10 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
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10 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien 10 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien 10.1 Fragestellungen Nahezu allen Schlüsseltechnologien (zur Definition vgl. Kap. 9.2.2) wird das Potential zugeschrieben, Innovationsimpulse für die Megabranche Gesundheit liefern zu können. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass manche Entwickler die Anwendungsfelder ihrer Technologien gar nicht genau vor sich sehen, sich aber gleichwohl eine Applikation in der Medizin vorstellen können oder wollen. Die Situation ist also unklar oder zumindest unkonkret. Folgende Fragen sollen bearbeitet werden: • • • Welche Schlüsseltechnologien sind für die Medizintechnik aus technologischer Sicht besonders relevant? Wie steht Deutschland bei diesen relevanten Schlüsseltechnologien im internationalen Vergleich? Wie sehen die nationalen Technologievorschauen aus? In einem sekundäranalytischen Ansatz galt es daher zunächst, die nationalen Prognosen zur Entwicklung der benannten Schlüsseltechnologien zu sichten und zu analysieren. Als Quellen sollten dabei insbesondere die 'klassischen' Foresight-Publikationen (Delphi-Technologievorschau, Technikfolgenabschätzungen etc.), sowie auch Strategiepapiere (z. B. von Berufsständen, Verbänden, politische Exekutive) und Market Forecasts dienen, deren Aussagen möglichst in einem kurz- oder mittelfristigen Zeithorizont (bis fünf bzw. bis zehn Jahre) eingeordnet werden sollten. 10.2 Vorbemerkungen zum Verhältnis von Innovation-TechnologieMedizintechnik Der Blick in die Zukunft nimmt – auch wenn es um Medizintechnik oder allgemeiner um technischen Fortschritt in der Medizin geht – oftmals von der Bewältigung der Krankheiten und nicht von der Technik seinen Anfang. Die unmittelbaren Aussichten für neue Therapie- oder Diagnoseverfahren oder gar -richtungen bestimmen daher zunächst die Auseinandersetzung mit dem Thema, nicht etwa das Potential von Schlüsseltechnologien. Auf welcher Technologie eine Zukunftslösung für die medizinische Behandlung dabei tatsächlich basiert, ist aus klinischer Sicht und aus der Patientenperspektive im Grunde kaum von Bedeutung. Entscheidend ist der ‚Versorgungsnutzen’, weniger die Art des technischen Fortschritts. Insofern verstehen viele Autoren (z. B. KAISER et al. 1996, S.15) unter Innovation durchaus auch neue alternative Heilmethoden. Prognosen über die Zukunft der Medizin gehen von einem sehr breiten Innovationsverständnis aus, in dem die Entwicklung der Medizintechnik nur einen gewissen Teil ausmacht. BMBF-Medizintechnikstudie 2005 535 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Andersherum ist für Verfechter bestimmter Technologien, z. B. der Mikrosystemtechnik oder der Lasertechnik, die Überzeugung charakteristisch, dass es für ihr Technologiefeld in der Medizin ein großes Anwendungspotential gibt. Ein direktes Krankheitsbild steht dabei meist nicht im Vordergrund (das hätte ja auch zunächst eine einschränkende Wirkung auf das Technologiepotential), sondern viel häufiger wird auf eine Klasse von Krankheiten (z. B. Krebs oder HerzKreislauferkrankungen) oder Therapie- und Diagnoseverfahren abgehoben. Innovation, Technologie und Medizintechnik sind keine fest oder eindeutig miteinander verbundenen Begriffe. Die Verknüpfungen können in einer Prognose je nach Herkunft sehr unterschiedliche Ausprägungen annehmen, und nur eine gewisse Teilmenge aller Möglichkeiten beschreibt innovative, technologiebasierte Medizinprodukte. Im Diskurs um die Zukunft der Medizin(-technik) tauchen die folgenden Aspekte immer wieder auf: ¾ Eine landläufige, plakative These ist, dass Medizintechnik ein wesentlicher Faktor bei der Ausgabenexplosion des Gesundheitswesens in den Industrieländern ist. Ihre notwendige sachliche Differenzierung dieser in Fachkreisen nicht unumstrittenen These findet im Rahmen eines gesundheitsökonomischen Diskurses (z. B. MEYER 1993) von Fachleuten statt. Der ist allerdings weniger plakativ und damit weniger öffentlichkeitswirksam als die o. a. Stigmatisierung. Die Vertiefung der Auseinandersetzung mit der vermeintlichen Kostenexplosion durch medizintechnischen Fortschritt ist Gegenstand der Kap. 11 und 12; ¾ Technischer Fortschritt tritt in zweierlei Erscheinungsformen auf: Als Produkt- oder Prozessinnovation. Erstere bewirkt einen Anstieg der Gütervielfalt (→ Leistungsausweitung), letztere eine Erhöhung der Produktivität. (BANTLE 1997); gerade die an bestimmte Technologien geknüpfte euphorische Heilserwartung zum zukünftigen Sieg über bislang unheilbare Krankheiten hebt auf Produktinnovationen ab. Derartige medizintechnische Geräte und Systeme führen, gerade weil sie neue klinische Möglichkeiten schaffen, unweigerlich zu neuen Kosten für den fallbezogenen Technikeinsatz. Inwiefern sie dabei die Gesamtkosten senken, ist im Entwicklungsstadium der Innovation oft schwer (oder gar nicht) zu beurteilen. ¾ Technische Machbarkeit & humane Medizin: „Die Lehre von Gesundheit und Krankheit …[ist] ohne technologischen Forschritt nicht zu denken…“ Ein Widerspruch zwischen Technologie und Humanität wird insbesondere durch die Medien künstlich aufgebauscht. Tatsächlich trauen 91 % der Befragten einer repräsentativen Umfrage technologischen Entwicklungen die Heilung von immer mehr Krankheiten zu (ROSENFELD & WETZEL-VANDAI in: KAISER et al. 1996). „Es ist Unsinn, hinter den heutigen Stand der Medizintechnik zurück zu wollen.“ (KAISER et al. 1996., S. 15) ¾ Technischer Fortschritt in der Gesundheitsversorgung hat in der Vergangenheit oft zuerst neue diagnostische Möglichkeiten erschlossen (ASHTON (Ed) 1997). Erst in einer nachgeschalteten Phase tragen Technologien auch zur Therapie der diagnostizierbaren Erkrankung bei. Dieser ‚Vorlauf’ des diagnostischen gegenüber dem therapeutischen Fortschritt kann dazu führen, dass man ggf. früh von einer Erkrankung erfährt, allerdings ohne Aussicht auf eine erfolgreiche Behandlung. Eine Situation, die erhebliche Bewältigungsproblematiken aufwirft. Der diagnostische Entwicklungsvorsprung hängt möglicherweise nicht nur mit der 536 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien analogen Reihenfolge im klinischen Geschehen zusammen, sondern ist eine strukturelle Eigenart der Entwicklungslinie von medizinischen Technologien. Das Entwicklungsrisiko eines therapeutischen Verfahrens ist i. d. R. höher als das der korrespondierenden Diagnostik. Die Anforderungen an therapeutische Medizintechnik sind dementsprechend größer und erfordern einen größeren Entwicklungsaufwand. So nehmen beispielsweise pharmazeutische Entwicklungen neuer Medikamente, die stärker als Medizinprodukte die unmittelbare Therapie zum Ziel haben, daher folgerichtig Spitzenwerte beim Entwicklungsaufwand (Zeit und Kosten) ein. Innovationen in der Medizin von morgen können vielfältiger Natur sein. Sie reichen von der neuartigen Arbeitsorganisation (Clinical Pathways) oder QM- oder Fallpauschalen-Systemen (KTQ, DRG) über den Einsatz alternativer Heilmethoden oder der Entwicklung neuer Pharmaka bis hin zum Einsatz von Medizinprodukten (nach MPG) in Therapie, Diagnose und Rehabilitation. Auch wenn technologische Entwicklungstrends die Grenzen zwischen den aufgezählten Innovationstypen verschwinden lassen (z. B. Drug-eluting-Stent), so gilt dennoch dem im Rahmen von Medizinprodukten anwendbaren Technologiefortschritt das Hauptaugenmerk der folgenden Darstellungen. 10.3 10.3.1 Vorgehensweise / Methodik Datenquellen und Recherchestrategie Die Recherche nach geeigneten Literaturstellen zum Themengebiet gliedert sich im Wesentlichen in zwei Bereiche: Zum einen erfolgte eine Recherche in der Datenbank Medline, der weltweit größten medizinischen Literaturdatenbank, die vor allem wissenschaftliche Zeitschriften erfasst und einen medizinischen Blickwinkel hat. Im ersten Schritt wurde dabei die Schlagwortsuche der Medline-Datenbank genutzt, um den Fokus der Recherche eng zu halten. Im zweiten Schritt wurde die Suche um eine Freitextsuche erweitert, um insbesondere in Bezug auf das Thema Schlüsseltechnologien keine relevanten Artikel zu übersehen. Da Monographien und Studien mit Bezug zum Themengebiet in der Medline-Datenbank kaum erfasst sind, wurden zum anderen weitere Recherchequellen genutzt, d. h. die OPACs großer deutscher Bibliotheken, Internetsuchmaschinen, Informationsmaterial von Verbänden und der eigene Literaturbestand sowie der der Partner. BMBF-Medizintechnikstudie 2005 537 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Abbildung 10.1: Suchstrategie der Literaturanalyse zum Thema Foresights und Schlüsseltechnologien in der Medizintechnik. MEDLINE Suchbegriffe, 3 Kategorien: • Schlüsseltechnologien • Medizintechnik • Foresight / Forecast 1995 - 2004 MeSH (Medical Subject Headings) Selektion über Titel und/oder Abstract Auswertung MeSH & Freitextsuche (Schlüsseltechn.) Selektion über Titel und/oder Abstract Auswertung Sonstige: OPACs, Internet, Verbände, eigener Bestand & Partner… Freitextsuche oder vergleichbar, gezielte Suche Selektion über Titel und/oder Abstract Auswertung Ausgangspunkt für die Recherche in der Datenbank Medline (Stand April 2004) war in einem ersten Schritt die Suche über die Verschlagwortung der Medline Datenbank, die MeSH - Medical Subject Headings. Alle Artikel werden den relevanten Schlagworten aus dem MeSH Index zugeordnet, der von der National Library of Medicine (NLM) aufgestellt wurde. Vorteil der Suche über die MeSH ist die Zusammenfassung der unterschiedlichen Terminologien (‚Forecasting’ enthält auch ‚Foresight’, ‚Future’, ‚Prediction’...) und der hierarchische Aufbau des Index, der auch die Einbeziehung der Unterpunkte ermöglicht (der Ast ‚Electronics’ enthält auch ‚Electronics, Medical’, ‚Robotics’, ‚Semiconductors’...). Die Zuordnung der Literaturstellen zu den MeSHBegriffen durch die Bearbeiter der Medline Datenbank hat zwar auf der einen Seite den Nachteil einer möglichen subjektiven Kommentierung, schärft andererseits aber das Abfrageergebnis im Vergleich zu einer Freitextsuche auf tatsächlich relevante Stellen (z. B. werden nicht alle Artikel mit dem Wort ‚Future’ erfasst). Die Abfrage erfolgte anhand der in Tabelle 10.1 aufgeführten Begriffe, die in die drei Themenbereiche ‚Schlüsseltechnologien’, ‚Forecasting / Foresight’ und ‚Medizintechnik’ eingeteilt wurden. Die drei Themengebiete wurden anschließend gefaltet, d. h. es wurde die Schnittmenge aus den Ergebnissen gebildet. Die aus Kapitel 9.2.3 identifizierten Schlüsseltechnologien wurden auf die MeSH abgebildet, wobei einige Begriffe einer sehr hohen Hierarchieebene (z. B. Information Science) entstammen und damit sehr viele Unterbegriffe mit einschließen, andere Begriffe hingegen nicht abgebildet werden konnten (z. B. Neue Materialien, Neue Werkstoffe, Mikrosystemtechnik, Produktionstechnik). 538 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Tabelle 10.1 Suchbegriffe bei der Recherche in Medline: MeSH [in eckigen Klammern] und Freitextsuche bei den Schlüsseltechnologien, jeweils ab 1995 ‚Schlüsseltechnologien’ [MeSH] und Freitext [Information Science] (enthält u. a. : Communication, Communications Media, Computer Security, Data Collection, Information Centers, Information Management, Information Services, Information Storage and Retrieval, Information Theory, Medical Informatics, Pattern Recognition) Software Simulation [Miniaturization] Microsystem* microsensor* Microengineering Micromechanic* microoptic* Mechatronic* biomechatronic* [Electronics] (enthält: Amplifiers, Electronics, Medical; Robotics, Semiconductors, Transducers) microelectronic electrical engineering detector technology molecular electronic [Biosensing Techniques] Biosensor* [Genetic Structures] [Biotechnology] Biotechnolog* [Tissue-Engineering] Nanobiotech* epigenetic [Lasers] Photonic* Laser* Biophotonic* Technology [Nanotechnology] Nanotech* Nanosyst* Polymer technology Nitinol* coating technology Manufacturing Engineering [Diagnostic Imaging] ‚Medizintechnik’ ‚Forecasting/Foresight’ [MeSH] [MeSH] [Forecasting] [Technology, Medical] (enthält Futurology; (enthält medical technology, Projections and Predictions; Medical Laboratory Future; Population Forecast; Technology) Population Projection) [Biomedical Technology] (enthält Health Care Technology; Health Technology; Biomedical Technologies) [Biomedical Engineering] (enthält Clinical Engineering) In einem zweiten, hierzu komplementären Schritt wurde die Suchstrategie zusätzlich um eine Freitextsuche nach den jeweiligen Schlüsseltechnologien erweitert. Aus dieser Recherche ergaben sich im ersten Schritt 268 Treffer und im zweiten Schritt bei der Erweiterung um die Freitextsuche 952 (268+684) Treffer. Die Literaturstellen wurden anhand des Titels und/oder Abstracts selektiert und der eigentlichen Analyse zugeführt (32 bzw. 39 Literaturstellen). BMBF-Medizintechnikstudie 2005 539 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Der zweite Block der Recherchen, der über die Zeitschriftenartikel der Medline hinaus vor allem Monographien und Studien mit Bezug zum Themengebiet erfassen sollte, erfolgte über weitere Recherchequellen, die im folgenden aufgelistet sind: • • • • • • Bibliothekskataloge (OPAC der Zentralbibliothek Medizin in Köln und der Deutschen Bibliothek in Frankfurt) Suchmaschine im Internet (GOOGLE) Internetseiten und schriftliche Anfrage bei Verbänden, Vereinen und Organisationen im technischen Bereich (z. B. Deutsche Gesellschaft für angewandte Optik e.V., Svitg Spitzenverband Informationstechnologie im Gesundheitswesen, NeMa e. V. Interessengemeinschaft Neue Materialien in NRW e.V., Deutscher Verband für Materialforschung und -prüfung e.V., Deutsche Forschungsvereinigung für Mess-, Regelungs- und Systemtechnik e.V., Deutscher Industrieverband für optische, medizinische und mechatronische Technologien e.V., GMM Gesellschaft Mikroelektronik Mikro- und Feinwerktechnik) Zeitschriftenarchive (NATURE, SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, TIME, NEWSWEEK, DIE ZEIT, GEO) Bestände der Konsortialpartner und eigener Bestand ergänzende Metaanalyse der zur Dokumentation der Forschungsschwerpunkte und Publikationsleistung durchgeführten FIZ bzw. INSPEC Recherche aus Kap. 7.4 51 Die Aufspreizung der Analyse auf verschiedene Quellen dient unmittelbar der Qualitätssteigerung der Recherche. Sie trägt zum einen der Tatsache Rechnung, dass viele Zukunftsstudien oder Strategiepapiere als Auftragsarbeiten erstellt werden und nicht offiziell publiziert werden (d. h. keine ISBN oder ISSN Nummer haben), so dass die Erfassung und der Zugang erschwert wird. Zum anderen verringert die Verwendung mehrerer verschiedener Literaturquellen eine systematische Verzerrung des Ergebnisses durch Vorselektion des Bestandes einer (einzelnen) Datenbank. (Bias). Eine systematische Verknüpfung der drei o. g. Suchkategorien aus der Medline Recherche wurde bei den ergänzenden Analysen soweit wie möglich aufrechterhalten. Zugang zum Datenbestand Über die Selektion anhand von Titel und/oder Abstract wurde der Datenbestand aus der Medline Recherche deutlich reduziert. Insbesondere die Erweiterung um die Freitextsuche nach Schlüsseltechnologien brachte nur wenige neue Literaturstellen. Nach dieser Selektion sorgte schließlich die Verfügbarkeit oder die Volltextanalyse für eine weitere Reduktion der auswertbaren Stellen. Insgesamt konnten aus den diversen Recherchen abseits der Medline Datenbank deutlich mehr relevante Stellen identifiziert werden. Darüber hinaus wurde der Datenbestand aus den Querverweisen der ausgewerteten Stellen ergänzt. Ein Vorgang, der den Rechercheaufwand insbesondere durch die zeitlich aufeinander folgenden Rechercheschritte erheblich vergrößerte. Schließlich schränkten auch die z. T. enormen Kosten entsprechender Foresight-Studien die Anzahl der auswertbaren Quellen ein. 51 540 Dazu wurden die beschriebenen Suchstrategien auf die Ergebnisdatenbank aus FIZ und INSPEC der in Kap. 7.4.1 beschriebenen Recherche angewendet. Von den erzielten Treffern konnte anhand der gesichteten Titel und Abstracts kein relevanter Artikel identifiziert werden. BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Tabelle 10.2: Anzahl der in die Volltextanalyse eingegangenen Literaturstellen Quelle Medline Sonstige Zwischensumme Mismatch / nicht verfügbar Summe, Datenbasis 10.3.2 Anzahl 39 118 157 -33 124 Auswertungsverfahren, Kategorisierung der Fundstellen Zur Abschätzung und Einordnung der Literaturbasis für die Analyse wurden die Fundstellen im Rahmen einer Sichtung nach folgenden Kriterien kategorisiert: Tabelle 10.3: Kriterien zur Kategorisierung der gefundenen Literaturstellen Kriterium Ausprägung Erläuterungen Publikationsart Artikel Monographie Datenbasis Foresight-Daten Potential Sekundär-Daten Technologie Zeitschriftenaufsätze, Abstracts, etc Studien, Bücher, Buchbeiträge, Abhandlungen Publikation mit empirischer Erhebung von Zukunftsdaten (z. B. Delphi-Methode) überwiegend Literaturdaten überwiegend wird der wissenschaftlichtechnische Fortschritt/ dessen Leistungsfähigkeit beschrieben überwiegend wird das ökonomische Potential beschrieben und z. B. durch zukünftige Marktvolumina die Umsatzerwartung beziffert Marktdaten Technologiebezug 1) eine 1) Biotechnologie 1) Nanotechnologie 1) Mikrosystemtechnik 1) Informationstechnologie 1) Optische Technologie 1) Zelltechnologie 1) Elektronik 1) Biohybride Systeme 1) Produktions- und Managementtechnik Neue Werkstoffe/Materialien 1) Zukunft der Medizin allgemein z. B. die Versorgung oder den Workflow betreffend, ohne unmittelbaren Bezug zu einer/mehreren Technologien Medizintechnik insgesamt die Branche, den Technologieeinsatz in den Medizin allgemein betreffend Technologie allgemein bzw. kein eindeutiger Schwerpunkt auf eine viele Technologien einzelne Technologie der gem. Kap. 9.2.3 festgelegte Schlüsseltechnologie BMBF-Medizintechnikstudie 2005 541 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Die getroffene Zuordnung der Kriterienausprägung wurde im Rahmen der Detailanalyse überprüft und ggf. korrigiert. Darüber hinaus schätzte der Bearbeiter die Relevanz der Fundstelle für die Fragestellung auf einer 3-stufigen Skala von A-C nach absteigender Bedeutung ein, wobei Zwischenstufen (AB und BC) zulässig waren. Tabelle 10.4: Skala zur Einstufung der Relevanz der Fundstellen Relevanz Erläuterung A Die Fundstelle ist als Foresight /Forecast i. e. S. anzusehen, mit Primärdaten und konkreten Bezügen zwischen Technologieentwicklung einer Schlüsseltechnologie und Medizin bzw. Medizintechnik. A/B B Die Fundstelle basiert auf Sekundärdaten, weist klare Technologiebezüge auf; die konkrete Prognose (Zeiträume) zur Wirkung der Technologieentwicklung ist entweder wissenschaftlich oder ökonomisch ausgerichtet. B/C C Bezüge zur Zukunft, zur Auswirkung einer Technologie, zur Medizintechnik sind schwach, nicht konkretisiert oder gar nicht ausgeprägt. Es werden z. B. nur die Auswirkungen wissenschaftlicher Entwicklungen auf die Arbeit des Sachverständigenrates diskutiert oder die Funktionsprinzipien einer innovativen Technik erläutert, aber keine Daten ausgewertet. Trotz der Kriterien bleibt die Beurteilung der Relevanz eine vergleichsweise subjektive, vom Bearbeiter abhängige und eher grobe (unscharfe) Einteilung. Zur Verdeutlichung der Vorgehensweise dienen die nachfolgenden Beispiele, bei denen die Zuordnungsentscheidungen ausführlicher erläutert werden. Beispiel 1: Mini-Delphi Elektrotechnik, 2003 Hoffknecht A. (2003): Technologiefrüherkennung: Elektronik der Zukunft, Mini-Delphi-Studie, Technologieanalyse. Zukünftige Technologien NR.46, Studie des VDI im Auftrag des BMBF, Düsseldorf 2003 Publikationsart Datenbasis Potential Technologiebezug Monographie Studie Foresight-Daten Technologie Informationstechnologie Relevanz A In der Arbeit wird Elektronik als Basiswissenschaft für die Halbleitertechnologie (CMOS Technik, Speichertechnologie etc.) verstanden, deren Bedeutung sich letztlich aus der IuK-Technologie ableitet. Da eine Fragebogen gestützte Delphi-Technik zur Technologievorschau eingesetzt wurde, 542 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien ergab sich für die Relevanz die Kategorie A und – aus den vorangegangenen Erwägungen – der Technologiebezug ‚Informationstechnologie’. Beispiel 2: General Practice - New Technologies, 1999 DeVries, S. M. (1999): General practice and the new technologies. Med J Aust 171, 10, S. 526 Publikationsart Datenbasis Potential Technologiebezug Artikel sekundär Technologie Informationstechnologie Relevanz C ‚Wie wirkt sich der PC auf den Alltag des Allgemeinarztes aus?’ Dieser Frage geht DEVRIES nach und streift dabei Themen wie Arbeitsablauf oder Kommunikation u. ä. Eigene Daten werden nicht erhoben, auch die Technologie als solche wird nicht in die Zukunft projiziert: Relevanz für die vorliegende Fragestellung nach dem Innovationspotential von Schlüsseltechnologien: C. Die Auswertung und Darstellung der Literaturanalyse ist insgesamt nach dem Grundsatz ‚vom Allgemeinen zum Speziellen’ angelegt. Ausgehend von einem Überblick zur Datenlage (Kap. 10.3.3 bis 10.3.6) führt die Auseinandersetzung über das Verhältnis von Schlüsseltechnologien insgesamt zur Medizintechnik bis hin zu ‚Potentialdossiers’ einzelner Technologien (s. Kap. 10.5). Diese detaillierten Darstellungen basieren dann insbesondere auf dem Teil der Fundstellen, die inhaltlich dem speziellen technologischen Schwerpunkt zugeordnet werden konnten (s. Abbildung 10.3). 10.3.3 Art und Häufigkeit der Publikationen seit 1995 Zukunft-Schlüsseltechnologie-Medizin(technik) – sind insbesondere in ihrer Verknüpfung ein Gegenstand, der sich eher für umfangreichere Abhandlungen eignet. Dies legt jedenfalls die Verteilung der recherchierten Publikationen nahe. Von den insgesamt 124 identifizierten Fundstellen aus den diversen Rechercheansätzen, die das Fundament aller nachfolgenden Analysen darstellen, sind knapp zwei Drittel in Form von Monographien und Studien veröffentlicht worden. In der Entwicklung der Trefferzahl über den Betrachtungszeitraum deutet sich insgesamt eine Zunahme der Publikationsintensität an. Der Trend scheint sich auch im Jahr 2004 fortzusetzen. So konnten bis Mai (letzter erfasster Monat) 2004 schon mehr Fundstellen als im gesamten Jahr 2002 identifiziert werden. BMBF-Medizintechnikstudie 2005 543 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Abbildung 10.2: Art und Häufigkeit der identifizierten Publikationen von 1995-2004 zum Themenkreis ‚Zukunft-Schlüsseltechnologie-Medizin(technik)’, insgesamt 124 Fundstellen 50 40 Monographien Anzahl Artikel 30 20 10 0 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 Recherche AKM *das Jahr 2004 wurde nur bis 05/2004 erfasst. 10.3.4 Thematische Streuung Die Mehrzahl der Arbeiten setzen sich mit allgemeinen Fragestellungen (Medizin allgemein, Technologie allgemein, Medizintechnik allgemein) und dem Blick auf die Zukunft auseinander. Gerade in diesem eher unspezifischen Themenfeld finden sich die meisten primären (datengestützen) Foresights. Bei der Betrachtung spezifischer Schlüsseltechnologien liegen die meisten Arbeiten (überwiegend sekundäre Analysen) für Nanotechnologie, Informationstechnologie und die Mikrosystemtechnik vor. Die beherrschende Stellung der Nanotechnologie in der Anzahl der Publikationen ist sicher auch dem ‚Hype’ geschuldet, den diese Disziplin seit Ende der 90er Jahre durchlebt. Der Vorstoß in neue Dimensionen mit bislang unbekannten physikalischen Eigenschaften hat euphorische Erwartungen hervorgerufen. In ihrem Gefolge haben zunächst die USA und dann auch viele andere Industrienationen wie Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Japan und Süd-Korea nationale Initiativen begründet und millionenschwere Förderprogramme aufgelegt (ROCO 2003), in deren Umfeld zahlreiche Abhandlungen publiziert wurden. Im Bereich der Informationstechnik und der Mikrosystemtechnik (wobei letztere sich oft mit der Nanotechnologie in einer Linie fortgesetzter Miniaturisierung sieht) spiegelt die Publikationshäufigkeit auch den sehr hohen Vernetzungsgrad der Akteure wider. Insbesondere für die Mikrosystemtechnik fällt der hohe Organisationsgrad auf, der sich an aktiven Netzwerken in Deutschland (IVAM, Projektträger Mikrosystemtechnik VDI | VDE IT, VDE Mikromedizin) und auf europäischer Ebene (NEXUS) festmachen lässt. 544 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Abbildung 10.3: Technologieschwerpunkte und Datenbasierung der identifizierten Publikationen zum Themenkreis ‚Zukunft-SchlüsseltechnologieMedizin(technik)’, insgesamt 124 Fundstellen Produktions- und Managementtechnik Elektronik Biohybride Systeme primär (Foresight) Neue Werkstoffe/Materialien sekundär Zelltechnologie Optische Technologie Biotechnologie Mikrosystemtechnik Informationstechnologie Nanotechnologie Medizintechnik insgesamt Technologie allgemein bzw viele Techn. Allgemein Zukunft der Medizin 0 5 10 15 20 Recherche: AKM Die Gegenüberstellung der geringen Publikationsintensität bei Neuen Werkstoffen/Materialien und der hohen bei Nanotechnologie offenbart eine methodische Schwierigkeit: die Technologieabgrenzung bzw. –zuordnung. Einer der wichtigsten Innovationsschübe der Nanotechnologie wird für die Entwicklung neuer Oberflächenstrukturen und Materialeigenschaft erwartet. Welcher Schlüsseltechnologie ist eine Publikation zuzuordnen, die eine derartige Innovation behandelt? Eine analoge Abgrenzungsproblematik zeichnet sich zwischen der IT und der Elektronik/Elektrotechnik ab. Im Allgemeinen wurde in der Zuordnung dem Blickwinkel des Autors gefolgt, der entweder z. B. aus der Nanotechnologie Impulse u. a. für die Elektrotechnik erwartet oder aber umgekehrt. Die Subjektivität der Zuordnung durch den Bearbeiter begrenzt in gewisser Weise die Aussagekraft der Analyse. Dennoch – auch unter Berücksichtigung der beschriebenen Rahmenbedingung – muss die Intensität der Auseinandersetzung mit einer Technologie gemessen an der Anzahl der Veröffentlichungen als erstes Indiz für das ihr zugeschriebene Potential angesehen werden. 10.3.5 Relevanz der Fundstellen In der 2. Phase der Sichtung wurden die Fundstellen nach Durchsicht des Volltextes bzgl. ihrer Relevanz für die Fragestellung beurteilt. Insgesamt ca. 45 % der Publikationen weisen konkrete und unmittelbare Bezüge zum Thema auf (s. Tabelle 10.4) und werden in die Kategorien A bzw. A/B eingruppiert. Weitere ca. 34 % sind zumindest in Teilaspekten relevant, während 21 % (B/C bzw. C) nicht zum Thema zählende Fragestellungen behandeln. So ist z. B. die detaillierte BMBF-Medizintechnikstudie 2005 545 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Auseinandersetzung mit der Fernwartung von Medizingeräten (WEAR 1999) als Randthema eingestuft worden (Relevanz C), da die möglichen Impulse von Schlüsseltechnologien insgesamt auf die Medizintechnik von morgen im Fokus stehen. Abbildung 10.4: Einschätzung der Relevanz der Fundstellen nach Kategorien von A bis C (absteigende Bedeutung, s. Tabelle 10.4) A Relevanz A/B B B/C C 0 10 20 30 40 50 Anzahl 10.3.6 Zwischenresümee der Sichtung Zusammenfassend stellt sich die Literaturlage insgesamt als stark fragmentiert dar. Es konnten nur sehr wenige primäre Foresights zur Fragestellung identifiziert werden, die empirische Daten zur Auswirkungen von Schlüsseltechnologien bzw. ihrer Teilaspekte auf die Medizintechnik beinhalten und in ihrer Projektion auch konkrete Zeiträume benennen. Hinzu kommt, dass einige Technologien bzgl. der Literaturlage dicht besetzt sind, während zu anderen nur einzelne Fundstellen gefunden wurden. Insofern stellt die nachfolgende Analyse den Versuch dar, die über viele Publikationen verteilt auftretenden Einzelaussagen zusammenzuführen und – trotz bestehender Lücken – zu einem Bild zu verdichten. 10.4 10.4.1 Grundlegende Fortschrittsdimensionen Vorbemerkungen Betrachtet man in einem ersten Schritt zunächst nur die Schlagworte und Überschriften der recherchierten Fachaufsätze und Studien zu Zukunft und technologischer Innovation in der Medizin, so entsteht der Eindruck, dass trotz aller Spezifität drei grundlegende Aspekte in diesen Begriffen immer wieder angesprochen werden bzw. mitklingen: • • • 546 medizintechnische Geräte werden immer kleiner: Miniaturisierung die Verknüpfung mit elektronischer Datenverarbeitung: Computerisierung die Betrachtungsebene verlagert sich in den Bereich von Molekülen oder gar Atomen: Molekularisierung BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Der genauere Blick auf die Bestandteile oder Silben der Schlagworte verdeutlicht den Zusammenhang: • • • ‚mini-mikro-nano’: Geräte oder Bausteine technischer Fortschritte werden immer kleiner: Miniaturisierung. ‚computer-virtual-chip-sensor’: Verfahren sind mehr oder weniger direkt abhängig von der Leistungsfähigkeit modernster EDV: Computerisierung. ‚Bio-Gen-Proteo-Molekül’: Ansätze gehen auf die Aufklärung des Genetischen Codes oder die mit der Genexpression im Zusammenhang stehenden Erkenntnisse und Techniken (Regulation, Proteinwirkung und -synthese etc.) zurück: Molekularisierung. Abbildung 10.5: Zuordnung der grundlegenden Aspekte medizintechnischer Innovationen ‚Miniaturisierung’, ‚Computerisierung’, ‚Molekularisierung’ zu häufigen Schlagworten der recherchierten Literatur. Versucht man nun gewissermaßen in umgekehrter Blickrichtung, diese elementaren Aspekte wieder auf die häufig in der Literatur vorkommenden Schlagworte zu projizieren (s. Abbildung 10.5), so zeigt sich, dass oftmals die Grundaspekte miteinander kombiniert zugeordnet werden können, um den technologischen Charakter des Begriffs möglichst zutreffend zu beschreiben. Zusammenfassend zeichnen sich im Sinne einer ersten Annahme drei grundlegende Aspekte ab, die gewissermaßen oberhalb der Ebene von Schlüsseltechnologien für die Zukunft der Medizin von grundlegender Bedeutung zu sein scheinen: Computerisierung – Miniaturisierung – Molekularisierung. MAU kommt in seiner Abhandlung zu ‚Erfolgsfaktoren für Innovationen in der Medizin’ (MAU, F. in: LAUBACH et al. 2002) zu einer in der Grundtendenz übereinstimmenden Sichtweise. BMBF-Medizintechnikstudie 2005 547 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Abbildung 10.6: Innovationsdimensionen in der Medizin (aus: MAU 2001, S. S. 12, Originalabbildung).52 MIC: Minimal Invasive Chirurgie; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Springer-Verlages, Heidelberg, sowie der Autoren F. und Th. Mau. MAU geht zunächst davon aus, dass Neuerungen in der Medizin nicht als Sonderfall anzusehen sind, sondern eingebettet in den allgemeinen technisch-wissenschaftlichen Fortschritt sind: „Es sind demnach v .a. 3 wissenschaftlich-technische Revolutionen, die auch im Bereich der Medizin einen nachhaltigen Forschungs- und Entwicklungsschub auslösen bzw. ausgelöst haben: - die Erschließung mikrophysikalischer bis hin zu subatomaren Strukturen - die Entschlüsselung der DNS - die Entwicklung der elektronischen Computer“ (MAU, F. in: LAUBACH et al. 2002, S. 8) Aus den zitierten ‚Revolutionen’ werden schließlich Forschungsdimensionen abgeleitet, die eine Entwicklungsrichtung aufweisen und damit gleichsam zu den Achsen eines 3-dimensionalen Koordinatensystems des medizinischen Fortschritts werden. Zukünftige Innovationen tragen demnach je nach Lokalisation in diesem Fortschrittswürfel die drei Dimensionen in individueller Weise in sich. Dies korrespondiert stark zu der oben angestellten Schlagwortanalyse, nach der sich diese Eigenart auch in den Begriffen widerspiegelt. Einzig der Verwendung des Begriffs ‚Biotechnologie’ für eine der drei Fortschrittsdimensionen soll hier nicht gefolgt werden, denn in den folgenden Analysen soll darunter eine Schlüsseltechnologie verstanden werden. Auch mit Blick auf ‚Computerisierung’ und ‚Miniaturisierung’ als den ParallelBegriffen erscheint die Bezeichnung ‚Molekularisierung’ für das weitere Vorgehen zutreffender und angemessener. 52 548 im Original erläutert der Autor die Darstellung wie folgt: „Abbildung 1. Innovationsdimensionen in der Medizin. Die Pfeile sollen die Entwicklungsrichtung der jeweiligen Innovationsdimension andeuten. Die an den Würfelkanten aufgeführten Entwicklungsschritte sind nur exemplarisch zu verstehen und bilden die Entwicklungsdimensionen nicht vollständig und entwicklungshistorisch korrekt ab. An den Punkten 1,2 und 3 lassen sich Beispiele für die Überschneidung der Innovationsdimensionen angeben. […] MIC Minimal invasive Chirurgie.“ (MAU, F. in: LAUBACH et al. 2002[442], S.12) BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Das folgende Zwischenfazit bildet als Arbeitshypothese die Grundlage für die nachfolgenden Analysen und Auswertungen: Die erwarteten technischen Fortschritte in der Medizin lassen sich im Wesentlichen auf drei Hauptkomponenten zurückführen: Miniaturisierung, Computerisierung, Molekularisierung. Gleichsam als Achsen eines Entwicklungskoordinatensystems könnten diese Fortschrittsdimensionen zur Einstufung/Charakterisierung medizintechnischer Zukunftslösungen angewendet werden. Diese Annahme stützt sich nicht nur auf die vorangegangene Betrachtung häufig in der Literatur vorkommender Schlagwörter und die Arbeit von MAU (in: LAUBACH et al. 2002). Auch die Bedeutung der Technologieschwerpunkte in der Recherche gemessen an der Häufigkeit ihres Auftretens (s. Abbildung 10.3) und die damit einhergehende tiefer gehende Durchsicht der Texte selbst deuten ebenfalls darauf hin, dass die genannten Fortschrittsdimensionen eine übergeordnete Rolle im Innovationsgeschehen für die Medizintechnik spielen. 10.4.2 IuK-Technologie – Enabler der Medizintechnik „Als Enabler für andere Zukunftstechnologien spielen Informations- und Kommunikationstechnologien eine überragende Rolle im Innovationsprozess.“ (H.-J. BULLINGER, in: MILLER 2004, S.8) Trotz der bereits gegebenen Vielfalt zusammengesetzter Technologiebegriffe (Basis~, Zukunfts~, Schlüssel~, Anwendungstechnologie etc.) ist die Verwendung der Bezeichnung ‚Enabler’ im vorliegenden Fall hilfreich und richtungweisend. Sie deutet an, dass sich Schlüsseltechnologien nicht nur primär bzgl. ihres Gegenstandes abgrenzen lassen (z. B. Bio- versus Kommunikationstechnologie), sondern sich auch - und zwar erheblich - hinsichtlich der Art ihrer (Aus-) Wirkung unterscheiden. IuK-Technologie ‚aktivieren’, ‚befähigen’, ‚geben frei’, ‚ermöglichen’ (engl.: to enable) Innovationen anderer Schlüsseltechnologien und damit auch die Entwicklung neuer Anwendungen. Der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (2003) spricht daher von der „…zunehmenden Bedeutung als Katalysator für Innovationen…“(s. 4). Dies gilt auch und gerade für das Verhältnis von IuK zur Medizin und zur Medizintechnik (s. Kap. 7.12.6). Entwicklungslinien in der IuK – Technologie Verallgemeinert betreffen die Fortschritte der Informationstechnologie einen oder mehrere der folgenden Bereiche: Erhöhung oder Steigerung der Prozessorleistung, der Speicherkapazität und des –zugriffs sowie die Verfügbarkeit/Übertragbarkeit von Daten. Die dem Moore’schen Gesetz53 folgende Verdopplung der Rechenleistung etwa alle 18 Monate hat unseren Alltag längst erreicht. Für die weitere Zukunft wird ein diese ‚übliche’ Steigerungsrate bei weitem übertreffender Innovationssprung vorausgesagt: 53 streng genommen sagt das Moore’sche Gesetz die Verdopplung der Anzahl der Transistoren, die auf einem Chip (IC) untergebracht werden können, alle 18-24 Monate voraus. BMBF-Medizintechnikstudie 2005 549 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien “...that by the year 2030, we will be awash in computing power of cosmic proportions, ...“ (ELLIS 1999, S. 18) Dabei gilt das Wachstum, das laut der International Technology Roadmap for Semiconductors ITRS (ITRS 2003) noch bis 2018 so fortschreiten wird, auf Basis der heute präferierten SiliziumTechnologie langfristig als begrenzt. Als Grund dafür werden die mit zunehmender Miniaturisierung überproportional steigenden Herstellungskosten insbesondere bei der Fotolithographie genannt. Der Innovationssprung wird mit einem Technologiewandel verknüpft sein. So spricht TRISTAM (TRISTAM 2004) davon, dass zukünftig organische Moleküle das Herz eines Prozessors ausmachen werden. Molekularelektronik und Nanotechnologie fallen als Schlagworte für Werkzeuge, mit deren Hilfe vielleicht in ein bis zwei Jahrzehnten Strukturen weit unter der heutigen Silizium-Auflösung von etwa 90 nm kontrolliert aufgebaut werden können. Damit entstünden nicht nur 1000fach dichter gepacktere Chips als heute verfügbar. Auch die Speicherung von Daten könnte in ähnlicher Weise in neue Dimensionen vordringen. Nach HOFFKNECHT (2003) wird – so die Meinung der mit der Delphi-Methode befragten Experten – die CMOS-Technologie allerdings noch einige Jahre ihre Vormachtstellung behalten. In einigen Nischen könnten sich ggf. alternative Verfahren wie z. B. Polymerelektronik, Magneto- oder Ferroelektronik erfolgreich entwickeln. Gerade in den beiden letztgenannten Technologiefeldern werden von den o. a. Fachleuten für Deutschland besondere Stärken gesehen, auch wenn insgesamt die USA als Technologieführer (Kompetenz) eingestuft werden. Neben der Steigerung von Rechen- und Speicherleistung gilt der drahtlosen Datenübertragung und Netztechnologie gerade in jüngerer Zeit besondere Aufmerksamkeit. Zudem werden dem Stichwort ‚ubiquitous computing’ nicht nur die allgegenwärtige Möglichkeit auf Datenzugriff, sondern auch die Integration von Sensoren (und Sendern) in unsere unmittelbare Umwelt wie z. B. die Kleidung verstanden (VDI|VDE-IT & NORD-LB 2003). Im Sinne eines ‚personal monitoring’ könnten zukünftig z. B. physiologische Daten einer Person erfasst und bis zu einem Auswertungs- oder Überwachungszentrum übertragen werden, um Notfallsituationen frühzeitig erkennen zu können. Insgesamt zeichnet sich ein Bild der Zukunft ab, in dem Rechenleistung und Datenübertragungskapazitäten kaum noch als limitierende Faktoren anzusehen sind. Vielmehr werden mehr oder weniger beliebig umfangreiche Datenbestände an nahezu jedem Ort verfügbar sein. Anders als viele andere Schlüsseltechnologien hat die IuK in der Vergangenheit ihre Fortschrittsdynamik (Steigerungsrate) unter Beweis gestellt. HERRICK & PATTERSON (2000) kommen daher mit Blick auf die Gesundheitsversorgung zu folgendem offensiven Fazit: “Dramatic advances in the area of healthcare information technologies are also driving the creating of a true healthcare ‘Information Age’.” (HERRICK & PATTERSON, 2000, S. 31) Folgt man dieser Einschätzung, dann scheint das Potential des Enablers IuK für die Medizin(technik) trotz der gebotenen Zurückhaltung enorm groß zu sein. Der Anteil medizinischer Anwendungen am Gesamtmarkt der IuK-Branche ist schwer abzuschätzen. Der deutsche IuK-Binnenmarkt wird mit ca. 126 Mrd. € für 2003 (EITO 2004, S. 276) 550 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien beziffert und ist damit etwa acht- bis zehnmal größer als das entsprechende Volumen der Medizintechnik (s. Kap. 4.2). Innovationspotential der IuK – Technologie für die Medizin Es ist wohl die Vielzahl und die breite Streuung möglicher Impulse, mit der innovative IuKLösungen mittelbar und unmittelbar die Zukunft des Gesundheitswesens beeinflussen können, die die Bedeutung als Enabler der Medizin ausmacht. In Diagnose und Therapie, in ambulanter oder stationärer Versorgung, in Akutbehandlung oder Rehabilitation, in Aus- und Weiterbildung wie auch im Arbeitsalltag (Workflow) aller Gesundheitsberufe – sowie nicht zuletzt in der Vernetzung aller Beteiligten im Versorgungsprozess hin zu einem integrierten System werden große Potentiale der Informationstechnologie gesehen: „But it’s clear that changes in information technology will continue to be one of the, if not the, prime catalyst of health care over the next ten years.” (AMARA et al. 2003, S. 135) Vernetzung, Integration, Management (eHealth): ¾ Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (als Einstieg in die elektronische Patientenakte) sowie der Authentifizierungskarte für die Angehörigen der Fachberufe (HPC, health professional card) soll gemäß Aktionsplan der Bundesregierung im Jahr 2006 flächendeckend vollzogen sein (BUNDESMINISTERIUM FÜR WIRTSCHAFT UND ARBEIT BMWA & BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG BMBF (Hrsg.), 2003). Erklärtes Ziel ist die Ausschöpfung bislang brach liegender Ressourcen und damit die Steigerung von Effizienz und Effektivität54: „Zwischen 20 und 40 % der Leistungen im Gesundheitswesen entfallen auf Datenerfassung und Kommunikation. Dies deutet auf ein großes Rationalisierungspotential hin.“ (BUNDESMINISTERIUM FÜR WIRTSCHAFT UND ARBEIT BMWA & BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG BMBF (Hrsg.), 2003, S.65) ¾ Der Bundesverband BITKOM prognostiziert allein durch die Einführung des elektronischen Rezeptes in Verbindung mit der Gesundheitskarte jährliche Einsparungen von bis zu 1,26 Mrd. EUR. (BITKOM 2003). ¾ Mit der Einführung der Diagnosis Related Groups (DRG) hat der Wandel der Arbeitsprozesse im Alltag der Versorgungsberufe erheblich an Dynamik gewonnen. Dies ist insbesondere dadurch bedingt, dass die Krankenhäuser durch die Erlössteuerung über Fallpauschalen gezwungen sind, moderne Kostenrechnungssysteme bis hin zur Prozesskostenrechnungen einzuführen. Krankenhausinformationssysteme (KIS) sind daher auf dem Vormarsch und werden zukünftig insbesondere durch drahtlose Netztechnologien weiteren Auftrieb erhalten. Markterlöse für WLAN in Europäischen Kliniken liegen für 2001 bei 12,3 Mio. US-$ und sollen bis 2007 auf 92,3 Mio. US-$ anwachsen. (ÄRZTE ZEITUNG 2003), das Marktvolumen für 54 Arzt und Patient rücken kommunikationstechnisch näher zusammen, virtuelle Leistungsallianz (s. Kap. 7.12.6.4) BMBF-Medizintechnikstudie 2005 551 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Krankenhausinformationssysteme wird allein für Deutschland mit 600 Mio. € veranschlagt (VDI-VDE-IT & NORD/LB 2003). Digitalisierung in Diagnose und Therapie: ¾ Bildgebung Zunehmende Rechenleistung und neue Displaytechniken werden in Zukunft zu 3-dimensionalen skalierbaren Bildern (bis 2009, FLOWER et al. 2000) in Echtzeit (FRAUNHOFER GESELLSCHAFT 2004) führen, die schließlich eine virtuelle Reise durch die Organe eines Patienten ermöglichen. Neben der rein morphologischen Organdarstellung wird als weitere Qualität die bildhafte Darstellung der Organfunktion hinzukommen (AMARA et al. 2003). Die verschiedenen Bildgebungsmodalitäten (z. B. Röntgen, Ultraschall, Magnetresonanz) werden kombiniert bzw. integriert (ASHTON 1997). Durchbrüche bei der Entwicklung von Algorithmen und Techniken zur Datenauswertung z. B. für die Mustererkennung ermöglichen den Umgang und die Verdichtung der anfallenden riesigen Datenmengen (s. Kap. 7.12.6.1). Als eine wichtige Hürde für die Entwicklung der Bildgebung insgesamt wird die fehlende Substitution älterer Verfahren durch innovative Technologien angesehen. Die damit verbundene Kostensteigerung steht im Widerspruch zu den Sparanstrengungen nahezu aller Gesundheitssysteme. ¾ Computer assisted surgery (CAS), Robotics ’Ärzte sitzen bei der Operation in einem Cockpit und steuern umgeben von Bilddaten, erweiterter Realität und künstlicher Intelligenz die Tätigkeit eines extrem präzise arbeitenden OP-Roboters’ (SHANI 2000). Auch wenn diese Vision in ihrer Gesamtheit utopische Züge trägt, so finden sich viele der genannten Elemente auch in den Zukunftsprojektionen anderer Autoren: die Echtzeitbilddaten des Patienten werden mit der Position der Instrumente (Trajektorie) überlagert (Navigation, AMARA et al. 2003, ELLIS 2000), die ggf. selbst Bilder aus dem Köperinneren liefern werden (ASHTON 1997). Bereits in der OP-Vorbereitung und Planung werden virtuelle Organmodelle aus realen Daten des jeweiligen Patienten verfügbar sein. Entsprechende Prozeduren können dann auch in der Aus- und Weiterbildung des Fachpersonals eingesetzt werden. Während der computergestützten Operation, die sich nach wie vor auf den (menschlichen) Operateur verlässt, durchweg gute und eher kurzfristige Entwicklungschancen eingeräumt werden, gehen die Meinungen zum Einsatz von Robotern auseinander. Größerer Forschungsaufwand und Sicherheitsprobleme lassen eine eher langsamere Entwicklung erwarten, in Deutschland sind nur vergleichsweise wenige Forschungsgruppen auf diesem Gebiet identifiziert worden (s. Kap. 7.12.6.3) ¾ Informationsbasierte Medizin, Expertensysteme Die Fülle an relevanten Informationen aus diagnostischen Verfahren, der individuellen Patientenhistorie inkl. der genetischen Prädisposition, die zunehmende Spezialisierung und die generelle Digitalisierung der medizinischen Versorgung lassen die Vision des „just in time knowledge“ (FLOWER et al. 2000) entstehen, das ortsungebunden jederzeit verfügbar (WYKE 1997, SHANI 2000, PRICEWATERHOUSECOOPERS 2000) und aktualisierbar ist. Entscheidungen der Therapeuten werden auf der Basis dieser integrierten Information und des verfügbaren Expertenwissens, die zu Therapieoptionen verdichtet werden, gefällt (ROSOW & GRIMES 552 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien 2003). Dies wird natürlich einen großen Einfluss auf den Arbeitsprozess in der Gesundheitsversorgung haben: „…and analysts predict that 20 percent of physicians will be using handheld devices by 2004.” (AMARA et al. 2003, S. 136) ¾ Personal health monitoring, remote monitoring, Telemedizin Neue Möglichkeiten in der Datenübertragung und Sensorik öffnen den Weg zur Fernüberwachung und –betreuung von Patienten: z. B. ‚health-watch’ (SHANI 2000), ‚body-areanetwork’ (FRAUNHOFER GESELLSCHAFT 2004) oder ‚smart-clothing’ (FLOWER et al. 2000) kennzeichnen die Zukunft einer kontinuierlichen Überwachung von physiologischen oder psychischen Zustandsgrößen etwa zur Prävention von Notfallsituationen oder zur Dosierung der Medikation chronisch Kranker. ¾ in vitro-Diagnostik, Point-of-Care, Bioinformatik Miniaturisierung und Hochdurchsatzverfahren lassen aus ehemals raumfüllenden Analysegeräten tragbare z. T. chip-basierte Diagnosehelfer werden, die trotz kleinster Proben komplexe Tests in großer Geschwindigkeit auch unmittelbar in der Behandlungssituation (Point-of-Care) durchführen können. Auch dabei fallen enorm große Datenmengen an, deren Übertragung, Darstellung und Interpretation erst mit der prognostizierten Leistungssteigerung zukünftiger Hard- und Software möglich sein wird (BURTIS 1995). Die stark zunehmende Sensibilität der Verfahren bis hin zu einer molekularen Diagnostik erinnern an die informationstechnische Entwicklung innerhalb des Human Genome Project zur Strukturaufklärung des menschlichen Erbgutes: die Gründung einer neuen Teildisziplin, der Bioinformatik. Erst mit ihren Fortschritten konnte die enorme Datenflut strukturiert bewältigt werden. Eine Vision für die Entwicklung der Informationsgesellschaft geht davon aus, dass wir alltäglich von intelligenten, intuitiv bedienbaren Interfaces umgeben sind, die uns einen Zugang zu Informationen jeder Art ermöglichen: ’Ambient Intelligence in Everyday Life’. Projiziert man diese Vorstellung auf die Gesundheitsversorgung, so tauchen viele der gerade beschrieben Entwicklungen und Innovationen wieder auf. Unter Berücksichtigung des Zeitverlaufs haben FRIEDEWALD & DA COSTA (2003) eine ‚Roadmap’ von entsprechenden Zukunftstechnologien in der Schnittmenge zwischen IuK und Medizin (healthcare) aufgestellt. Danach ist z. B. in naher Zukunft (bis 2008) die breite Annwendung administrativer Informationssysteme (z. B. elektronische Patientenakte) zu erwarten, während die automatisierte Diagnose erst in der Mitte des kommenden Jahrzehnts zur Reife gelangen wird. BMBF-Medizintechnikstudie 2005 553 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Abbildung 10.7: Technologie-Roadmap zu Anwendungen des ‚Ambient Intelligence’ in der Gesundheitsversorgung; aus: FRIEDEWALD & DA COSTA 2003, S. 140 (Originalabbildung) Application Key Function Prevention Monitoring Consultation Information and Education Prediction Cure 2003 2004 2005 Pilot System Monitoring Attending Health Commerce manage-ment and adminiIdentification and stration authentication 554 2008 2009 2010 2011 2012 2013 Maturation of Technology 2014 2015 2016 2017 2018 2019 Non personalised services Personalised Services Simple, data-based prediction Advanced, diagnosing prediction First Prototype Systems First Prototypes Party automated diagnosis First simple prototypes Maturation of technology First simple prototypes Maturation of technology First simple prototypes Maturation of technology Proto- Commercial Systems type Prototypes Advanced Systems BMBF-Medizintechnikstudie 2005 2020 >2020 Intelligent and Context Sensitive Monitoring Systems Widespread use Treatment and Surgery Care 2007 Simple prototyps Diagnosis Monitoring 2006 Automated Diagnosis Intelligent and Context Sensitive Monitoring Systems Intelligent and Context Sensitive Monitoring Systems Intelligent and Context Sensitive Attending Systems Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Die vorgenannten Entwicklungspotentiale sind nicht nur von den Fortschritten der IuK Technologie abhängig: für eine funktionale Bildgebung werden beispielsweise molekulare Marker benötigt, das ‚smart clothing’ braucht ausgefeilte Sensoren u. v. m. Ohne erhebliche Fortschritte in der Digitalisierung der Medizintechnik werden jedoch zukünftige Marker oder Sensoren ihr Potential bei weitem nicht entfalten können. IuK – Technologie ist also nicht nur Enabler der Medizin als Ganzes, sondern auch und gerade der Medizintechnik im Speziellen. „Last but not least, the role of information and communications technology (ICT) will become increasingly important in the health technology sector.” (VAN BEUSEKOM & TWEEHUYSEN 2000, S. 8.) Probleme beim Einsatz der Informationstechnologie Neben wissenschaftlich-technologischen Hindernissen auf dem Entwicklungsweg in die digitalisierte Zukunft der Medizin erwähnen verschiedene Autoren andere Einflussgrößen, die entweder zu einer Verlangsamung des Innovationsprozesses oder gar zu einer völligen Trendwende führen können. Solche Ereignisse, deren Eintreten zwar unwahrscheinlich ist, die aber das Potential zu einem völligen Richtungswechsel aufweisen, werden im angloamerikanischen Sprachgebrauch als ‚Wildcards’ bezeichnet. Wildcard : ,Home monitoring bei chronisch Kranken ohne Kostenvorteile’ Sollten trotz breit eingeführter medizinischer Informationssysteme keine Kostenvorteile in der Überwachung chronisch Kranker erkennbar sein, wird die Entwicklung der Technology in ihrem ‚Embryonalstadium’ verbleiben (AMARA et al. 2003, S. 146). Die hohen Erwartungen an die Telemedizin (s. a. FRAUNHOFER GESELLSCHAFT 2004) könnten allein am Kostendruck im Gesundheitswesen scheitern; ganz abgesehen von einer niedrigen Technikakzeptanz der Zielgruppe (chronisch Kranke sind auch zumeist ältere Menschen) oder von den ethischen Fragen in diesem Zusammenhang. Mögliche Entwicklungshemmnisse für den Einsatz der Informationstechnologie liegen in folgenden Aspekten: Das Gesundheitswesen hinkt im Einsatz der IuK-Technologie hinterher. Immer wieder wird der Gesundheitsversorgung, insbesondere den medizinischen Fachkräften, gegenüber anderen Wirtschaftsbereichen eine gravierende Rückständigkeit im Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien bescheinigt (z. B. ROSOW & GRIMES 2003, WYKE 1997). Dies gilt auch für Deutschland, das bei der PC-Nutzung durch Allgemeinmediziner im EUweiten Vergleich an letzter Stelle rangiert (Bezugsjahr 2002, BMWA & BMBF 2003, S. 19). Die Abneigung gegenüber dem Einsatz der informationstechnischen Werkzeuge kann sehr viele Gründe haben: Sicherheitsbedenken, Überwachungsangst, geringe Alltagstauglichkeit der Werkzeuge, veraltete Fachkenntnis, fehlende Investitionsneigung der Einrichtungen u. v. m. Sie alle gilt es zu bedenken und zu überwinden, um die Dynamik des Innovationsgeschehens zu erhalten oder zu steigern. BMBF-Medizintechnikstudie 2005 555 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Medizinische Irrtümer und Technologieeinsatz. ROSOW & GRIMES (2003, S. 308) verweisen darauf, dass bei den 98.000 Todesopfern (im Jahr 2000 in den USA) infolge medizinischer Irrtümer der gestiegene Technikeinsatz eine wesentliche Ursache war. Mit Blick auf die mögliche Einführung z. B. von DV-gestützten Expertensystemen in der Diagnose stellt sich die Frage nach der Zuverlässigkeit und Qualität der eingesetzten technologischen Unterstützungssysteme und danach, wie sie ggf. kontrolliert und sichergestellt werden kann. 10.4.3 Molekularisierung in der Funktion, Miniaturisierung in der Ausbringung bzw. Applikation Wie schon in Kap. 10.4.1 dargestellt, wird die Computerisierung auch als Dimension medizintechnischer Innovationen bezeichnet, gleichsam als eine Achse des Koordinatensystems des Fortschritts. Als weitere Fortschrittsdimensionen gelten Miniaturisierung und Molekularisierung, die als generelle Trends von zahlreichen Autoren direkt oder indirekt beschrieben werden. ‚Miniaturisierung’ bezeichnet allerdings ebenso wenig eine Schlüsseltechnologie wie ‚Molekularisierung’. Der Trend zur ‚Computerisierung’ findet als Schlüsseltechnologie seine Entsprechung in der Informations- und Kommunikationstechnologie mit ihrer Wirkung als Enabler der Medizintechnik. In analoger Weise korrespondieren zur Miniaturisierung als Applikationsmethode die Mikrosystemtechnik und die Nanotechnologie, zur Molekularisierung als dem zugrunde liegenden und verwendeten Wirkmechanismus/Funktionsprinzip die Bio-, Zell- und Gentechnologie. Die detaillierte Darstellung dieser Schlüsseltechnologien, ihrer Bezüge, Inhalte bzw. ihrer Potentiale für die Medizintechnik geschieht in den später folgenden Potentialdossiers (Kap. 10.5). Die sich unmittelbar anschließenden Ausführungen dienen zunächst dazu, die grundlegenden Fortschrittsdimensionen insgesamt zu untermauern. Schon 1998 kommt eine Technologievorschau des CDRH (Center for Devices and Radiological Health) der zentralen US-amerikanischen Zulassungsbehörde (FDA) zu einer entsprechenden Einteilung von Innovationskategorien (HERMAN et al. 1998). Diese Studie nimmt eine gewisse Sonderstellung ein, weil sie einerseits das Verhältnis technologischer Zukunftstrends zu Medizinprodukten in den Mittelpunkt stellt und andererseits die Zukunftsprognose (auf zehn Jahre) methodisch mit Hilfe eines mehrstufigen Delphi-Verfahrens untermauert. Sie zählt damit zu den sehr wenigen Arbeiten, in denen sowohl der Themenfokus als auch der Foresight-Charakter in besonderer Weise zu der hier vorliegenden Fragestellung passen. In der CDRH-Technologievorschau wurden 15 Experten wiederholt per Fragebogen, Interview und gemeinsamem Workshop aufgefordert, zu insgesamt 21 übergeordneten Technologiefeldern für/von Medizinprodukten auf einer Skala von 1-5 Stellung zu beziehen bzw. ihre Einschätzung zu differenzieren und zu diskutieren: abgefragt wurden die Erwartung hinsichtlich wichtiger 556 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Neuentwicklungen in fünf oder zehn Jahren, die Anzahl betroffener Patienten, die Größe des Nutzen / Höhe des Risikos sowie die Gesamtbedeutung für die Zukunft der medizinischen Versorgung. Tabelle 10.5: Originaltabelle aus: HERMAN et al. 1998, Table 1; Experteneinschätzungen (Befragungsergebnisse, N=15, Durchschnittswerte) zu den übergeordneten Technologiefeldern. Quelle: http://www.fda.gov/cdrh/ost/trends/Table1.gif [11.07.2004], Nachdruck frei Die Technologiefelder sind zur Verdeutlichung mit konkreteren Anwendungsbeispielen verknüpft. BMBF-Medizintechnikstudie 2005 557 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Tabelle 10.6: Originaltabelle aus: HERMAN et al. 1998, Table 2; Experteneinschätzungen (Befragungsergebnisse, N=15, Durchschnittswerte) zu spezifischen Produkttypen. Quelle: http://www.fda.gov/cdrh/ost/trends/Table2.gif [11.07.2004], Nachdruck frei Ausgehend von diesen primären Befragungsergebnissen werden im weiteren Prozess der Meinungsbildung (durch Interview, Workshop) schließlich sechs Kategorien gebildet als Trendgruppen zukünftiger Medizinproduktentwicklungen: “1) computer related technology 2) molecular medicine 3) home- and self-care 4) minimally invasive procedures 5) Combination device/drug products 6) organ replacements and assits 558 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien The first two of these trend categories comprise developments grounded in scientific advances, the second in growing delivery modalities; and the last two in specific product-types.” (HERMAN et al. 1998) Als Triebkräfte (‚trend drivers’) für die Entwicklung der Medizintechnik nennen die Experten neben Kostendämpfung, Altersentwicklung, Erfolgen in der Krebstherapie und weiteren klinisch-sozialen Faktoren die Computerisierung, Miniaturisierung und molekulare Medizin. Unter dem letztgenannten Begriff verstehen die Autoren nahezu ausschließlich die mit der Strukturaufklärung des menschlichen Genoms verbundenen neuen Möglichkeiten. BRAUN et al. (2003) definieren drei Technologie-Cluster, in die besonders wichtige Zukunftstechnologien zusammengefasst werden können: ‚genetic technologies (GENTEC), medical technologies (MEDTEC) and information and communication technologies (ICTEC)’. Die Cluster GENTEC und ICTEC zeigen eine hohe Übereinstimmung mit den hier vorgeschlagenen Fortschrittsdimensionen ‚Computerisierung’ und ‚Molekularisierung’. Unter MEDTEC werden allerdings sowohl medical devices (z. B. für die minimal invasive Chirurgie) wie auch TissueEngineering subsumiert. Gerade die letzte Technologie bezieht jedoch nach der hier vorgelegten Analyse ihre wesentlichen Impulse aus dem Verständnis und der Manipulation molekularer / zellbiologischer Wirkungsmechanismen und ist daher vielmehr der Molekularisierung zuzurechnen. Trotz der angedeuteten Differenz bestätigt auch die Arbeit von BRAUN et al. das Konzept dreier grundlegender Fortschrittdimensionen für den Innovationsprozess in der Medizintechnik. Insgesamt ergibt sich daher folgendes Bild: ¾ Insbesondere zur Verringerung der Invasivität und der Belastung des Betroffenen werden Technologien zur Miniaturisierung im Sinne des ‚Delivery’ zukünftig von großer Bedeutung sein. Drug-Delivery-Systeme, wie sie von der Mikrosystemtechnik und zukünftig auch von der Nanotechnologie erwartet werden, sind ebenso Paradebeispiele auf der therapeutischen Seite wie Lab-on-Chip Analysatoren im Bereich der Diagnostik. Nano-Beads fungieren als Fähren für Medikamente (z. B. Zytostatika in der Krebstherapie), die mit äußeren Stimuli kontrolliert und zielgerichtet freigesetzt werden. Die Leistung der Nanotechnologie besteht nicht in der zytotoxischen Wirkung des Krebsmittels, sondern darin, die Beförderung durch die Kapillaren oder die Blut-Hirn-Schranke zum Zielort zu ermöglichen: Miniaturisierung in der Ausbringung/Applikation. ¾ Mit der Aufklärung der DNA-Sequenz des menschlichen Erbgutes ist die Wissenschaft dem Verständnis der elementaren Ursachen von Krankheiten ein Stück näher gekommen. Gezielte Eingriffe auf molekularer Ebene sind möglich, nicht nur auf der Ebene der Nukleotide sondern auch bei Proteinen als den strukturellen oder funktionalen ‚Übersetzungen’ der Erbinformation. Markermoleküle für die funktionale Bildgebung, DNA-Fragmente zur Identifikation (Früherkennung) von Erbkrankheiten oder genetischer Dispositionen, Steuerung des Wachstums und der Differenzierung von Zellen beim Tissue-Engineering sind nur einige Beispiele für Molekularisierung in der Funktion. BMBF-Medizintechnikstudie 2005 559 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Expertenmeinungen zur Bedeutung der Schlüsseltechnologien Im Rahmen der vorliegenden Studie wurden deutsche Fachleute schriftlich (s. dazu Kap. 7.6.), in Workshops (s. Kap. 7.5.4 ) oder per E-mail (s. Kap. 9.2.4). um Ihre Einschätzung zur (zukünftigen) Bedeutung von Schlüsseltechnologien gebeten. Zusammenfassend ergibt sich eine übereinstimmende Bedeutungsrangliste, angeführt von IuK über Zell- und Biotechnologie bis hin zur Nanotechnologie auf den Plätzen 2 und 3. Dies bestärkt die vorangegangen Überlegungen aus der durchgeführten Quellenanalyse zur herausragenden Stellung der Fortschrittsdimensionen (Computerisierung-Molekularisierung-Miniaturisierung), die mit den genannten Technologiefeldern ja unmittelbar korrespondieren, für die Medizintechnik von morgen. 10.4.4 Konvergenz der Fortschrittsdimensionen Was einzelne Fachtermini wie ‚Biomicrotechnology Devices’ oder ‚Microelectromechanical Systems’ (BAAL 2004) mit ihrer Zusammensetzung bereits andeuten, wird in der Auseinandersetzung mit dem jüngsten ‚Hype’ der Nanotechnologie überzeugend deutlich: die Grenzen zwischen den Disziplinen und auch den Fortschrittsdimensionen nehmen zusehends ab. Sowohl Physiker als auch Biologen oder Ingenieure erforschen Phänomene auf molekularer oder gar atomarer Ebene. Bezeichnender Weise sind es vielleicht die Ein-Elektron-Transistoren (SET) der Nanoelektronik, die den Weg zu quasi unbegrenzter Speicherkapazität freimachen, die wiederum eine Vorraussetzung für die medizinische Bildgebung von morgen sein dürfte. Angesichts solcher Entwicklungen fällt die Abgrenzung von Technologiebegriffen immer schwerer. „Convergence of nanotechnology, biotechnology, infotechnology and cognitive science is based on material and scientific unity at the nanoscale.” (ROCO 2003, S. 344) Die beschriebene Konvergenz gilt jedoch nicht nur im Zusammenhang mit Nanotechnologie, sondern auch auf der Ebene der Produktentwicklung in der Medizintechnik: „Third, product development will increasingly blur the boundaries between biological systems on the one hand and physical and engineering designs on the other.” (HERMAN et al. 1998) Immer mehr Disziplinen rücken zusammen und entwickeln gemeinsam technologische Lösungen und Anwendungen. Damit steigen allerdings auch die Anforderungen an das Miteinander der Fachleute und -disziplinen, an eine interdisziplinäre Kommunikation also, die zum kritischen Erfolgsfaktor des Innovationsprozesses wird: „…the real innovation stems from the process of bringing individuals from traditionally separate disciplines together.“ (ARNALL 2003, S. 60) 560 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien 10.5 10.5.1 Potential-Dossiers: Schlüsseltechnologien für die Medizintechnik Erläuterung zur Vorgehensweise Mit den nachfolgenden Technologie-Dossiers soll zusammengefasst die absehbare Schnittmenge zwischen der jeweiligen Schlüsseltechnologie auf der einen Seite und der Medizintechnik auf der anderen Seite näher beschrieben werden. Aus dieser Überschneidung können Impulse und damit Potentiale erwachsen. Die recherchierte Literatur bildet das Fundament der Dossiers. Wo immer möglich soll auf korrespondierende Abschnitte des Gesamtberichts verwiesen werden, auch unter Hervorhebung übereinstimmender oder ggf. widersprüchlicher Einschätzungen. Insbesondere die Übersichtsdarstellungen zu den aktuellen Forschungsthemen der Medizintechnik aus dem Blickwinkel deutscher Experten (Kap. 7.12) bieten zahlreiche Gelegenheiten zur vergleichenden Gegenüberstellung und darüber hinaus zur Vertiefung der jeweiligen Thematik z. B. hinsichtlich konkreter Forschungs- und Entwicklungsvorhaben in Deutschland. In Anbetracht der gegebenen Literaturlage (zur Methodik s. Kap. 10.3.2) konnten zur Nanotechnologie, Mikrosystemtechnik, Biotechnologie, zum Tissue-Engineering und zu Optischen Technologien entsprechende Dossiers erstellt werden. Dabei gilt unverändert das Verständnis der Medizintechnik auf der Basis der vorgestellten Definition (s. Kap. 3). Eine geringe Überschneidung besagt lediglich, dass aus den recherchierten Quellen nur wenige Anwendungspotentiale für die Medizintechnik identifiziert werden konnten. Es geht hier also nicht um die Gesamtbedeutung einer Technologie, nicht einmal um ihre Bedeutung für die Medizin (der Bereich Pharmazeutik z. B. ist per definitionem ausgeschlossen), sondern nur um die Bedeutung für die Medizintechnik i. e. S. Zur besseren Vergleichbarkeit sollen alle Dossiers jeweils die folgenden Aspekte beleuchten, sofern es die Quellenlage zulässt: • • • • • Qualifizierung der Literaturlage der primär die jeweilige Schlüsseltechnologie betreffenden Quellen nach Relevanz, Publikationsart und Aktualität (z. B. Abbildung 10.8) exemplarische Technologievorschau anhand zukünftiger Anwendungsbereiche und -beispiele Prognosen zum wirtschaftlichen Potential der Schlüsseltechnologie bzw. des Überschneidungsbereiches zur Medizintechnik, jeweils im Vergleich zum Marktvolumen der Medizintechnik in Deutschland, Europa und weltweit Vernetzung bzw. Überschneidung zu anderen Schlüsseltechnologien ‚Wildcards’ und mögliche Entwicklungshindernisse Die Technologie-Dossiers sollen einen stark komprimierten und beispielhaft reduzierten Überblick über ausgewählte Felder geben. Sie sind daher nicht als angemessene Zusammenfassungen der z. T. sehr umfangreichen Primärliteratur zu verstehen, sondern bilden eine Auswahl von Schwerpunkten, anhand derer die Einordnung der Technologie deutlich werden soll. Bei den tabellarischen Übersichten (z. B. Tabelle 10.7) zu den in der Literatur angegebenen Marktpotentialen der Technologien entstehen durch die wechselnden Perspektiven (Zeiträume, Bezeichnungen der Teilmärkte) oder Szenarien (geographische Zuordnung) der Autoren, die ihre BMBF-Medizintechnikstudie 2005 561 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Angaben oft auch aus weiteren Quellen entlehnt haben, sehr unterschiedliche, z. T. sogar widersprüchliche Bilder. Die bisweilen verwirrenden Angaben sollen mit folgenden Maßnahmen geordnet werden: • • als wiederkehrende Vergleichswerte enthalten alle Übersichten dieser Art zu Beginn die verfügbaren Marktvolumina für die Medizintechnik insgesamt, weltweit und für Deutschland. zur Sortierung werden 3 Kriterien hierarchisch nacheinander ausgewertet: - ähnliche Produktbezeichnungen oder -bereiche werden gruppiert Märkte werden absteigend sortiert beginnend mit dem Weltmarkt (WW) und dann alphabetisch nach der Länderabkürzung (D-Deutschland, J-Japan, US-USA etc.) Zeiträume der Angaben werden absteigend sortiert. Die Umschreibung der Produktbereiche in der zugrunde liegenden Literatur ist häufig sehr kurz gehalten, genaue Erläuterungen der Abgrenzungen fehlen. Daher wurden stets die Originalbegriffe verwendet, auch wenn dies einen Wechsel zwischen deutschen und englischen Termini mit sich bringt. Die zusammengestellten Angaben können daher nur dem Trend nach und insgesamt konservativ interpretiert werden. Sie vermitteln jedoch trotz aller angeführten Einschränkungen einen Eindruck von den wirtschaftlichen Potentialen, die einzelnen Technologiefeldern in der Literatur zugeordnet werden. 10.5.2 Biotechnologie und Gentechnik Im Mittelpunkt der ‚modernen Biotechnologie’ (BT) steht die Nutzung lebender Organismen bzw. ihre (sub-) zellulären Bestandteile auf der Basis genetischer und molekularbiologischer Erkenntnisse. Die Gentechnik wird daher allgemein als Teilgebiet der Biotechnologie betrachtet, deren Hauptanwendungsfelder in der Pharmazie (‚rote’ BT), Landwirtschaft (‚grüne’ BT), Lebensmittelindustrie, dem Umweltsektor (‚graue’ BT) und der Diagnostikaindustrie liegen. Im Allgemeinen wird auch das Tissue-Engineering sowie die Stammzellforschung unter dem Dach der Biotechnologie subsumiert (VDI/VDE-IT & NORD LB 2003), denen jedoch in der vorliegenden Analyse ein eigenständiges Kapitel gewidmet wurde. Literaturlage Die Anzahl der Publikationen, die sich mehr oder weniger ausschließlich mit der Zukunft des Technologiefeldes befassen, bewegt sich für die Biotechnologie/Gentechnik in einem mittleren Bereich (verglichen zum Spitzenwert von 15 spezifischen Fundstellen für Informationstechnologie), wobei keine primäre Foresight-Studie identifiziert werden konnte. Vielmehr liegt der Schwerpunkt eher auf Branchenanalysen wie z. B. dem Deutschen Biotechnologie-Report von Ernst & Young, der bereits zum 5. Mal erschienen ist (ERNST & YOUNG 2004). Dies ist möglicherweise auch eine Folge des Entwicklungsstandes der Technologie, von der aktuell eher marktwirtschaftliche als technologische Erfolge erwartet werden. Die Arbeiten aus dem Bereich der Nanobiotechnologie wurden dem Potential-Dossier ‚Nanotechnologie’ (Kap. 10.5.5) zugeordnet. Die Inhalte, die sich jedoch auf die ‚klassische’ BT 562 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien beziehen, werden im Folgenden gemeinsam mit den in erster Linie auf die Biotechnologie fokussierten Arbeiten besprochen. Abbildung 10.8: Quellenlage zur Biotechnologie und Gentechnik. Dargestellt sind die Fundstellen mit primärem Schwerpunkt auf der Biotechnologie nach Relevanz (a) und Aktualität (b, Publikationsart kumuliert) 15 A Monographie Artikel 10 Anzahl Relevanz A/B B B/C 5 C 0 0 5 10 1995-1999 Anzahl (a) 2000-2004 Zeitraum (b) Biotechnologie & Medizintechnik: Exemplarische Technologievorschau: Die Synergien zwischen Biotechnologie und Medizintechnik werden sehr unterschiedlich beurteilt. Auf der einen Seite steht die einmütige Einschätzung, dass mit der Aufklärung des menschlichen Genoms eine der größten wissenschaftlichen Leistungen der Menschheitsgeschichte vollbracht wurde, die Anlass zu ebenso großen Hoffnungen gibt. Zudem ist es genau dieser Aspekt, der der Innovationsdimension ‚Molekularisierung’ einen entscheidenden technologischen Inhalt gibt. Auf der anderen Seite jedoch erwähnen MENRAD et al. (2003) die Branche Medizintechnik nicht einmal, wenn es um Beschäftigungsimpulse aus der Biotechnologie geht. Die Entwicklung neuer Medikamente gilt als einer – wenn nicht sogar der – Schwerpunkt der ‚roten’ Biotechnologie. Pharmaka sind aber definitionsgemäß eben keine Medizinprodukte (s. Kap. 3). Insofern ist die Bedeutung der Biotechnologie für die Medizin um vieles größer als für die Medizintechnik. Der dennoch vorhandene Überschneidungsbereich findet sich insbesondere in der Entwicklung von modernen Diagnosesystemen und massiv-parallelen Analysesystemen (DNA- oder Protein-ChipSysteme) einschließlich chipbasierter Mikrolabore (Lab-on-Chip) für komplexe biochemische Analysen. Auf Probenträgern heutiger DNA-Chips (aus Glas oder Silizium) sind bis zu 1,3 Mio. Spots (Ø = 11µm, Genomchip von Affymetrix, s. WAGNER & WECHSLER 2004, S. 53ff) mit immobilisierten DNA-Stücken (Oligonukleotiden) als Fängermoleküle untergebracht, die in der Lage sind, alle menschlichen Gene (ca. 38.500) auf einem Chip zu identifizieren. Mit der Erkenntnis, dass die Korrelation zwischen aktiven Genen und der Konzentration der durch sie codierten Proteine nur gering ausfällt, erhielt die Proteomforschung (Proteomics) einen massiven Schub. Protein-Chips verfügen derzeit über etwa 10.000 Spots (Fa. ZYOMXY, US; nach BMBF-Medizintechnikstudie 2005 563 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien WAGNER & WECHSLER 2004, S. 63ff). An dieser Zahl (vgl. DNA-Chip) lässt sich bereits erkennen, dass die Verfahren noch in den Anfängen stecken. Die Schwierigkeiten bestehen darin, dass Proteine chemisch labil sind, keine Vervielfältigungsmethoden (wie z. B. PCR für Nukleotidsequenzen) zur Verfügung stehen (daher erhöhte Anforderung an die Sensitivität) und das humane Proteom auf bis zu 1 Mio. verschiedene Eiweiße geschätzt wird. Die Fängermoleküle sind aus Proteinbanken erhältlich, die meist mit Hilfe von Phagen hergestellt werden. Ein besonders bedeutender Einsatzbereich des Proteinchips liegt in der Medikamentenentwicklung. BACHTLER führt dazu aus: „In klinischen Untersuchungen werden neue Medikamente an großen Patientengruppen getestet. Dabei kommt es immer wieder vor, dass manche Patienten überhaupt nicht auf die angewendete Medikation ansprechen oder es zu Nebenwirkungen kommt. Ursache hierfür ist die genetische Variabilität der Patienten. Mit diesen Fragestellungen beschäftigten sich zwei Fachgebiete, die so genannte Pharmakogenetik und die Pharmakogenomik. Dabei untersucht die Pharmakogenetik die Unterschiede des individuellen Ansprechens auf Arzneimittel aufgrund erblich bedingter Faktoren, vor allem in der klinischen Praxis. Die Pharmakogenomik widmet sich mehr der Erforschung neuer Wirkstoffe im Labor und versucht zu klären, welche Genunterschiede für den unterschiedlichen Abbau von Medikamenten oder für deren unterschiedliche Wirkung bei verschiedenen Patienten verantwortlich sind.“ BACHTLER (2003) Ziel ist es, entsprechend des Genotyps des Patienten Wirkstoffe individuell so zu dosieren, dass die erwünschten Arzneimittelwirkungen maximiert, und die unerwünschten Wirkungen minimiert werden. Darüber hinaus kann die Kenntnis des Genotyps von Tumoren es zulassen, vorherzusagen, ob ein Tumor auf ein Chemotherapeutikum ansprechen wird. In diesem Segment liegen u. a. auch besondere Chancen für die Lab-on-Chip Systeme, die zukünftig einen Teil der Point-ofCare Diagnostik darstellen könnten (vgl. dazu Kap. 7.12.7). Die besondere Chance für die Medizintechnik bietet die im Kern pharmakologisch dominierte Biotechnologie in der sog. Peripherie: Beispiele sind Chip-Arrayer, Auslesegeräte, Trägerherstellung und Diagnose-Handhelds der Zukunft, denen ein größeres Marktvolumen vorhergesagt wird als den DNA-Chips selbst (s. Tabelle 10.1). Forecast In den vergangenen Jahren war die Branchenentwicklung der Biotechnologie durch Konsolidierung gekennzeichnet, was u. a. auf die Zurückhaltung der Kapitalgeber zurückgeführt wurde und rückläufige Beschäftigungszahlen in Deutschland (2002 auf 2003: -14 % auf 11.535; ERNST & YOUNG 2004) zur Folge hatte. Unverändert kennzeichnend für die deutsche Branche ist die Tatsache, dass die Forschungsausgaben auch im Jahr 2003 noch über dem Branchenumsatz liegen (Core-Biotech-Unternehmen55). 55 564 Core-Biotech-Unternehmen stellen nur einen restriktiv abgegrenzten Teil der Gesamt-Branche dar: Wachstumsorientierte, innovative Firmen mit dem Hauptgeschäftszweck in der modernen Biotechnologie. (ERNST & YOUNG 2004, S. 116) BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Im Jahr 2000 lagen die indirekt durch Nutzung biotechnologischer Verfahren beeinflussten 167.000 Arbeitsplätze zu drei Vierteln in der Lebensmittelindustrie (MENRAD et al. 2003), dann erst folgten Pharmaindustrie und Feinchemie mit 13.000 bzw. 11.200 Arbeitsplätzen. In den für 2005 berechneten Szenarien könnten es insgesamt zwischen 280.000 und 500.000 Beschäftigte sein, die indirekt von der Biotechnologie betroffen sind. Tabelle 10.7: 1) 2) Literaturangaben zu Marktpotentialen der Biotechnologie bzw. einzelner Segmente (Produktgruppen, Märkte) im Vergleich nach verschiedenen Autoren (WW – Weltmarkt); weitere Erläuterungen s. Kap. 10.5.1. Medizintechnik gesamt Technologien Markt Gesamt: Medizintechnik insgesamt Gesamt: Medizintechnik insgesamt WW D Biotechnologie Technologie- bzw. Produktbereiche Markt Gesamt: Biotechnologie Gesamt: Biotechnologie Gesamt: Biotechnologie Gesamt: Biotechnologie Gesamt: Biotechnologie WW WW J J J [nur börsennotierte Biotech-Unternehmen] [nur börsennotierte Biotech-Unternehmen] 'Core'-Biotech Branche Volumen in Mio. 190.000 US-$ 12.707 € Volumen 2003 2002 Zeitraum US-$ US-$ US-$ US-$ US-$ 2007 2002 2005 1999 1997 WW WW D 41.000 US-$ 35.600 US-$ 960 € 2002 2001 2003 7) DNA-Chips DNA-Chips DNA-Chips WW WW WW 750 US-$ 745 US-$ 150 US-$ 2006 2004 1999 7) Peripherie von DNA-Chips (Chip-Arrayer, Auslesegeräte, Reagenzien, Software) WW 1.000 US-$ 2006 9) Lab-on-Chip Lab-on-Chip Lab-on-Chip WW WW WW 180 US-$ 157 US-$ 1.000 US-$ 2006 2004 2002 10) Protein-Chip WW 400 US-$ 2007 Biochips Biochips Biochips Biochips WW WW WW US biotechnologiebasierte Diagnostika biotechnologiebasierte Diagnostika D D 13) gentechnisch hergestellte Arzneimittel gentechnisch hergestellte Arzneimittel 14) 15) 3) 3) 4) 4) 4) 5) 5) 6) 7) 8) 7) 8) 11) 8) 8) 12) 13) 13) 13) 125.700 77.200 220.000 12.000 9.600 in Mio. Zeitraum 1.600 3.300 950 3.300 US-$ US-$ US-$ US-$ 2004 2004 2000 2004 460 € 450 € 2000 2002 WW D 27.000 € 1.530 € 2001 2002 Biotechnologie für Diagnostik- und Therapiegeräte WW 11.000 € 2002 Bioinformatics US BMBF-Medizintechnikstudie 2005 3.082 US-$ 2004 565 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Quellen: 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9) 10) 11) 12) 13) 14) 15) Varona 2004; IG Metall FB Wirtschaft-Technologie-Umwelt [Hrsg.] 2003; Statistisches Bundesamt ISB 2004; Data Monitor 2003 Piek 2003; Ernst & Young 2003; Ernst & Young 2004; Wagner & Wechsler 2004; zit. nach einer Bioinsight-Studie, DZ Bank VDI/VDE-IT & Nord LB 2003; Frost & Sullivan Felten & Hussla 2000; NEXUS Wagner & Wechsler 2004; zit. Nach einer BioPerspective-Studie 2003 (früher Bioinsight) ISB 2004; Freedonia, from IHT 12.03.2001 ISB 2004; Frost&Sullivan, from GEN 15 May 2001 Deutsche Industrievereinigung Biotechnologie [Hrsg.] 2003; Hüsing et al. 2002; Hüsing 2002 ISB 2004; Frost & Sullivan Report 7744 (11/01) In der Gegenüberstellung des weltweiten Marktes für Medizintechnik und für Biochips insgesamt werden die Größenverhältnisse deutlich: 190 Mrd. US-$ (2003) für Medizintechnik gegenüber 1,63,3 Mrd. US-$ (2004) für Biochips. Auch in Relation zum Gesamtmarkt für Biotechnologie (geschätzt etwa 100 Mrd. US-$ in 2004 nach ISB 2004 bzw. DATA MONITOR 2003) liegt dieser der Medizintechnik besonders nahe stehende Produktbereich in einer Größenordnung deutlich unter 5 %. Daraus ergibt sich, dass der technologisch größte Überschneidungsbereich zwischen Biotechnologie und Medizintechnik hinsichtlich seiner ökonomischen Bedeutung eher als klein einzustufen ist. Zum Vergleich: Allein der US-Markt für Bioinformatik für 2004 wird mit etwas über 3 Mrd. US-$ beziffert (ISB 2004, nach FROST & SULLIVAN Report 7744 (11/01)). Die unterschiedliche technologische Reife der verschiedenen Biochip-Systeme zeigt sich erwartungsgemäß auch in den Umsatzprognosen. Die aktuelle Reihenfolge (Reife und Umsatz absteigend) führt von den DNA Chips über Lab-on-Chip zu den Protein-Chips. In Zukunft jedoch wird den Protein-Chips die größte wirtschaftliche Bedeutung vorhergesagt. Im Jahr 2011 soll der Umsatz mit Proteinchips den der anderen Biochip-Typen um mehr als 20 % übertreffen (WAGNER & WECHSLER 2004, S.102, zit. nach FREEDONIA 2002). Verhältnis zu anderen Schlüsseltechnologien Es zeigt sich, dass die IuK auch speziell mit Blick auf die Biotechnologie als Enabler einzuschätzen ist: Antikörperdatenbanken oder Chip-Systeme mit massiv parallelen Analysenmethoden sind nur zwei Bereiche, die andeuten, welche enormen Datenmassen zu erwarten sind. Nicht zufällig hat sich gerade im Bereich der Genomforschung mit der Bioinformatik eine neue Teildisziplin herausgebildet, um diesen besonderen Ansprüchen gerecht zu werden. So betrachtet könnte eine verzögerte Entwicklung der Leistungsfähigkeit der IuK-Systeme durchaus auch als ‚Disabler’ der Biotechnologie wirken. 566 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Ebenso offenkundig sind die Bezüge zur Mikrosystemtechnik, die als ‚Trägertechnologie’ für die Herstellung und weiteren Miniaturisierung der Biochips essentielle Beiträge z. B. im Bereich der Mikrofluidik etwa für die Reaktionskammern der Lab-on-Chip Systeme liefern muss56. Schon die Bezeichnung ‚Nanobiotechnologie’ macht die Überschneidung deutlich, die sich im Besonderen wiederum auf die Weiterentwicklung der Biochips im Sinne einer fortschreitenden Miniaturisierung bezieht. Aber auch andere bedeutende Aspekte stehen im Fokus: Drug-Delivery, Nanopartikel, nanostrukturierte Oberflächen usw., die im Kap. 10.5.5 weiter vertieft werden. Wildcards Die intensive öffentliche Diskussion zum Umgang mit Stammzellen oder dem Klonen oder gentechnisch verändertem Saatgut wird ihre Auswirkung zweifellos auch auf andere Bereiche der Biotechnologie haben. Auch für die Chip-basierte Diagnostik am Point-of-Care der Zukunft stellen sich eine ganze Reihe von Fragen bis hin zum Missbrauch der Technologie für ungewollte Diagnostik. Ein besonderer Aspekt liegt möglicherweise darin, dass sich die ohnehin bestehende Schere zwischen dem Fortschritt der Diagnostik und den therapeutischen Möglichkeiten noch weiter öffnet (s. FARKAS et al. 2003). Die mit dem Wissen um eine unausweichlich eintretende Krankheit verknüpften Bewältigungsprobleme könnten zu einer breiten Ablehnung der entsprechenden Diagnostik führen. Zudem können Informationsimbalancen zwischen Versicherern und Versicherten dazu führen, dass Menschen keine Versicherung mehr erhalten oder Versicherte die Versichertengemeinschaft schädigen können (moral hazard). 10.5.3 Zell- und Gewebetechnik: Tissue-Engineering Tissue-Engineering befasst sich allgemein mit der Regeneration und dem Ersatz geschädigter Gewebe und Organe durch Zellen. Etwas detaillierter beschreibt die EU-Kommission (SCMPMD57): „Tissue-Engineering is the regeneration of biological tissue through the use of cells, with the aid of supporting structures and/or biomolecules.“ (European Commission 2001, nach: BOCK et al. 2003, S. 3) Die Definition schließt ausdrücklich Trägerstrukturen (zur Besiedlung mit Zellen) wie z. B. Matrices und Scaffolds sowie Wachstumsfaktoren mit ein. Damit reicht die inhaltliche Spanne des Tissue-Engineering von der autologen Chondrozytentransplantation (ACT) zum Wiederaufbau des Gelenkknorpels über gezüchtete Gewebe (z. B. Haut zum Wundverschluss, Herzklappen) und – in ferner Zukunft – Organe bis hin zur Stammzell- 56 entsprechend werden im Rahmen der entsprechenden Darstellung aktueller Forschungsthemen nur solche Systeme aus der Labormedizin untersucht, die sich dem Begriff der Mikrosysteme zuordnen lassen (s. Kap. 7.12.7.1) 57 Scientific Committee on Medical Products and Medical Devices of the European Commission, SCMPMD BMBF-Medizintechnikstudie 2005 567 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien forschung und zur regenerativen Medizin, bei der eher die Steuerung natürlicher Heilungsprozesse im Mittelpunkt steht: „Dieses Feld […gemeint ist die regenerative Medizin, Anmerk. d. Autors] unterscheidet sich vom Gebiet des ‚Tissue-Engineering’ dadurch, dass keine Organe oder organähnliche Strukturen auf künstlichen Trägermaterialien im Labor erzeugt und transplantiert, sondern zelldifferenzierende Mikroumgebungen zur natürlichen Organentwicklung hergestellt werden.“ (DECHEMA 2004, S. 23) Tissue-Engineering wird insgesamt auch als Fortsetzung der Transplantationsmedizin verstanden. Nahe liegender Weise verbinden sich gerade in dieser Perspektive die größten Hoffnungen mit der Organzüchtung aus patienteneigenen Zellen (autolog), mit der die Gefahr einer Abstoßung des Transplantates grundsätzlich überwunden werden könnte. Diese Immunreaktion stellt bei der Verwendung fremden Materials (menschliche (allogene) oder tierische (xenogene) Organspenden) eines der Hauptprobleme dar. Literaturlage Insgesamt konnten nur relativ wenige Quellen identifiziert werden, die sich primär und fokussiert ausschließlich mit dem Tissue-Engineering als zukünftiger Schlüsseltechnologie für die Medizintechnik befassen. Das liegt wohl auch daran, dass die Biotechnologie definitionsgemäß das Tissue Engineering mit einschließt, insofern wird auch in den entsprechenden Quellen das Thema z. T. ausführlich abhandelt. Die Relevanz der Quellen ist jedoch insgesamt sehr hoch, denn es liegen ausgesprochen aktuelle differenzierte Übersichtsarbeiten vor (insbesondere BOCK et al. 2003). Abbildung 10.9: Quellenlage zum Tissue-Engineering. Dargestellt sind die Fundstellen mit Schwerpunkt auf dem Tissue-Engineering nach Relevanz (a) und Aktualität (b, Publikationsart kumuliert) 15 B B/C C 10 5 0 0 1995-1999 5 2000-2004 Zeitraum Anzahl (a) Monographie Artikel A/B Anzahl Relevanz A (b) Augenfällig ist das gänzliche Fehlen ‚älterer’ Quellen aus der Zeit zwischen 1995 und 1999. Die Zunahme der Publikationsintensität ab 2000 scheint jedoch nicht nur zufällig oder gar ein methodischer Artefakt der vorliegenden Analyse zu sein. So finden sich im umfangreichen 568 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Publikandum der Arbeit von BOCK et al. (2003) bei insgesamt 134 Referenzen nur 13 aus der Zeit vor 2000, davon drei Arbeiten von vor 1995 (z. B. der Pioniere LANGER, R. & VACANTI, J.P. (1993): Tissue-Engineering. Science 260 (5115), 920-6), die damit außerhalb unseres Recherchezeitraumes liegen. Tissue-Engineering ist also eine noch sehr junge Disziplin, die gerade in der jüngeren Vergangenheit einen Aufschwung durchlebt hat und der für Zukunft große Bedeutung für die biomedizinische Forschung vorhergesagt werden (s. Kap. 7.12.13). Exemplarische Technologievorschau Angesichts des ‚jugendlichen’ Status der Technologie liegen weitaus mehr Fragen als Antworten vor. Drei Themenkomplexe stehen derzeit im Mittelpunkt des Interesses von Forschung und Entwicklung rund um den Differenzierungs- und Wachstumsprozess von einer Vorläuferzelle bis hin zu einem funktionstüchtigen Organ. ¾ Die verschiedenen möglichen Ursprünge der Vorläuferzellen (allogen, xenogen, autolog) bedingen ein jeweils spezifisches Eigenschaftsprofil zwischen Verfügbarkeit, Potenz, Risiken der Krankheitsübertragung und der Abstoßung. Natürlich spielen dabei auch Stammzellen in embryonaler wie adulter Form (letztere z. B. aus Nabelschnurblut, Knochenmark) eine wichtige Rolle, da sie ihre Fähigkeit zur Differenzierung in verschiedene Zelltypen (z. B. Haut, Nerven, Knochen, Knorpel) noch nicht verloren haben. ¾ In vivo entwickeln sich wachsende Zellen gestützt durch die Extrazellulärmatrix (ECM) aus Struktur-Proteinen, Kohlenhydraten und Signalmolekülen. In vitro soll diese Rolle von bioabbaubaren Stützgerüsten (Matrices, Scaffolds z. B. aus Polylactid, Hydroxyapatit, Kollagen) übernommen werden, an die Wachstumsfaktoren mit steuerbarer Freisetzungskinetik gekoppelt sind. Stichworte zu aktuellen Forschungsfragen dabei sind u. a.: Zelladhäsion und –motilität, Hydrogel, Porosität, Gefäßversorgung in vitro (Vaskularisation), Histokompatibilität der Matrix und ihrer Abbauprodukte, mechanische Reize etc. Für die Produktion der maßgeschneiderten Gewebe oder Organe gilt es, Bioreaktoren weiterzuentwickeln bis hin zur Massenproduktion mit Aspekten wie der Qualitätssicherung oder Lagerung der hergestellten Ersatzorgane. Gerade dieser letztgenannte -noch ungelöste- Aspekt gilt als Schlüsselstelle für den breiten Einsatz von Ersatzgeweben oder –organen (s. auch Kap. 7.12.13). BMBF-Medizintechnikstudie 2005 569 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Tabelle 10.8: 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2023 Beispiel einer euphorischen Technologievorschau für Tissue-Engineering (Originalzitat) Chronological table of future technologies Clinical use of cochlear implant for conductive hearing impairment and sensorineural hearing impairment Development of totally implantable artificial heart Development of totally implantable artificial kidney Development of biohybrid endocrine organs (combination of living cells and artificial polymers) Clinical use of tissue-engineered organs (pancreas, kidney, liver) Development of extracorporal liver-support system for long-term use Wide use of long-term organ preservation technology Development of extracorporeal culture technology of small-sized mammalian foetus with artificial kidney Clinical use of totally implantable artificial kidney Development of retinal implant Development of artificial muscle Development of regenerative engineering for organ restoration from differentiated cells Quelle: aus MITAMURA 1999, Table I, S 9 BOCK et al. (2003) erwarten für die nächste Dekade u. a. Durchbrüche beim Einsatz adulter Stammzellen, den Aufbau ‚smarter’ Scaffolds mit inkorporierten Signalmolekülen und die weitgehend vollständige Aufklärung der Zelldifferenzierung. Dennoch seien vollständige künstliche Organe nach Korrektur der anfänglich zu optimistischen Erwartungen erst für das Jahr 2025 zu erwarten. Forecast Große ökonomische Hoffnungen wurden/werden in das Tissue-Engineering gesetzt, getrieben vom erwarteten Bedarf an Organreparatur und -ersatz überalternder Gesellschaften. Diese Erwartung konnten bislang nicht erfüllt werden (HÜSING et al. 2003). Nur wenige Produkte sind überhaupt auf dem Markt (Hautersatz, Knorpel- bzw. Knochenersatz für Wundverschluss z. B. bei Verbrennungen oder Ulcera bzw. für die Therapie bei Gelenkverschleiß). Das Marktpotential dürfte derzeit weltweit bei ca. 60 Mio. € p.a. liegen, davon entfallen etwa zwei Drittel auf die ACT und ein Drittel auf den Bereich Hautregeneration. 570 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Tabelle 10.9: Literaturangaben zu Marktpotentialen des Tissue-Engineering bzw. einzelner Segmente (Technologiebereiche, Produktgruppen) im Vergleich nach verschiedenen Autoren (WW – Weltmarkt); weitere Erläuterungen s. Kap. 10.5.1 Medizintechnik gesamt Technologien Markt Gesamt: Medizintechnik insgesamt Gesamt: Medizintechnik insgesamt WW D Tissue-Engineering Technologie- bzw. Produktbereiche Markt Tissue-Engineering Tissue-Engineering Tissue-Engineering Tissue-Engineering WW WW US US 1.300 232 80.000 200 tissue engineered products tissue engineered products tissue engineered products (skin, cartilage) tissue engineered products (skin, cartilage) WW WW WW EU 3.900 60 40 1 9) Autologe Chondrozyten Transplantation 9) 1) 2) Volumen in Mio. 190.000 US-$ 12.707 € Volumen in Mio. Zeitraum 2003 2002 Zeitraum US-$ US-$ US-$ US-$ 2007 2000 2012 2003 € € € € 2007 p.a. 2001 2001 WW 40 € 2002* skin replacement skin repair tissue engineered skin replacement products WW WW WW 20 € 270 € 800 € 2002* 2007 2001 12) regeneration and repair of tissue and organs WW 25.000 € p.a. 13) human tissue products US 80.000 € k.A. 3) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 8) 10) 11) Quellen: 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9) 10) 11) 12) 13) Varona 2004; IG Metall FB Wirtschaft-Technologie-Umwelt [Hrsg.] 2003; Statistisches Bundesamt ISB 2004; Frost & Sullivan, from GEN 15.09.2001 Mason 2003; Mason 2003; Chamber of Commerce (US) Bock et al. 2003; Business Comunication Comp. BCC 1998 Hüsing et al. 2003; Bock et al. 2003; Lysaght 2002 Bock et al. 2003; *Schätzung der Autoren Bock et al. 2003; Medmarket Diligence 2002 Bock et al. 2003; Russell et al. 2001 Bock et al. 2003; Bassett 2001 Bock et al. 2003; Medtech Insight 2000 Ingesamt weichen die Marktprognosen sehr stark voneinander ab. Auch das ist ein Indiz für das noch frühe Entwicklungsstadium der Technologie: „Today, the tissue-engineering industry is at the same stage that the pioneer car makers were at in 1900, with only a handful tissue-engineered products having achieved FDA approval.” (MASON 2003, S. 2) Die Kosten für einzelne Produkte liegen bei US-$ 700,00 für ein Hauttransplantat (Ø=7 cm, Apligraf, aus: MASON 2003) und z. B. € 2000,00/100 cm2 für den autologen Hautersatz (BioSeedS, aus: HÜSING et al. 2003). Allerdings zeigen erste Arbeiten zur Kosteneffektivität, dass die verfügbaren Haut-Transplantate für die Therapie nach Verbrennung diesbezüglich nicht überzeugen können. Gleiches gilt bei TissueBMBF-Medizintechnikstudie 2005 571 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Engineering-Produkten für den Gefäßersatz, während der Vergleich zwischen konventioneller Therapie und ACT zugunsten der Zelltherapie ausfällt. Verhältnis zu anderen Schlüsseltechnologien Die Nähe zur Biotechnologie ist offenkundig. Erfolge bei der Aufklärung der Zelldifferenzierung werden darüber hinaus von Diagnose-Chips der Zukunft erwartet, mit deren Hilfe z. B. die Signalmoleküle für die Gewebedifferenzierung getestet werden können. Beim Aufbau komplexer Stützgerüste und der Verlaufskontrolle des Wachstums könnten moderne Bildgebungstechniken eine wichtige Rolle spielen. Abbildung 10.10: Verhältnis des Tissue-Engineering zu anderen Disziplinen und Technologien (Originalabbildung) Quelle: aus DECHEMA 2004, S. 20, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors Grundsätzlich zeigt sich auch beim Tissue-Engineering eine starke Vernetzung zu weiteren Schlüsseltechnologien, die eine erfolgreiche Entwicklung mitbestimmen werden. Wildcards Erneut ist auch hier die gegenwärtige Diskussion um die Verwendung von Stammzellen sowie die in den Ländern Europas unterschiedliche gesetzliche Regulierung zu nennen. Ebenso unterscheiden sich die Verfahren zur Kostenerstattung zwischen den Nationalstaaten. Die im Grunde für alle Innovationen wichtige Kostendiskussion hat bei den bisher nur wenigen Produkten in Vergleichsstudien in einigen Fällen zur Abwertung der Behandlung mit Verfahren/Produkten des Tissue-Engineering geführt, die statt einer Reduktion eine Steigerung der Kosten pro qualitätsjustiertem Lebensjahr erbracht haben. Wenn also die Kosten für die Therapie mit innovativen Transplantaten nicht gesenkt werden können, wird es kaum Chancen für die Substitution herkömmlicher Behandlungsregimes geben. 572 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien 10.5.4 Mikrosystemtechnik Angesichts der Fülle von Fachrichtungen innerhalb der Mikrosystemtechnik bleibt als generelle Begriffsbestimmung im Grunde nur der Rückgriff auf die – allen gemeinsame – Größendimension im Mikrometermaßstab. Mikrosystemtechnik bildet daher gewissermaßen eine Art ‚Schmelztiegel’ oder Sammelbecken verschiedenster Verfahren, die den Aufbau immer kleinerer Komponenten und Systeme ermöglichen: „Microsystems are devices that incorporate a combination of microfluidic, micromechanical, microoptical and microelectronic components.” (WILKINSON 2000, S. 18) Insofern ist es nachvollziehbar, dass aus der Sicht der Mikrosystemtechnik die Nanotechnologie eine weitere Stufe auf dem Weg der Miniaturisierung darstellt, die als Hauptgedanke der Mikrosystemtechnik gleichzeitig auch eine der drei Fortschrittsdimensionen der Medizintechnik insgesamt darstellt (s. auch Kap. 7.12.7.1). Die Verfahren zur Herstellung von Mikrosystemen bilden zusammengefasst drei Gruppen: Siliziumtechnik und halbleiterbasierte Mikrostrukturierung, Lithographie und Abformtechniken, miniaturisierte Feinwerktechniken/Mikromechanik (z. B. Laserablation, Funkenerosion) (IKB DEUTSCHE INDUSTRIEBANK AG [Hrsg.] 2000). Sie alle werden in jeweils unterschiedlichen Kombinationen benötigt, um Sensoren oder Aktuatoren als Chips zu fertigen, die überwiegend in der IuK-Hardware auch heute schon ihre Anwendung finden. Oft zitiertes Erfolgsbeispiel einer Alltagsanwendung ist der Druckkopf des Tintenstrahldruckers. Bedeutende medizinische Anwendungsgebiete für Mikrosysteme bzw. MEMS (microelectromechanical systems) sind Drug-Delivery, Biochips, Implantate (z. B. zur Insulintherapie) und Applikationen in der minimal-invasiven Chirurgie. Literaturlage Die Breite des Technologiefeldes einerseits und der hohe Organisationsgrad der Akteure und der Branche in Interessensvertretungen mit reger Publikationstätigkeit auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene andererseits sind wohl ausschlaggebend für die insgesamt dichte Quellenlage. Eine primäre, datenbasierte Technologievorschau58 konnte jedoch nicht ausgemacht werden. Ein Grund dafür könnte darin bestehen, dass viele Mikrosysteme ihre grundsätzliche Machbarkeit bereits in anderen Anwendungsfeldern gezeigt haben, bevor sie in die Medizintechnik integriert werden. Arbeiten mit Schwerpunkt auf die zukünftige Entwicklung sind daher eher ökonomisch als technologisch ausgerichtet. 58 Das European Microsystems Network NEXUS bietet eine kostenpflichtige Technologie-Roadmap an, die jedoch nicht zur Verfügung stand. BMBF-Medizintechnikstudie 2005 573 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Abbildung 10.11: Quellenlage zur Mikrosystemtechnik. Dargestellt sind die Fundstellen mit Schwerpunkt auf der Mikrosystemtechnik nach Relevanz (a) und Aktualität (b, Publikationsart kumuliert) A 15 Monographie Artikel 10 B Anzahl Relevanz A/B B/C 5 C 0 5 10 0 1995-1999 Anzahl (a) 2000-2004 Zeitraum (b) Exemplarische Technologievorschau Mikrosysteme (MEMS) haben ihren Ursprung in der Entwicklung und Fertigung von Integrierten Schaltkreisen und Prozessoren insbesondere für Computersysteme. BOURNE (2001) definiert sie schlicht als „…chip level devices that can sense or manipulate the physical environment.“ (BOURNE 2001, S. 1) Entsprechend werden sie unterteilt in Sensoren zur Messung von z. B. Temperatur, Druck, Kraft, Beschleunigung oder Detektion chemischer Substanzen und Aktuatoren, die u. a. als Ventile, Düsen, Schalter oder Spiegel vorkommen. Dazu wird mit den o. a. Verfahren der Mikrostrukturierung eine 3-dimensionale, mehrschichtige Form mit einer lateralen Auflösung im Mikrometermaßstab in/auf das Substrat gebracht, für das überwiegend Silizium, aber auch Glas, Kunststoff oder Metall verwendet wird. In einem weiteren Prozessschritt können Kanäle und Strukturen z. B. mit Biomolekülen/Reagenzien beschichtet oder gefüllt werden. Der Chip wird verpackt und angeschlossen und stellt z. B. als druckempfindliche Membran das Herz eines entsprechenden Bauteils dar. 574 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien BAAL (2004) unterteilt biomedizinische MEMS nach in vivo oder in vitro Applikation: • • in vitro: Chip-Systeme für Diagnose und Medikamentenentwicklung Lab-on-Chip mit komplexeren Prozessketten; die Flüssigkeit wird z. T. aktiv (Aktuatoren) durch Mikrokanäle geschleust und dabei analysiert oder Mikroarrays (DNA-Chips) mit einer großen Zahl gleichartiger Moleküle im Kammern zur Erkennung bestimmter Sequenzen. in vivo: Elektrostimulatoren wie Schrittmacher oder Defibrillatoren, Neurostimulatoren und Implantate (z. B. Cochlea) sowie Biosensoren -oder künftig- Dosierungssysteme für die Verabreichung von Medikamenten (Drug-Delivery). Die Anwendung implantierbarer Biosensoren steckt noch in den Anfängen, ebenso die Lab-on-Chip Systeme (s. Kap. 10.5.2) und das Drug-Delivery. Gerade den Status des letztgenannten Bereichs kennzeichnet die Einführung des RESPIMAT (BOERINGER INGELHEIM, s.): ein Zerstäuber für die Inhalationstherapie bei Asthma, dessen Herzstück aus einem Mikroaktuator besteht, der die Zusammensetzung des Sprühnebels steuert (s. auch Kap. 9.5.1). Abbildung 10.12: Beispiel einer Prognose zur Markteinführung verschiedener Mikrosysteme (Originaldarstellung) Quelle: aus FELTEN & HUSSLA 2000, S. 8 Charakteristisch und typisch für die Mikrosystemtechnik ist das Denken in ‚Devices’ und weniger in Technologien oder Techniken. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die zugrunde liegenden Technologien oft schon bis zur Massenproduktion entwickelt sind. Die technisch-wissenschaftlichen Grundfragen sind damit eigentlich auf breiter Front beantwortet. Das Schlüsselelement für die Weiterentwicklung der Mikrosystemtechnik wird daher im Technologietransfer auf neue Anwendungsfelder gesehen: „Um allerdings die Möglichkeiten der Mikrosystemtechnik auszuschöpfen, ist es erforderlich, die Umsetzung vorhandenen Wissens in Produkte zu beschleunigen.“ (IKB DEUTSCHE INDUSTRIEBANK AG [Hrsg.] 2000, S. 5) BMBF-Medizintechnikstudie 2005 575 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Entsprechend hält WILKINSON fest: „Surprisingly, manufacturing these tiny devices is not the main problem to be solved before they can be applied in medicine. […] The problems lie more in the challenges associated with designing, packaging and testing new multifunctional microsystems.” (WILKINSON 2000, S. 18) Gerade diesbezüglich unterscheidet sich die Nanotechnologie von der Mikrosystemtechnik, denn im ‚Nanokosmos’ gibt es noch sehr viele elementare Fragestellungen, die in der Zukunft gelöst werden müssen, bevor Prototypen oder sogar Serienprodukte verfügbar sein werden. Dennoch stellt die Mikrosystemtechnik aktuell wohl das (!) Instrumentarium der Miniaturisierung dar, das vermutlich für die nähere Zukunft der Medizintechnik eine herausragende Position einnimmt. Forecast Hauptanwendungsgebiet von Mikrosystemtechnik ist und bleibt die IuK-Branche mit einem besonders starken Wachstum im Bereich mobiler Telekommunikation: ca. 56 % des Gesamtmarktes 2002 liegen im Segment der Informationstechnologie (IKB DEUTSCHE INDUSTRIEBANK AG [Hrsg.] 2000), für 2005 soll der IuK-Anteil auf etwa zwei Drittel des Gesamtmarktes weiter anwachsen. Bereits auf Rang 2 der Marktanteile werden Medizin und Biochemie geführt mit einer überdurchschnittlichen Wachstumsdynamik. Aus den Angaben der vorstehenden Tabelle deutet sich eine systematische Schwierigkeit bei der Abschätzung des ökonomischen Potentials an. Es werden erneut, wie schon zuvor bei der Biotechnologie (s. Tabelle 10.7.) die Volumina für Biochipsysteme angeführt, diesmal jedoch auch unter dem Blickwinkel der Mikrosystemtechnik. Eine Abgrenzung des jeweiligen Wertschöpfungsanteils zwischen den Technologien findet in den zur Verfügung stehenden Quellen nicht statt. Auch innerhalb der Mikrosystemtechnik besteht die Notwendigkeit einer Abgrenzung zwischen der Chipfertigung i. e. S., dem späteren Produkt und ggf. Produkt begleitende Leistungen. Auch dazu fehlen die notwendigen Angaben. Besonders große Zukunftspotentiale werden den Lab-on-Chip Systemen und den Arzneimitteldosiergeräten vorausgesagt, die z. T. als kombinierte Sensor-Aktuator-Implantate, Wirkstoffe wie z. B. Insulin bedarfsgerecht ausschütten können. Aus der Analyse der Forschungsschwerpunkte geht mit Blick auf die Mikrofluidik als einer wichtigen technologischen Basis für die Weiterentwicklung von Lab-on-Chip Systemen hervor, dass gerade hier Deutschland ausgesprochen aussichtsreich aufgestellt ist (Kap. 7.12.7.3). 576 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Tabelle 10.10: Literaturangaben zu Marktpotentialen der Mikrosystemtechnik bzw. einzelner Segmente (Produktgruppen) im Vergleich nach verschiedenen Autoren (WW – Weltmarkt); weitere Erläuterungen s. Kap. 10.5.1 Medizintechnik gesamt Technologien Markt Gesamt: Medizintechnik insgesamt Gesamt: Medizintechnik insgesamt WW D Mikrosystemtechnik Technologie- bzw. Produktbereiche Markt Gesamt: Mikrosystemtechnik Gesamt: Mikrosystemtechnik Gesamt: Mikrosystemtechnik Gesamt: Mikrosystemtechnik WW WW WW WW 35.000 38.500 50.000 13.060 US-$ US-$ US-$ US-$ 2002 2002 2000 1996 MST in Medizin/Biochemie MST in Medizin/Biochemie Mikrosysteme in der Medizintechnik WW WW WW 10.700 US-$ 2.775 US-$ 12.000 € 2002 1996 2002 Medical MEMS: Equipment for patient monitoring Medical MEMS: Equipment for patient monitoring WW WW 143 US-$ 250 US-$ 2005 2000 Medical MEMS: Biochip Medical MEMS: Biochip WW WW 450 US-$ 52 US-$ 2005 2000 Medical MEMS: Devices (e.g. pacemakers, inhalers) Medical MEMS: Devices (e.g. pacemakers, inhalers) WW WW 68 US-$ 18 US-$ 2005 2000 Medical MEMS: Instruments Medical MEMS: Instruments WW WW 70 US-$ 16 US-$ 2005 2000 pacemakers WW 25.000 US-$ 1995 pharmaceutical products that incorporate advanced drug-delivery WW 38.000 US-$ 2002 6) cardiac catheters WW 408 US-$ 1996 6) implantable glucose sensor k.A. 1.300 US-$ k.A. in-vitro diagnostics where enzymatic sensor chips are placed WW 19.000 US-$ p.a. 1) 2) 3) 4) 3) 4) 4) 4) 3) 5) 5) 5) 5) 5) 5) 5) 5) 6) 7) 6) Volumen in Mio. 190.000 US-$ 12.707 € Volumen in Mio. Zeitraum 2003 2002 Zeitraum Quellen: 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) Varona 2004; IG Metall FB Wirtschaft-Technologie-Umwelt [Hrsg.] 2003; Statistisches Bundesamt VDI/VDE-IT & Nord LB 2003; NEXUS REPORT 2002 IKB 2000; NEXUS Bourne 2001; Cahners In-Stat Group Felten & Hussla 2000; Wilkinson 2003a; Wildcards Entsprechend der Eigenart der Mikrosystemtechnik als Instrumentarium der Miniaturisierung (zur Ausbringung) verschiedenster Funktionen, gelten im Grunde jeweils die bereits zuvor für Biotechnologie und Tissue-Engineering angestellten Überlegungen. Hinzu kommen einige besondere Aspekte, die im Zusammenhang mit der Nanotechnologie ausführlicher angesprochen werden sollen. BMBF-Medizintechnikstudie 2005 577 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Verhältnis zu anderen Schlüsseltechnologien Ihre Anwendungsbreite verschafft der Mikrosystemtechnik Berührungspunkte zu im Grunde allen anderen Schlüsseltechnologien, besonders ausgeprägt für die Zukunft werden es voraussichtlich die Biotechnologie und die Nanotechnologie sein. Letztere steht nur zu einem gewissen Teil in der Folge einer weiteren Miniaturisierung. Self-assembling beispielsweise stellt eine neuartige Herangehensweise (Bottom-up) dar, die der Nanotechnologie eine gewisse Eigenständigkeit verleiht. 10.5.5 Nanotechnologie Mit dem technologischen Vorstoß in die Größendimension von 10-9 (‚nano~’) verbinden sich nicht nur angesichts der weiteren Miniaturisierung, sondern auch der bislang unbekannten Effekte und Phänomene große und sehr vielfältige Erwartungen. Die Ansätze zur Definition der Nanotechnologie sind beinahe ebenso vielfältig. Gemeinsam ist zumeist die grundlegende Beschränkung auf die Größe unter 100 nm und damit auf die ‚Nanoskaligkeit’ im engeren Sinne. Auf dieser noch sehr ‚weitgefassten’ Basis werden weitere Spezifikationen und Eingrenzungen je nach Perspektive der Autoren vorgenommen: WEVERS & WECHSLER (2002) beispielsweise fordern u. a. Nanoskaligkeit in mindestens zwei Dimensionen sowie die Verknüpfung von Größe und Funktionalität. Ausgedehnt auf den Begriff ‚Nanotechnologie’ lässt sich verallgemeinernd demzufolge formulieren: „Gegenstand der Nanotechnologie ist die Erforschung, Herstellung und Anwendung von Systemen, deren funktionale Einheiten Ausdehnungen unter 100 nm aufweisen“ (FARKAS et al. 2003), oder mit den Initiatoren des NanoMED Workshops 2002 (Berlin) auch „Funktion, Eigenschaft oder Anwendung sind kausal auf die Nanoskaligkeit zurückzuführen“. Die genannten Definitionen sind bezüglich der ausgesprochen zahlreichen Anwendungsbereiche der Nanotechnologie noch offen. Die jeweilige Ausrichtung gibt sich dann in Bezeichnungen wie z. B. ‚Nanooptik’, ‚Nanoelektronik’ oder ‚Nanobiotechnologie’ zu erkennen. Unter dem letztgenannten Begriff wird nicht die Schnittmenge zwischen Biotechnologie, sondern - umfassender - zwischen Biologie und Nanotechnologie verstanden (WAGNER & WECHSLER 2004), ein Feld, das damit auch medizintechnische Applikationen umschließt. Die erwartete enorme Anwendungsvielfalt der Nanotechnologie spiegelt sich in der Deutschen Zukunftsoffensive für Nanotechnologie (BMBF 2004) wider, die über vier Leitinnovationen das Potential technologisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich strategisch erschließen will: ‚NanoFAB’, ‚NanoLux’, ‚NanoMobil’ und ‚NanoforLife’. Eine vergleichbare Schwerpunktsetzung wurde bereits im Jahr 2000 in den USA mit der Gründung der NNI (National Nanotechnology Initiative) vollzogen. Auch Japan setzt auf dieses Technologiefeld. Dies zeigen die Budgets der entsprechenden Förderung für 2004: ca. 850 Mio. € in den USA, 800 Mio. € in Japan und 290 Mio. € in Deutschland. 578 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Literaturlage Die Nanotechnologie ist aktuell wie kaum eine andere Schlüsseltechnologie in der Diskussion, national wie international. Die stattfindende Ausrichtung führender Technologienationen hat neben dem ‚Hype’ dazu geführt, dass ein ausgesprochen umfangreiches Schrifttum vorliegt. Aus Sicht der gegebenen Fragestellung zum Potential der Nanotechnologie für die Medizintechnik ist festzustellen, dass zahlreiche Fundstellen als ebenso aktuell wie hoch relevant einzustufen sind. Bemerkenswert ist der große Anteil an deutschen Arbeiten, die auch auf die Impulse des BMBF zurückgehen, zuletzt mit der Vergabe einer mehrteiligen Innovations- und Technikanalyse explizit zum Themenfeld Gesundheit. Abbildung 10.13: Quellenlage zur Nanotechnologie. Dargestellt sind die Fundstellen mit ausdrücklichem Schwerpunkt auf der Nanotechnologie nach Relevanz (a) und Aktualität (b, Publikationsart kumuliert) 20 A Monographie Artikel 15 B Anzahl Relevanz A/B B/C 10 5 C 0 5 0 10 1995-1999 Anzahl (a) 2000-2004 Zeitraum (b) Sie umfasst unter dem Titel „Nanotechnologie pro Gesundheit“ (FARKAS et al. 2003) neben den Analysen von Patenten, Literatur, internationalen Perspektiven und gesundheitsökonomischen Modellen eine Delphi-gestützte Technologievorschau. WAGNER & WECHSLER (2004) sowie WEVERS & WECHSLER (2002) geben einen aktuellen, umfassenden und detaillierten Einblick in die Nanobiotechnologie und die derzeit in der Entwicklung befindlichen Anwendungen in Medizin und Pharmazie. Die Arbeiten von ROCO (2003) sowie der Greenpeace–Report (ARNALL 2003) konzentrieren sich insbesondere auf den internationalen Blickwinkel. Trotz der vorrangig technologischen Ausrichtung der meisten Publikationen finden sich immer wieder Abschnitte zur Verantwortbarkeit zukünftiger Innovationen wie z. B. im Abschlussbericht des Büro für Technikfolgenabschätzung (TAB, PASCHEN et al. 2004). Der Innovationsschub aus dem Nanokosmos (Bachmann 1998) ist mit Blick auf die Medizin(-technik) daher auch ein Aspekt für die bioethische Diskussion. Exemplarische Technologievorschau Über Self-assembling und Selbstorganisation oder technische Manipulation z. B. mit Rasterkraftmikroskopen lassen sich nanoskalige Strukturen aufbauen, die dann als funktionalisierte BMBF-Medizintechnikstudie 2005 579 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Oberflächen, Partikel oder komplexe Nanosysteme ihre jeweilige Funktion übernehmen. Für die Medizintechnik sind damit folgende Anwendungsfelder von besonderer Bedeutung: • • • Diagnostik, Analytik Wirkstoffauslieferung biofunktionale Oberflächen und Trägerstrukturen Analytischen wie diagnostischen Ansätzen ist die mit der Nanoskaligkeit verknüpften Erhöhung von Sensitivität und Selektivität gemeinsam. Einzelne Moleküle können mit der Rasterkraftmikroskopie (AFM, Atomic Force Microscopy) dargestellt und manipuliert werden. Optische Pinzetten halten Zellfragmente im Laserstrahl fest oder lösen sie aus übergeordneten Strukturen (DNA aus Chromatin-Komplexen, WAGNER & WECHSLER 2004). Mithilfe fluoreszierender Nanopartikel (Quantum-Dots), die nach Bindung an die Zielmoleküle per Laser angeregt werden, können Struktur und Funktion auf Einzelmolekülebene aufgeklärt werden: „Quantum dots can be tracked very precisely when molecules are ‘bar coded’ by their unique light spectrum.” (ARNALL 2003[416], S. 28) Für die Diagnostik stehen die Chip basierten Systeme (s. Kap. 10.5.4) im Mittelpunkt. Mithilfe der Nanotechnologie soll zukünftig die Spotdichte noch einmal deutlich vergrößert werden, Substanzgemische werden bei Lab-on-Chip Systemen z. B. über Nanoporen oder –siebe aufgetrennt. Innovative Sensoren (z. B. Cantilever) ermöglichen den Nachweis einzelner Nukleotide als Basis für neue DNA-Chips. Im Bereich der in vivo Diagnostik bilden nanobasierte Kontrastmittel einen Schwerpunkt im Rahmen der molekularen Bildgebung. Die Partikel binden spezifisch an Strukturen erkrankter Gewebe, sammeln sich dort an und lassen sich mit ihrer optischen Komponente beispielsweise durch einen MRT darstellen. Erste Produkte dieser Art sind bereits auf dem Markt, die allgemeine Verbreitung erwarten die befragten Experten bereits für den Zeitraum von 2005-2010 (FARKAS et al. 2003, S. 81). Im darauf folgenden 5-Jahres Zeitraum wird - so die Experten Einschätzung - die intelligente Wirkstofffreisetzung ihren Durchbruch hin zur breiten Anwendung erleben (FARKAS et al. 2003, S. 82). „Nanopartikel lassen sich nicht nur zum Transport und Schutz biologischer Wirkstoffe einsetzen, sondern sind auch geeignet, solche Wirkstoffe über Zeiträume bis zu mehreren Monaten dosiert freizusetzen.“ (PASCHEN et al. 2004[719], 303). Insbesondere für Tumortherapie und die Infektionsabwehr werden mit verschiedenen Ansätzen Wirkstoffe verkapselt (z. B. liposomal) oder in nanoporige Hüllen einbracht und z. B. über die Einwirkung fokussierter Magnetfelder am Wirkort freigesetzt. Auf dem Feld des Drug-Delivery ist Deutschland durchaus aussichtsreich positioniert, was sich z. B. auch am Publikationsanteil ablesen lässt (WAGNER & WECHSLER 2004, S 38). Damit bieten sich Entwicklungschancen für Deutschland trotz der allgemeinen Technologieführerschaft der USA auf dem Gebiet der Nanotechnologie insgesamt an. Diese Ansicht wird auch durch die im Rahmen dieser Studie erfassten Expertenmeinungen, die im Rahmen der Workshops gesammelt wurde, ausdrücklich unterstützt (s. Kap. 7.5.3.7) 580 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Wirkstofffreisetzung spielt auch für nanotechnologisch gestaltete Oberflächen eine Rolle, z. B. in der Beschichtung von Stents (Gefäßstützen) zur Vermeidung der Restenose der Gefäße (s. dazu Kap. 10.5.7). Darüber hinaus werden nanostrukturierte Beschichtung von Gelenk-Implantaten nicht nur deren Standzeiten und Verschleißfestigkeit erhöhen, sondern auch das Einwachsen in das Knochengewebe steuern. Die Steuerung des Zell- und Gewebewachstum bildet auch den Anknüpfungspunkt für das Tissue-Engineering (s. Kap. 10.5.3) mit dem Aufbau entsprechend modifizierter, nanostrukturierter Matrices (Scaffold). Neben den dargestellten Hauptanwendungsgebieten der Nanotechnologie in der Medizin und Medizintechnik gibt es noch viele weitere Applikationen und Visionen, die angesichts der gebotenen Kürze hier stichwortartig und in Auszügen erwähnt werden sollen: Nanosensoren für intelligente Pflaster, implantierbare Sonden, neurologische Prothesen oder Systeme zur Übertragung von Nervenimpulsen etc. Auch diese Aufzählung zeigt die hohe Relevanz der Nanotechnologie für die Medizin. Abbildung 10.14: Entwicklungschancen durch die Umsetzung der Nanotechnologie in der Medizin. Einschätzung der Experten in der 1. und 2. Hauptrunde der DelphiBefragung 2003. Gesellschaft 100% 1. Runde 50% Gesundheitsversorgung 0% 2.Runde Wissenschaft Wirtschaft Quelle: Originalabbildung aus FARKAS et al. (2003), S. 75 In der Einschätzung der Bedeutung der Nanotechnologie herrscht ebenfalls Einigkeit darüber, dass diese Schlüsseltechnologie ihr Potential erst in der Zukunft entfalten wird. Viele Fragen für die geschilderten Anwendungsmöglichkeiten sind noch offen, die Nanotechnologie ist gerade auch mit Blick auf die Medizintechnik noch ein junges Feld, das jedoch „…revolutionäre Entwicklungen in der Diagnose und Therapie von Krankheiten…“ (WAGNER & WECHSLER 2004, S 167) erwarten lässt. Deutsche Stärken lassen sich in den drei o. a. Schwerpunktfeldern ausmachen, wobei der Innovationsschub für nanotechnologische Anwendungen für die Dekade von 2005-2015 prognostiziert wird (FARKAS et al. 2003). BMBF-Medizintechnikstudie 2005 581 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Die Nanotechnologie ist mehr als die bloße Verkleinerung in Fortsetzung der Mikrosystemtechnik. Dies zeigt auch die folgende Gegenüberstellung technologischer Zukunftstrends, der mit dem Vorstoß in den Nanokosmos einhergehen könnte. Tabelle 10.11: Entwicklung von Technologietrends im Übergang zur Nanotechnologie (zitiert aus: NEXUS 2002 from micro to nano device system information intelligence manual unmanned dependece autonomy processing systhesising adapting tailoring line assembly self assembly Quelle: NEXUS 2002, S.159 Forecast Der Zukunftsbezug der Nanotechnologie stellt für die Vorhersage des ökonomischen Potentials eine gewisse Schwierigkeit dar. Es liegen derzeit kaum Erfahrungswerte für den Markterfolg einzelner Anwendungen vor, so dass viele Schätzungen einen sehr prognostischen Charakter aufweisen. Die Autoren der vom BMBF beauftragten Studie zum wirtschaftlichen Potential der Nanotechnologie stellen eine relativ inhomogene Datenbasis fest, die eine Gesamtmarktbetrachtung kaum ermöglicht. Unterschiedliche Abgrenzungen und Bezugsgrößen sind damit wohl ein Grund für die stark schwankenden Angaben. Ein Weiterer besteht in der Tatsache, dass nanotechnologische Produkte durchweg nicht eigenständig vermarktet werden, sondern vielmehr in Systeme integriert sind, aus denen der unmittelbare Wertschöpfungsanteil der Technologie selbst nicht mehr ohne Weiteres abgeleitet werden kann. Andersherum betrachtet sprechen HÜSING et al. (2002, S 88) von der Nanotechnologie als Hebel für die Erschließung z. B. des sehr großen pharmazeutischen Marktes, der zu einem großen Teil durch Drug-Delivery oder Drug Design aufgewertet werden wird. Weniger die aktuellen Marktvolumina, sondern vielmehr die z. T. enormen Wachstumsraten kennzeichnen diese Schlüsseltechnologie auch im Bezug zur Medizintechnik, die - wenn die Prognosen Recht behalten - in Zukunft erheblich von der Umsetzung nanotechnologischer Erkenntnisse und Verfahren profitieren wird. 582 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Tabelle 10.12: 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 7) 8) 7) 7) Literaturangaben zu Marktpotentialen der Nanotechnologie bzw. einzelner Segmente (Produktgruppen) im Vergleich nach verschiedenen Autoren (WW – Weltmarkt); weitere Erläuterungen s. Kap. 10.5.1 Medizintechnik gesamt Technologien Markt Gesamt: Medizintechnik insgesamt Gesamt: Medizintechnik insgesamt WW D Nanotechnologie Technologie- bzw. Produktbereiche Markt Gesamt: Nanotechnologie Gesamt: Nanotechnologie Gesamt: Nanotechnologie Gesamt: Nanotechnologie WW WW WW WW Biophysikalische Analytik Biophysikalische Analytik Volumen in Mio. 190.000 US-$ 12.707 € Volumen in Mio. 1.000.000 1.000.000 50.000 53.690 Zeitraum 2003 2002 Zeitraum US-$ € € € 2015 2010 2001 2001 WW WW 745 US-$ 181 US-$ 2007 2002 nanoskalige Drug-Delivery-Systeme NT: Wirkstoffe und Drug-Delivery NT: Wirkstoffe und Drug-Delivery WW WW WW 50 US-$ 33 US-$ 8 US-$ 2007 2007 2002 Nanobasierte Diagnostik und Analytik Nanobasierte Diagnostik und Analytik Gesamtmarkt Biochips/Schnelltest Protein Chip DNA-Chip WW WW WW WW WW NT: Tissue-Engineering NT: Tissue-Engineering US-$ US-$ US-$ US-$ US-$ 2007 2002 2010 2006 2006 WW WW 2 US-$ 0 US-$ 2007 2002 Nanopartikel in Sonnenschutzmittel Ag-Nanopartikel in Antimikrobika WW WW 87 US-$ 1 US-$ 2005 2005 13) Geräte zur Erzeugung lateraler Nanostrukturen in Belichtungsmaschinen WW 1.500,0 € 2002 13) Herstellung von Rastersonden f. die Nanoanalytik WW 3.000 € 2002 7) 7) 9) 10) 10) 7) 7) 11) 12) 5) 13) 391 80 2.000 400,0 1.900 Membranen WW 20.000 US-$ 2020 Aufbau von Keramiken, Farben, Kosmetika usw. WW 12.000 € 2002 Quellen: 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9) 10) 11) 12) 13) Varona 2004; IG Metall FB Wirtschaft-Technologie-Umwelt [Hrsg.] 2003; Statistisches Bundesamt Lux Capital (Hrsg.] 2003; National Science Foundation (NSF) BMBF 2004; Deutsche Bank 2004, Microtechnology Innovation Team Hüsing et al. 2002; Bachmann 2000 Malanowski 2001; Bachmann 1998 Luther & Malanowski 2004; BCC 2002 Wagner & Wechsler 2004; nach BCC 2003 Luther & Malanowski 2004; VDI-Nachrichten Luther & Malanowski 2004; Fecht et al. 2003 Luther & Malanowski 2004; BCC 2001 Luther & Malanowski 2004; BCC 2003 Hüsing et al. 2002; BMBF-Medizintechnikstudie 2005 583 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Wildcards Die Nanotechnologie ist gegenwärtig auch von futuristischen Erwartungen geprägt, die als Nährboden auch utopische Visionen hervorgebracht haben, so z. B. die Vorstellung selbstreplizierender Nano-Roboter, die unsere Immunabwehr beim Kampf gegen Infektionen unterstützen. So unwahrscheinlich diese Phantasien auch sein mögen, es ist ihnen dennoch durchaus möglich, die öffentliche Wahrnehmung und die Akzeptanz der Technologie zu beeinflussen und ihren Fortschritt zu bremsen. FARKAS et al. (2003) stellen zudem fest, dass auch für die nanotechnologischen Innovationen in der Medizin die gleichen ethisch-sozialen Fragestellungen aufgeworfen werden wie für die Hochleistungsmedizin insgesamt. Eine gewisse Besonderheit stellt auch die Frage nach dem Verbleib ultrafeiner Nanopartikel nach ihrem ‚medizinischen Einsatz’ sowie die Gefahren aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen durch Nanopartikel dar, die z. B. bei industrieller Produktion entstehen können und freigesetzt werden. Auch dieses Risiko fehlender Konzepte zur Nachhaltigkeit ist zu berücksichtigen. Die gegenwärtig noch frühe Phase der Technologieentwicklung schafft jedoch Spielräume und Potentiale zur Gestaltung der Nachhaltigkeit, die es zu erschließen gilt (STEINFELDT 2004). Verhältnis zu anderen Schlüsseltechnologien Schon in der vorangegangenen exemplarischen Technologievorschau wurden die engen Verknüpfungen zur Zukunft anderer Schlüsseltechnologien deutlich. Die Forschung, Entwicklung und Produktion im Nanometerbereich hebt im Grunde die althergebrachten Disziplingrenzen auf, denn es geht unabhängig von der Herkunft des Betrachters aus Physik, Chemie, Biologie, Ingenieurwissenschaften oder Medizin um Phänomene auf molekularer Ebene. Kaum eine Technologie ist daher so von einem interdisziplinären Ansatz geprägt und zukünftig davon abhängig wie die Nanotechnologie. ROCO titelt „Nanotechnology: convergence with modern biology and medicine“ (2003) und das US-amerikanische National Institute of Health (NIH 2003) formuliert in seiner Roadmap für das 21. Jahrhundert: “The scale and complexity of today’s biomedical research problems increasingly demands that scientists move beyond the confines of their own discipline and explore new organizational models for team science”. (NIH 2003[720]) 10.5.6 Optische Technologien Es handelt sich um ein sehr weit gefasstes Technologiefeld mit ausgesprochen zahlreichen Facetten und Anwendungsfeldern, wie es auch die folgende Definition zum Ausdruck bringt: „Die Optischen Technologien umfassen die Gesamtheit physikalischer, chemischer und biologischer Naturgesetze und Technologien zur Erzeugung, Verstärkung, Formung, Übertragung, Messung und Nutzbarmachung von Licht.“ (SIEGEL & LITFIN 2000[509], S. IX) Oberflächen- und Materialbearbeitung, Mess- und Fertigungstechnik gehören ebenso zum Anwendungsspektrum der optischen Technologien wie Datenübertragungs- und Speicherungsverfahren, Solartechnik und schließlich auch die Medizin(-technik). 584 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Gerade dieser letztgenannte, hier im Mittelpunkt stehende Anwendungsbereich, hat im Grunde erst mit der Einführung der Lasertechnologie (als Teil der optischen Technologien insgesamt) erheblich an Dynamik gewonnen (SIEGEL & LITFIN 2000). Daher stehen die Anwendungen von Laserstrahlung für medizinische Zwecke im Vordergrund der nachfolgenden Ausführungen (s. auch Kap. 7.12.9 und Kap. 7.12.10.1). Das gebündelte, kohärente Licht eines Lasers kann dabei im Grunde folgende Wirkungen im bestrahlten Material auslösen: Photochemische, photothermische sowie ionisierende Effekte. So können beispielsweise Farbstoffe als physiologische Gewebemarker zur Fluoreszenz angeregt werden, oder Zellen absorbieren die Lichtenergie und erwärmen sich (ggf. bis zur Zerstörung) oder aber extrem kurze Lichtpulse (Ultra-Kurzpulslaser im Femtosekundenbereich) tragen Hartsubstanz z. B. von Knochen ohne nennenswerte Erwärmung ‚kalt’ ab. Literaturlage Insgesamt konnten nur acht Quellen identifiziert werden, die sich mit dem Zukunftspotential des Lasers (als Kernbereich optischer Technologien) für die Medizintechnik befassen und insofern als primär für das Technologiefeld einzustufen waren. Abbildung 10.15: Quellenlage zu Lasertechnologie/ Optische Technologien. Dargestellt sind die Fundstellen mit Schwerpunkt auf den Optischen Technologien nach Relevanz (a) und Aktualität (b, Publikationsart kumuliert) 15 A Monographie Artikel 10 B Anzahl Relevanz A/B B/C 5 C 0 5 0 10 1995-1999 Anzahl (a) 2000-2004 Zeitraum (b) Trotz der geringen Zahl an Fundstellen rechtfertigen die hohe Aktualität (alle datieren aus dem Jahr 2000 oder jünger, s. Abbildung 10.15 b), der durchweg gegebene Übersichtscharakter der Arbeiten sowie das Vorhandensein zweier Quellen mit hoher Relevanz (‚A/B’) für die Fragestellung die vorgelegte weitergehende Aufbereitung als ‚Dossier’. Zudem stellt die „Deutsche Agenda Optische Technologien für das 21. Jahrhundert“ (SIEGEL & LITFIN 2000, im Auftrag des BMBF) insofern eine Besonderheit dar, als hier ein industriegeführter Strategieprozess initiiert wurde. Aus der Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Wissenschaft wurden gemeinsame Zielvorstellungen und Handlungsempfehlungen für die Optischen Technologien insgesamt abgeleitet, darunter auch das Anwendungsgebiet Medizin/Biowissenschaften. Sichtbare Umsetzungen sind u. a. die gegründeten Kompetenznetze BMBF-Medizintechnikstudie 2005 585 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien sowie das Förderprogramm ‚Optische Technologien’ mit einem geplanten Ausgabenvolumen von knapp 280 Mio. € in der Zeit von 2002-2006 (BMBF 2002b, S. 40). Die Struktur des Förderprogramms zeigt erneut die bereits o. a. Vielfalt der Anwendungsgebiete, von denen die Medizintechnik ‚nur’ eines ist. Exemplarische Technologievorschau Der Einsatz moderner Laserverfahren hat unseren Alltag z. B. in Gestalt von PC oder DVD-Player längst erreicht. Auch in einigen klinischen Fachbereichen hat sich der Laser insbesondere in Form von Nd:YAG-, CO2-, Argon- oder Excimer-Lasern als Instrument etabliert (s. HÜSING et al. 2002, S. 227): • • • • • Ophthalmologie: Photodynamische Therapie (PDT) bei Altersbedingter Makuladegeneration (AMD), RefraktärChirurgie (LASIK, PRK), Glaukombehandlung Dermatologie inkl. kosmetischer Behandlungen mit sog. ‚Softlasern’ Haarentfernung, Narben- und Hautfleckenentfernung, Faltenglättung Chirurgie, insbesondere Endoskopie, Tumorresektion, Gewebeablation Diagnostik/Analytik: Ultra-Hochdurchsatzverfahren, Chip-Diagnostik, Gewebe-Detektion, Bildgebung Zahnmedizin Abtragung von Hartsubstanz, Kariesdetektion Eine große Zukunft wird der lasergestützten Diagnostik und Analytik vorausgesagt (KRÜGER 2003, STREHLE & POPP 2004, SIEGEL & LITFIN 2000). Dabei wird die Zielstruktur (Gewebe, Zelle, Protein, DNA) mit einem optischen Marker (Label) verknüpft, der in Abhängigkeit des physiologischen Status fluoresziert. Die Darstellung und Auswertung der Fluoreszenz geschieht dann zumeist über die konfokale Lasermikroskopie, die z. B. bei der Medikamentenentwicklung große Bedeutung erlangt hat. Ein weiteres Verfahren ist die optische Kohärenztomographie in vivo; beide Verfahren werden in der Zukunft auch in Form von endoskopischen Instrumenten verfügbar sein. Mithilfe von Fluoreszenzmarkern an geeigneten Liganden und der Detektionstechnik lassen sich so z. B. Darmkarzinome in einem sehr frühen Stadium identifizieren, lokalisieren und photodynamisch zerstören. Dazu könnten Partikel mit Farbstoffen versehen werden, die bei lichtinduzierter Anregung nach Bindung an die Krebszellen zytostatische Substanzen freisetzen (STREHLE & POPP 2004). Diese Photodynamische Therapie wird in analoger Weise auch bei der Behandlung der AMD eingesetzt (z. B. mit VERTEPORFIN als Photosensitizer) und gilt als ein Erfolgsbeispiel für den Lasereinsatz in der Medizin. Neben der Zukunft des Lasers als ergänzende Modalität in der funktionalen Bildgebung und Navigation basieren zahlreiche medizinische Anwendungen auf dem Laserschneiden, dem Koagulieren oder dem Carbonisieren von biologischem Material, das oft mit größerer Präzision und geringerer Invasivität als bei herkömmlichen Verfahren möglich ist. So wird bei der laser-in-situ-keratomileusis (LASIK) die Fehlsichtigkeit des Patienten korrigiert, indem mit einem Excimer-Laser im Inneren der Hornhaut Gewebe abgetragen (verdampft) wird, was die Brechkraft in der gewünschten Weise modifiziert. 586 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Bei den Apparaturen z. B. für die Refraktärchirurgie oder auch die lasergestützte Turmorresektion in Darm oder Lunge wird deutlich, dass der eigentliche Laser (Strahlquelle) in ein System aus Strahlführung und optischem Endgerät (z. B. Handstück) eingebettet ist, um das Licht in geeigneter Form sicher zum Zielgewebe zu bringen. Die technologischen Herausforderungen gerade für medizinische Anwendungen liegen nicht zuletzt auch in der Entwicklung miniaturisierter Endgeräte und Optiken, während die Innovationen bei Strahlenquellen selbst eher durch die Anforderungen aus der Halbleitertechnik getrieben werden (z. B. Extreme UV-Lithographie, BMBF 2002b, S. 14). Mit der Lithographie wird bereits das Potential des Lasers zur Materialbearbeitung angedeutet, das sich sowohl auf die Mikro- wie auch auf die Makrotechnik erstreckt. Schweißen, Fräsen oder Schneiden mithilfe von Laserstrahlung wird auch bei der Fertigung z. B. von Nitinol-Stents eingesetzt oder etwa – in Form des selective laser meltings (SLM) – beim Aufbau von Scaffolds mit komplexer dreidimensionaler Geometrie. Insofern sind optische Verfahren im Sinne von Fertigungstechniken auch mittelbar für die Medizintechnik von Bedeutung. Forecast „Deutschland ist in ausgewählten Bereichen der Optischen Technologien bereits an der Weltspitze. […] Herausragendes Beispiel ist dabei die Materialbearbeitung mit Lasern. Die deutsche Laserindustrie erreichet hier bei den Laserquellen einen Weltmarktanteil von etwa 38 %.“ (BMBF 2002b[646], S. 10) Der Weltmarkt für Lasersysteme wird auf ca. 61 Mrd. € (für 2002) beziffert. Davon entfallen je nach Quelle und Bezugsjahr zwischen 1,5 und 2,3 Mrd. € auf das Anwendungsfeld Medizin (s. Tabelle 10.13), also umgerechnet etwa 2,5-3,8 %. Die deutsche Spitzenstellung bezieht sich zwar auf nicht-medizintechnische Industriesparten, sie könnte jedoch ein Fundament darstellen, auf dem auch die Lasermedizin im internationalen Vergleich Boden gut machen kann. Mit der CARL-ZEISS-MEDITEC AG, Jena, zählt auch ein deutsches Unternehmen zur Spitzengruppe der globalen Anbieter medizinischer (vor allem ophthalmologischer) Lasersysteme. International sind derzeit die USA (ca. 62 %) mit deutlichem Abstand vor Europa (23 %) und Asien (15 %) der größte Markt für medizinische Laser (HÜSING et al. 2002, S. 234, nach WHEELER 2002). BMBF-Medizintechnikstudie 2005 587 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Tabelle 10.13: 1) 2) Literaturangaben zu Marktpotentialen Optischer Technologien/Lasertechnologie bzw. einzelner Segmente (Technologiebereiche, Produktgruppen) im Vergleich nach verschiedenen Autoren (WW – Weltmarkt); weitere Erläuterungen s. Kap. 10.5.1 Medizintechnik gesamt Technologien Markt Gesamt: Medizintechnik insgesamt Gesamt: Medizintechnik insgesamt WW D Optische Technologien Technologie- bzw. Produktbereiche Markt Optische Technologien insgesamt Lasersysteme insgesamt Lasersysteme für die Informationstechnologie Lasersysteme für die Medizin Lasermedizin insgesamt WW WW WW WW WW Medizinlaser Medizinlaser Medizinlaser Volumen in Mio. 190.000 US-$ 12.707 € Volumen 2003 2002 Zeitraum US-$ € € € € 1998 2002 2002 2002 2001 WW WW WW 500 US-$ 460 US-$ 280 US-$ 2000 1999 1996 Refractive lasers Refractive lasers Ophthalmologische Laser WW WW WW 870 US-$ 350 US-$ 644 € 2006 2001 2001 Aesthetic laser surgery Aesthetic laser surgery Faltenentfernung, Abtragen von Hautmalen, Narben etc. Hair removal (Epilation) WW WW WW 1.046 US-$ 520 US-$ 84 € 2006 2001 2001 WW 1.300 US-$ 2001 13) Biophotonic fluoreszence technology (Diagnostics) WW 2.500 US-$ k.A 14) Chirurgie-Laser WW 950 € 2001 Dentallaser WW 25 € 2001 3) 4) 4) 5) 6) 7) 8) 8) 9) 9) 6) 10) 10) 11) 12) 6) 55.000 61.200 41.000 1.500 2.300 in Mio. Zeitraum Quellen: 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9) 10) 11) 12) 13) 14) Varona 2004; IG Metall FB Wirtschaft-Technologie-Umwelt [Hrsg.] 2003; Statistisches Bundesamt BMBF 2002b; Arizona Optics 1999 Kayenburg 2004; Kayenburg 2004; (extrapoliert aus Grafik) Hüsing et al. 2002; Wheeler 2002 VDI/VDE-IT & Nord LB 2003; Laser Focus World VDI/VDE-IT & Nord LB 2003; Smith 2002; WaveLight HSBC Report 2001 Smith 2002; HBSC Trinkhaus & Burkhardt Hüsing et al. 2002; Asclepion 2000 Smith 2002; Palmor Medical Technologies Smith 2002; Mediscience Technology Corporation Hüsing et al. 2002; Lewotzky 2001 Anwendungen Optischer Technologien in der Augenheilkunde besitzen die wirtschaftlich größte Bedeutung innerhalb der Lasermedizin. Eine wesentliche Rolle spielen dabei die Verfahren zur Korrektur der Fehlsichtigkeit (LASIK, PRK), für die sich zwar in den USA eine gewisse Sättigung abzeichnet; in Europa jedoch rechnen die Experten aufgrund der bislang noch geringeren Marktdurchdringung mit deutlichen Wachstumsraten (HÜSING et al. 2002). So waren es im Jahr 588 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien 2000 in den USA ca. 600 Visuskorrekturen mit Lasereinsatz, in Spanien knapp über 200 und in Deutschland weniger als 50 jeweils pro 100.000 Einwohner. (SMITH 2002, S. 104) Die Wachstumsprognose für derartige Eingriffe ist u. a. deshalb besonders interessant, weil die Kosten (z. B. LASIK ca. 1.900 € - 2.200 € pro Auge) für die genannten Verfahren i. d. R. nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Eine ähnlich große wirtschaftliche Bedeutung kommt den kosmetischen (ästhetischen) Laserbehandlungen zu: Faltenglättung, Entfernung von Haaren oder Tätowierungen zählen u. a. zu dem Feld, in dem üblicherweise relativ leistungsschwache Laser (‚Softlaser’) einsetzt werden. Größere Bedeutung als den therapeutischen Anwendungen kommt wohl der Diagnostik bzw. Analytik mit biophotonischen Methoden zu. Dies korrespondiert auch mit der Prognose für die chipbasierten Analysesysteme der Zukunft (s. Kap. 10.5.4), für deren Entwicklung Laser- und Nanotechnologie mit der Mikrosystemtechnik gemeinsam wesentliche Impulse liefern können. Der ökonomische Stellenwert der Dentallaser mit ca. 25 Mio. € (weltweit für 2001) ist demgegenüber noch vergleichsweise gering. Am Beispiel des ‚Laser-Bohrers’ zeigen HÜSING et al. (2002), wie die in diesem Fall geringe Technikakzeptanz der Zahnärzte in ihrer GatekeeperFunktion (s. Kap. 9.4.7) den Einzug einer Technologie in die Versorgung verlangsamt, obschon: „…56 von 100 Patienten würden sogar einen Aufpreis bezahlen, wenn statt des Bohrers ein Laser eingesetzt würde“ (HÜSING et al. 2002, S. 255, nach einer Arbeit von WIGDOR 1997). Wildcards Hohe Investitionskosten bei hoher Innovationsrate, die Größe der Geräte, notwenige Fachkenntnis für den Umgang sowie Unfallverhütungs- und Sicherheitsvorschriften mit entsprechenden Auflagen stehen einem breiten Einsatz der Laserverfahren entgegen, insbesondere unter dem aktuellen Zwang der Kostendämpfung. Grundsätzlich gelten diese Hemmnisse z. B. auch für viele bildgebende Verfahren, wobei jedoch hier die Anwendungen in aller Regel in die Erstattung durch die Kostenträger aufgenommen werden. Dies gilt für zahlreiche Laseranwendungen nicht, auch zuletzt aufgrund des oft fehlenden Wirksamkeitsnachweis (HÜSING et al. 2002, S. 274ff). In einigen Fällen (z. B. bei Rekanalisation peripherer Arterien) ist vielmehr der Nachweis geführt worden, dass keine positive Evidenz vorliegt. Geringe Evidenz bedeutet aber auch geringes Substitutionspotential, d. h. die nur schwachen Vorzüge der Laseranwendungen reichen nicht aus, um die etablierten Verfahren abzulösen. Erfolgreich eingeführt wurden medizinische Laser vielmehr dann, wenn es kaum oder keine konventionellen Behandlungsalternativen gab, wie etwa bei der Behandlung der altersbedingten Makuladegeneration (AMD). Verhältnis zu anderen Schlüsseltechnologien Die Optischen Technologien werden zuweilen auch als ‚Schrittmachertechnologie’ oder ‚Enabling Technology’ bezeichnet (BMBF 2002b). Diese Charakterisierung trifft jedoch für ihr Verhältnis zum IuK-Sektor weitaus eher zu als für ihre Wirkung auf die Medizintechnik. Dies belegen u. a. die sehr unterschiedlichen Anteile dieser beiden Sektoren am Gesamtmarkt der Lasersysteme. BMBF-Medizintechnikstudie 2005 589 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Eine besondere Nähe zeichnet sich zwischen der Nanotechnologie und der Lasertechnologie ab, und zwar in doppelter Weise. Zum einen können Laser als Werkzeug zur nanoskaligen Strukturierung funktionaler Oberflächen eingesetzt werden. Zum anderen bilden Nanostrukturierung und Selbstorganisation die Grundlage neuartiger Halbleiterlaser. 10.5.7 Tiefensonde: Stent Der folgende Exkurs folgt dem Konzept der Tiefensonden (s. Kap. 2). Insofern sollen nachfolgend die selbstexpandierbaren Gefäßstützen (Stents) beispielhaft vertiefend hinsichtlich ihrer technologischen Zukunft dargestellt werden. Dazu wurde zum einen der recherchierte Datenbestand (vgl. dazu Kap. 10.3.3) hinsichtlich seiner Bezüge und Aussagen zum Stichwort ‚Stent’ durchsucht, und zum anderen einzelne, aktuelle Ergänzungen aus einer Internetsuche mit dem o. a. Stichwort hinzugefügt. Zweifellos stellt der damit vorhandene Bestand an Quellen nur einen kleinen Ausschnitt dar; dennoch lassen sich einige Entwicklungstendenzen identifizieren. Die Struktur der nachfolgenden Darstellung entspricht weitestgehend dem Aufbau der vorangegangenen Potentialdossiers für die Schlüsseltechnologien (s. Kap. 10.5.1) Zur Basistechnologie und Historie der Gefäßstützen insgesamt, deren Entwicklungsbemühungen sich gegenwärtig auf die Lösung der Restenoseproblematik fokussieren, sei auf die ausführliche Darstellung in Kapitel 9.4.3. verwiesen. Technologievorschau Im Rahmen einer Delphi-Befragung gehen (kumulativ59) 73 % der Experten davon aus, dass bis zum Zeitraum zwischen 2010 und 2015 die Restenoserate nach PTCA (Gefäßaufdehnung) mit koronaren Stents durch nanotechnologische Oberflächenmodifikation durchweg auf unter 5 % gesenkt sein wird (FARKAS et al. 2003 S. 82, Tab. 5.9). Korrespondierend dazu berichten WAGNER & WECHSLER (2004, S. 124) einerseits von der Ausnutzung des Lotus-Effektes zur Verminderung der Benetzbarkeit und andererseits von innovativen Beschichtungsverfahren, die Nano-Poren auf der Stentoberfläche erzeugen, in die radioaktive Nuklide zur Unterdrückung der Restenose eingelagert werden. Neben der Einlagerung radioaktiver Substanzen, der Erfolgaussichten derzeit kontrovers diskutiert werden, gilt die Beschichtung des Stents mit Wirkstoffen bzw. Einlagerung von Medikamenten in Depots zur Steuerung des Zellwachstums (Drug-eluting-Stent) grundsätzlich als viel versprechender Weg (s. a. RIVM 2003). Der Rapamycin beschichtete Stent (Sirolimus) beispielsweise zeigt im Vergleich zu konventionellen Gefäßstützen eine Reduktion der Restenose um ca. 35 % (RICKENBACHER 2004). 59 590 Anmerkung der Autoren zur Methode: „statistisch handelt es sich dabei um die Medianklasse der kumulierten Häufigkeiten der ordinal skalierten Zeitachse als Lagemaß dieser Verteilung. Der ‚genaue’ Medianwert selbst liegt in dieser Klasse, hier also einem Zeitraum von 5 Jahren, und bezeichnet jenen Punkt, an dem insgesamt 50% der Expertengruppe (die Mehrheit) erreicht wird.“ (FARKAS et. al. 2003, S. 81, Fußnote 13) BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Ein weiterer Ansatz zur Erhöhung der Verträglichkeit richtet sich auf die kontrollierte Bioresorbierbarkeit der Gefäßstütze z. B. durch die Verwendung einer Magnesium-Legierung (Absorbierbarer Magnesiumstent AMS der Firma BIOTRONIK), die zudem kompatibel für die Magnetresonanz (MR) ist. Mit dem vollständigen Abbau des Stents wird die Ursache für die Reizung der Gefäßwand entfernt; zudem tragen die Abbauprodukte selbst zur Unterdrückung der unerwünschten Gewebereaktion bei. Schließlich stellt auch die Kombination der oben skizzierten Ansätze (Medikamentenbeschichtung, Bioresorbierbarkeit, MR-Kompatibilität) einen aktuellen Lösungsweg dar. Aus der aktuellen Entwicklungskooperation zwischen CONOR Medsystem und BIOTRONIK soll beispielsweise ein bioabsorbierbarer Drug-eluting-Stent mit steuerbarer Freisetzungskinetik des Depot-Wirkstoffs entstehen, dessen Markteinführung für 2005 geplant ist (BIOTRONIK 2004). Forecast KNAPPE et al. (2000, S. 113) beschreiben den Stent als kosteneffektive medizinische Technologie und großen medizinischen Fortschritt, der zudem für große Fallzahlen angewendet wird. Dies manifestiert sich bei aller Unterschiedlichkeit der Prognosen (s. Tabelle 10.14) auch in den Angaben zum ökonomischen Potential nieder. Stents repräsentieren einen vergleichsweise großen Teilmarkt für Medizinprodukte. Dementsprechend ist er gerade auch für große und global agierende Produzenten interessant (z. B. CORDIS, COOK, MEDTRONICS, BOSTON SCIENTIFIC, GUIDANT). Tabelle 10.14: 1) 2) 3) 4) 1) 1) 5) 6) 7) 1) 8) Literaturangaben Marktpotentialen verschiedener Stent-Technologien im Vergleich nach verschiedenen Autoren (WW – Weltmarkt); weitere Erläuterungen s. Kap. 10.5.1 Medizintechnik gesamt Technologien Markt Gesamt: Medizintechnik insgesamt Gesamt: Medizintechnik insgesamt WW D Stent-Technologien Technologie- bzw. Produktbereiche Markt Gesamtmarkt koronare Stents Cardiovascular stent WW WW 2.000 US-$ 2.000 US-$ k.A. 2001 Drug-eluting-Stent Drug-eluting-Stent Drug-eluting-Stent Stents mit Wirkstoffreservoirs Vaskuläre Medikamentenfreisetzung bei Restenose EU J US WW WW 200 460 3.350 4.000 4.000 US-$ US-$ US-$ US-$ US-$ 2003 2005 2005 k.A. 2006 Interventional cardiology products WW 5.500 US-$ 2003 Angioplasty of coronary vessels, stents (Therapy Costs) WW BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Volumen in Mio. 190.000 US-$ 12.707 € Volumen in Mio. 48.000 € Zeitraum 2003 2002 Zeitraum 2000 591 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Quellen: 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) Varona 2004; IG Metall FB Wirtschaft-Technologie-Umwelt [Hrsg.] 2003; Statistisches Bundesamt Wagner & Wechsler 2004; Felten & Hussla 2000; Scully et al. 2003; Michael Wienstein of JP and Morgan Wagner & Wechsler 2004; Nasdaq 2003 Biotronik 2004; CONOR Medsystems Hüsing et al. 2003; Lysaght & Loughlin 2000 Die prognostizierten Zuwächse deuten an, dass insbesondere Drug-eluting-Stents ein großes Zukunftspotential besitzen. Wie schon die o. a. Zusammenarbeit zweier Unternehmen mit komplementären Technologieschwerpunkten (Wirkstofffreisetzung – abbaubare Stents) nahe legt, bestehen auch für Klein- und mittelständische Unternehmen Chancen, sich durch Spezialisierung und Kooperationen Marktanteile zu sichern. Interessanter Weise stellt der technologische Fortschritt und der Erfolg bei der Bekämpfung der Restenose unter ökonomischer Perspektive ein Risiko dar, da sich der Bedarf und die Nachfrage um den Anteil der nicht mehr nötigen Revisionseingriffe vermindern wird (s. dazu auch Kap. 12.3.7.). Verhältnis zu anderen Schlüsseltechnologien Die dargestellten Entwicklungswege der Stent-Technologie zeigen eine tief greifende Vernetzung der Schlüsseltechnologien. Bezeichnender Weise treten die jeweiligen Ansätze teils als Wettbewerber und teils Entwicklungspartner auf: Z. B. Lotus-Effekt versus MedikamentenBeschichtung oder aber Nanoporen als Wirkstoffdepots für biotechnologische entwickelte Pharmaka. Für die Zukunft vaskulärer Stents spielen zusammengefasst die Fortschritte vieler Technologien eine wichtige Rolle, insbesondere Nano-, Bio-, Material- und auch die Produktionstechnologien (s. Kap. 9.4.3). Ihr volles Potential erschließt sich jedoch erst in ganzer Breite durch die produktbezogene Zusammenarbeit der genannten Disziplinen. Differenzierungsmöglichkeiten (und damit Raum für Wettbewerb) ergeben sich u. a. durch spezifische Indikationsstellungen, wie etwa der Einsatz abbaubarer Gefäßstützen bei Kindern zur Berücksichtung des entwicklungsbedingten Organ- und Gewebewachstums. 10.6 Wettbewerb um internationale Technologieführerschaft Der Begriff ‚Technologieführerschaft’ findet sich häufig im Zusammenhang mit Jahresabschlüssen innovationsorientierter Unternehmen. Dies deutet bereits die beiden Komponenten des Begriffsverständnisses an, nämlich wissenschaftlicher Vorsprung und darauf aufbauender wirtschaftlicher Erfolg. Eine analoge Strukturierung (Technologievorschau & Forecast) liegt den Potentialdossiers (s. Kap. 10.5.1) der Schlüsseltechnologien bereits zugrunde. Verlässt man nun die Unternehmensebene und wechselt zur Gegenüberstellung ganzer Staaten, so wird der Fokus 592 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien sehr viel breiter und die Positionsbestimmung damit ungleich schwieriger. Diese Problematik mag ein Grund dafür sein, warum sich in der hier bearbeiteten Literatur nur wenige Quellen finden, die den internationalen Vergleich technologischer Leistungsfähigkeit explizit aufgreifen. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Ein schlüssiges, international abgestimmtes Indikatorensystem zur Positionsbestimmung einzelner Länder zu Technologiefeldern möglichst mit Verknüpfung zur Medizintechnik ist gegenwärtig nicht auszumachen. Insofern basieren die Vergleiche zumeist auf der in Befragungen oder Workshops ermittelten Meinung von Experten, z. T. kombiniert mit der Patentierungs- und Publikationsleistung oder Branchenkennziffern. Dies gilt für die analysierten Quellen und auch für die hier vorgelegte Studie (s. Kap. 8, Kap. 7.4, Kap. 7.5). Auf die Frage, wie Deutschland in den für die Medizintechnik relevanten Schlüsseltechnologien international positioniert ist, ergibt die Literaturanalyse zwar kein geschlossenes Bild, aber doch Prognosen und Indizien: Mikrosystemtechnik Die Positionen auf den Teilmärkten der Mikrosystemtechnik im Vergleich führender Industrienationen sind nach einer Analyse der Deutschen Industriebank (IKB 2000) gekennzeichnet von deutschen Stärken insbesondere in der Kraftfahrzeugsensorik und deutlich schwächer ausgeprägt in der Medizintechnik. Die USA liegen danach in der Biomedizin/Gentechnik ebenso wie für die MEMS vorne, Japan behauptet sich u. a. in Consumerprodukten und der Peripherie von Datenverarbeitungsgeräten. „Insgesamt lässt sich feststellen, dass im Bereich der Mikrosystemtechnik, was die Technologieentwicklung wie auch die Anwendung in der unternehmerischen Praxis betrifft, die USA führend sind und dass Japan und Europa gleichauf folgen. Innerhalb Europas wird Deutschland in einer Spitzenposition gesehen.“ (IKB 2000 S. 7) Nanotechnologie Übereinstimmend stellen LUTHER et al. (2004) und FARKAS et al. (2003) nach Analyse der Patentierungsaktivitäten und Erhebung der Experteneinschätzung die globale Vormachtstellung der USA in diesem Technologiefeld fest. Dies gilt auch für den Teilbereich Nanotechnologie & Medizin. Beide Quellen sehen jedoch Deutschland gleichauf mit Großbritannien führend in Europa. Besonderes Entwicklungspotential aufgrund vorhandener Stärken zeichnet sich in den Feldern Drug-Delivery, erhöhte Analysesensitivität, nanobasierte Kontrastmittel und Implantathaftung für Deutschland ab (FARKAS et al. 2003, S. 218). Als aufstrebende Nationen gelten u. a. die Schweiz, Südkorea (geringe Bezüge zur NanoBiomedizin), Taiwan und Japan nicht zuletzt auch aufgrund der Bereitstellung umfangreicher staatlicher Mittel zur Förderung von FuE (ROCO 2003, S. 340). In diesem Zusammenhang ist auch die deutsche Zukunftsoffensive zur Nanotechnologie zu erwähnen, in der für 2005 ein Fördervolumen von knapp 300 Mio. € in Aussicht gestellt wird (BMBF 2004, S. 20). BMBF-Medizintechnikstudie 2005 593 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Optische Technologien Deutschland zeichnet sich durch eine Spitzenstellung in der industriellen Materialbearbeitung mit Lasern aus (BMBF 2002b). Dieses Querschnittspotential birgt die Chance, auch in anderen Anwendungsbereichen Optischer Technologien auf Weltniveau zu agieren. Ob dies mit Blick auf die moderne Medizintechnik gelingen kann, bleibt offen. Biotechnologie “The United States is leading the industry.” (PIEK 2003, S.9/10) Mit dieser Einschätzung u. a. auf der Basis der Patentierungsaktivität beginnt die Gegenüberstellung führender Biotechnologienationen. Den USA folgen Japan und - erneut als aufstrebendes Land – angesichts großer staatlicher Anstrengungen Südkorea, das seine Finanzierungsleistungen im Zeitraum von 1998-2001 um 400 % gesteigert hat (PIEK 2003). Unter Bezugnahme auf den Bericht zur Technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands aus dem Jahr 2003 resümieren die Autoren des jüngsten Deutschen Biotechnologiereports, dass zwar die Richtung des laufenden Strukturwandels stimmt, andere Länder jedoch dynamischer agieren und an Deutschland vorbeiziehen (ERNST & YOUNG 2004, S. 109). Eine eindeutige Positionierung nehmen die Autoren jedoch nicht vor. Tissue-Engineering In einer zusammenfassenden Darstellung mit Fokus auf die europäische Situation zum TissueEngineering wird festgestellt: “Research in this area presents a priority funding field in many Member States and European research activities can be considered equal to the USA, with Germany and UK leading.” (BOCK et al. 2003, S.35) Dabei ist zu berücksichtigen, dass aufgrund des frühen Stadiums der Technologieentwicklung zur zukünftigen Kommerzialisierung derzeit kaum Aussagen getroffen werden können. Eine Besonderheit der deutschen Situation stellt die hohe Anzahl Klein- und Mittelständischer Unternehmen dar, die in Europa von den anderen Mitbewerberländern nicht erreicht wird: von insgesamt 113 identifizierten Unternehmen entfallen 39 auf Deutschland, gefolgt von 18 in Großbritannien und 10 in Frankreich (aus: HÜSING et al. 2003, S. 75). Fazit Der ausgewertete Literaturbestand enthält insgesamt nur wenige Quellen, die eine internationale Standortbestimmung für die Schlüsseltechnologien explizit vornehmen. Die vorhandenen Einzelaussagen sehen jedoch weitgehend übereinstimmend die USA in allen Technologiefeldern weltweit führend. Deutschland nimmt zumeist im europäischen Vergleich eine Spitzenstellung ein. Eine globale Vormachtstellung für eine der medizintechnisch relevanten Schlüsseltechnologien wird für Deutschland nicht berichtet. 594 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien 10.7 Diskussion der Ergebnisse, Ausblick Die nachfolgende Diskussion versucht eine Interpretation und Einordnung der dargestellten Analyseergebnisse zu geben, um schließlich Anregungen für den zukünftigen Diskurs und mögliche Entwicklungsimpulse vorzustellen. Als solche ist sie unvermeidlich subjektiv und spiegelt nur die Meinung der Verfasser dieses Abschnitts wider. Den Ausgangspunkt der Analyse bildete zunächst die Annahme, dass diverse Schlüsseltechnologien sowohl mit der Medizintechnik als auch untereinander Überlappungsbereiche ausbilden, die quasi die Entstehungsgebiete innovativer Medizinprodukte symbolisieren. Art, Ausmaß und Lage dieser Schnittmengen war jedoch unbekannt. Insofern stellt die in Abbildung 10.16 vorgenommene, willkürliche Anordnung nur eine von vielen Möglichkeiten dar. Abbildung 10.16: Veranschaulichung der Ausgangshypothese: Modellvorstellungen zum Verhältnis der Schlüsseltechnologien zur Medizintechnik Optik IuK MST … MedizinTechnik BioT Material Nano verwendete Abkürzungen/ Symbole: BioT – Biotechnologie, IuK-Informations- und Kommunikationstechnologien, Material-Neue Materialien, Materialtechnologien; MST-Mikrosystemtechnik, Nano- Nanotechnologie, Optik-Optische Technologien, TE-Tissue-Engineering, … -weitere Technologien; Quelle: AKM Um das Innovationspotential von Schlüsseltechnologien für die Zukunft der Medizintechnik zu beleuchten, galt es, Strukturmerkmale abzuleiten, die das Beziehungsgeflecht ordnen und systematisieren können. Modell der Fortschrittsdimensionen Mit den als Fortschrittsdimensionen bezeichneten Grundrichtungen zukünftiger Entwicklungen in der Medizintechnik (Computerisierung, Miniaturisierung, Molekularisierung) ergab sich in Anlehnung an die Vorarbeiten von MAU (in: LAUBACH et al. 2002) eine Modellvorstellung jenseits der Ebene von Schlüsseltechnologien. BMBF-Medizintechnikstudie 2005 595 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Abbildung 10.17: Modell der Fortschrittsdimensionen für die zukünftige Entwicklung der Medizintechnik (modifiziert nach MAU in: LAUBACH et al. 2002) Molekularisierung -FunktionDrug Eluting Stent Computerisierung -Enabling TechnologyMiniaturisierung -Ausbringung/ApplikationComputertomograph Der ‚Innovationswürfel’ ermöglicht eine Einordnung z. B. von Produkten oder Projekten der Medizintechnik weitgehend unabhängig von Schlüsseltechnologien. Medizinprodukte werden im Innern des Würfels entsprechend ihres Anteils an den drei Fortschrittsdimensionen angeordnet. Der Drug-eluting-Stent beispielsweise weist beträchtliche Werte hinsichtlich der Molekularisierung (Wirkstoffmoleküle) und der Miniaturisierung auf, wohingegen keine (unmittelbaren) Bezüge zur Computerisierung bestehen. In analoger Weise ließen sich nicht nur weitere Medizinprodukte, sondern auch Forschungsprojekte eines Institutes, eines Projektträgers oder eines Landes positionieren und vergleichbar machen, um etwa national unterschiedliche strategische Schwerpunkte zu identifizieren. Dazu bedarf es durchaus noch weiterer methodischer Operationalisierungsschritte, die jedoch möglich erscheinen. Die Rechtwinkligkeit des Würfels bedeutet formal betrachtet die völlige Unabhängigkeit der Dimensionen untereinander. Davon ist jedoch kaum auszugehen, auch deshalb nicht, weil über viele Autoren Einigkeit über die zukünftige Konvergenz der Fachdisziplinen herrscht. Insofern stellt das Modell diesen Sachverhalt vereinfacht, dafür jedoch anschaulich dar. Mit der Wahl solcher Fortschrittsdimensionen, die durchweg von mehreren Schlüsseltechnologien erfolgreich adressiert werden können, nimmt das Modell eher die Blickrichtung der Lösung und des klinischen Nutzens ein und forciert so durchaus den Wettstreit der Technologien um die besten Ansätze. Verhältnis der Schlüsseltechnologien zur Medizintechnik Die Schlüsseltechnologien lassen sich zunächst den drei Fortschrittsdimensionen zuordnen, und zwar im Hinblick auf die möglichen Beiträge der Technologien zur Innovationsentwicklung in den Dimensionen. Es ergeben sich dann Beziehungen gemäß Tabelle 10.15. 596 BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Tabelle 10.15: Zuordnung zwischen Fortschrittdimensionen und Schlüsseltechnologien nach den zu erwartenden Beiträgen zur Innovationsentwicklung Fortschrittsdimension Computerisierung Miniaturisierung Molekularisierung korrespondierende Schlüsseltechnologien - Informations- und Kommunikationstechnologie (IuK) Mikrosystemtechnik, Nano- und Optische Technologien Biotechnologie, Tissue-Engineering Die solcherart getroffene, vereinfachte Zuordnung vermittelt allerdings eine Eindeutigkeit, die die realen Verhältnisse zweifellos überzeichnet. So weist beispielsweise der Bereich Biophotonik als Teilgebiet der Optischen Technologien eine größere Nähe zur Molekularisierung auf als zur Miniaturisierung. Dennoch - insgesamt unterstützen die in den dargestellten Potentialdossiers aufgeführten Schwerpunkte der Technologien im Grundsatz die dargestellten Beziehungen. Ergänzend dazu sind für die weitere Modellentwicklung zwei Aspekte von Bedeutung: • • der Fundamentalcharakter der IuK als genereller Enabler der Medizintechnik die definitionsbedingt größere Distanz der Biotechnologie (inkl. Tissue-Engineering) zur Medizintechnik als zur Wirkstoffentwicklung oder -produktion; denn lt. Gesetz (MPG) bildet die überwiegend pharmakologische Wirkung den Übergang vom Medizinprodukt zum Medikament. Zusammengefasst münden die vorgenannten Überlegungen zum Verhältnis zwischen Schlüsseltechnologien und Medizintechnik in ein 2-Schalen-Modell, das von einem ‚IuK-Sockel’ getragen wird. Die Miniaturisierungstechnologien bilden dabei die innere, während sich die Ansätze aus der Molekularisierung in der äußeren Schale wieder finden. Alles wird gleichermaßen gestützt und stimuliert von der IuK-Technologie. Die Entstehung konkreter, innovativer Medizinprodukte lässt sich nun entlang von Entwicklungslinien vorstellen, wie sie in Abbildung 10.18 als Beispiele eingezeichnet wurden: • • • P1 - z. B. Drug-eluting-Stent als lasergeschnittenes Nitinolgeflecht mit einer biotechnologisch entwickelten Wirkstoffbeschichtung. P2 - z. B. DNA-Chip-System mit Biomarkern in mikrofluidischen Kanälen inkl. der dazugehörigen Auslese- und Datenverarbeitungstechnik P3 - z. B. Inkubator für autologe Zell-, Gewebe- oder Organkulturen BMBF-Medizintechnikstudie 2005 597 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Abbildung 10.18: Aus der Literaturanalyse entwickelte alternative Modellvorstellung zum Verhältnis der Schlüsseltechnologien zur Medizintechnik P1 IuK BioT IuK Nano Optik Medizin Technik IuK TE IuK MST P3 P2 IuK … verwendete Abkürzungen/ Symbole: P1-P3 – mögliche Entwicklungswege für innovative Produkte der Medizintechnik; BioT – Biotechnologie, IuK-Informations- und Kommunikationstechnologien, MST-Mikrosystemtechnik, NanoNanotechnologie, Optik-Optische Technologien, TE-Tissue-Engineering, … -weitere Technologien; Quelle: AKM Selbstverständlich sind neben diesen Beispielen zahlreiche weitere Variationen der Entwicklungswege vorstellbar, etwa als Zick-Zack-Verläufe oder von innen nach außen statt umgekehrt wie oben dargestellt. Im Vergleich zur Ausgangshypothese einer willkürlichen Überlappung versucht das Schalenmodell der jeweiligen Bedeutung der Technologien für den Innovationsprozess Rechnung zu tragen. Es fällt zudem auf, dass die Materialtechnologien nicht mehr eigenständig aufgeführt werden. Das liegt einerseits an der ausgesprochen geringen Anzahl auffindbarer Literaturquellen, die sich der Zukunftsprojektion der Materialtechnologien auf die Medizintechnik widmen60. Andererseits liegen herausragende Perspektiven dieses Feldes in der Nanotechnologie. So scheint es auch der Verband für neue Materialien NEMA e.V. zu sehen. Die zahlreichen Bezüge zur Nanotechnologie auf der Homepage des Verbandes legen eine solche Interpretation jedenfalls nahe (www.neuematerialien.de, [04.11.2004]). Insofern wird zumindest ein bedeutender Teil des Zukunftspotentials durch die Nanotechnologie stellvertretend repräsentiert. Einen ähnlichen Zusammenhang findet man auch für die Elektronik, deren Gewicht sich eher mittelbar durch ihre 60 598 Bezeichnenderweise sehen nur wenige der befragten Vertreter aus der Wissenschaft (s. dazu Kap. 7.6.3, insbesondere Abbildung 7.50 und Abbildung 7.51) in ‚Neuen Werkstoffen/Materialen’ eine erstrangige Schüsseltechnologie; demgegenüber bewerten die Industrievertreter dieses Technologiefeld für die Zukunft bedeutender als z.B. die Mikrosystemtechnik. BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien großen Anteile an der Mikrosystemtechnik und der IuK ergibt. Eine eigenständige Thematisierung unter dem hier gewählten Rechercheansatz lässt das Ergebnis der Literaturanalyse jedenfalls nicht zu. Konvergenz - Interdisziplinarität - Kommunikation Die konzentrische Anordnung der Technologieschalen im Modell soll auch die Konvergenz der Fachdisziplinen andeuten. Die Grenzen zwischen Ingenieur-, Naturwissenschaften und Medizin werden durch den Fortschritt immer weiter aufgelöst. Gemeinsamer Gegenstand werden immer stärker molekulare oder atomare Phänomene, die es zu nutzen oder zu modifizieren gilt. Gemeinsamkeiten gewinnen die Oberhand auch dann, wenn der Betrachtungswinkel z. B. eines Laserphysikers und eines Molekularbiologen weiterhin eine gewisse Eigenart behält. Die Folge der Konvergenz – über die an sich große Einigkeit in der Literatur besteht - insbesondere für die Medizintechnik heißt: Interdisziplinarität in der praktischen Umsetzung von FuE. Angewendet beispielsweise auf die Projektförderung bedeutet dies die Notwendigkeit, stärker als bisher den Bedarf aus der konkreten medizinischen Praxis zu identifizieren, um dann alle Technologien dazu aufzurufen, Lösungsvorschläge und –ansätze anzubieten, die es schließlich gemeinsam (interdisziplinär) umzusetzen gilt. In einem gewissen Gegensatz dazu besitzen Technologiegetriebene Innovationen häufig keine konkreten Anwendungsziele, sondern sind vielmehr mit einem bewusst breit gefassten Lösungsangebot aus einer technologischen Richtung kommend auf der Suche nach Anwendungsmöglichkeiten. Oft entstehen auf diesem Weg Produktinnovationen (gänzlich neuartige Verfahren, vgl. dazu das ‚Technology-Push’-Modell, Kap. 9.3.4) mit der unausweichlichen Folge der Leistungsausweitung. Prozessinnovationen hingegen, wie sie durch bedarfsorientierte Ansätze stärker mobilisiert werden können, zeichnen sich durch eine gesundheitsökonomisch erstrebenswerte Verbesserung der Ressourcennutzung aus. Dies könnte zusätzlich medizintechnische Innovationen auslösen, gleichsam ein ‚Sog’ aus der Praxis. Ein Bekenntnis zu Interdisziplinarität muss seinen Niederschlag auch in der Aus- und Weiterbildung der Fachberufe finden. Dies sollte jedoch nicht als Aufforderungen zur Gleichmacherei der Inhalte missverstanden werden. Im Gegenteil – vertiefte Fachkenntnis bildet vielmehr das Fundament für eine erfolgreiche, disziplinübergreifende Zusammenarbeit. Allerdings muss noch etwas hinzukommen, nämlich die Bereitschaft und die Fähigkeit zu Kommunikation auf gleicher Augenhöhe, doch gerade hier liegt das Defizit. In einer aktuell vorgelegten Studie bezeichnen Hochschulabsolventen nach den ersten Berufsjahren die Anforderungen an die Kommunikationsfähigkeit als besonders hoch und sehen hier den größten Mangel in der Hochschulausbildung (KERST & MINKS 2004, S. II). Die gegebene Vielschichtigkeit der Medizintechnik verschärft die Notwendigkeit großer kommunikativer und sozialer Kompetenz noch weiter, so dass hier womöglich eine Schlüsselaufgabe für die Gestaltung der Zukunftsfähigkeit liegt. BMBF-Medizintechnikstudie 2005 599 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Integration und Präsenz der Medizintechnik Im Verlauf der Recherche entstand ein Eindruck von der Geschlossenheit, mit der bestimmte Technologierichtungen bzw. ihre Repräsentanten auftreten. Der Organisationsgrad der Mikrosystemtechnik oder der IuK-Branche war dabei insgesamt beeindruckend. Den zahlreichen Facetten und Einzelaspekten war stets ihre Integration in einer gemeinsamen Ausrichtung gegenübergestellt. Wichtige Instrumente dazu sind regelmäßige Publikationen über die aktualisierten Zukunftsperspektiven und Entwicklungsansätze, das Fortschreiben von TechnologieRoadmaps oder das Angebot an Brachen- und Technologieinformationen, wie sie beispielsweise durch das Informationssekretariat Biotechnologie für dieses Feld aufbereitet und angeboten werden. Für die Medizintechnik fehlen derartige Strukturen bislang. Ihre Einrichtung könnte jedoch nicht nur die öffentlichen Wahrnehmung erheblich fördern, sondern zudem auch einen wesentlichen Beitrag zum Abbau von Kommunikationsbarrieren zu anderen Wissenschafts-, Technologie- und Anwendungsfeldern leisten. Durch gemeinsame Begrifflichkeiten, ein international einheitliches Verständnis von Technologien und der Medizintechnik insgesamt, vielleicht sogar bis hin zum möglichen Verzicht auf die Verwendung des Begriffs ‚Schlüsseltechnologie’, der international (als ‚key technology’) in der Literatur zur technologischen Zukunft der Medizintechnik kaum anzutreffen ist61, ließe sich der Vision eines europäischen Forschungsraumes ein Stück näher kommen. Der Rolle Deutschlands als der in vielen medizintechnisch bedeutenden Technologien europäisch - noch - führenden Nation kommt dabei ein besonderes Gewicht zu, verbunden mit einer herausragenden Gestaltungschance. 10.8 Zusammenfassung Nahezu allen Schlüsseltechnologien wird das Potential zugeschrieben, Innovationsimpulse für die Megabranche Gesundheit liefern zu können. Eine vergleichende Gegenüberstellung der Potentiale für die Medizintechnik liegt jedoch bislang nicht vor. Zur Klärung der Bedeutung der in Kapitel 9.2.3. identifizierten Schlüsseltechnologien für die Zukunft der Medizintechnik wurden daher folgende Fragen in den Mittelpunkt dieses Studienteils gerückt: • • • 61 600 Welche Schlüsseltechnologien sind für die Medizintechnik aus technologischer Sicht besonders relevant? Wie sehen die internationalen Technologievorschauen aus? Wo steht Deutschland bei diesen relevanten Schlüsseltechnologien im internationalen Vergleich? Im digital vorliegenden Teil der zum Kap. 10 recherchierten Literatur (ca. 100 Dateien, Studien) wird der Begriff ‚technology’ 17.467-mal verwendet, wohingegen ‚key technology’ oder ‚key technologies’ in 11 Dateien nur 41mal auftritt (entspricht ca. 0,23 %). Zum Vergleich: in den wenigen deutschsprachigen Studien, die digital vorlagen, findet der Begriff ‚Schlüsseltechnologie(n)’ 89-fach Verwendung (10 Dateien); allein im Kapitel 10 „Innovationspotential von Schlüsseltechnologien“ der vorliegenden Studie benutzen die Verfasser ‚Schlüsseltechnologie’ insgesamt 89-mal. BMBF-Medizintechnikstudie 2005 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien Unter Zugrundelegung der Begriffskategorien ‚Schlüsseltechnologien, Medizintechnik, Forecasting/Foresight’ wurde eine stichwortbasierte, komplexe Literaturrecherche u. a. in Medline, OPAC-Systemen, im Internet sowie weiteren Archiven und Beständen für den Zeitraum 1995-2004 durchgeführt, die nach Selektion schließlich 124 Treffer ergab. Die Analyse und Auswertung des Datenbestandes war mehrstufig angelegt. Ausgehend von einem Überblick zur Datenlage über das Verhältnis von Schlüsseltechnologien insgesamt zur Medizintechnik bis hin zu ‚Potentialdossiers’ einzelner Technologien wurden abschließend weiterführende Überlegungen diskutiert. Die kurzgefassten Ergebnisse der skizzierten Arbeitsschritte sind dabei folgende: ¾ Die Literaturlage stellt sich insgesamt als stark fragmentiert dar. Als Publikationsart überwiegen Monagraphien bzw. Studien gegenüber Artikeln in Fachzeitschriften. Es konnten nur sehr wenige primäre Foresights zur Fragestellung ausgemacht werden, die empirische Daten zur Auswirkungen von Schlüsseltechnologien bzw. ihrer Teilaspekte auf die Medizintechnik beinhalten und in ihrer Projektion auch konkrete Zeiträume benennen. Hinzu kommt, dass einige Technologien (insbesondere Informations- und Kommunikationstechnologien, Mikrosystemtechnik und Nanotechnologie) bzgl. der Literaturlage dicht besetzt sind, während zu anderen (u. a. Elektronik, Neue Werkstoffe) nur einzelne Fundstellen ausgemacht werden konnten. ¾ Medizintechnischer Fortschritt entwickelt sich entlang von drei Fortschrittsdimensionen: Computerisierung, Miniaturisierung und Molekularisierung. Gleichsam als Achsen eines Entwicklungskoordinatensystems könnten diese Fortschrittsdimensionen zur Einstufung/Charakterisierung medizintechnischer Zukunftslösungen angewendet werden. ¾ Durch die Verknüpfung mit den Schlüsseltechnologien erhalten die Fortschrittsdimensionen eine spezifische Bedeutung für die Entwicklung moderner Medizinprodukte. Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK) korrespondiert als herausragender Enabler mit der Computerisierung; Mikrosystemtechnik, Nanotechnologie sowie Optische Technologien stehen für die Fortschritte in der Miniaturisierung der Applikation; Biotechnologie und TissueEngineering lassen insbesondere Fortschritte für die biomolekularen Primärfunktionen erwarten. ¾ Bezüglich ihres Entwicklungsstandes sind Tissue-Engineering und Nanotechnologie junge Technologiefelder mit großem Potential, aber derzeit noch kleiner Bedeutung in der Umsetzung. Mikrosystemtechnik sowie Optische Technologien sind gemessen anhand der aktuellen Marktvolumina reifere Technologien. ¾ Diagnostische Verfahren werden im Vergleich zu therapeutischen Ansätzen bei den Technologieprojektionen in den erstellten Potentialdossiers sowohl bei der Informationstechnologie, als auch bei der Nano-, Laser-, Biotechnologie sowie der Mikrosystemtechnik (Chip-Systeme, molekulare Bildgebung, high-throughput- und Point-of-Care-Systeme) sehr stark betont. Die ökonomischen Forecasts bestätigen das Übergewicht diagnostischer Innovationen mit den prognostizierten Weltmarktvolumina: für Drug-Delivery als Beispiel einer BMBF-Medizintechnikstudie 2005 601 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien therapeutischen Innovation werden für 2007 ca. 30-50 Mio. €, für diagnostische Biochips 2005 ca. 450 Mio. US-$ vorhergesagt. ¾ Als zukünftige Innovationsschwerpunkte für die Therapie zeichnen sich insbesondere Fortschritte bei Implantaten und Drug-Delivery-Systemen (Mikrosystemtechnik, Nanotechnologie) sowie Organersatz (Tissue-Engineering) ab. ¾ Entwicklungshemmnisse für Reifung und Diffusion der Innovationen können aus folgenden Aspekten grundsätzlich für alle Technologien - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß erwachsen: ungewollte, unkontrollierte Diagnostik; fehlende Wirksamkeit oder geringes Substitutionspotential, fehlender Nachweis der Kostenvorteile, Technologieakzeptanz bei der Zielgruppe (z. B. älteren Menschen), Dysbalance zwischen weit entwickelten diagnostischen Möglichkeiten und den dazu fehlenden therapeutischen Ansätzen. ¾ Der ausgewertete Literaturbestand enthält insgesamt nur wenige Quellen, die eine internationale Standortbestimmung für die Schlüsseltechnologien explizit vornehmen. Die vorhandenen Einzelaussagen sehen jedoch weitgehend übereinstimmend die USA in allen Technologiefeldern weltweit führend. Deutschland nimmt im europäischen Vergleich zumeist eine Spitzenstellung gemeinsam mit Großbritannien ein. Eine globale Vormachtstellung für eine der medizintechnisch relevanten Schlüsseltechnologien wird für Deutschland nicht berichtet. ¾ Zahlreiche Autoren sind überzeugt von der Konvergenz der Technologien in der Zukunft. Immer mehr Fachdisziplinen sind erforderlich, um gemeinsam technologische Lösungen und Anwendungen erfolgreich zu entwickeln. Damit steigen allerdings auch die Anforderungen an das Miteinander der Fachleute und –disziplinen. Interdisziplinäre Kommunikation wird damit zum kritischen Erfolgsfaktor des Innovationsprozesses. In der abschließenden Diskussion wird der Versuch unternommen, ausgehend von der Bedeutung des Enablers IuK, der auch zur Integration des späteren Produktes in das ‚health care information age’ einen wichtigen Beitrag leisten kann, über alternative Modellvorstellungen das Verhältnis der Schlüsseltechnologien zur Medizintechnik zu systematisieren und zu veranschaulichen. Daraus leiten sich Anregungen ab, die auf eine stärkere Förderung folgender Bereiche hindeuten: Bedarfsinduzierte Innovationsentwicklung (im Unterschied zu technologiegetriebener), Interdisziplinarität sowie Integration der vielfältigen Aspekte der Medizintechnik und der sie stimulierenden Technologien. 602 BMBF-Medizintechnikstudie 2005