hinter dem Kenntnisstand der
Storm-Forschung zurückbleiben. So findet man in der Datei RAHMEN.TXT eine Gleichsetzung des Autors mit den
beiden Rahmenerzählern der Novelle.
In der Datei ABERGLAU.DID.DOC über den Aberglauben im Dorf findet eine starke Verkürzung dieses Aspekts der
Novelle statt; der Verfasser geht von einer eindeutigen Trennung von Rationalität und Aberglauben aus und
begründet dies mit dem pädagogischen Argument: „Angesichts der Tatsache, dass der Aberglaube seit einigen
Jahren wieder gute Konjunktur bei uns hat, ist diese UE [Unterrichtseinheit] mit besonderer Aufmerksamkeit
anzugehen: Esoterik, Magie, Okkultismus, Spiritismus, Satanismus zeigen sich als z.T. negative
Begleiterscheinungen eines neuen Paradigmas der Welterklärung. Im Gefolge der New-Age-Bewegung tauchen
auch in Schülerkreisen wieder Praktiken auf, die Aufklärungsoptimisten überwunden glaubten: Tischhüpfen,
Gläserrücken, Tonbandstimmen, Horoskope, Kartenlesen, Wahrsagen, Heilen durch Psychoenergie, Seancen,
Schwarze Messen, neuer Hexenkult, Teufelsspuk, Satansmusik, - das alles sind Phänomene, die in Zeiten
allgemeiner weltanschaulich-religiöser und sozialer Unsicherheit neu an Boden gewinnen.“
Diese Argumentation ist in pädagogischer Verantwortung gewiss nachzugehen, aber sie greift zu kurz, wenn
man den Text Storms allein unter rationalistischen Gesichtspunkten betrachtet, wie es der Verfasser nahe legt:
„Eine differenzierte Analyse der abergläubischen, z.T. spiritistischen Elemente der Schimmelreiter-Novelle
erweist sich auch deshalb als dringlich, weil deren Rezeptionsgeschichte nicht frei ist von Dämonisierungen der
Schimmelreiter-Gestalt. Storms Vorliebe für Spukgeschichten und spiritistische Erscheinungen ist ja den
Literaturkritikern bekannt.“
Hierzu sind in den letzten Jahren differenzierte Analysen erarbeitet worden, die zeigen, dass das Dämonische
durchaus auch in die Sphäre des nüchternen Erzählers einbricht, etwa mit der zweifachen Erscheinung des
gespenstigen Reiters. Die erzählerische Funktion des Dämonischen müsste meines Erachtens durchaus im
Unterricht thematisiert werden. Es geht nicht um Irrationalismen im Sinne einer modernen Esoterik, sondern
um die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Naturereignissen und gesellschaftlichen Prozessen, die die
verschiedenen Erzählerinstanzen der Novelle dem Leser vorführen, ohne ihm eine „richtige“ (und „aufgeklärte“)
Version nahe zu legen. Es ist ein Moment der ästhetischen Qualität des Textes, dass dieser mehrfache
Erzählansätze enthält und so alternative Interpretationen der Ereignisse um Hauke Haien anbietet. Dabei
kommt den Elementen des Dämonischen auch symbolische Bedeutung zu: Das Teuflische kann über die naive
Personalisierung etwa im Schimmel-Verkäufer (durch Hauke Haien) oder in Hauke (durch die Dorfbewohner)
durchaus auf Negatives, „Böses“ verweisen, das auch den Helden in Storms Geschichte charakterisiert.
Auch die Verwendung des Begriffs des „Tragischen“ als literaturwissenschaftlichen Terminus hätte theoretisch
zumindest im Ansatz reflektiert werden müssen; so ist der Benutzer auf eigene Recherchen angewiesen oder er
übernimmt die Intentionen des Verfassers ungeprüft.
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Der Schimmelreiter
Das didaktische Konzept vermittelt die - in dieser Darstellung - sehr eng wirkende Interpretation von Winfried
Freund und legt auf „die zunehmende Visualisierung der Welt der Schüler“ großen Wert; deshalb enthalten
verschiedene Dateien graphisches Material, das sich z.T. zur Herstellung von Folien oder Kopiervorlagen eignet
und das neben der Veranschaulichung auch die Zusammenfassung von Erarbeitungsprozessen erleichtern soll.
Der Verfasser nennt sie „Strukturgraphen“, aus denen „die Problemfelder, die Feldbeziehungen sowie die
Schlussfolgerungen“ hervorgehen sollen. Die entsprechenden Dateien sind ebenfalls mit entsprechenden
Filetypen-Bezeichnungen versehen: *.ARB (Arbeitsblätter für die Schüler) und *.TAF (Tafelbilder für die Hand des
Lehrers und zur Bearbeitung an der Tafel oder auf Folie). Welchem Lern- oder Erziehungskonzept der Verfasser
verpflichtet ist, wird nicht ausgewiesen.
Unter den Materialien, auf die der Lehrer bei seinem Unterricht zurückgreifen kann, befinden sich auch
Quellentexte, Informationen zu Leben und Werk Storms, zu seiner Dichtung, zur Novellentheorie, zur Epoche
des Realismus sowie Hinweise zur Aufsatzerziehung mit einem Themenvorschlag und einer Gliederung.
Der Benutzer findet also eine Fülle von Anregungen und Materialien und kann sich seine eigene Unterrichtsreihe
zusammenstellen, wozu er allerdings etwas Zeit investieren muss; der eindeutige Vorteil gegenüber
traditionellen Unterrichtskommentaren ist die Freiheit, auf einfache Weise in die Gestaltung der
Schülermaterialien einzugreifen.
Aus: Theodor Storm in den „Neuen Medien“ von Gerd Eversberg (Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 49.2000)
Klaus Hildebrandt: Theodor Storm: Der Schimmelreiter. München: Oldenbourg, 2., überarbeitete und korrigierte Auflage
1999, (Oldenbourg-Interpretationen, Bd, 42.)
Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Novelle, hg. von Johannes Diekhans. Erarbeitet und mit Anmerkungen versehen von
Widar Lehnemann. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 1999.
Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Mit einem Kommentar von Heribert Kuhn. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag
1999. (Suhrkamp BasisBibliothek 9.)
In den letzten Jahren lässt sich ein neues Interesse für Storms Meisternovelle im Unterricht verschiedener
Schulformen beobachten. Die meisten Pädagogen setzen diese Lektüre für die Jahrgangsstufen 9 und 10 an,
einige auch früher; ein sehr umfangreiches Beispiel für die Materialaufbereitung des „Schimmelreiter“ Komplexes ist z.B. in dem Lesebuch „Wortwechsel. Deutsch in der Jahrgangsstufe 9“ (Verlag Ferdinand
Schöningh, Paderborn, 5.257 327) zu finden.
Es gibt eine Reihe von Texten, die vor allem für Schüler geeignet sind; dem Storm-Archiv liegen Lektüren
folgender Verlage vor: Bange Verlag (Königs Lektüren); Cornelsen Verlag (Klassische Schullektüre); Dressier
Verlag (Dress-1er Kinder-Klassiker); Verlag Hamburger Lesehefte; Husum Druck; Insel Verlag/Suhrkamp; Klett
Verlag (Lesehefte); Verlag Ferdinand Schöningh (Schöninghs Deutsche Texte); Deutscher Taschenbuch Verlag
(Bibliothek der Erstausgaben); Philipp Redam (Reclams Universal-Bibliothek).
Hier gilt es, drei neue Erläuterungsbände vorzustellen, die Lese- und Interpretationshilfen für Lehrer und
Schüler anbieten.
Klaus Hildebrandts Band ist bereits 1990 zum ersten Mal erschienen und liegt nun in einer aktualisierten
Fassung vor. Er wendet sich an Lehrer und erweist sich als der umfangreichste der Kommentare. Hildebrandt
beginnt mit einer Darstellung der Novellistik Storms vor dem Hintergrund verschiedener Definitionen der
Novelle im 19. Jahrhundert. Storms Schaffen wird als ein genetischer Prozess von den lyrischen Anfängen bis zur
realistischen Altersnovellistik beschrieben. Die Entstehungsgeschichte des „Schimmelreiter“ wird ausführlich
dokumentiert, die Rahmenstruktur herausgearbeitet und die Erzählteile differenziert untereinander in
Beziehung gesetzt. Hier referiert der Verfasser die Ergebnisse der Storm-Forschung mehrerer Jahrzehnte. Bei der
Bestimmung der Erzähler reproduziert er einen verbreiteten Interpretationsfehler, indem er äußeren
Rahmenerzähler und Autor gleichsetzt; neben dem Erzähler der zweiten Ebene wird der Schulmeister als
eigentliche Erzählinstanz bestimmt, ohne dass weitere Informanten näher untersucht würden, wie dies von
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Der Schimmelreiter
aktuellen Ansätzen zur Erzählforschung vorgeschlagen wurde. Breiten Raum nehmen Hinweise zur Sprache der
Novelle ein, ein für einen didaktischen Kommentar wichtiger Aspekt, da hieraus Konsequenzen für die
Unterrichtsplanung abgeleitet werden können. Hauke Haien steht als Person im Mittelpunkt der Interpretation;
Schwerpunkte sind die Begriffe Hybris und Sühne durch seinen Opfertod. Das entspricht im wesentlichen den
Deutungen der Jahrzehnte nach Gründung der Bundesrepublik; einige Aspekte, die von der DDR-Germanistik
hervorgehoben wurden, werden referiert. Neuere Sichtweisen auf die Novelle, etwa Haukes einseitiges
Verhältnis zur Natur und seine sozialen Defizite, werden nur am Rande erwähnt, Winfried Freunds
Deutungsansatz, der schon vor fast zwanzig Jahren entwickelt wurde, als „modernistisch“ abgelehnt. Gerade
das Ausblenden der seit Mitte der 1980er Jahre entstandenen Spezialuntersuchungen, auch der
Veröffentlichungen zu den drei Storm-Filmen, lässt diesen Kommentar verstaubt erscheinen. Der Band ist eine
solide Materialzusammenstellung, die aber neuere Forschungserträge zu Storms Erzählkunst und speziell zum
„Schimmelreiter“ sowie Ansätze zur Medienerziehung nur am Rande oder gar nicht zur Kenntnis nimmt. Auch
der didaktische Kommentar, der um 1975 geschrieben wurde, ist einer älteren Vorstellung von Lektüren im
Deutschunterricht verpflichtet und muss als fachdidaktisch veraltet bezeichnet werden.
Eine neue Textausgabe mit Erläuterungen für die Hand des Schülers hat Johannes Diekhans herausgegeben; der
Novellentext folgt der Ausgabe Kösters von 1920 und wurde den modernen Rechtschreibregeln angepasst. Den
knappen und schülergerechten Kommentar verantwortet Widar Lehnemann. Der Anhang bietet Texte und
Materialien unter folgenden Kapitelüberschriften: Zur Biographie des Autors, Zum sachlichen Hintergrund der
Novelle, Die Quellen, Zur Entstehung der Novelle, Zum Novellenbegriff und Eine Charakterisierung verfassen
Tipps und Techniken.
Angeboten werden Auszüge aus der einschlägigen Sekundärliteratur, von denen auch einige Titel in einer
kleinen Bibliographie aufgelistet werden. Im Detail erweist sich dieser Schülerkommentar als brauchbar,
wenngleich nicht alle Einzelheiten dem Forschungsstand entsprechen. So wird bei Storms Übersiedlung nach
Potsdam von „Berufsverbot“ gesprochen oder das Werk Storms mit folgenden Worten charakterisiert: „Als
Lyriker schreibt Storm liedhafte Erlebnislyrik' in der idyllische Zustände (Heimat, Familie, Liebe) als vergangen
oder bedroht dargestellt werden; [...]. Das Spätwerk umfasst vorwiegend realistische Schicksals- und
Chroniknovellen, in denen der einsame Held gegen dämonische Elemente und ein vorgegebenes Schicksal
ankämpft ohne Hoffnung auf Erlösung.“ Dies kann man in einer Reihe von einschlägigen Veröffentlichungen zu
Theodor Storm sehr viel differenzierter lesen.
Der dritte Band mit dem Kommentar von Heribert Kuhn enthält Teile der Informationen einer CD-ROM, die ich
in meinem Beitrag „Theodor Storm in den ,Neuen Medien“' besprochen habe. Die sachlichen Erläuterungen sind
an den Rand des Textes gesetzt; der Novellentext folgt der kritischen Ausgabe des Deutschen Klassiker-Verlages
von 1988. Der Kommentar enthält Hinweise und Materialien zur Werkgeschichte und zur Rezeption der Novelle;
dabei bleibt er den Erläuterungen von Karl Ernst Laage im 4, Band der Klassiker-Ausgabe verpflichtet. Der
ausführliche wirkungsgeschichtliche Teil referiert wichtige Deutungen vom Jahr der Erstveröffentlichung bis
heute; allerdings werden aktuelle Spezialuntersuchungen zu Storms Novellistik und zur „Schimmelreiter“ Novelle nicht einbezogen.
Dieser Mangel gilt für alle drei besprochenen Kommentare; trotz sachlich akzeptabler Erläuterung des „
Schimmelreiter“ fällt auf, dass die Spezialuntersuchungen zu Storms Schreibprozessen, zu seiner erzählerischen
Entwicklung, zur Struktur der späten Novellistik und zur medialen Transformation seines Werks nicht in der
erforderlichen Breite zur Kenntnis genommen werden. Die seit Thomas Mann immer wieder beklagte einseitige
Storm-Rezeption, auf die von Seiten der Storm-Gesellschaft schon vor Jahrzehnten mit einem vielschichtigen
Diskursangebot reagiert wurde, tendiert bis heute in erstaunlichem Maße zur Reproduktion von Vorurteilen
über den Husumer Dichter. Mit bleibt unverständlich, warum Autoren und Lektorate das Angebot des StormArchivs nicht gründlicher nutzen.
Gerd Eversberg aus Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 49(2000)
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Der Schimmelreiter
Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Hg. von Claudia Lorenz und Christiane von Schachtmeyer. München: Oldenbourg
2000. (Lektüre, Kopiervorlagen)
Seitdem der Deutschunterricht die handlungsorientierte Behandlung von Literatur entdeckt hat, bieten die
Verlage den Deutschlehrern entsprechend ausgearbeitete Modelle, die die Schüler zu kreativer anstatt zu
kopflastiger Auseinandersetzung anregen sollen. Storms „Schimmelreiter“ eröffnet die Reihe ‘Lektüre’, die für
einen lebendigen Umgang mit Ganzschriften Pate stehen soll. Die Grenzen dieser Methode sind jedoch bei dieser
Darstellung offensichtlich.
In der Einleitung wird die Aufteilung des didaktischen Modells in einen nicht ganz nachvollziehbaren
Texterschließungs- und in einen Interpretationsteil gegliedert. Dieser doppelte Zugang verlangt eine doppelte
Auseinandersetzung, die sich für junge Leser als Belastung erweisen kann. Die textproduktiven
Aufgabenstellungen sind zahlreich, vielleicht zu zahlreich, wenn man bedenkt, dass Storms Novelle hohe
Anforderungen an die Fiktionskompetenz stellt und sich deshalb nicht nur schülerorientiert erschließen lässt.
Das vorliegende Literaturkonzept lässt vermuten, dass sich die Textarbeit im Ankreuzen von vorgegebenen
Lösungsmöglichkeiten oder in der Produktion paralleler Texte (Tagebuch, Theaterfassung, Eheberatung,
Gerichtsverhandlung) erschöpft. Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass einzelne Lösungsmöglichkeiten
in den multiple-choice-Aufgaben abwegig und unangemessen erscheinen. Dass sie zu einem verfälschenden
Textverständnis führen können und deshalb mit Vorsicht zu handhaben sind, zeigen z.B. die Fragen zum
Charakter Hauke Haiens, der sich nicht statisch fassen lässt. Seine Position im Dorf und sein Selbstverständnis
sind dem Wandel unterworfen und verlangen eine detailliertere Antwort. Querverweise in den Fragestellungen
hätten diese Schwäche abfangen können.
Grundsätzlich seien Bedenken angemeldet gegen eine Methode, die Begriffe und Ein-Wort-Sätze vorgibt, statt
sie selbstständig von Schülern erarbeiten zu lassen. Zur Verbesserung des Leseverhaltens wird in der Einleitung
die Verzögerung als methodische Möglichkeit genannt. Hier wäre es bestimmt leserfreundlicher gewesen, eine
(wenn auch knappe) Vorstellung der Arbeitsergebnisse Lindehahns und der Theorie Isers über die
Vorstellungserschwerung bei fiktiven Texten zu liefern. Diese ergiebige Rezeptionshaltung, wozu das Erarbeiten
von Lesehypothesen gehört, wird aber in den gewählten Aufgaben nicht genügend fruchtbar gemacht. Zu
begrüßen sind hingegen die ansprechenden Illustrationen, die in die Interpretationsarbeit einbezogen werden.
Dass das Gemälde Caspar David Friedrichs ‚Mönch am Meer’ von der ‚Schimmelreiter-Didaktik’ bereits 1996
entdeckt wurde, tut dessen Verwendung keinen Abbruch.
Die Zielgruppe dieses Erschließungsmodells wird nicht genannt, aber aus der Art einzelner Fragen ist zu
entnehmen, dass schon die 7. oder 8. Klasse anvisiert wird. Manche Aufgaben wiederum können die Schüler
überfordern, entweder weil die Formulierung zu wissenschaftlich oder weil der Umfang der notwendigen
Textkenntnis von Schülern in diesem Alter nicht zu leisten ist oder aber weil sich die Informationen außerhalb
ihrer Erfahrungsbereiche befinden. Zu häufig bleibt die Funktion solcher Aufgaben unklar. Fragen zum aktuellen
Deichbau können von Experten beantwortet werden, sie tragen aber nicht weiter zu einem besseren
Verständnis der von der Novelle aufgeworfenen Problematik bei. Das Umschreiben einer Textvorlage in einen
Wetterbericht mag das Sprachvermögen des Schülers schärfen, die poetische Funktion des Stils Storms wird
aber durch den vorgeschlagenen Sachtext nicht verdeutlicht. Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass Schüler
zuerst ihr eigenes Verhältnis zum Aberglauben prüfen, bevor sie über dessen Funktion im Werk nachdenken.
Der ausgesuchte Weg wird aber nicht kritisch beleuchtet, so dass der Eindruck entsteht, dass Hauke Haien
erfolglos gegen die unaufgeklärten Dorfbewohner kämpft und allein daran scheitert. Das unterdrückte weibliche
Erzählen, dem die aktuelle Forschung einen besonderen Stellenwert widmet, hätte im Rahmen der Analyse des
Aberglaubens oder der Autorintention untersucht werden müssen. Die Sekundärliteratur beschränkt sich
allerdings auf einen verlagsinternen Titel, der vor zehn Jahren erschienen ist - die überarbeitete Fassung von
1999 wird nicht erwähnt.
Es ist zu bezweifeln, ob mit diesem einseitigen methodischen Ansatz der junge Schüler zu einem angemessenen
Verständnis der Novelle geführt werden kann, es sei denn, dass die im Anhang angeführten Informationen und
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Der Schimmelreiter
verschiedene Antwortmöglichkeiten in einem abschließenden Unterrichtsgespräch diskutiert werden, so dass
die Lerngruppe die erzielten Arbeitsergebnisse in einem literarischen Zusammenhang betrachten kann.
Jean Lefebvre, Büsum (Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 50.2001)
Burkhard Seidler, Herwig Grau und Dietmar Wagner: Literaturkartei: „Der Schimmelreiter“. Mülheim: Verlag an der
Ruhr 2000.
Die Herausgeber der neuen Literaturkartei zu Storms 1888 erstmals veröffentlichten Hauptwerks „Der
Schimmelreiter“ zählen diese Novelle zu den „Klassikern“ der Schullektüre und sind davon überzeugt, dass sich
mit diesem Text „moderner Unterricht machen lässt“ und dass er „Themen berührt, die Schüler berühren“ (S. 3).
Damit deckt sich die knappe didaktische Reflexion der Einleitung mit Beobachtungen, die mir von einer StormRenaissance sowohl der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem „Schimmelreiter“ als auch seiner
Bedeutung als Schullektüre zu sprechen erlauben. Ich habe in den letzten Bänden der „Schriften“ auf die
überraschende Aktualität des „Schimmelreiter“ mehrfach hinweisen können.
Im Vordergrund der Kartei stehen die Materialien für den Unterricht; in der(zu) knappen Einleitung für Lehrer
wird aber das didaktische Konzept der Autoren zumindest im Ansatz erkennbar. Der „Schimmelreiter“ gilt als
ein Stück „Weltliteratur“, das in einer einzigartigen Landschaft verortet werden und moderne Leseerfahrung
„auf eine faszinierende und irritierende Weise“ erweitern kann. Dieser Hinweis auf das Spannungsgefüge von
„nachvollziehbarer Realität und geahnter Irrealität“ deckt sich mit den Beobachtungen, die man bei der Lektüre
der vielen unterschiedlichen Interpretationen gewinnt, die in den letzten Jahrzehnten zu Storms Novelle
veröffentlicht wurden. In ihnen wurde einerseits auf Storms Faszination durch das Konzept der Aufklärung und
den dadurch ermöglichten technischen Fortschritt hingewiesen, andererseits aber auch die Brechung dieses
optimistischen Denkens betont, das sich im „Schimmelreiter“ vor allem durch die Bedeutung des Mythos und
den Einbruch des Irrationalen zeigt. Vor diesem zumindest angedeuteten geistesgeschichtlichen Hintergrund
entfalten die Autoren Unterrichtsmaterialien, „die Varianten der Textanalyse ebenso ermöglichen wie
Textproduktion und das Denken und Verstehen im Handeln verankern wollen“. (S. 3)
Die Kartei ist in „Arbeitsbogen“ und „Hinweise zu dem Arbeitsbogen“ gegliedert, die beide den Schülern zur
Verfügung gestellt werden sollen. Die sehr umfangreichen Materialien – die Literaturkartei enthält fast
einhundert Kopiervorlagen im Format DIN-A4 – provozieren gelegentlich die Frage nach der
Unterrichtsökonomie; es darf aber nicht vergessen werden, dass sich die Reihe an Klassen aller Schulformen
richtet und dass der Lehrer zur Auswahl aus dem angebotenen Material genötigt und zur Entwicklung eines
didaktischen Konzepts verpflichtet ist, wenn die Unterrichtsreihe nicht ins Beliebige zerfließen soll. Dennoch
erscheint mir eine Erweiterung der Kartei um ein paar Seiten fachliche und didaktische Überlegungen sinnvoll,
vor allem um dem Benutzer ein paar Kriterien an die Hand zu geben, nach denen er die Ziele seines Unterrichts
formulieren und Wege zu sinnvollen Zusammenstellungen ausgewählter Materialien finden kann. Eine
vollständige Vervielfältigung des Materials für die Hand der Schüler kann doch wohl kaum das dahinter
stehende didaktische Konzept sein.
Die Themen entfalten in ihrer Gesamtheit ein buntes Kaleidoskop möglicher Zugänge zum Text: Am Deich, am
Meer, extreme Landschaft als Erfahrungswelt; Deichbau, Biographisches; Geographie der Schauplätze, Tier- und
Pflanzenwelt u.s.w. In einer textorientierten Erarbeitungsphase werden diese Aspekte weiter differenziert: Land
und Leute, Personen, Typen, Filmische Adaptionen sind Perspektiven, die zum größeren Teil auf
produktionsorientierte Schüleraktivitäten zielen. Motivierend wirken Arbeitsaufgaben, die durch
Gegenwartsbezüge den historischen Abstand zum Novellengeschehen aufheben, ohne das Bewusstsein dieser
Distanz unkritisch aufzugeben: Zeitungstexte, Tagebuchnotizen, Produktion von Alternativerzählungen, Briefe
und andere Schreibanlässe werden vor der historischen Textfolie zu jugendgemäßen Schreibversuchen und
ermöglichen Assimilationen zwischen dem jeweiligen Schülerbewusstsein und der von einem klassischen Text
ausgelösten Fiktion. Bei aller Aktualisierung (z.B. Buchgestaltung, Werbung) kommen aber Struktur der Novelle
und Charakter der Personen nicht zu kurz. Haus, Deich, Meer, soziales Gefüge früherer Jahrhunderte sowie
Haukes Verhältnis zur lebenden Kreatur werden so in einen Bedeutungszusammenhang mit der Landschaft und
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Der Schimmelreiter
mit der Biographie des Autors gebracht und immer wieder auf primäre Textstellen zurückgeführt. Die
Arbeitsbogen ermöglichen eine Vielfalt unterschiedlicher Schüleraktivitäten und dienen zugleich der
Ergebnissicherung, der Leistungsüberprüfung und – für den Lehrer - der Unterrichtsevaluation. Es schließen
sich Hinweise zu Referaten und Projekten sowie ein Quellen- und Medienverzeichnis an.
Insgesamt macht das Material einen solide recherchierten und didaktisch verantwortungsbewusst und
schülernah durchdachten Eindruck und lässt sich in verschiedenen Jahrgangstufen der Sekundarstufe I
unterschiedlicher Schulformen einsetzen.
Gerd Eversberg, Husum (Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 50.2001)
Hyperlinks
Wir haben einige interessante Seiten im Internet gefunden, die weitere Materialien zu Storms "Schimmelreiter"
anbieten.
Helmut Hoffmann, Fachleiter Deutsch am Studienseminar Braunschweig, hat unter der Adresse
www.duonline.de/reihe/3008/0.htm Unterrichtsentwürfe für eine Reihe:
Storm - Der Schimmelreiter eingestellt. Folgende Einzelthemen sind abrufbar:
Vorlauf – Einführung
Der Anfang
Hauke Haien - eine Charakterisierung
Boseln
Ehrenhaftigkeit u. Liebe, Ehrsucht und Hass
Der geplante Koog – Skizze
Jeverhallig-Episode 1
Jeverhallig-Episode 2
Verfilmung von 1934 (1)
Verfilmung von 1934 (2)
Vergleich Novelle - Verfilmung (Angemessen?)
Der Schluß (1) Unterschiede zwischen Text und Film
Der Schluß (2) Film als Interpretation und Ausdruck von Zeitgeist
Übung zur Vorbereitung auf die Klassenarbeit
Cornelsen Verlag (LITERAMEDIA), Unterrichtsvorschläge und kopiervorlagen zu Buch, Audio Book, CD-ROM,
2006;
Klett Verlag (Taschenbücherei, Arbeitsheft, erarbeitet von Karin Pohle) 2007
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Der Schimmelreiter
14. Literatur
Ein vollständiges Verzeichnis der Schriften Storms: Theodor Storm Bibliographie. Bearbeitet von Hans-Erich
Teitge. Berlin 1967.
Ein Überblick über die gesamte Sekundärliteratur vermittelt:
Regina Fasold: Theodor Storm. Stuttgart 1997. (Sammlung Metzler 304)
Textausgaben:
1.
Theodor Storm: Der Schimmelreiter. In Deutsche Rundschau 55 (1888), (April und Mai), S.1-34 und 161203.
2. Wiederabdruck in Halbmonatshefte der Deutschen Rundschau, Jg. 1887/88, Bd. 3 (April/Mai/Juni), S. 81114, 161-180, 241-264
3. Der Schimmelreiter. Novelle von Theodor Storm, Berlin: Paetel 1888.
4. Der Schimmelreiter. In: Theodor Storm. Sämtliche Schriften, Braunschweig: Westermann 1889, Bd. 19,
S. 99-326.
5. Der Schimmelreiter. In: Theodor Storms sämtliche Werke in 8 Bänden, hg. von Albert Köster, Leipzig
1923, Bd. 7, S. 252-377.
6. Der Schimmelreiter. In: Theodor Storm. Sämtliche Werke in 4 Bänden, hg. von Peter Goldammer. Berlin
1956 u. ö.; 5. Aufl. 1982, Bd. 4, S. 251-372.
7. Der Schimmelreiter. In: Theodor Storm. Sämtliche Werke in 4 Bänden, hg. von Karl Ernst Laage und
Dieter Lohmeier. Frankfurt am Main 1987/88, Bd. 3, S. 634-756.
8. Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Text, Entstehungsgeschichte, Quellen, Schauplätze, Aufnahme und
Kritik. Hg. von Karl Ernst Laage. 8., durchgesehene und erweiterte Aufl. Heide 1998.
9. Gerd Eversberg (Hg.): Theodor Storm. Der Schimmelreiter. Das „Concept“ (Sommer bis Weihnachten
1887). In: Patrimonia, Bd. 151, Berlin 1999, S. 13-77.
10. Der Schimmelreiter. Hg. von Gerd Eversberg. Hollfeld 1996. (Königs Lektüren Bd. 3005)
***
Übersetzungen (Auswahl)
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Storm, Theodor: De Schimmelrieder. Plattdüütsch v. Bert C. Göttsche. Hamburg: Quickborn-Verl. 1993.
124 S.
Storm, Theodor: (Novellen und Erzählungen.) (In chines. Sprache.) Beijing: Verl. f. Volksliteratur 2000.
470 S. (World’s Literature Treasury.)
Storm, Theodor: The Dykemaster. (In engl. Sprache.) Transl. with notes by Denis Jackson. Afterword by
David A. Jackson. London: Angel Books 1996. 156 S.
Storm, Theodor: L’homme au cheval blanc. (In französ. Sprache.) Introduction et préface de Raymond
Dhaleine. Paris: Aubier-Montaigne 1981. 351 S. (Collection Bilingue.)
Storm, Theodor : De skimmelruter. (In westfries. Sprache.) Oersetting: Lieuwe H. Bouma. Yllustraasjes:
Gepke W. Bouma. Ljouwert (NL): Utjowerij De Tille 1990. 125 S. Ill.
Storm, Theodor: Immensee e altre novelle. (In ital. Sprache.) A cura di Fabrizio Cambi. Trient: Università
degli Studi di Trento 1998. XXXI, 273 S. (Labirinti. Collana del Dipartimento di Scienze Filologiche e
Storiche. 35.) (L’uomo dal cavallo bianco: S. 157-263.)
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Der Schimmelreiter
7.
Storm, Theodor: Novelle. (In ital. Sprache.) Introduzione, prefazione, traduzione e note di Laura Bocci. 1.
Aufl. Garzanti Editore 1996. XLIV, 427 S. (I grandi libri Garzanti.) (Il cavaliere dal cavallo bianco: S. 310427.)
8. Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Im Sonnenschein. (In japan. Sprache.) 14. Aufl. Tokio: Verl.
Iwanami 1988. 217 S.
9. Storm, Theodor: De Schimmelruiter. (In niederländ. Sprache.) Vertaling en nawoord Kees de Both. 2.
druk. Pandora 2000. 136 S. (Pandora Klassiek.)
10. Storm, Theodor: El jinete del caballo blanco. (In span. Sprache.) Traducción: Julio Pintado. Madrid:
Valdemar 1994. 153 S. (El Club Diógenes. 7.)
***
Quellen
1.
2.
3.
4.
5.
M. Antoni Heimreichs Ernewrete NordFresische Chronick. Außgegeben Anno 1668.
J. Laß: Sammlung Husumscher Nachrichten, Zweyter Fortsetzung, 8 Stücke, nebst Register. Flensburg
1756, S. 309f.
Der gespenstige Reiter. In: Lesefrüchten vom Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes.
(Ernsten und fröhlichen Inhalts.) Gesammelt von J.J.C. Pappe, Dr., Jahrgang 1838, Zweiter Band.
Hamburg, 1838, S. 125-128.
Neue Schleswig-Holsteinische Provinzialberichte. In: Schleswig-Holsteinscher Gnomon. Lesebuch in
Sonderheit für die Schuljugend. Kiel 1843, S.43f.
Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg, Kiel
1845.
***
Kommentierte Ausgaben
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Theodor Storm: „Der Schimmelreiter“. Novelle. Texte und Materialien, bearbeitet von Herbert Fuchs
und Ekkehart Mittelberg. Berlin: Cornelsen, 5. Aufl. 1993. (Klassische Schullektüre)
Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Hg. von Klaus Hildebrandt. München: Oldenbourg, 2. bearbeitete
Auflage 1999. (Oldenbourg Interpretationen)
Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Mit einem Kommentar von Heribert Kuhn. Frankfurt am Main:
Suhrkamp Verlag 1999. (Suhrkamp BasisBibliothek 9)
Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Texte, Entstehungeschichte, Quellen, Schauplätze, Aufnahme und
Kritik. Hg. von Karl Ernst Laage. Heide: Boyens, 8. durchgesehene und erweiterte Auflage 1998.
(Editionen aus dem Storm-Haus)
Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Novelle, hg. von Johannes Diekhans. Erarbeitet und mit
Anmerkungen versehen von Widar Lehnemann. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 1999.
Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Mit neuen Materialien zusammengestellt von Wolfgang Meitner.
Stuttgart: Klett 1997.
Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Novelle. Mit einem Nachwort, einer Zeittafel zu Storm,
Anmerkungen und biographischen Hinweisen von Hartmut Vinçon. München: Goldmann 1991.
***
Erläuterungen und Unterrichtsmodelle
1.
2.
Hans Wagener: Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1976.
1991 (RUB 8133)
Gesine Jaugey: Stundenblätter „Schimmelreiter“und „Judenbuche“ im Vergleich. Stuttgart: Klett 1978.
(Stundenblätter für das Fach Deutsch)
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3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
Walter Zimorski: Theodor Storm. Der Schimmelreiter. Einführung in die Novelle für die Klasen 8 bis 10.
Hollfeld: Bange Verlag 1986. (Bausteine Deutsch)
Theodor Storm: „Der Schimmelreiter“. Novelle. Lehrerheft von Herbert Fuchs und Ekkehart Mittelberg.
Berlin: Cornelsen, 4. Aufl. 1993.
Gerd Weinreich: Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Grundlagen und Gedanken. Frankfurt/M.:
Diesterweg 1997.
Klaus Hildebrandt: Theodor Storm: Der Schimmelreiter. München: Oldenbourg, 2., überarbeitete und
korrigierte Auflage 1999, (Oldenbourg-Interpretationen, Bd, 42.)
Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Novelle, hg. von Johannes Diekhans. Erarbeitet und mit
Anmerkungen versehen von Widar Lehnemann. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 1999.
Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Mit einem Kommentar von Heribert Kuhn. Frankfurt am Main:
Suhrkamp Verlag 1999. (Suhrkamp BasisBibliothek 9.)
Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Hg. von Claudia Lorenz und Christiane von Schachtmeyer.
München: Oldenbourg 2000. (Lektüre, Kopiervorlagen)
Burkhard Seidler, Herwig Grau und Dietmar Wagner: Literaturkartei: „Der Schimmelreiter“. Mülheim:
Verlag an der Ruhr 2000.
Beate und Eberhard Hermes: Theodor Storm. "Der Schimmelreiter". Textanalysen. Stuttgart 2001.
Joachim Will: Theodor Storm. Der Schimmelreiter. Stuttgart: Klett 2001. (Lektüre easy)
Brigitte Noll: Theodor Storm. Der Schimmelreiter. Unterrichtsvorschläge und Kopiervorlagen zu Buch,
Audio Book, CD-ROM. [s. unter "Neue Medien": (Terzio LiteraMedia und Suhrkamp BasisBibliothek)].
Berlin: Cornelsen Verlag 2002.
***
Neue Medien
1.
2.
3.
4.
H. Kerber: „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm. München: Park Körner. Unterrichtsvorbereitungen
aus dem Computer o.J. (Diskette)
Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Stuttgart: Reclam 1996. (Klassiker auf CD-ROM)
Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Mit neuer Software. Stuttgart: Reclam 1998. (Klassiker auf CD-ROM)
Theodor Storm: Der Schimmelreiter. München: Terzio Verlag 1999. (Terzio LiteraMedia und Suhrkamp
BasisBibliothek)
***
Lesungen
1.
2.
3.
4.
Gert Westphal, 270 Minuten; Verlag Deutsche Grammophon GmbH
Otto Mellies, 300 Minuten; Verlag Philipp Reclam jun.
Wolfgang Büttner, 265 Minuten; Steinbach sprechende Bücher
Eine Lesung ist auch auf der CD-ROM des Terzio-Verlages enthalten.
***
Briefe Storms
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Storm, Theodor, – Constanze Esmarch. Briefwechsel, hg von Regina Fasold. 2 Bde., Berlin 2002.
Storm, Theodor – Hartmuth und Laura Brinkmann. Briefwechsel, hg. von Stahl, August. Berlin 1986.
Storm als Erzieher. Seine Briefe an Ada Christen, hg. von Katann, Oskar. Wien 1948.
Theodor Storms Briefe an Friedrich Eggers, hg. von H. Seidel, Wolfgang. Berlin 1911.
Storm, Theodor, Briefe an die Heimat (an die Eltern), hg. v. Storm, Gertrud. Berlin 1907.
Storm, Theodor – Ernst Esmarch. Briefwechsel, hg. von Alt, Arthur Tilo. Berlin 1979.
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31.
32.
33.
Storm, Theodor – Theodor Fontane. Briefwechsel, hg. von Steiner, Jacob, Berlin 1981.
Goldhammer, Peter: Theodor Storm und Karl Emil Franzos. Ein unbekannter Briefwechsel. In: STSG 18
(1969), S. 9-40.
Storm, Theodor, Briefe an seine Frau (an Constanze Storm, geb. Esmarch), hg. von Storm, Gertrud.
Braunschweig 1915.
Storm, Theodor – Klaus Groth. Briefwechsel, hg. von Hinrichs, Boy. Berlin 1990.
Storm, Theodor – Paul Heyse. Briefwechsel, hg. von Bernd, Clifford Albrecht. 3 Bd. Berlin 1969/74.
Storm, Theodor und Gottfried Keller. Briefwechsel, hg. von Laage, Karl Ernst. Berlin 1992.
Storm, Theodor, Briefe an seine Kinder (an Hans, Ernst, Karl, Lisbeth, Lucie, Elsabe, Gertrud, Dodo), hg.
von Storm, Gertrud. Braunschweig 1916.
Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Emil Kuh, veröffentlicht von Kuh, Paul R. In: Westermanns
Monatshefte 67 (1889/90).
Storm, Theodor, Briefe an Georg Scherer und Detlev von Liliencron, hg. von Stuckert, Franz. In: STSG 3
(1954), S. 15-59.
Alt, Arthur Tilo, Theodor Storm und Hiernoymus Lorm: Unveröffentlichte Briefe. In: STSG 27 (1978), S.
26-36.
Lohmeier, Dieter, Storm und sein dänischer Übersetzer Johannes Magnussen. Mit unveröffentlichen
Briefen. In: STSG 33 (1984), S. 53-70.
Theodor Storms Briefwechsel mit Theodor Mommsen, hg. von Teitge, Hans-Erich. Weimar 1966.
Storm, Theodor – Eduard Mörike. Storm, Theodor – Margarete Mörike. Briefwechsel, hg. von
Kohlschmidt Hildburg und Werner. Berlin 1978.
Blätter der Freundschaft. Aus dem Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Ludwig Pietsch.
Mitgeteilt von Pauls, Voquart. Heide, 2. Aufl. 1943.
Storm, Theodor – Wilhelm Petersen. Briefwechsel, hg. von Coghlan, Brian. Berlin 1984.
Ranft, Gerhard, Theodor Storm und Elise Polko. In: STSG 39 (1990), S. 46-68.
Ranft, Gerhard, Theodor Storms Briefe an Hermione von Preuschen. In: STSG 22 (1973), S. 55-94.
Storm, Theodor und Karl Theodor Pyl. Unbekannte Briefe, hg. von Gassen, Kurt. In: Pommersche
Jahrbücher 33 (1939), S. 128-152.
Trömel, Ferdinand: Theodor Storms Briefe an die Gräfin Emilie Reventlow. In: STSG 25 (1976), S. 25-47.
Goldammer, Peter, Theodor Storm und Julius Rodenberg. In: STSG 22 (1973), S. 32-54.
Theodor Storm - Heinrich Schleiden. Briefwechsel, hg. von Peter Goldammer. Berlin 1995.
Storm, Theodor – Erich Schmidt. Briefwechsel, hg. von Laage, Karl Ernst. 2 Bd. Berlin 1972/76.
Storm, Theodor und Heinrich Seidel im Briefwechsel, hg. von Seidel, Wolfgang. In: Deutsche Rundschau
188 (1921)
Storm, Theodor – Otto Speckter. Theodor Storm – Hans Speckter. Briefwechsel, hg. von Hettche, Walter.
Berlin 1991.
Ranft, Gerhard, Theodor Storm und Dorothea, geb. Jensen. Ein unveröffentlichter Briefwechsel. In: STSG
28 (1979), S. 34-97.
Der Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Ferdinand Tönnies, neu herausgegeben von Dieter
Lohmeier. In: Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Würzburg 2000, S. 92127.
Laage, Karl Ernst, Theodor Storm und Iwan Turgenjew. Persönliche und literarische Beziehungen,
Einflüsse, Briefe, Bilder. In: STSG 16 (1967).
***
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Der Schimmelreiter
Storms Leben und Werk
1.
Biese, Alfred, Theodor Storms Leben und Werk. Leipzig 1917. (3., vermehrte u. verbesserte Auflage
1921.)
2. Böttger, Fritz, Theodor Storm in seiner Zeit. Berlin 1958.
3. Goldammer, Peter, Theodor Storm. Eine Einführung in Leben und Werk. Leipzig 21974.
4. Gertrud Storm, Theodor Storm. Ein Bild seines Lebens. 2 Bde. Berlin 1912/13.
5. Stuckert, Franz, Theodor Storm. Sein Leben und sein Werk. Bremen 1955.
6. Vincon, Hartmut, Theodor Storm in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1972. (Rowohlts
Monographien 186.)
7. Vincon, Hartmut, Theodor Storm. Stuttgart 1973. (Sammlung Metzler 122.)
8. Bollenbeck, Georg, Theodor Storm. Eine Biographie. Frankfurt/Main 1988.
9. Laage, Karl Ernst: Theodor Storm. Eine Biografie. Heide 1999.
10. Jackson, David: Theodor Storm. Dichter und demokratischer Humanist. Eine Biografie. Berlin 2001.
***
Storm als Erzähler
1.
Deutsche Novellen des 19. Jahrhunderts. Interpretationen zu Theodor Storm und Gottfried Keller.
Bearb. v. Gaese, Heinrich u. a. Frankfurt/M. 1961.
2. Geschichte der deutschen Literatur. 8. Band, 2. Halbband. Von 1830 bis zum Ausgang des 19.
Jahrhunderts. Berlin (Ost) 1975.
3. Kayser, Wolfgang: Bürgerlichkeit und Stammestum in Theodor Storms Novellendichtung. Berlin 1938.
4. Klein, Johannes, Geschichte der deutschen Novelle von Goethe bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1956.
5. Klein, Johannes, Theodor Storms Entwicklung als Novellist. In: Germanisch-romanische Monatsschriften
25. Jg. 1937, S. 15-34.
6. Lukács, Georg, Bürgerlichkeit und L’art pour I'art: Theodor Storm. In: G. L.: Die Seele und die Formen.
Essays. Neuwied 1971. (Sammlung Luchterhand 21.), S. 82-116.
7. Mann, Thomas, Einführung. In: Theodor Storm. Novellen. Bd. I, Frankfurt/M. 1953, S. V-XXIV.
8. Martini, Fritz, Die deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus. 1848 bis 1898. Stuttgart 1962.
9. Schuster, Ingrid, Theodor Storm. Die zeitkritische Dimension seiner Novellen. In: Studien zur
Germanistik, Anglistik und Komparatistik. Bd. 12, Bonn 1971, S. 174-182.
10. Storm, Theodor, Eine zurückgezogene Vorrede aus dem Jahre 1881. In: Sämtliche Werke in 8 Bdn. Hrsg.
v. A. Köster, Bd. 8 (16.-19. Tausend.) Leipzig 1923, S. 122-123.
11. Stuckert, Franz, Theodor Storms novellistische Form. In: Germanisch-romanische Monatsschrift, 27. Jg.
1939, S. 24-39.
12. Wiese, Benno von, Novelle. Stuttgart 1963. (Sammlung Metzler 27.)
***
Zu „Der Schimmelreiter“ speziell
1.
2.
3.
4.
Burchard, Annemarie, Theodor Storms „Schimmelreiter“. Ein Mythos im Werden. In: Antaios 2. G. 1961,
H. 5, S. 456-469.
Eversberg, Gerd, „Vor der Deichnovelle habe ich einige Furcht“ Storms letzter Schreibprozess im
Spiegel der „Schimmelreiter“-Textzeugen. In: G.E. u.a. (Hg.): Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst
Laage zum 80. Geburtstag. Würzburg 2000, S. 323-348.
Freund, Winfried, Theodor Storm. Der Schimmelreiter. Glanz und Elend des Bürgertums. Paderborn
1984.
Frühwald, Wolfgang, Hauke Haien, der Rechner. Mythos und Technologieglaube in Theodor Storms
Novelle „Der Schimmelreiter“. In: Jürgen Brummack u.a. (Hg.): Literaturwissenschaft und
Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann. Tübingen 1981, S. 438-457.
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Der Schimmelreiter
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25.
26.
27.
Hermand, Jost, Hauke Haien. Kritik oder Ideal des gründerzeitlichen Übermenschen. In: Wirkendes
Wort 15. Jg. 1965, S. 40-50. In: J. H.: Von Mainz nach Weimar, Stuttgart 1969, S. 250-268.
Heybey, Wolfgang, Theodor Storm: „Der Schimmelreiter“. In: Lehrpraktische Analysen. Stuttgart 1969,
Folge 29, S. 3-19.
Hoffmann, Volker, Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Eine Teufelspaktgeschichte als realistische
Lebensgeschichte. In: Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Interpretationen, Bd. 2. Stuttgart
1990, S. 333-370.
Hoppe, Karl, Der gespenstige Reiter. Eine unbekannte Quelle Storms. In: Westermann Monatshefte
1949, Nr. 5, S. 45-47.
Kuchenbuch, Thomas, Perspektive und Symbol im Erzählwerk Theodor Storms. Zur Problematik und
Technik der dichterischen Wirklichkeitsspiegelung im Poetischen Realismus. Marburg 1969, S. 189-217.
Mansholt, Teiel, Das Urbild des Hauke Haien in Theodor Storms „Schimmelreiter“. In: Das literarische
Echo 29. Jg. 1926/27, S. 496-497.
Laage, Karl Ernst, Der „Schimmelreiter“ im „Danziger Dampfboot“. In: Schriften der Theodor-StormGesellschaft 20. Jg. 1971, S. 72-75.
Laage, Karl Ernst, Der ursprüngliche Schluß der Stormschen „Schimmelreiter“-Novelle. In: Schriften der
Th.-Storm-Gesellschaft 30/1981, S. 57-67 und in: Euphorion 73/1979, S. 451-457.
Laage, Karl Ernst, Zur ersten Buchausgabe von Storms „Schimmelreiter“. In: In Search of the Poetic Real.
Essays Honor of Cl. A. Bernd, Hrsg. von Fetzer, Hoermann, Mc Connel, Stuttgart 1989, S. 169-175.
Laage, Karl Ernst (Hg.), Theodor Storm. Der Schimmelreiter. Sylter Novelle. Texte,
Entstehungsgeschichte, Quellen, Schauplätze, Abbildungen. Heide, 5. Aufl. 1993. (Editionen aus dem
Storm-Haus).
Langer, Ilse, Volksaberglaube und paranormales Geschehen in einigen Szenen des „Schimmelreiters“.
In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 24(1975), S. 90-97.
Loeb, Ernst, Faust ohne Transzendenz. In: Studies in Germanic Languages and Literatures, Washington
University Press 1963, S. 212-132.
Lohmeier, Dieter, Jan Clausen Coott; Claus Jansen Rollwagen. In: Biographisches Lexikon für SchleswigHolstein und Lübeck Bd. 6, Neumünster: Wachholtz 1982, S. 66-68, bzw. 254-256.
Lohmeier, Dieter, Rollwagen-Claußen-Coott. In: Nordfriesisches Jahrbuch, Bredstedt, 1980, S. 75-90.
Mansholt, Teiel, Das Urbild des jungen Hauke Haien in Th. Storms „Schimmelreiter“. In: Das
Literarische Echo 29 (1926/27), S. 296 f.
Roebling, Irmgard, „Von Menschentragik und wildem Naturgeheimnis“. Die Thematisierung von Natur
und Weiblichkeit in Storms Novelle „Der Schimmelreiter“. . In: Storm Lektüren. Festschrift für Karl
Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Würzburg 2000, S. 183-213.
Silz, Walter, Theodor Storms Schimmelreiter. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 4/1955, S. 930.
Schmeißer, Felix, der Schauplatz des Schimmelreiters. In: Das Heimatbuch der Nordfriesen, hrsg. von H.
H. Schulz, Hamburg 1958, S. 131 f.
Wagner, Hans (Hrsg.), Theodor Storm. Der Schimmelreiter. Stuttgart 1976. (Erläuterungen und
Dokumente, RUB 8133.)
Widmann, Helga, „Erlkönig“ und „Schimmelreiter“. In: Diskussion Deutsch. 18.1987, S. 516-523.
Wittmann, Lothar, Theodor Storm. Der Schimmelreiter. In: Deutsche Novellen des 19. Jahrhunderts,
Frankfurt/M. 1961, S. 50-92.
Woeseler, Maria, Der Rahmen im „Schimmelreiter“. In: Zeitschrift für Deutschkunde 54. Jg. 1940, S. 205207.
Zimorski, Walter, Der Schimmelreiter. In: „Bausteine Deutsch“ Nr. 659. Hollfeld 1985. Bange Verlag.
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Der Schimmelreiter
Zu den Filmen
1.
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9.
10.
11.
12.
13.
Friedrich Boll: Über die Verfilmung von Werken Fontanes und Storms. In: Schriften der Theodor-StormGesellschaft 25 (1976), S. 61-74.
Gerd Eversberg und Harro Segeberg (Hgg.): Theodor Storm und die Medien. Zur Mediengeschichte eines
poetischen Realisten. Berlin 1999. (Husumer Beiträge zur Storm-Forschung, Bd. 1.)
Wolfgang Gast: Theodor Storm/Curt Oertel: Der Schimmelreiter (1934). Unter Berücksichtigung der
Adaptionen von Alfred Weidenmann (1978/82) und Klaus Gendries (1984). In: W. Gast u.a.(Hgg.): Film
und Literatur. Analysen, Materialien, Unterrichtsvorschläge. Frankfurt/M. 1995, S. 53-76.
Alfred Herr: Theodor Storms "Schimmelreiter" im Film. In: Jugendschriften-Warte Nr. 10, 39. Jg. (1934),
S. 71-74.
Sven-Aage Jørgensen: Die verlorene Mehrdeutigkeit Hauke Haiens. Zur DEFA-Verfilmung von Storms
Novelle "Der Schimmelreiter". In: Text & Kontext 18 (1993). S. 108-120.
Klaus M. Schmidt: Novellentheorie und filmisches Erzählen vor dem Hintergrund moderner
Stormverfilmungen. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 48(1999), S. 95-125.
Harro Segeberg: Intermedialität bei Storm. Zur Mediengeschichte des Schimmelreiter-Komplexes. In:
Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 42 (1993), S. 77-94.
Harro Segeberg: „Elemente einer Novelle wenig verändert zu verfilmen, wäre nur Unfug“. Zur Literaturund Filmgeschichte des Stormschen Erzählwerks. In: Gerd Eversberg und Harro Segeberg (Hgg.):
Theodor Storm und die Medien. Berlin 1999, S. 25-47.
Günter Spurgat: Theodor Storm im Film. Die Kino- und Fernsehverfilmungen seiner Werke. Lübeck
1987.
Günter Spurgat: Filmkunst in ideologischer Verpackung. Der Schimmelreiter als arischer Filmheld. In:
Nordfriesland 65 (1983), S. 14-15.
Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Mit 96 ganzseitigen Lichtbildern [Kupfertiefdruck] aus dem
gleichnamigen Film und nach Landschaftsaufnahmen. Hannover 1934.
Bernd Wegner: Intertextualität und Intermedialität. Oder: Vom kinomorphen Text zum Film-Text - am
Beispiel der kinematographischen Schimmelreiter-Transformationen (1934/1978/1984). In: Gerd
Eversberg und Harro Segeberg (Hgg.): Theodor Storm und die Medien. Berlin 1999, S. 209-245.
Jürgen Wolff: Literaturverfilmungen. Landesbildstelle Würtemberg, Stuttgart 1983.
14.
Filme
„Der Schimmelreiter“ in drei Literaturverfilmungen
Viele Besucher, die nach Husum reisen und in der Stadt und im Kreis Nordfriesland auf den Spuren Theodor
Storm wandern, wollen sehen, wo der Schimmelreiter entlang ritt und nacherleben, wo und wie Storms
bekannteste Gestalt gelebt und gewirkt hat. Schließlich gibt es im Kreisgebiet ja einen Schimmelreiter-Krug und
einen Hauke-Haien-Koog. Kaum eine andere literarische Gestalt hat sich in den Köpfen der Leser so realistisch
eingeprägt wie Storms „Schimmelreiter“.
Dazu haben auch die drei Filme beigetragen, die 1933, 1978 und 1984 nach der Novelle gedreht wurden. Die
Landschaft an der Küste Nordfrieslands ist ohne den Deichbaumeister Hauke Haien und ohne den Spuk des
gespenstischen Reiters für viele nicht mehr vorstellbar. Und da liegt die Vermutung nahe, dass Storm, als er
1885 mit den Vorarbeiten zum „Schimmelreiter“ begann, auf eine Sage zurückgriff, die seit langer Zeit in seiner
nordfriesischen Heimat mündlich tradiert worden war.
Allerdings lässt sich vor dem Erscheinen von Storms gleichnamiger Novelle (1888) weder in Nordfriesland noch
in Dithmarschen eine Schimmelreiter-Sage belegen. Wir haben es nämlich mit einer Übertragung der
literarischen Fiktion in die kollektive Vorstellung von Menschen zu tun, die in der Region leben oder sich durch
ihre Storm-Lektüre dem Handlungsraum der Erzählung nahe fühlen. So ist die literarische Gestalt zu einer
vermeintlichen Sagengestalt geworden, eine Umkehrung des sonst üblichen Prozesses, in dem regionale
Sagengestalten von Schriftstellern zu literarischen Figuren umgeformt werden.
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Der Schimmelreiter
Die Sage hat ihren Ursprung an der Weichsel und wurde 1838 erstmals mit der Überschrift „Der
Deichgeschworene zu Güttland“ veröffentlicht; Storm hat sie nur einmal im Alter von zwanzig Jahren gelesen
hat, konnte sich aber fast fünfzig Jahre später noch genau an alle Einzelheiten erinnern. Denn er hat nicht nur
die Fabel des gespenstigen Reiters nach der Sage wiedergegeben, sondern auch die in der Quelle vorliegende
Rahmenstruktur in seine Novelle übernommen.
Moderne Literaturwissenschaftler verstehen sich immer mehr als Medienwissenschaftler, und das bedeutet, sie
beschränken sich bei ihren Analysen nicht mehr nur auf den gedruckten Text, sondern beziehen auch andere
Transformationen von Texten in ihre Überlegungen mit ein, z.B. Fernsehspiele, Filme und Hörspiele.
Der realistische, erzählende Film hat seine Wurzeln in der realistischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts, die
von manchen Forschern als Vorformen des filmischen Erzählens verstanden werden, wie es sich im 20.
Jahrhundert entwickelt hat. Es ist aus dieser Sicht eine falsche Vereinfachung, wenn der Literatur-Film als bloße
Verfilmung einer literarischen Vorlage verstanden wird, weil dadurch der eigenständige Wert des neuen
Mediums Film unterschlagen wird.
So wie jeder Novellentext von Theodor Storm oder jeder Romantext von Theodor Fontane neben den jeweils
behandelten Inhalten eine formale Struktur aufweist, die sich als Erzähltechnik, Kompositionsweise, sprachliche
Gestaltung, Symbolverkettung usw. beschreiben lässt, und die in vielfältiger Weise mit dem erzählten Inhalt
verknüpft erscheint, so lassen sich auch filmische Mittel benennen, mit deren Hilfe der Spielfilm gestaltet wird.
Die intensive Beschäftigung mit dem Medium Film hat eine Fülle solcher filmischer Zeichen zutage gefördert, die
ganz ähnlich wie die erzählerischen Gestaltungsmittel in der Literatur verwendet werden. Ein Teil der
Filmästhetik ist die Filmsprache, die es dem Team um den Regisseur ermöglicht, das Drehbuch in angemessener
Weise zu realisieren. Wir Zuschauer bekommen eine Art „Text“ präsentiert, der aus den Elementen Bild, Sprache
und Ton komponiert ist. Im Gegensatz zum Leser eines Buch-Textes wird dem Zuschauer eines Filmes bereits ein
komplexes Vorstellungsganzes geliefert. Dennoch muss der Filmbetrachter eine Fülle von optischen und
akustischen Reizen ebenso entschlüsseln, wie dies der Leser einer Novelle oder eines Romans zu leisten hat.
Storms Novellen weisen eine große Nähe zum erzählenden Film auf; das hat damit zu tun, dass die Prinzipien
der filmischen Verknüpfung von Teilen zu raum-zeitlichen Handlungsganzen Ähnlichkeiten aufweist mit der Art
und Weise, in der Storm erzählt; seine Arbeitsweise, einzelne Szenen zunächst auszuarbeiten und sie dann zu
einem Ganzen zu komponieren, entspricht der Verknüpfung von Einstellungen und Szenen im Spielfilm. Das ist
auch in der Ähnlichkeit des Poetischen Realismus mit dem erzählenden Realismus des Literaturfilms begründet.
Dennoch gibt es zwischen einem literarischen Text und einem Literaturfilm eine Reihe von Unterschieden. Der
Erzählvorgang selbst ist für die gesamte Novellistik Storms bedeutsam; Erzählen und Erinnern werden zu
zentralen Mitteln seiner realistischen Darstellung. Storm wählt das Erinnerungsmotiv, um in dem Leser den
Eindruck hervorzurufen, dass aus der Erinnerung heraus erzählt wird. Auch dadurch erreicht der Autor eine
Nähe zu lebendigem mündlichen Erzählen. Diese Fiktion der Mündlichkeit ist aber nicht nur für die Entwicklung
der Stormschen Erzählkunst von Bedeutung, sie bleibt charakteristisches formales Merkmal bis zur Altersnovelle
„Der Schimmelreiter“.
Der erste Schimmelreiter-Film entstand 1933 nach dem Drehbuch von Curt Oertel und Hans Deppe und gilt als
einer der frühsten ideologisch dem Nationalsozialismus verpflichteten deutschen Spielfilme. Die
weltanschauliche Deutung der Novelle spiegelt zugleich die in der Wilhelminischen Ära ebenso wie in der
Weimarer Republik dominierende Sichtweise der Novelle wider: Hauke Haien wird als Helden- und Führergestalt
gezeigt, der sich gegenüber einer ignoranten Masse durchsetzen muss; der Held verkörpert völkische
Wertprinzipien wie Ehre und Treue, Mut und Härte, Leistungswille, Schöpferkraft, Kämpfertum und
Opferbereitschaft. Damit entspricht dieser Film den Vorstellungen des NS-Propagandisten von der
weltanschaulich bildenden Funktion der scheinbar unpolitischen Unterhaltungsfilme, wie sie in den nächsten
zwölf Jahren von der UFA in Massen produziert wurden. Große historische Persönlichkeiten wurden genutzt,
um sie in Analogie zu Adolf Hitler als Führer und Vorbilder darzustellen.
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Der Schimmelreiter
„Der Schimmelreiter”, UFA 1933/34; Matthias Wiemann als Hauke Haien
Die nordfriesische Landschaft spielt ebenfalls eine ideologische Funktion; neben dem Moment des Nordischen
passt das Grundmotiv des Kampfes der Menschen gegen die ewigen Naturgewalten - der Film wurde in und um
Husum gedreht - in die Programmatik des Kampfes um den Lebensraum der dreißiger Jahre.
„Der Schimmelreiter”, UFA 1933/34; Szene beim Deichbau
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Der Schimmelreiter
Zugleich zeigt Oertels Film aber auch ein anderes ideologisches Moment, nämlich das entgegengesetzte der
Deheroisierung, womit die Funktion der Gemeinschaft für den Einzelnen gemeint ist.
„Der Schimmelreiter”, UFA 1933/34; Marianne Hoppe als Elke Volkerts
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Der Schimmelreiter
Der zweite Schimmelreiter-Film, der 1978 wiederum in Nordfriesland gedreht, war ein rein kommerzielles
Projekt, das allein auf die Unterhaltung des Publikums abzielte.
„Der Schimmelreiter”, BRD 1977/78; Szene Reiterfest mit Gert Fröbe als alter
Deichgraf
Die stilistische und dramaturgische Konzeption ist allein von der Absicht geprägt, publikumsrelevante
Unterhaltung zu schaffen; das führt zum Beispiel zu einer - dem Novellentext völlig konträren - Versöhnung
zwischen Hauke Haien und seinem Erzrivalen Ole Peters, die schließlich in völliger Eintracht eine
Doppelhochzeit feiern.
„Der Schimmelreiter”, BRD 1977/78; John Phillip Law als Hauke Haien
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Der Schimmelreiter
Der Regisseur Alfred Weidenmann wollte von Anfang an einen reinen Unterhaltungsfilm drehen und hatte nie
die Absicht, sich künstlerisch mit Storms Novelle auseinander zu setzen.
„Der Schimmelreiter”, BRD 1977/78; Anita Ekström als Elke Volkerts
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Der Schimmelreiter
Der dritte Schimmelreiter-Film entstand 1984 als Kooperation des Fernsehens der DDR mit dem polnischen
Fernsehen. Regie führte Klaus Gendries, der den Film in der ursprünglichen Region an der Weichsel drehte, aus
der die Sage durch Storm nach Nordfriesland importiert wurde. Dieser Film steht in der Tradition Stormscher
Erzählkunst und versucht, mit filmischen Mitteln eine mögliche Interpretation umzusetzen, die im Kontext der
Diskussion über das „bürgerliche Erbe“ im Zusammenhang des sozialistischen Realismus geführt wurde.
„Der Schimmelreiter”, DDR/Polen 1984; Jolanta Grusznic als Elke und Sylvester Groth
als Hauke.
Es ist der einzige Film, der die Rahmentechnik Storms aufgreift und damit versucht, das für Storms Erzählkunst
so bedeutsame Erinnerungsmotiv filmsprachlich umzusetzen.
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Der Schimmelreiter
Filmographie
1. 1933/34
Der Schimmelreiter (K)
(Deutschland 1933/34)
Fassung: 35 mm, schwarz/weiß
Länge: 2.344 m (85 Minuten)
Uraufführung: 12.01.1934 in Hamburg
Kopie: Schmalfilmvertrieb Bruno Schmidt, Berlin, sowie zahlreiche kommunale Bildstellen und Filmdienste (alle
jeweils nur 16 mm) Videokopie im Handel
Produktion: Rudolf Fritsch-Tonfilm Produktion, Berlin
Buch: Curt Oertel und Hans Deppe nach der gleichnamigen Novelle
Bauten: Gabriel Pellon
Tonsystem: Tobis-Klangfilm
Ton: Fritz Seeger u.a.
Musik: Winfried Zillig
Kamera: Alexander von Lagorio
Regie: Curt Oertel und Hans Deppe
Rollen und ihre Darsteller:
Tede Volkerts
Wilhelm Diegelmann
Elke
Marianne Hoppe
Hauke Haien
Matthias Wieman
Vollina
Ali Ghito
Iven
Hans Deppe
Ole Peters
Walther Suessenguth
sowie Margarete Albrecht, Eduard v. Winterstein u.a.
Außenaufnahmen: Husum und Nordfriesland
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Der Schimmelreiter
„Der Schimmelreiter”, UFA 1933/34; Arbeitsphoto mit Regisseur Kurt Oertel und
seinem Stab
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Der Schimmelreiter
2. 1977/78
Der Schimmelreiter (K)
(Bundesrepublik Deutschland 1977/78)
Fassung: 35 mm Farbe
Länge: 2.621 m (96 Minuten)
Uraufführung: 29.03.1978 in Husum
Produktion:
„Schimmelreiter“-Albis Film (Hamburg), Studio-Film (Bendestorf) und Zweites Deutsches Fernsehen
Buch: Alfred Weidenmann nach der gleichnamigen Novelle
Bauten: Roman Weyl
Musik: Hans-Martin Majewski
Kamera: Heinz Hölscher
Schnitt: Klaus Dudenhöfer
Regie: Alfred Weidenmann
Gesamtleitung: Alf Teichs
Rollen und ihre Darsteller:
Hauke Haien
John Phillip Law
Elke
Anita Ekström
Deichgraf
Gert Fröbe
Ole Peters
Dirk Galuba
Vollina
Vera Tschechowa
Jess Harders
Reinhard Kolldehoff
Trin Jans
Lina Carstens
Jewe Manners
Richard Lauffen
Iven Johns
Volker Bogdan
Amtmann
Werner Hinz
sowie Katharina Mayberg, Peter Kuiper, Detlev Echstein, Wilfried Bertermann u.a.
Außenaufnahmen: Wewelsfleth, Dithmarschen, Nordfriesland
Innenaufnahmen: Studio Bendestorf
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Der Schimmelreiter
„Der Schimmelreiter”, BRD 1977/78; Foto von den Dreharbeiten. (Willi Bertermann,
Bredstedt)
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Der Schimmelreiter
3. 1984
Der Schimmelreiter (F)
(Deutsche Demokratische Republik/Polen 1984)
Fassung: 35 mm, Farbe
Laufzeit: 95 Minuten
Erstsendung: 26.12.1984 (Fernsehen der DDR)
Westdeutsche Uraufführung: 07.09.1985 in Husum
Produktion: Fernsehen der DDR und Telewizja Polska (Polnisches Fernsehen)
Produktionsleitung: Helga Lüdde, Halina Kawecka
Szenarium: Gerhard Rentzsch nach der gleichnamigen Novelle
Dramaturgie: Bernd Schimer Szenenbild: Tadeusz Kosarewicz
Musik: Jürgen Ecke
Kamera: Jerzy Stawicki
Schnitt: Karola Mittelstädt
Regie: Klaus Gendries
Rollen und iher Darsteller:
Hauke Haien
Sylvester Groth
Elke Volkerts
Jolanta Grusznic
Deichgraf
Lech Ordon
Ole Peters
Hansjürgen Hürrig
Vollina
Hansjürgen Hürrig
Oberdeichgraf
Fred Düren
sowie Käthe Reichel, Jerzy Trela, Andzej Piecxnski u.a.
Außenaufnahmen: Klockenhagen/Darß, Stralsund (Mecklenburg) und Ostseeküste bzw. Weichsel (Polen),
Norseeküste (Nordfriesland)
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Der Schimmelreiter
„Der Schimmelreiter”, DDR/Polen 1984; Elke beim Oberdeichgrafen
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Der Schimmelreiter
Der Fernsehfilm von 1985
Storm - Der Schimmelreiter (F)
(Bundesrepublik Deutschland 1985)
Fassung: 16 mm, Farbe
Laufzeit: 74 Minuten
Erstsendung: 08.04.1986 (Deutsches Fernsehen/ARD)
Produktion: Multimedia-Gesellschaft für audiovisuelle Information mbH (Hamburg) für den Bayerischen
Rundfunk
Buch: Christiane Höllger
Ausstattung: Bernd Gaebler
Musik: Thilo von Westernhagen
Redaktion: Johannes C. Weiss
Kamera: Wolfgang Treu
Schnitt: Barbara Grimm
Regie: Claudia Holldack
Rollen und iher Darsteller:
Theodor Storm im Alter
Erland Josephson
Stimme Theodor Storms
Lothar Blumhagen
Storm mit 20 Jahren
Till Topf
Dorothea Storm
Renate Bleibtreu
Paul Heyse
Dietmar Mues
Bertha von Buchan
Saskia Tyroller
sowie Silke Goes, Wanja Mues u.a.
Außenaufnahmen: Nordstrand (Nordfriesland)
Innenaufnahmen: Studio Hamburg
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Der Schimmelreiter
Im Alter von 70 Jahren erfährt Storm, daß er unheilbar an Krebs erkrankt ist. Er hängt durch, gibt sich seinem
Leiden hin. Frau, Kinder und Arzt bequemen sich zu der Lüge, das Ganze sei eine Fehldiagnose, er sei
kerngesund. Storm blüht auf und verfaßt kurz vor seinem Tod sein Meisterwerk, die Novelle »Der
Schimmelreiter«, die zur Saga der nordfriesischen Deichbauern wurde. [...] Christiane Höllger und Claudia
Holldack machten daraus leider einen trockenen Fernsehfilm, der dem Betrachter zu mitternächtlicher Stunde
lediglich ein Gähnen entlockte. Erland Josephson, angetan mit angeklebtem Rauschebart, las mit erhabenen
Worten aus dem »Schimmelreiter« vor und ließ sich die Wolldecke reichen. Sanfte, einschläfernde Töne [...]
barhaupt blieben die letzten Stunden dieses so sinnlich wirkenden Dichters inhaltsleer. Ein paar Figuren
bewegten sich steif vor kahler Kulisse. Das Drama des Schimmelreiters - es starb im Fernsehsessel.
Uwe Witsch, in »Rhein-Post« (Düsseldorf), 10.4.1986
[...] grundsätzlich nichts einzuwenden ist gegen die Technik des Drehbuchs, die Biographie von einem Festpunkt
her, eben vom siebzigsten Geburtstag und von der Arbeit am letzten vollendeten erzählerischen Werk [...]
aufzurollen. Beschränkung auf Exemplarisches in Biographie und Werk war geboten. Hier aber versagt der Film,
bleibt allzu einseitig. Er zeigt außer den Autor des »Schimmelreiters« nur noch den Spätromantiker Storm. [...]
auf den Spannungsreichtum in der Persönlichkeit des Schriftstellers und auf eine Auseinandersetzung mit dem
Werk läßt er sich nicht ein.
Walter Hinck, in »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 10.4.1986
Verzeichnis der Abbildungen
Sämtliche hier verzeichnete Abbildungen sind in die einzelnen Dateien eingefügt. Das gesamte Bildmaterial
stammt aus dem Storm-Archiv, Husum
Abbildung 1
Theodor Storm 1886, Photographie von G. Constabel, Hanerau.
Abbildung 2
veröffentlicht.
Danziger Dampfboot vom 14.4.1838; hier wurde die Quelle für Storms Novelle erstmals
Abbildung 3
Titelblatt der „Lesefrüchte”; in dieser Zeitschrift wurde auf den Seiten 125-128 die
Weichselsage vom „Gespenstigen Reiter” wieder abgedruckt.
Abbildung 4
Der „Nie koog” vor der Hattstedter Marsch auf einer Karte des Husumer Kartographen J. Mejer
aus Danckwerths „Landbeschreibung“ von 1652 (Zustand vor der Sturmflut von 1634).
Abbildung 5
Zeichnung des Küstenverlaufs vor Husum nach der Karte von Mejer von Gertrud Eckermann
(Febr./März 1885).
Abbildung 6
Der Schauplatz der „Schimmelreiter“-Novelle; Zeichnung nach den Angaben in der Erzählung
(Entwurf: Dr. K.E. Laage).
Abbildung 7
Karte des Küstenverlaufs (Landesvermessungsamt Schleswig-Holstein, 1962) Eingezeichnet ist
der alte Küstenverlauf und die große Wehle (W). Heute liegt der „Hattstetter Neue Koog“ durch die Vordeichung
(„Beltringharder Koog“) nicht mehr direkt an der Nordsee.
Abbildung 8
Lundenberg, Hof des Deichgrafen Johann Iwersen Schmidt (1798-1875) in der Hattstedter
Marsch. Aquarell von Julius Grelsdorff (1779). Vorbild für den „Deichgrafenhof“ in der Novelle.
Abbildung 9
Der „Schimmelreiterkrug” bei Sterdebüll im „Hattstetter Neuen Koog“ mit dem Akt, der vom
Deich zum Wirtshaus hinabführt. Vorbild für das „Wirtshaus“ in der Novelle.
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Der Schimmelreiter
Abbildung 10
Titelblatt von Heimreichs Nordfriesischer Chronik; Exemplar aus Storms Bibliothek.
Abbildung 11
Husum)
Notizen zur Konzeption in Storms Handschrift, kleiner Zettel aus Karton. (Storm-Archiv
Abbildung 12
Entwurf des Novellen-Anfangs; „Concept“ von 1887 (Storm-Archiv, Husum).
Abbildung 13
Erweiterte Fassung des Novellenanfangs; „Concept“ von 1887 (Storm-Archiv, Husum).
Abbildung 14
Husum).
„Eisboßeln” Seite 99 aus Storms Arbeitshandschrift, dem „Concept“ von 1887 (Storm-Archiv,
Abbildung 15
Anfang der Reinschrift, die Storm am 9. Februar 1888 an den Verlag Paetel in Berlin schickte.
(Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Kiel)
Abbildung 16
Ein Blatt aus dem „Nachtrag” zum „Schimmelreiter”, den Storm am 22. Februar an den Verlag
schickte. (Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Kiel)
Abbildung 17
Umschlag der ersten Buchausgabe (Berlin 1888), die erst nach Storms Tod erschien.
Abbildung 18
Erläuterungen „Für binnenländische Leser”; Korrekturbogen für die erste Buchausgabe mit
handschriftlichen Korrekturen von Theodor Storm. (Storm-Archiv, Husum)
Abbildung 19
„Der Schimmelreiter”, Gemälde von Alexander Eckener, 1941. (Storm-Haus, Husum)
Abbildung 20
„Der Schimmelreiter”, UFA 1933/34; Matthias Wiemann als Hauke Haien.
Abbildung 21
„Der Schimmelreiter”, UFA 1933/34; Szene beim Deichbau.
Abbildung 22
„Der Schimmelreiter”, UFA 1933/34; Marianne Hoppe als Elke Volkerts.
Abbildung 23
„Der Schimmelreiter”, UFA 1933/34; Arbeitsphoto mit Regisseur Kurt Oertel und seinem Stab.
Abbildung 24
„Der Schimmelreiter”, BRD 1977/78; Szene Reiterfest mit Gert Fröbe als alter Deichgraf.
Abbildung 25
„Der Schimmelreiter”, BRD 1977/78; John Phillip Law als Hauke Haien.
Abbildung 26
„Der Schimmelreiter”, BRD 1977/78; Anita Ekström als Elke Volkerts.
Abbildung 27
„Der Schimmelreiter”, BRD 1977/78; Photo von den Dreharbeiten. (Willi Bertermann, Bredstedt)
Abbildung 28
Das Haus der Urgroßmutter Feddersen in Husum, Schiffbrücke/Ecke Twiete
Abbildung 29
Hauke.
„Der Schimmelreiter”, DDR/Polen 1984; Jolanta Grusznic als Elke und Sylvester Groth als
Abbildung 30
„Der Schimmelreiter”, DDR/Polen 1984; Elke beim Oberdeichgrafen.
Abbildung 31
Skizze 1 des "Hauke Haien-Kooges" in Storms "Concept"
Abbildung 32
Skizze 2 des "Hauke Haien-Kooges" in Storms "Concept"
Abbildung 33
Skizze 3 des "Hauke Haien-Kooges" in Storms "Concept"
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