10 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien

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10 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
10 Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
10.1
Fragestellungen
Nahezu allen Schlüsseltechnologien (zur Definition vgl. Kap. 9.2.2) wird das Potential
zugeschrieben, Innovationsimpulse für die Megabranche Gesundheit liefern zu können. In der
Praxis zeigt sich jedoch, dass manche Entwickler die Anwendungsfelder ihrer Technologien gar
nicht genau vor sich sehen, sich aber gleichwohl eine Applikation in der Medizin vorstellen können
oder wollen. Die Situation ist also unklar oder zumindest unkonkret.
Folgende Fragen sollen bearbeitet werden:
•
•
•
Welche Schlüsseltechnologien sind für die Medizintechnik aus technologischer Sicht
besonders relevant?
Wie steht Deutschland bei diesen relevanten Schlüsseltechnologien im internationalen
Vergleich?
Wie sehen die nationalen Technologievorschauen aus?
In einem sekundäranalytischen Ansatz galt es daher zunächst, die nationalen Prognosen zur
Entwicklung der benannten Schlüsseltechnologien zu sichten und zu analysieren. Als Quellen
sollten dabei insbesondere die 'klassischen' Foresight-Publikationen (Delphi-Technologievorschau,
Technikfolgenabschätzungen etc.), sowie auch Strategiepapiere (z. B. von Berufsständen,
Verbänden, politische Exekutive) und Market Forecasts dienen, deren Aussagen möglichst in
einem kurz- oder mittelfristigen Zeithorizont (bis fünf bzw. bis zehn Jahre) eingeordnet werden
sollten.
10.2
Vorbemerkungen zum Verhältnis von Innovation-TechnologieMedizintechnik
Der Blick in die Zukunft nimmt – auch wenn es um Medizintechnik oder allgemeiner um
technischen Fortschritt in der Medizin geht – oftmals von der Bewältigung der Krankheiten und
nicht von der Technik seinen Anfang. Die unmittelbaren Aussichten für neue Therapie- oder
Diagnoseverfahren oder gar -richtungen bestimmen daher zunächst die Auseinandersetzung mit
dem Thema, nicht etwa das Potential von Schlüsseltechnologien. Auf welcher Technologie eine
Zukunftslösung für die medizinische Behandlung dabei tatsächlich basiert, ist aus klinischer Sicht
und aus der Patientenperspektive im Grunde kaum von Bedeutung. Entscheidend ist der
‚Versorgungsnutzen’, weniger die Art des technischen Fortschritts. Insofern verstehen viele
Autoren (z. B. KAISER et al. 1996, S.15) unter Innovation durchaus auch neue alternative
Heilmethoden. Prognosen über die Zukunft der Medizin gehen von einem sehr breiten
Innovationsverständnis aus, in dem die Entwicklung der Medizintechnik nur einen gewissen Teil
ausmacht.
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
535
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Andersherum ist für Verfechter bestimmter Technologien, z. B. der Mikrosystemtechnik oder der
Lasertechnik, die Überzeugung charakteristisch, dass es für ihr Technologiefeld in der Medizin ein
großes Anwendungspotential gibt. Ein direktes Krankheitsbild steht dabei meist nicht im
Vordergrund (das hätte ja auch zunächst eine einschränkende Wirkung auf das Technologiepotential), sondern viel häufiger wird auf eine Klasse von Krankheiten (z. B. Krebs oder HerzKreislauferkrankungen) oder Therapie- und Diagnoseverfahren abgehoben.
Innovation, Technologie und Medizintechnik sind keine fest oder eindeutig miteinander
verbundenen Begriffe. Die Verknüpfungen können in einer Prognose je nach Herkunft sehr
unterschiedliche Ausprägungen annehmen, und nur eine gewisse Teilmenge aller Möglichkeiten
beschreibt innovative, technologiebasierte Medizinprodukte.
Im Diskurs um die Zukunft der Medizin(-technik) tauchen die folgenden Aspekte immer wieder auf:
¾ Eine landläufige, plakative These ist, dass Medizintechnik ein wesentlicher Faktor bei der
Ausgabenexplosion des Gesundheitswesens in den Industrieländern ist. Ihre notwendige
sachliche Differenzierung dieser in Fachkreisen nicht unumstrittenen These findet im Rahmen
eines gesundheitsökonomischen Diskurses (z. B. MEYER 1993) von Fachleuten statt. Der ist
allerdings weniger plakativ und damit weniger öffentlichkeitswirksam als die o. a. Stigmatisierung. Die Vertiefung der Auseinandersetzung mit der vermeintlichen Kostenexplosion
durch medizintechnischen Fortschritt ist Gegenstand der Kap. 11 und 12;
¾ Technischer Fortschritt tritt in zweierlei Erscheinungsformen auf: Als Produkt- oder
Prozessinnovation. Erstere bewirkt einen Anstieg der Gütervielfalt (→ Leistungsausweitung),
letztere eine Erhöhung der Produktivität. (BANTLE 1997); gerade die an bestimmte
Technologien geknüpfte euphorische Heilserwartung zum zukünftigen Sieg über bislang
unheilbare Krankheiten hebt auf Produktinnovationen ab. Derartige medizintechnische Geräte
und Systeme führen, gerade weil sie neue klinische Möglichkeiten schaffen, unweigerlich zu
neuen Kosten für den fallbezogenen Technikeinsatz. Inwiefern sie dabei die Gesamtkosten
senken, ist im Entwicklungsstadium der Innovation oft schwer (oder gar nicht) zu beurteilen.
¾ Technische Machbarkeit & humane Medizin: „Die Lehre von Gesundheit und Krankheit …[ist]
ohne technologischen Forschritt nicht zu denken…“ Ein Widerspruch zwischen Technologie
und Humanität wird insbesondere durch die Medien künstlich aufgebauscht. Tatsächlich
trauen 91 % der Befragten einer repräsentativen Umfrage technologischen Entwicklungen die
Heilung von immer mehr Krankheiten zu (ROSENFELD & WETZEL-VANDAI in: KAISER et al.
1996). „Es ist Unsinn, hinter den heutigen Stand der Medizintechnik zurück zu wollen.“
(KAISER et al. 1996., S. 15)
¾ Technischer Fortschritt in der Gesundheitsversorgung hat in der Vergangenheit oft zuerst
neue diagnostische Möglichkeiten erschlossen (ASHTON (Ed) 1997). Erst in einer nachgeschalteten Phase tragen Technologien auch zur Therapie der diagnostizierbaren Erkrankung bei. Dieser ‚Vorlauf’ des diagnostischen gegenüber dem therapeutischen Fortschritt
kann dazu führen, dass man ggf. früh von einer Erkrankung erfährt, allerdings ohne Aussicht
auf eine erfolgreiche Behandlung. Eine Situation, die erhebliche Bewältigungsproblematiken
aufwirft. Der diagnostische Entwicklungsvorsprung hängt möglicherweise nicht nur mit der
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BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
analogen Reihenfolge im klinischen Geschehen zusammen, sondern ist eine strukturelle
Eigenart der Entwicklungslinie von medizinischen Technologien. Das Entwicklungsrisiko eines
therapeutischen Verfahrens ist i. d. R. höher als das der korrespondierenden Diagnostik. Die
Anforderungen an therapeutische Medizintechnik sind dementsprechend größer und erfordern einen größeren Entwicklungsaufwand. So nehmen beispielsweise pharmazeutische
Entwicklungen neuer Medikamente, die stärker als Medizinprodukte die unmittelbare Therapie
zum Ziel haben, daher folgerichtig Spitzenwerte beim Entwicklungsaufwand (Zeit und Kosten)
ein.
Innovationen in der Medizin von morgen können vielfältiger Natur sein. Sie reichen von der
neuartigen Arbeitsorganisation (Clinical Pathways) oder QM- oder Fallpauschalen-Systemen (KTQ,
DRG) über den Einsatz alternativer Heilmethoden oder der Entwicklung neuer Pharmaka bis hin
zum Einsatz von Medizinprodukten (nach MPG) in Therapie, Diagnose und Rehabilitation. Auch
wenn technologische Entwicklungstrends die Grenzen zwischen den aufgezählten Innovationstypen verschwinden lassen (z. B. Drug-eluting-Stent), so gilt dennoch dem im Rahmen von
Medizinprodukten anwendbaren Technologiefortschritt das Hauptaugenmerk der folgenden
Darstellungen.
10.3
10.3.1
Vorgehensweise / Methodik
Datenquellen und Recherchestrategie
Die Recherche nach geeigneten Literaturstellen zum Themengebiet gliedert sich im Wesentlichen
in zwei Bereiche:
Zum einen erfolgte eine Recherche in der Datenbank Medline, der weltweit größten medizinischen
Literaturdatenbank, die vor allem wissenschaftliche Zeitschriften erfasst und einen medizinischen
Blickwinkel hat. Im ersten Schritt wurde dabei die Schlagwortsuche der Medline-Datenbank
genutzt, um den Fokus der Recherche eng zu halten. Im zweiten Schritt wurde die Suche um eine
Freitextsuche erweitert, um insbesondere in Bezug auf das Thema Schlüsseltechnologien keine
relevanten Artikel zu übersehen.
Da Monographien und Studien mit Bezug zum Themengebiet in der Medline-Datenbank kaum
erfasst sind, wurden zum anderen weitere Recherchequellen genutzt, d. h. die OPACs großer
deutscher Bibliotheken, Internetsuchmaschinen, Informationsmaterial von Verbänden und der
eigene Literaturbestand sowie der der Partner.
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
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Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Abbildung 10.1:
Suchstrategie der Literaturanalyse zum Thema Foresights und Schlüsseltechnologien in der Medizintechnik.
MEDLINE
Suchbegriffe,
3 Kategorien:
• Schlüsseltechnologien
• Medizintechnik
• Foresight /
Forecast
1995 - 2004
MeSH
(Medical Subject
Headings)
Selektion über
Titel und/oder
Abstract
Auswertung
MeSH
& Freitextsuche
(Schlüsseltechn.)
Selektion über
Titel und/oder
Abstract
Auswertung
Sonstige: OPACs, Internet, Verbände,
eigener Bestand & Partner…
Freitextsuche
oder vergleichbar,
gezielte Suche
Selektion über
Titel und/oder
Abstract
Auswertung
Ausgangspunkt für die Recherche in der Datenbank Medline (Stand April 2004) war in einem
ersten Schritt die Suche über die Verschlagwortung der Medline Datenbank, die MeSH - Medical
Subject Headings. Alle Artikel werden den relevanten Schlagworten aus dem MeSH Index
zugeordnet, der von der National Library of Medicine (NLM) aufgestellt wurde. Vorteil der Suche
über die MeSH ist die Zusammenfassung der unterschiedlichen Terminologien (‚Forecasting’
enthält auch ‚Foresight’, ‚Future’, ‚Prediction’...) und der hierarchische Aufbau des Index, der auch
die Einbeziehung der Unterpunkte ermöglicht (der Ast ‚Electronics’ enthält auch ‚Electronics,
Medical’, ‚Robotics’, ‚Semiconductors’...). Die Zuordnung der Literaturstellen zu den MeSHBegriffen durch die Bearbeiter der Medline Datenbank hat zwar auf der einen Seite den Nachteil
einer möglichen subjektiven Kommentierung, schärft andererseits aber das Abfrageergebnis im
Vergleich zu einer Freitextsuche auf tatsächlich relevante Stellen (z. B. werden nicht alle Artikel mit
dem Wort ‚Future’ erfasst).
Die Abfrage erfolgte anhand der in Tabelle 10.1 aufgeführten Begriffe, die in die drei Themenbereiche ‚Schlüsseltechnologien’, ‚Forecasting / Foresight’ und ‚Medizintechnik’ eingeteilt wurden.
Die drei Themengebiete wurden anschließend gefaltet, d. h. es wurde die Schnittmenge aus den
Ergebnissen gebildet.
Die aus Kapitel 9.2.3 identifizierten Schlüsseltechnologien wurden auf die MeSH abgebildet, wobei
einige Begriffe einer sehr hohen Hierarchieebene (z. B. Information Science) entstammen und
damit sehr viele Unterbegriffe mit einschließen, andere Begriffe hingegen nicht abgebildet werden
konnten (z. B. Neue Materialien, Neue Werkstoffe, Mikrosystemtechnik, Produktionstechnik).
538
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Tabelle 10.1
Suchbegriffe bei der Recherche in Medline: MeSH [in eckigen Klammern] und
Freitextsuche bei den Schlüsseltechnologien, jeweils ab 1995
‚Schlüsseltechnologien’
[MeSH] und Freitext
[Information Science] (enthält u. a. :
Communication, Communications
Media, Computer Security, Data
Collection, Information Centers,
Information Management, Information
Services, Information Storage and
Retrieval, Information Theory, Medical
Informatics, Pattern Recognition)
Software
Simulation
[Miniaturization]
Microsystem*
microsensor*
Microengineering
Micromechanic*
microoptic*
Mechatronic*
biomechatronic*
[Electronics]
(enthält: Amplifiers, Electronics,
Medical; Robotics, Semiconductors,
Transducers)
microelectronic
electrical engineering
detector technology
molecular electronic
[Biosensing Techniques]
Biosensor*
[Genetic Structures]
[Biotechnology]
Biotechnolog*
[Tissue-Engineering]
Nanobiotech*
epigenetic
[Lasers]
Photonic*
Laser*
Biophotonic*
Technology
[Nanotechnology]
Nanotech*
Nanosyst*
Polymer technology
Nitinol*
coating technology
Manufacturing Engineering
[Diagnostic Imaging]
‚Medizintechnik’
‚Forecasting/Foresight’
[MeSH]
[MeSH]
[Forecasting]
[Technology, Medical]
(enthält Futurology;
(enthält medical technology,
Projections and Predictions;
Medical Laboratory
Future; Population Forecast;
Technology)
Population Projection)
[Biomedical Technology]
(enthält Health Care
Technology; Health
Technology; Biomedical
Technologies)
[Biomedical Engineering] (enthält
Clinical Engineering)
In einem zweiten, hierzu komplementären Schritt wurde die Suchstrategie zusätzlich um eine
Freitextsuche nach den jeweiligen Schlüsseltechnologien erweitert. Aus dieser Recherche ergaben
sich im ersten Schritt 268 Treffer und im zweiten Schritt bei der Erweiterung um die Freitextsuche
952 (268+684) Treffer. Die Literaturstellen wurden anhand des Titels und/oder Abstracts selektiert
und der eigentlichen Analyse zugeführt (32 bzw. 39 Literaturstellen).
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
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Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Der zweite Block der Recherchen, der über die Zeitschriftenartikel der Medline hinaus vor allem
Monographien und Studien mit Bezug zum Themengebiet erfassen sollte, erfolgte über weitere
Recherchequellen, die im folgenden aufgelistet sind:
•
•
•
•
•
•
Bibliothekskataloge (OPAC der Zentralbibliothek Medizin in Köln und der Deutschen Bibliothek
in Frankfurt)
Suchmaschine im Internet (GOOGLE)
Internetseiten und schriftliche Anfrage bei Verbänden, Vereinen und Organisationen im
technischen Bereich (z. B. Deutsche Gesellschaft für angewandte Optik e.V., Svitg Spitzenverband Informationstechnologie im Gesundheitswesen, NeMa e. V. Interessengemeinschaft
Neue Materialien in NRW e.V., Deutscher Verband für Materialforschung und -prüfung e.V.,
Deutsche Forschungsvereinigung für Mess-, Regelungs- und Systemtechnik e.V., Deutscher
Industrieverband für optische, medizinische und mechatronische Technologien e.V., GMM
Gesellschaft Mikroelektronik Mikro- und Feinwerktechnik)
Zeitschriftenarchive (NATURE, SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, TIME, NEWSWEEK, DIE ZEIT, GEO)
Bestände der Konsortialpartner und eigener Bestand
ergänzende Metaanalyse der zur Dokumentation der Forschungsschwerpunkte und
Publikationsleistung durchgeführten FIZ bzw. INSPEC Recherche aus Kap. 7.4 51
Die Aufspreizung der Analyse auf verschiedene Quellen dient unmittelbar der Qualitätssteigerung
der Recherche. Sie trägt zum einen der Tatsache Rechnung, dass viele Zukunftsstudien oder
Strategiepapiere als Auftragsarbeiten erstellt werden und nicht offiziell publiziert werden (d. h.
keine ISBN oder ISSN Nummer haben), so dass die Erfassung und der Zugang erschwert wird.
Zum anderen verringert die Verwendung mehrerer verschiedener Literaturquellen eine
systematische Verzerrung des Ergebnisses durch Vorselektion des Bestandes einer (einzelnen)
Datenbank. (Bias). Eine systematische Verknüpfung der drei o. g. Suchkategorien aus der Medline
Recherche wurde bei den ergänzenden Analysen soweit wie möglich aufrechterhalten.
Zugang zum Datenbestand
Über die Selektion anhand von Titel und/oder Abstract wurde der Datenbestand aus der Medline
Recherche deutlich reduziert. Insbesondere die Erweiterung um die Freitextsuche nach
Schlüsseltechnologien brachte nur wenige neue Literaturstellen. Nach dieser Selektion sorgte
schließlich die Verfügbarkeit oder die Volltextanalyse für eine weitere Reduktion der auswertbaren
Stellen.
Insgesamt konnten aus den diversen Recherchen abseits der Medline Datenbank deutlich mehr
relevante Stellen identifiziert werden. Darüber hinaus wurde der Datenbestand aus den
Querverweisen der ausgewerteten Stellen ergänzt. Ein Vorgang, der den Rechercheaufwand
insbesondere durch die zeitlich aufeinander folgenden Rechercheschritte erheblich vergrößerte.
Schließlich schränkten auch die z. T. enormen Kosten entsprechender Foresight-Studien die
Anzahl der auswertbaren Quellen ein.
51
540
Dazu wurden die beschriebenen Suchstrategien auf die Ergebnisdatenbank aus FIZ und INSPEC der in
Kap. 7.4.1 beschriebenen Recherche angewendet. Von den erzielten Treffern konnte anhand der gesichteten
Titel und Abstracts kein relevanter Artikel identifiziert werden.
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Tabelle 10.2:
Anzahl der in die Volltextanalyse eingegangenen Literaturstellen
Quelle
Medline
Sonstige
Zwischensumme
Mismatch / nicht verfügbar
Summe, Datenbasis
10.3.2
Anzahl
39
118
157
-33
124
Auswertungsverfahren, Kategorisierung der Fundstellen
Zur Abschätzung und Einordnung der Literaturbasis für die Analyse wurden die Fundstellen im
Rahmen einer Sichtung nach folgenden Kriterien kategorisiert:
Tabelle 10.3:
Kriterien zur Kategorisierung der gefundenen Literaturstellen
Kriterium
Ausprägung
Erläuterungen
Publikationsart
Artikel
Monographie
Datenbasis
Foresight-Daten
Potential
Sekundär-Daten
Technologie
Zeitschriftenaufsätze, Abstracts, etc
Studien, Bücher, Buchbeiträge,
Abhandlungen
Publikation mit empirischer Erhebung von
Zukunftsdaten (z. B. Delphi-Methode)
überwiegend Literaturdaten
überwiegend wird der wissenschaftlichtechnische Fortschritt/ dessen
Leistungsfähigkeit beschrieben
überwiegend wird das ökonomische
Potential beschrieben und z. B. durch
zukünftige Marktvolumina die
Umsatzerwartung beziffert
Marktdaten
Technologiebezug
1) eine
1)
Biotechnologie
1)
Nanotechnologie
1)
Mikrosystemtechnik
1)
Informationstechnologie
1)
Optische Technologie
1)
Zelltechnologie
1)
Elektronik
1)
Biohybride Systeme
1)
Produktions- und
Managementtechnik
Neue Werkstoffe/Materialien 1)
Zukunft der Medizin allgemein z. B. die Versorgung oder den Workflow
betreffend, ohne unmittelbaren Bezug zu
einer/mehreren Technologien
Medizintechnik insgesamt
die Branche, den Technologieeinsatz in den
Medizin allgemein betreffend
Technologie allgemein bzw.
kein eindeutiger Schwerpunkt auf eine
viele Technologien
einzelne Technologie
der gem. Kap. 9.2.3 festgelegte Schlüsseltechnologie
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
541
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Die getroffene Zuordnung der Kriterienausprägung wurde im Rahmen der Detailanalyse überprüft
und ggf. korrigiert. Darüber hinaus schätzte der Bearbeiter die Relevanz der Fundstelle für die
Fragestellung auf einer 3-stufigen Skala von A-C nach absteigender Bedeutung ein, wobei
Zwischenstufen (AB und BC) zulässig waren.
Tabelle 10.4:
Skala zur Einstufung der Relevanz der Fundstellen
Relevanz
Erläuterung
A
Die Fundstelle ist als Foresight /Forecast i. e. S. anzusehen, mit
Primärdaten und konkreten Bezügen zwischen Technologieentwicklung
einer Schlüsseltechnologie und Medizin bzw. Medizintechnik.
A/B
B
Die Fundstelle basiert auf Sekundärdaten, weist klare Technologiebezüge
auf; die konkrete Prognose (Zeiträume) zur Wirkung der Technologieentwicklung ist entweder wissenschaftlich oder ökonomisch ausgerichtet.
B/C
C
Bezüge zur Zukunft, zur Auswirkung einer Technologie, zur
Medizintechnik sind schwach, nicht konkretisiert oder gar nicht
ausgeprägt.
Es werden z. B. nur die Auswirkungen wissenschaftlicher Entwicklungen
auf die Arbeit des Sachverständigenrates diskutiert oder die
Funktionsprinzipien einer innovativen Technik erläutert, aber keine Daten
ausgewertet.
Trotz der Kriterien bleibt die Beurteilung der Relevanz eine vergleichsweise subjektive, vom
Bearbeiter abhängige und eher grobe (unscharfe) Einteilung. Zur Verdeutlichung der Vorgehensweise dienen die nachfolgenden Beispiele, bei denen die Zuordnungsentscheidungen ausführlicher
erläutert werden.
Beispiel 1: Mini-Delphi Elektrotechnik, 2003
Hoffknecht A. (2003): Technologiefrüherkennung: Elektronik der Zukunft, Mini-Delphi-Studie, Technologieanalyse. Zukünftige Technologien NR.46, Studie des VDI im Auftrag des BMBF, Düsseldorf 2003
Publikationsart
Datenbasis
Potential
Technologiebezug
Monographie Studie
Foresight-Daten
Technologie
Informationstechnologie
Relevanz
A
In der Arbeit wird Elektronik als Basiswissenschaft für die Halbleitertechnologie (CMOS Technik,
Speichertechnologie etc.) verstanden, deren Bedeutung sich letztlich aus der IuK-Technologie
ableitet. Da eine Fragebogen gestützte Delphi-Technik zur Technologievorschau eingesetzt wurde,
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BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
ergab sich für die Relevanz die Kategorie A und – aus den vorangegangenen Erwägungen – der
Technologiebezug ‚Informationstechnologie’.
Beispiel 2: General Practice - New Technologies, 1999
DeVries, S. M. (1999): General practice and the new technologies. Med J Aust 171, 10, S. 526
Publikationsart
Datenbasis
Potential
Technologiebezug
Artikel
sekundär
Technologie
Informationstechnologie
Relevanz
C
‚Wie wirkt sich der PC auf den Alltag des Allgemeinarztes aus?’ Dieser Frage geht DEVRIES nach
und streift dabei Themen wie Arbeitsablauf oder Kommunikation u. ä. Eigene Daten werden nicht
erhoben, auch die Technologie als solche wird nicht in die Zukunft projiziert: Relevanz für die
vorliegende Fragestellung nach dem Innovationspotential von Schlüsseltechnologien: C.
Die Auswertung und Darstellung der Literaturanalyse ist insgesamt nach dem Grundsatz ‚vom
Allgemeinen zum Speziellen’ angelegt. Ausgehend von einem Überblick zur Datenlage
(Kap. 10.3.3 bis 10.3.6) führt die Auseinandersetzung über das Verhältnis von Schlüsseltechnologien insgesamt zur Medizintechnik bis hin zu ‚Potentialdossiers’ einzelner Technologien
(s. Kap. 10.5). Diese detaillierten Darstellungen basieren dann insbesondere auf dem Teil der
Fundstellen, die inhaltlich dem speziellen technologischen Schwerpunkt zugeordnet werden
konnten (s. Abbildung 10.3).
10.3.3
Art und Häufigkeit der Publikationen seit 1995
Zukunft-Schlüsseltechnologie-Medizin(technik) – sind insbesondere in ihrer Verknüpfung ein
Gegenstand, der sich eher für umfangreichere Abhandlungen eignet. Dies legt jedenfalls die
Verteilung der recherchierten Publikationen nahe. Von den insgesamt 124 identifizierten
Fundstellen aus den diversen Rechercheansätzen, die das Fundament aller nachfolgenden
Analysen darstellen, sind knapp zwei Drittel in Form von Monographien und Studien veröffentlicht
worden.
In der Entwicklung der Trefferzahl über den Betrachtungszeitraum deutet sich insgesamt eine
Zunahme der Publikationsintensität an. Der Trend scheint sich auch im Jahr 2004 fortzusetzen. So
konnten bis Mai (letzter erfasster Monat) 2004 schon mehr Fundstellen als im gesamten Jahr 2002
identifiziert werden.
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
543
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Abbildung 10.2:
Art und Häufigkeit der identifizierten Publikationen von 1995-2004 zum
Themenkreis ‚Zukunft-Schlüsseltechnologie-Medizin(technik)’, insgesamt 124
Fundstellen
50
40
Monographien
Anzahl
Artikel
30
20
10
0
1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004
Recherche AKM
*das Jahr 2004 wurde nur bis 05/2004 erfasst.
10.3.4
Thematische Streuung
Die Mehrzahl der Arbeiten setzen sich mit allgemeinen Fragestellungen (Medizin allgemein,
Technologie allgemein, Medizintechnik allgemein) und dem Blick auf die Zukunft auseinander.
Gerade in diesem eher unspezifischen Themenfeld finden sich die meisten primären (datengestützen) Foresights. Bei der Betrachtung spezifischer Schlüsseltechnologien liegen die meisten
Arbeiten (überwiegend sekundäre Analysen) für Nanotechnologie, Informationstechnologie und die
Mikrosystemtechnik vor.
Die beherrschende Stellung der Nanotechnologie in der Anzahl der Publikationen ist sicher auch
dem ‚Hype’ geschuldet, den diese Disziplin seit Ende der 90er Jahre durchlebt. Der Vorstoß in
neue Dimensionen mit bislang unbekannten physikalischen Eigenschaften hat euphorische
Erwartungen hervorgerufen. In ihrem Gefolge haben zunächst die USA und dann auch viele
andere Industrienationen wie Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Japan und Süd-Korea
nationale Initiativen begründet und millionenschwere Förderprogramme aufgelegt (ROCO 2003), in
deren Umfeld zahlreiche Abhandlungen publiziert wurden.
Im Bereich der Informationstechnik und der Mikrosystemtechnik (wobei letztere sich oft mit der
Nanotechnologie in einer Linie fortgesetzter Miniaturisierung sieht) spiegelt die Publikationshäufigkeit auch den sehr hohen Vernetzungsgrad der Akteure wider. Insbesondere für die
Mikrosystemtechnik fällt der hohe Organisationsgrad auf, der sich an aktiven Netzwerken in
Deutschland (IVAM, Projektträger Mikrosystemtechnik VDI | VDE IT, VDE Mikromedizin) und auf
europäischer Ebene (NEXUS) festmachen lässt.
544
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Abbildung 10.3:
Technologieschwerpunkte und Datenbasierung der identifizierten
Publikationen
zum
Themenkreis
‚Zukunft-SchlüsseltechnologieMedizin(technik)’, insgesamt 124 Fundstellen
Produktions- und Managementtechnik
Elektronik
Biohybride Systeme
primär (Foresight)
Neue Werkstoffe/Materialien
sekundär
Zelltechnologie
Optische Technologie
Biotechnologie
Mikrosystemtechnik
Informationstechnologie
Nanotechnologie
Medizintechnik insgesamt
Technologie allgemein bzw viele Techn.
Allgemein Zukunft der Medizin
0
5
10
15
20
Recherche: AKM
Die Gegenüberstellung der geringen Publikationsintensität bei Neuen Werkstoffen/Materialien und
der hohen bei Nanotechnologie offenbart eine methodische Schwierigkeit: die Technologieabgrenzung bzw. –zuordnung. Einer der wichtigsten Innovationsschübe der Nanotechnologie wird
für die Entwicklung neuer Oberflächenstrukturen und Materialeigenschaft erwartet. Welcher
Schlüsseltechnologie ist eine Publikation zuzuordnen, die eine derartige Innovation behandelt?
Eine analoge Abgrenzungsproblematik zeichnet sich zwischen der IT und der
Elektronik/Elektrotechnik ab. Im Allgemeinen wurde in der Zuordnung dem Blickwinkel des Autors
gefolgt, der entweder z. B. aus der Nanotechnologie Impulse u. a. für die Elektrotechnik erwartet
oder aber umgekehrt. Die Subjektivität der Zuordnung durch den Bearbeiter begrenzt in gewisser
Weise die Aussagekraft der Analyse. Dennoch – auch unter Berücksichtigung der beschriebenen
Rahmenbedingung – muss die Intensität der Auseinandersetzung mit einer Technologie gemessen
an der Anzahl der Veröffentlichungen als erstes Indiz für das ihr zugeschriebene Potential
angesehen werden.
10.3.5
Relevanz der Fundstellen
In der 2. Phase der Sichtung wurden die Fundstellen nach Durchsicht des Volltextes bzgl. ihrer
Relevanz für die Fragestellung beurteilt. Insgesamt ca. 45 % der Publikationen weisen konkrete
und unmittelbare Bezüge zum Thema auf (s. Tabelle 10.4) und werden in die Kategorien A bzw.
A/B eingruppiert. Weitere ca. 34 % sind zumindest in Teilaspekten relevant, während 21 % (B/C
bzw. C) nicht zum Thema zählende Fragestellungen behandeln. So ist z. B. die detaillierte
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
545
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Auseinandersetzung mit der Fernwartung von Medizingeräten (WEAR 1999) als Randthema
eingestuft worden (Relevanz C), da die möglichen Impulse von Schlüsseltechnologien insgesamt
auf die Medizintechnik von morgen im Fokus stehen.
Abbildung 10.4:
Einschätzung der Relevanz der Fundstellen nach Kategorien von A bis C
(absteigende Bedeutung, s. Tabelle 10.4)
A
Relevanz
A/B
B
B/C
C
0
10
20
30
40
50
Anzahl
10.3.6
Zwischenresümee der Sichtung
Zusammenfassend stellt sich die Literaturlage insgesamt als stark fragmentiert dar. Es konnten nur
sehr wenige primäre Foresights zur Fragestellung identifiziert werden, die empirische Daten zur
Auswirkungen von Schlüsseltechnologien bzw. ihrer Teilaspekte auf die Medizintechnik beinhalten
und in ihrer Projektion auch konkrete Zeiträume benennen. Hinzu kommt, dass einige
Technologien bzgl. der Literaturlage dicht besetzt sind, während zu anderen nur einzelne
Fundstellen gefunden wurden. Insofern stellt die nachfolgende Analyse den Versuch dar, die über
viele Publikationen verteilt auftretenden Einzelaussagen zusammenzuführen und – trotz
bestehender Lücken – zu einem Bild zu verdichten.
10.4
10.4.1
Grundlegende Fortschrittsdimensionen
Vorbemerkungen
Betrachtet man in einem ersten Schritt zunächst nur die Schlagworte und Überschriften der
recherchierten Fachaufsätze und Studien zu Zukunft und technologischer Innovation in der
Medizin, so entsteht der Eindruck, dass trotz aller Spezifität drei grundlegende Aspekte in diesen
Begriffen immer wieder angesprochen werden bzw. mitklingen:
•
•
•
546
medizintechnische Geräte werden immer kleiner: Miniaturisierung
die Verknüpfung mit elektronischer Datenverarbeitung: Computerisierung
die Betrachtungsebene verlagert sich in den Bereich von Molekülen oder gar Atomen:
Molekularisierung
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Der genauere Blick auf die Bestandteile oder Silben der Schlagworte verdeutlicht den
Zusammenhang:
•
•
•
‚mini-mikro-nano’: Geräte oder Bausteine technischer Fortschritte werden immer kleiner:
Miniaturisierung.
‚computer-virtual-chip-sensor’: Verfahren sind mehr oder weniger direkt abhängig von der
Leistungsfähigkeit modernster EDV: Computerisierung.
‚Bio-Gen-Proteo-Molekül’: Ansätze gehen auf die Aufklärung des Genetischen Codes oder
die mit der Genexpression im Zusammenhang stehenden Erkenntnisse und Techniken
(Regulation, Proteinwirkung und -synthese etc.) zurück: Molekularisierung.
Abbildung 10.5:
Zuordnung der grundlegenden Aspekte medizintechnischer Innovationen
‚Miniaturisierung’, ‚Computerisierung’, ‚Molekularisierung’ zu häufigen
Schlagworten der recherchierten Literatur.
Versucht man nun gewissermaßen in umgekehrter Blickrichtung, diese elementaren Aspekte
wieder auf die häufig in der Literatur vorkommenden Schlagworte zu projizieren (s. Abbildung
10.5), so zeigt sich, dass oftmals die Grundaspekte miteinander kombiniert zugeordnet werden
können, um den technologischen Charakter des Begriffs möglichst zutreffend zu beschreiben.
Zusammenfassend zeichnen sich im Sinne einer ersten Annahme drei grundlegende Aspekte ab,
die gewissermaßen oberhalb der Ebene von Schlüsseltechnologien für die Zukunft der Medizin von
grundlegender Bedeutung zu sein scheinen: Computerisierung – Miniaturisierung – Molekularisierung.
MAU kommt in seiner Abhandlung zu ‚Erfolgsfaktoren für Innovationen in der Medizin’ (MAU, F. in:
LAUBACH et al. 2002) zu einer in der Grundtendenz übereinstimmenden Sichtweise.
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
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Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Abbildung 10.6:
Innovationsdimensionen in der Medizin (aus: MAU 2001, S. S. 12,
Originalabbildung).52
MIC: Minimal Invasive Chirurgie; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Springer-Verlages, Heidelberg, sowie der
Autoren F. und Th. Mau.
MAU geht zunächst davon aus, dass Neuerungen in der Medizin nicht als Sonderfall anzusehen
sind, sondern eingebettet in den allgemeinen technisch-wissenschaftlichen Fortschritt sind:
„Es sind demnach v .a. 3 wissenschaftlich-technische Revolutionen, die auch im Bereich der Medizin
einen nachhaltigen Forschungs- und Entwicklungsschub auslösen bzw. ausgelöst haben:
- die Erschließung mikrophysikalischer bis hin zu subatomaren Strukturen
- die Entschlüsselung der DNS
- die Entwicklung der elektronischen Computer“
(MAU, F. in: LAUBACH et al. 2002, S. 8)
Aus den zitierten ‚Revolutionen’ werden schließlich Forschungsdimensionen abgeleitet, die eine
Entwicklungsrichtung aufweisen und damit gleichsam zu den Achsen eines 3-dimensionalen
Koordinatensystems des medizinischen Fortschritts werden. Zukünftige Innovationen tragen
demnach je nach Lokalisation in diesem Fortschrittswürfel die drei Dimensionen in individueller
Weise in sich. Dies korrespondiert stark zu der oben angestellten Schlagwortanalyse, nach der sich
diese Eigenart auch in den Begriffen widerspiegelt.
Einzig der Verwendung des Begriffs ‚Biotechnologie’ für eine der drei Fortschrittsdimensionen soll
hier nicht gefolgt werden, denn in den folgenden Analysen soll darunter eine Schlüsseltechnologie
verstanden werden. Auch mit Blick auf ‚Computerisierung’ und ‚Miniaturisierung’ als den ParallelBegriffen erscheint die Bezeichnung ‚Molekularisierung’ für das weitere Vorgehen zutreffender und
angemessener.
52
548
im Original erläutert der Autor die Darstellung wie folgt:
„Abbildung 1. Innovationsdimensionen in der Medizin. Die Pfeile sollen die Entwicklungsrichtung der jeweiligen
Innovationsdimension andeuten. Die an den Würfelkanten aufgeführten Entwicklungsschritte sind nur
exemplarisch zu verstehen und bilden die Entwicklungsdimensionen nicht vollständig und entwicklungshistorisch
korrekt ab. An den Punkten 1,2 und 3 lassen sich Beispiele für die Überschneidung der Innovationsdimensionen
angeben. […] MIC Minimal invasive Chirurgie.“ (MAU, F. in: LAUBACH et al. 2002[442], S.12)
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Das folgende Zwischenfazit bildet als Arbeitshypothese die Grundlage für die nachfolgenden
Analysen und Auswertungen: Die erwarteten technischen Fortschritte in der Medizin lassen sich im
Wesentlichen auf drei Hauptkomponenten zurückführen: Miniaturisierung, Computerisierung,
Molekularisierung. Gleichsam als Achsen eines Entwicklungskoordinatensystems könnten diese
Fortschrittsdimensionen zur Einstufung/Charakterisierung medizintechnischer Zukunftslösungen
angewendet werden. Diese Annahme stützt sich nicht nur auf die vorangegangene Betrachtung
häufig in der Literatur vorkommender Schlagwörter und die Arbeit von MAU (in: LAUBACH et al.
2002). Auch die Bedeutung der Technologieschwerpunkte in der Recherche gemessen an der
Häufigkeit ihres Auftretens (s. Abbildung 10.3) und die damit einhergehende tiefer gehende
Durchsicht der Texte selbst deuten ebenfalls darauf hin, dass die genannten Fortschrittsdimensionen eine übergeordnete Rolle im Innovationsgeschehen für die Medizintechnik spielen.
10.4.2
IuK-Technologie – Enabler der Medizintechnik
„Als Enabler für andere Zukunftstechnologien spielen Informations- und Kommunikationstechnologien
eine überragende Rolle im Innovationsprozess.“ (H.-J. BULLINGER, in: MILLER 2004, S.8)
Trotz der bereits gegebenen Vielfalt zusammengesetzter Technologiebegriffe (Basis~, Zukunfts~,
Schlüssel~, Anwendungstechnologie etc.) ist die Verwendung der Bezeichnung ‚Enabler’ im
vorliegenden Fall hilfreich und richtungweisend. Sie deutet an, dass sich Schlüsseltechnologien
nicht nur primär bzgl. ihres Gegenstandes abgrenzen lassen (z. B. Bio- versus Kommunikationstechnologie), sondern sich auch - und zwar erheblich - hinsichtlich der Art ihrer (Aus-) Wirkung
unterscheiden. IuK-Technologie ‚aktivieren’, ‚befähigen’, ‚geben frei’, ‚ermöglichen’ (engl.: to
enable) Innovationen anderer Schlüsseltechnologien und damit auch die Entwicklung neuer
Anwendungen. Der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien
e.V. (2003) spricht daher von der „…zunehmenden Bedeutung als Katalysator für
Innovationen…“(s. 4). Dies gilt auch und gerade für das Verhältnis von IuK zur Medizin und zur
Medizintechnik (s. Kap. 7.12.6).
Entwicklungslinien in der IuK – Technologie
Verallgemeinert betreffen die Fortschritte der Informationstechnologie einen oder mehrere der
folgenden Bereiche: Erhöhung oder Steigerung der Prozessorleistung, der Speicherkapazität und
des –zugriffs sowie die Verfügbarkeit/Übertragbarkeit von Daten.
Die dem Moore’schen Gesetz53 folgende Verdopplung der Rechenleistung etwa alle 18 Monate hat
unseren Alltag längst erreicht. Für die weitere Zukunft wird ein diese ‚übliche’ Steigerungsrate bei
weitem übertreffender Innovationssprung vorausgesagt:
53
streng genommen sagt das Moore’sche Gesetz die Verdopplung der Anzahl der Transistoren, die auf einem
Chip (IC) untergebracht werden können, alle 18-24 Monate voraus.
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
549
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
“...that by the year 2030, we will be awash in computing power of cosmic proportions, ...“ (ELLIS 1999, S.
18)
Dabei gilt das Wachstum, das laut der International Technology Roadmap for Semiconductors
ITRS (ITRS 2003) noch bis 2018 so fortschreiten wird, auf Basis der heute präferierten SiliziumTechnologie langfristig als begrenzt. Als Grund dafür werden die mit zunehmender Miniaturisierung
überproportional steigenden Herstellungskosten insbesondere bei der Fotolithographie genannt.
Der Innovationssprung wird mit einem Technologiewandel verknüpft sein. So spricht TRISTAM
(TRISTAM 2004) davon, dass zukünftig organische Moleküle das Herz eines Prozessors ausmachen
werden. Molekularelektronik und Nanotechnologie fallen als Schlagworte für Werkzeuge, mit deren
Hilfe vielleicht in ein bis zwei Jahrzehnten Strukturen weit unter der heutigen Silizium-Auflösung
von etwa 90 nm kontrolliert aufgebaut werden können. Damit entstünden nicht nur 1000fach dichter
gepacktere Chips als heute verfügbar. Auch die Speicherung von Daten könnte in ähnlicher Weise
in neue Dimensionen vordringen.
Nach HOFFKNECHT (2003) wird – so die Meinung der mit der Delphi-Methode befragten Experten –
die CMOS-Technologie allerdings noch einige Jahre ihre Vormachtstellung behalten. In einigen
Nischen könnten sich ggf. alternative Verfahren wie z. B. Polymerelektronik, Magneto- oder
Ferroelektronik erfolgreich entwickeln. Gerade in den beiden letztgenannten Technologiefeldern
werden von den o. a. Fachleuten für Deutschland besondere Stärken gesehen, auch wenn
insgesamt die USA als Technologieführer (Kompetenz) eingestuft werden.
Neben der Steigerung von Rechen- und Speicherleistung gilt der drahtlosen Datenübertragung und
Netztechnologie gerade in jüngerer Zeit besondere Aufmerksamkeit. Zudem werden dem Stichwort
‚ubiquitous computing’ nicht nur die allgegenwärtige Möglichkeit auf Datenzugriff, sondern auch die
Integration von Sensoren (und Sendern) in unsere unmittelbare Umwelt wie z. B. die Kleidung
verstanden (VDI|VDE-IT & NORD-LB 2003). Im Sinne eines ‚personal monitoring’ könnten zukünftig
z. B. physiologische Daten einer Person erfasst und bis zu einem Auswertungs- oder
Überwachungszentrum übertragen werden, um Notfallsituationen frühzeitig erkennen zu können.
Insgesamt zeichnet sich ein Bild der Zukunft ab, in dem Rechenleistung und Datenübertragungskapazitäten kaum noch als limitierende Faktoren anzusehen sind. Vielmehr werden mehr oder
weniger beliebig umfangreiche Datenbestände an nahezu jedem Ort verfügbar sein. Anders als
viele andere Schlüsseltechnologien hat die IuK in der Vergangenheit ihre Fortschrittsdynamik
(Steigerungsrate) unter Beweis gestellt. HERRICK & PATTERSON (2000) kommen daher mit Blick auf
die Gesundheitsversorgung zu folgendem offensiven Fazit:
“Dramatic advances in the area of healthcare information technologies are also driving the creating of a
true healthcare ‘Information Age’.” (HERRICK & PATTERSON, 2000, S. 31)
Folgt man dieser Einschätzung, dann scheint das Potential des Enablers IuK für die Medizin(technik) trotz der gebotenen Zurückhaltung enorm groß zu sein.
Der Anteil medizinischer Anwendungen am Gesamtmarkt der IuK-Branche ist schwer
abzuschätzen. Der deutsche IuK-Binnenmarkt wird mit ca. 126 Mrd. € für 2003 (EITO 2004, S. 276)
550
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
beziffert und ist damit etwa acht- bis zehnmal größer als das entsprechende Volumen der
Medizintechnik (s. Kap. 4.2).
Innovationspotential der IuK – Technologie für die Medizin
Es ist wohl die Vielzahl und die breite Streuung möglicher Impulse, mit der innovative IuKLösungen mittelbar und unmittelbar die Zukunft des Gesundheitswesens beeinflussen können, die
die Bedeutung als Enabler der Medizin ausmacht. In Diagnose und Therapie, in ambulanter oder
stationärer Versorgung, in Akutbehandlung oder Rehabilitation, in Aus- und Weiterbildung wie auch
im Arbeitsalltag (Workflow) aller Gesundheitsberufe – sowie nicht zuletzt in der Vernetzung aller
Beteiligten im Versorgungsprozess hin zu einem integrierten System werden große Potentiale der
Informationstechnologie gesehen:
„But it’s clear that changes in information technology will continue to be one of the, if not the, prime
catalyst of health care over the next ten years.” (AMARA et al. 2003, S. 135)
Vernetzung, Integration, Management (eHealth):
¾ Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (als Einstieg in die elektronische
Patientenakte) sowie der Authentifizierungskarte für die Angehörigen der Fachberufe (HPC,
health professional card) soll gemäß Aktionsplan der Bundesregierung im Jahr 2006 flächendeckend vollzogen sein (BUNDESMINISTERIUM FÜR WIRTSCHAFT UND ARBEIT BMWA & BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG BMBF (Hrsg.), 2003). Erklärtes Ziel ist die
Ausschöpfung bislang brach liegender Ressourcen und damit die Steigerung von Effizienz
und Effektivität54:
„Zwischen 20 und 40 % der Leistungen im Gesundheitswesen entfallen auf Datenerfassung und
Kommunikation. Dies deutet auf ein großes Rationalisierungspotential hin.“ (BUNDESMINISTERIUM FÜR
WIRTSCHAFT UND ARBEIT BMWA & BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG BMBF (Hrsg.), 2003,
S.65)
¾ Der Bundesverband BITKOM prognostiziert allein durch die Einführung des elektronischen
Rezeptes in Verbindung mit der Gesundheitskarte jährliche Einsparungen von bis zu
1,26 Mrd. EUR. (BITKOM 2003).
¾ Mit der Einführung der Diagnosis Related Groups (DRG) hat der Wandel der Arbeitsprozesse
im Alltag der Versorgungsberufe erheblich an Dynamik gewonnen. Dies ist insbesondere
dadurch bedingt, dass die Krankenhäuser durch die Erlössteuerung über Fallpauschalen
gezwungen sind, moderne Kostenrechnungssysteme bis hin zur Prozesskostenrechnungen
einzuführen. Krankenhausinformationssysteme (KIS) sind daher auf dem Vormarsch und
werden zukünftig insbesondere durch drahtlose Netztechnologien weiteren Auftrieb erhalten.
Markterlöse für WLAN in Europäischen Kliniken liegen für 2001 bei 12,3 Mio. US-$ und sollen
bis 2007 auf 92,3 Mio. US-$ anwachsen. (ÄRZTE ZEITUNG 2003), das Marktvolumen für
54
Arzt und Patient rücken kommunikationstechnisch näher zusammen, virtuelle Leistungsallianz (s. Kap. 7.12.6.4)
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
551
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Krankenhausinformationssysteme wird allein für Deutschland mit 600 Mio. € veranschlagt
(VDI-VDE-IT & NORD/LB 2003).
Digitalisierung in Diagnose und Therapie:
¾ Bildgebung
Zunehmende Rechenleistung und neue Displaytechniken werden in Zukunft zu 3-dimensionalen skalierbaren Bildern (bis 2009, FLOWER et al. 2000) in Echtzeit (FRAUNHOFER
GESELLSCHAFT 2004) führen, die schließlich eine virtuelle Reise durch die Organe eines
Patienten ermöglichen. Neben der rein morphologischen Organdarstellung wird als weitere
Qualität die bildhafte Darstellung der Organfunktion hinzukommen (AMARA et al. 2003). Die
verschiedenen Bildgebungsmodalitäten (z. B. Röntgen, Ultraschall, Magnetresonanz) werden
kombiniert bzw. integriert (ASHTON 1997). Durchbrüche bei der Entwicklung von Algorithmen
und Techniken zur Datenauswertung z. B. für die Mustererkennung ermöglichen
den Umgang und die Verdichtung der anfallenden riesigen Datenmengen (s. Kap. 7.12.6.1).
Als eine wichtige Hürde für die Entwicklung der Bildgebung insgesamt wird die fehlende
Substitution älterer Verfahren durch innovative Technologien angesehen. Die damit verbundene Kostensteigerung steht im Widerspruch zu den Sparanstrengungen nahezu aller
Gesundheitssysteme.
¾ Computer assisted surgery (CAS), Robotics
’Ärzte sitzen bei der Operation in einem Cockpit und steuern umgeben von Bilddaten,
erweiterter Realität und künstlicher Intelligenz die Tätigkeit eines extrem präzise arbeitenden
OP-Roboters’ (SHANI 2000). Auch wenn diese Vision in ihrer Gesamtheit utopische Züge
trägt, so finden sich viele der genannten Elemente auch in den Zukunftsprojektionen anderer
Autoren: die Echtzeitbilddaten des Patienten werden mit der Position der Instrumente
(Trajektorie) überlagert (Navigation, AMARA et al. 2003, ELLIS 2000), die ggf. selbst Bilder aus
dem Köperinneren liefern werden (ASHTON 1997). Bereits in der OP-Vorbereitung und
Planung werden virtuelle Organmodelle aus realen Daten des jeweiligen Patienten verfügbar
sein. Entsprechende Prozeduren können dann auch in der Aus- und Weiterbildung des
Fachpersonals eingesetzt werden. Während der computergestützten Operation, die sich nach
wie vor auf den (menschlichen) Operateur verlässt, durchweg gute und eher kurzfristige
Entwicklungschancen eingeräumt werden, gehen die Meinungen zum Einsatz von Robotern
auseinander. Größerer Forschungsaufwand und Sicherheitsprobleme lassen eine eher
langsamere Entwicklung erwarten, in Deutschland sind nur vergleichsweise wenige
Forschungsgruppen auf diesem Gebiet identifiziert worden (s. Kap. 7.12.6.3)
¾ Informationsbasierte Medizin, Expertensysteme
Die Fülle an relevanten Informationen aus diagnostischen Verfahren, der individuellen
Patientenhistorie inkl. der genetischen Prädisposition, die zunehmende Spezialisierung und
die generelle Digitalisierung der medizinischen Versorgung lassen die Vision des „just in time
knowledge“ (FLOWER et al. 2000) entstehen, das ortsungebunden jederzeit verfügbar (WYKE
1997, SHANI 2000, PRICEWATERHOUSECOOPERS 2000) und aktualisierbar ist. Entscheidungen
der Therapeuten werden auf der Basis dieser integrierten Information und des verfügbaren
Expertenwissens, die zu Therapieoptionen verdichtet werden, gefällt (ROSOW & GRIMES
552
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
2003). Dies wird natürlich einen großen Einfluss auf den Arbeitsprozess in der Gesundheitsversorgung haben:
„…and analysts predict that 20 percent of physicians will be using handheld devices by 2004.” (AMARA et
al. 2003, S. 136)
¾ Personal health monitoring, remote monitoring, Telemedizin
Neue Möglichkeiten in der Datenübertragung und Sensorik öffnen den Weg zur Fernüberwachung und –betreuung von Patienten: z. B. ‚health-watch’ (SHANI 2000), ‚body-areanetwork’ (FRAUNHOFER GESELLSCHAFT 2004) oder ‚smart-clothing’ (FLOWER et al. 2000)
kennzeichnen die Zukunft einer kontinuierlichen Überwachung von physiologischen oder
psychischen Zustandsgrößen etwa zur Prävention von Notfallsituationen oder zur Dosierung
der Medikation chronisch Kranker.
¾ in vitro-Diagnostik, Point-of-Care, Bioinformatik
Miniaturisierung und Hochdurchsatzverfahren lassen aus ehemals raumfüllenden Analysegeräten tragbare z. T. chip-basierte Diagnosehelfer werden, die trotz kleinster Proben
komplexe Tests in großer Geschwindigkeit auch unmittelbar in der Behandlungssituation
(Point-of-Care) durchführen können. Auch dabei fallen enorm große Datenmengen an, deren
Übertragung, Darstellung und Interpretation erst mit der prognostizierten Leistungssteigerung
zukünftiger Hard- und Software möglich sein wird (BURTIS 1995). Die stark zunehmende
Sensibilität der Verfahren bis hin zu einer molekularen Diagnostik erinnern an die informationstechnische Entwicklung innerhalb des Human Genome Project zur Strukturaufklärung
des menschlichen Erbgutes: die Gründung einer neuen Teildisziplin, der Bioinformatik. Erst
mit ihren Fortschritten konnte die enorme Datenflut strukturiert bewältigt werden.
Eine Vision für die Entwicklung der Informationsgesellschaft geht davon aus, dass wir alltäglich von
intelligenten, intuitiv bedienbaren Interfaces umgeben sind, die uns einen Zugang zu Informationen
jeder Art ermöglichen: ’Ambient Intelligence in Everyday Life’. Projiziert man diese Vorstellung auf
die Gesundheitsversorgung, so tauchen viele der gerade beschrieben Entwicklungen und
Innovationen wieder auf. Unter Berücksichtigung des Zeitverlaufs haben FRIEDEWALD & DA COSTA
(2003) eine ‚Roadmap’ von entsprechenden Zukunftstechnologien in der Schnittmenge zwischen
IuK und Medizin (healthcare) aufgestellt. Danach ist z. B. in naher Zukunft (bis 2008) die breite
Annwendung administrativer Informationssysteme (z. B. elektronische Patientenakte) zu erwarten,
während die automatisierte Diagnose erst in der Mitte des kommenden Jahrzehnts zur Reife
gelangen wird.
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
553
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Abbildung 10.7:
Technologie-Roadmap zu Anwendungen des ‚Ambient Intelligence’ in der Gesundheitsversorgung; aus: FRIEDEWALD & DA COSTA 2003, S. 140
(Originalabbildung)
Application
Key Function
Prevention
Monitoring
Consultation
Information and
Education
Prediction
Cure
2003
2004
2005
Pilot System
Monitoring
Attending
Health
Commerce
manage-ment
and adminiIdentification and
stration
authentication
554
2008
2009
2010
2011
2012
2013
Maturation of Technology
2014
2015
2016
2017
2018
2019
Non personalised
services
Personalised Services
Simple, data-based
prediction
Advanced, diagnosing prediction
First Prototype
Systems
First Prototypes
Party automated diagnosis
First simple prototypes Maturation of
technology
First simple prototypes Maturation of
technology
First simple prototypes Maturation of technology
Proto- Commercial Systems
type
Prototypes
Advanced Systems
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
2020
>2020
Intelligent and Context Sensitive Monitoring Systems
Widespread use
Treatment and
Surgery
Care
2007
Simple prototyps
Diagnosis
Monitoring
2006
Automated Diagnosis
Intelligent and Context Sensitive Monitoring Systems
Intelligent and Context Sensitive Monitoring Systems
Intelligent and Context Sensitive Attending Systems
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Die vorgenannten Entwicklungspotentiale sind nicht nur von den Fortschritten der IuK Technologie
abhängig: für eine funktionale Bildgebung werden beispielsweise molekulare Marker benötigt, das
‚smart clothing’ braucht ausgefeilte Sensoren u. v. m. Ohne erhebliche Fortschritte in der
Digitalisierung der Medizintechnik werden jedoch zukünftige Marker oder Sensoren ihr Potential bei
weitem nicht entfalten können. IuK – Technologie ist also nicht nur Enabler der Medizin als
Ganzes, sondern auch und gerade der Medizintechnik im Speziellen.
„Last but not least, the role of information and communications technology (ICT) will become increasingly
important in the health technology sector.” (VAN BEUSEKOM & TWEEHUYSEN 2000, S. 8.)
Probleme beim Einsatz der Informationstechnologie
Neben wissenschaftlich-technologischen Hindernissen auf dem Entwicklungsweg in die
digitalisierte Zukunft der Medizin erwähnen verschiedene Autoren andere Einflussgrößen, die
entweder zu einer Verlangsamung des Innovationsprozesses oder gar zu einer völligen
Trendwende führen können. Solche Ereignisse, deren Eintreten zwar unwahrscheinlich ist, die aber
das Potential zu einem völligen Richtungswechsel aufweisen, werden im angloamerikanischen
Sprachgebrauch als ‚Wildcards’ bezeichnet.
Wildcard : ,Home monitoring bei chronisch Kranken ohne Kostenvorteile’
Sollten trotz breit eingeführter medizinischer Informationssysteme keine Kostenvorteile in der
Überwachung chronisch Kranker erkennbar sein, wird die Entwicklung der Technology in ihrem
‚Embryonalstadium’ verbleiben (AMARA et al. 2003, S. 146). Die hohen Erwartungen an die
Telemedizin (s. a. FRAUNHOFER GESELLSCHAFT 2004) könnten allein am Kostendruck im
Gesundheitswesen scheitern; ganz abgesehen von einer niedrigen Technikakzeptanz der
Zielgruppe (chronisch Kranke sind auch zumeist ältere Menschen) oder von den ethischen Fragen
in diesem Zusammenhang.
Mögliche Entwicklungshemmnisse für den Einsatz der Informationstechnologie liegen in folgenden
Aspekten:
Das Gesundheitswesen hinkt im Einsatz der IuK-Technologie hinterher.
Immer wieder wird der Gesundheitsversorgung, insbesondere den medizinischen Fachkräften,
gegenüber anderen Wirtschaftsbereichen eine gravierende Rückständigkeit im Einsatz moderner
Informations- und Kommunikationstechnologien bescheinigt (z. B. ROSOW & GRIMES 2003, WYKE
1997). Dies gilt auch für Deutschland, das bei der PC-Nutzung durch Allgemeinmediziner im EUweiten Vergleich an letzter Stelle rangiert (Bezugsjahr 2002, BMWA & BMBF 2003, S. 19). Die
Abneigung gegenüber dem Einsatz der informationstechnischen Werkzeuge kann sehr viele
Gründe haben: Sicherheitsbedenken, Überwachungsangst, geringe Alltagstauglichkeit der
Werkzeuge, veraltete Fachkenntnis, fehlende Investitionsneigung der Einrichtungen u. v. m. Sie
alle gilt es zu bedenken und zu überwinden, um die Dynamik des Innovationsgeschehens zu
erhalten oder zu steigern.
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
555
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Medizinische Irrtümer und Technologieeinsatz.
ROSOW & GRIMES (2003, S. 308) verweisen darauf, dass bei den 98.000 Todesopfern (im Jahr
2000 in den USA) infolge medizinischer Irrtümer der gestiegene Technikeinsatz eine wesentliche
Ursache war. Mit Blick auf die mögliche Einführung z. B. von DV-gestützten Expertensystemen in
der Diagnose stellt sich die Frage nach der Zuverlässigkeit und Qualität der eingesetzten
technologischen Unterstützungssysteme und danach, wie sie ggf. kontrolliert und sichergestellt
werden kann.
10.4.3
Molekularisierung in der Funktion, Miniaturisierung in der
Ausbringung bzw. Applikation
Wie schon in Kap. 10.4.1 dargestellt, wird die Computerisierung auch als Dimension medizintechnischer Innovationen bezeichnet, gleichsam als eine Achse des Koordinatensystems des
Fortschritts. Als weitere Fortschrittsdimensionen gelten Miniaturisierung und Molekularisierung, die
als generelle Trends von zahlreichen Autoren direkt oder indirekt beschrieben werden.
‚Miniaturisierung’ bezeichnet allerdings ebenso wenig eine Schlüsseltechnologie wie ‚Molekularisierung’. Der Trend zur ‚Computerisierung’ findet als Schlüsseltechnologie seine
Entsprechung in der Informations- und Kommunikationstechnologie mit ihrer Wirkung als Enabler
der Medizintechnik. In analoger Weise korrespondieren zur Miniaturisierung als Applikationsmethode die Mikrosystemtechnik und die Nanotechnologie, zur Molekularisierung als dem
zugrunde liegenden und verwendeten Wirkmechanismus/Funktionsprinzip die Bio-, Zell- und
Gentechnologie. Die detaillierte Darstellung dieser Schlüsseltechnologien, ihrer Bezüge, Inhalte
bzw. ihrer Potentiale für die Medizintechnik geschieht in den später folgenden Potentialdossiers
(Kap. 10.5).
Die sich unmittelbar anschließenden Ausführungen dienen zunächst dazu, die grundlegenden
Fortschrittsdimensionen insgesamt zu untermauern.
Schon 1998 kommt eine Technologievorschau des CDRH (Center for Devices and Radiological
Health) der zentralen US-amerikanischen Zulassungsbehörde (FDA) zu einer entsprechenden
Einteilung von Innovationskategorien (HERMAN et al. 1998). Diese Studie nimmt eine gewisse
Sonderstellung ein, weil sie einerseits das Verhältnis technologischer Zukunftstrends zu
Medizinprodukten in den Mittelpunkt stellt und andererseits die Zukunftsprognose (auf zehn Jahre)
methodisch mit Hilfe eines mehrstufigen Delphi-Verfahrens untermauert. Sie zählt damit zu den
sehr wenigen Arbeiten, in denen sowohl der Themenfokus als auch der Foresight-Charakter in
besonderer Weise zu der hier vorliegenden Fragestellung passen.
In der CDRH-Technologievorschau wurden 15 Experten wiederholt per Fragebogen, Interview und
gemeinsamem Workshop aufgefordert, zu insgesamt 21 übergeordneten Technologiefeldern
für/von Medizinprodukten auf einer Skala von 1-5 Stellung zu beziehen bzw. ihre Einschätzung zu
differenzieren und zu diskutieren: abgefragt wurden die Erwartung hinsichtlich wichtiger
556
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Neuentwicklungen in fünf oder zehn Jahren, die Anzahl betroffener Patienten, die Größe des
Nutzen / Höhe des Risikos sowie die Gesamtbedeutung für die Zukunft der medizinischen
Versorgung.
Tabelle 10.5:
Originaltabelle aus: HERMAN et al. 1998, Table 1; Experteneinschätzungen
(Befragungsergebnisse, N=15, Durchschnittswerte) zu den übergeordneten
Technologiefeldern.
Quelle: http://www.fda.gov/cdrh/ost/trends/Table1.gif [11.07.2004], Nachdruck frei
Die Technologiefelder sind zur Verdeutlichung mit konkreteren Anwendungsbeispielen verknüpft.
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
557
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Tabelle 10.6:
Originaltabelle aus: HERMAN et al. 1998, Table 2; Experteneinschätzungen
(Befragungsergebnisse, N=15, Durchschnittswerte) zu spezifischen Produkttypen.
Quelle: http://www.fda.gov/cdrh/ost/trends/Table2.gif [11.07.2004], Nachdruck frei
Ausgehend von diesen primären Befragungsergebnissen werden im weiteren Prozess der
Meinungsbildung (durch Interview, Workshop) schließlich sechs Kategorien gebildet als
Trendgruppen zukünftiger Medizinproduktentwicklungen:
“1) computer related technology
2) molecular medicine
3) home- and self-care
4) minimally invasive procedures
5) Combination device/drug products
6) organ replacements and assits
558
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
The first two of these trend categories comprise developments grounded in scientific advances, the
second in growing delivery modalities; and the last two in specific product-types.”
(HERMAN et al. 1998)
Als Triebkräfte (‚trend drivers’) für die Entwicklung der Medizintechnik nennen die Experten neben
Kostendämpfung, Altersentwicklung, Erfolgen in der Krebstherapie und weiteren klinisch-sozialen
Faktoren die Computerisierung, Miniaturisierung und molekulare Medizin. Unter dem letztgenannten Begriff verstehen die Autoren nahezu ausschließlich die mit der Strukturaufklärung des
menschlichen Genoms verbundenen neuen Möglichkeiten.
BRAUN et al. (2003) definieren drei Technologie-Cluster, in die besonders wichtige Zukunftstechnologien zusammengefasst werden können: ‚genetic technologies (GENTEC), medical
technologies (MEDTEC) and information and communication technologies (ICTEC)’. Die Cluster
GENTEC und ICTEC zeigen eine hohe Übereinstimmung mit den hier vorgeschlagenen
Fortschrittsdimensionen ‚Computerisierung’ und ‚Molekularisierung’. Unter MEDTEC werden
allerdings sowohl medical devices (z. B. für die minimal invasive Chirurgie) wie auch TissueEngineering subsumiert. Gerade die letzte Technologie bezieht jedoch nach der hier vorgelegten
Analyse ihre wesentlichen Impulse aus dem Verständnis und der Manipulation molekularer / zellbiologischer Wirkungsmechanismen und ist daher vielmehr der Molekularisierung
zuzurechnen. Trotz der angedeuteten Differenz bestätigt auch die Arbeit von BRAUN et al. das
Konzept dreier grundlegender Fortschrittdimensionen für den Innovationsprozess in der
Medizintechnik.
Insgesamt ergibt sich daher folgendes Bild:
¾ Insbesondere zur Verringerung der Invasivität und der Belastung des Betroffenen werden
Technologien zur Miniaturisierung im Sinne des ‚Delivery’ zukünftig von großer Bedeutung
sein. Drug-Delivery-Systeme, wie sie von der Mikrosystemtechnik und zukünftig auch von der
Nanotechnologie erwartet werden, sind ebenso Paradebeispiele auf der therapeutischen
Seite wie Lab-on-Chip Analysatoren im Bereich der Diagnostik. Nano-Beads fungieren als
Fähren für Medikamente (z. B. Zytostatika in der Krebstherapie), die mit äußeren Stimuli
kontrolliert und zielgerichtet freigesetzt werden. Die Leistung der Nanotechnologie besteht
nicht in der zytotoxischen Wirkung des Krebsmittels, sondern darin, die Beförderung durch die
Kapillaren oder die Blut-Hirn-Schranke zum Zielort zu ermöglichen: Miniaturisierung in der
Ausbringung/Applikation.
¾ Mit der Aufklärung der DNA-Sequenz des menschlichen Erbgutes ist die Wissenschaft dem
Verständnis der elementaren Ursachen von Krankheiten ein Stück näher gekommen. Gezielte
Eingriffe auf molekularer Ebene sind möglich, nicht nur auf der Ebene der Nukleotide sondern
auch bei Proteinen als den strukturellen oder funktionalen ‚Übersetzungen’ der Erbinformation. Markermoleküle für die funktionale Bildgebung, DNA-Fragmente zur Identifikation
(Früherkennung) von Erbkrankheiten oder genetischer Dispositionen, Steuerung des
Wachstums und der Differenzierung von Zellen beim Tissue-Engineering sind nur einige
Beispiele für Molekularisierung in der Funktion.
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
559
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Expertenmeinungen zur Bedeutung der Schlüsseltechnologien
Im Rahmen der vorliegenden Studie wurden deutsche Fachleute schriftlich (s. dazu Kap. 7.6.), in
Workshops (s. Kap. 7.5.4 ) oder per E-mail (s. Kap. 9.2.4). um Ihre Einschätzung zur (zukünftigen)
Bedeutung von Schlüsseltechnologien gebeten.
Zusammenfassend ergibt sich eine übereinstimmende Bedeutungsrangliste, angeführt von IuK
über Zell- und Biotechnologie bis hin zur Nanotechnologie auf den Plätzen 2 und 3. Dies bestärkt
die vorangegangen Überlegungen aus der durchgeführten Quellenanalyse zur herausragenden
Stellung der Fortschrittsdimensionen (Computerisierung-Molekularisierung-Miniaturisierung), die
mit den genannten Technologiefeldern ja unmittelbar korrespondieren, für die Medizintechnik von
morgen.
10.4.4
Konvergenz der Fortschrittsdimensionen
Was einzelne Fachtermini wie ‚Biomicrotechnology Devices’ oder ‚Microelectromechanical
Systems’ (BAAL 2004) mit ihrer Zusammensetzung bereits andeuten, wird in der Auseinandersetzung mit dem jüngsten ‚Hype’ der Nanotechnologie überzeugend deutlich: die Grenzen
zwischen den Disziplinen und auch den Fortschrittsdimensionen nehmen zusehends ab. Sowohl
Physiker als auch Biologen oder Ingenieure erforschen Phänomene auf molekularer oder gar
atomarer Ebene. Bezeichnender Weise sind es vielleicht die Ein-Elektron-Transistoren (SET) der
Nanoelektronik, die den Weg zu quasi unbegrenzter Speicherkapazität freimachen, die wiederum
eine Vorraussetzung für die medizinische Bildgebung von morgen sein dürfte. Angesichts solcher
Entwicklungen fällt die Abgrenzung von Technologiebegriffen immer schwerer.
„Convergence of nanotechnology, biotechnology, infotechnology and cognitive science is based on
material and scientific unity at the nanoscale.” (ROCO 2003, S. 344)
Die beschriebene Konvergenz gilt jedoch nicht nur im Zusammenhang mit Nanotechnologie,
sondern auch auf der Ebene der Produktentwicklung in der Medizintechnik:
„Third, product development will increasingly blur the boundaries between biological systems on the one
hand and physical and engineering designs on the other.” (HERMAN et al. 1998)
Immer mehr Disziplinen rücken zusammen und entwickeln gemeinsam technologische Lösungen
und Anwendungen. Damit steigen allerdings auch die Anforderungen an das Miteinander der
Fachleute und -disziplinen, an eine interdisziplinäre Kommunikation also, die zum kritischen
Erfolgsfaktor des Innovationsprozesses wird:
„…the real innovation stems from the process of bringing individuals from traditionally separate
disciplines together.“ (ARNALL 2003, S. 60)
560
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
10.5
10.5.1
Potential-Dossiers: Schlüsseltechnologien für die
Medizintechnik
Erläuterung zur Vorgehensweise
Mit den nachfolgenden Technologie-Dossiers soll zusammengefasst die absehbare Schnittmenge
zwischen der jeweiligen Schlüsseltechnologie auf der einen Seite und der Medizintechnik auf der
anderen Seite näher beschrieben werden. Aus dieser Überschneidung können Impulse und damit
Potentiale erwachsen. Die recherchierte Literatur bildet das Fundament der Dossiers. Wo immer
möglich soll auf korrespondierende Abschnitte des Gesamtberichts verwiesen werden, auch unter
Hervorhebung übereinstimmender oder ggf. widersprüchlicher Einschätzungen. Insbesondere die
Übersichtsdarstellungen zu den aktuellen Forschungsthemen der Medizintechnik aus dem
Blickwinkel deutscher Experten (Kap. 7.12) bieten zahlreiche Gelegenheiten zur vergleichenden
Gegenüberstellung und darüber hinaus zur Vertiefung der jeweiligen Thematik z. B. hinsichtlich
konkreter Forschungs- und Entwicklungsvorhaben in Deutschland.
In Anbetracht der gegebenen Literaturlage (zur Methodik s. Kap. 10.3.2) konnten zur
Nanotechnologie, Mikrosystemtechnik, Biotechnologie, zum Tissue-Engineering und zu Optischen
Technologien entsprechende Dossiers erstellt werden.
Dabei gilt unverändert das Verständnis der Medizintechnik auf der Basis der vorgestellten
Definition (s. Kap. 3). Eine geringe Überschneidung besagt lediglich, dass aus den recherchierten
Quellen nur wenige Anwendungspotentiale für die Medizintechnik identifiziert werden konnten. Es
geht hier also nicht um die Gesamtbedeutung einer Technologie, nicht einmal um ihre Bedeutung
für die Medizin (der Bereich Pharmazeutik z. B. ist per definitionem ausgeschlossen), sondern nur
um die Bedeutung für die Medizintechnik i. e. S.
Zur besseren Vergleichbarkeit sollen alle Dossiers jeweils die folgenden Aspekte beleuchten,
sofern es die Quellenlage zulässt:
•
•
•
•
•
Qualifizierung der Literaturlage der primär die jeweilige Schlüsseltechnologie betreffenden
Quellen nach Relevanz, Publikationsart und Aktualität (z. B. Abbildung 10.8)
exemplarische Technologievorschau anhand zukünftiger Anwendungsbereiche und -beispiele
Prognosen zum wirtschaftlichen Potential der Schlüsseltechnologie bzw. des
Überschneidungsbereiches zur Medizintechnik, jeweils im Vergleich zum Marktvolumen der
Medizintechnik in Deutschland, Europa und weltweit
Vernetzung bzw. Überschneidung zu anderen Schlüsseltechnologien
‚Wildcards’ und mögliche Entwicklungshindernisse
Die Technologie-Dossiers sollen einen stark komprimierten und beispielhaft reduzierten Überblick
über ausgewählte Felder geben. Sie sind daher nicht als angemessene Zusammenfassungen der
z. T. sehr umfangreichen Primärliteratur zu verstehen, sondern bilden eine Auswahl von
Schwerpunkten, anhand derer die Einordnung der Technologie deutlich werden soll.
Bei den tabellarischen Übersichten (z. B. Tabelle 10.7) zu den in der Literatur angegebenen
Marktpotentialen der Technologien entstehen durch die wechselnden Perspektiven (Zeiträume,
Bezeichnungen der Teilmärkte) oder Szenarien (geographische Zuordnung) der Autoren, die ihre
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
561
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Angaben oft auch aus weiteren Quellen entlehnt haben, sehr unterschiedliche, z. T. sogar
widersprüchliche Bilder.
Die bisweilen verwirrenden Angaben sollen mit folgenden Maßnahmen geordnet werden:
•
•
als wiederkehrende Vergleichswerte enthalten alle Übersichten dieser Art zu Beginn die
verfügbaren Marktvolumina für die Medizintechnik insgesamt, weltweit und für Deutschland.
zur Sortierung werden 3 Kriterien hierarchisch nacheinander ausgewertet:
-
ähnliche Produktbezeichnungen oder -bereiche werden gruppiert
Märkte werden absteigend sortiert beginnend mit dem Weltmarkt (WW) und dann
alphabetisch nach der Länderabkürzung (D-Deutschland, J-Japan, US-USA etc.)
Zeiträume der Angaben werden absteigend sortiert.
Die Umschreibung der Produktbereiche in der zugrunde liegenden Literatur ist häufig sehr kurz
gehalten, genaue Erläuterungen der Abgrenzungen fehlen. Daher wurden stets die Originalbegriffe
verwendet, auch wenn dies einen Wechsel zwischen deutschen und englischen Termini mit sich
bringt. Die zusammengestellten Angaben können daher nur dem Trend nach und insgesamt
konservativ interpretiert werden. Sie vermitteln jedoch trotz aller angeführten Einschränkungen
einen Eindruck von den wirtschaftlichen Potentialen, die einzelnen Technologiefeldern in der
Literatur zugeordnet werden.
10.5.2
Biotechnologie und Gentechnik
Im Mittelpunkt der ‚modernen Biotechnologie’ (BT) steht die Nutzung lebender Organismen bzw.
ihre (sub-) zellulären Bestandteile auf der Basis genetischer und molekularbiologischer
Erkenntnisse. Die Gentechnik wird daher allgemein als Teilgebiet der Biotechnologie betrachtet,
deren Hauptanwendungsfelder in der Pharmazie (‚rote’ BT), Landwirtschaft (‚grüne’ BT),
Lebensmittelindustrie, dem Umweltsektor (‚graue’ BT) und der Diagnostikaindustrie liegen.
Im Allgemeinen wird auch das Tissue-Engineering sowie die Stammzellforschung unter dem Dach
der Biotechnologie subsumiert (VDI/VDE-IT & NORD LB 2003), denen jedoch in der vorliegenden
Analyse ein eigenständiges Kapitel gewidmet wurde.
Literaturlage
Die Anzahl der Publikationen, die sich mehr oder weniger ausschließlich mit der Zukunft des
Technologiefeldes befassen, bewegt sich für die Biotechnologie/Gentechnik in einem mittleren
Bereich (verglichen zum Spitzenwert von 15 spezifischen Fundstellen für Informationstechnologie),
wobei keine primäre Foresight-Studie identifiziert werden konnte. Vielmehr liegt der Schwerpunkt
eher auf Branchenanalysen wie z. B. dem Deutschen Biotechnologie-Report von Ernst & Young,
der bereits zum 5. Mal erschienen ist (ERNST & YOUNG 2004). Dies ist möglicherweise auch eine
Folge des Entwicklungsstandes der Technologie, von der aktuell eher marktwirtschaftliche als
technologische Erfolge erwartet werden.
Die Arbeiten aus dem Bereich der Nanobiotechnologie wurden dem Potential-Dossier
‚Nanotechnologie’ (Kap. 10.5.5) zugeordnet. Die Inhalte, die sich jedoch auf die ‚klassische’ BT
562
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
beziehen, werden im Folgenden gemeinsam mit den in erster Linie auf die Biotechnologie
fokussierten Arbeiten besprochen.
Abbildung 10.8:
Quellenlage zur Biotechnologie und Gentechnik. Dargestellt sind die
Fundstellen mit primärem Schwerpunkt auf der Biotechnologie nach Relevanz
(a) und Aktualität (b, Publikationsart kumuliert)
15
A
Monographie
Artikel
10
Anzahl
Relevanz
A/B
B
B/C
5
C
0
0
5
10
1995-1999
Anzahl
(a)
2000-2004
Zeitraum
(b)
Biotechnologie & Medizintechnik: Exemplarische Technologievorschau:
Die Synergien zwischen Biotechnologie und Medizintechnik werden sehr unterschiedlich beurteilt.
Auf der einen Seite steht die einmütige Einschätzung, dass mit der Aufklärung des menschlichen
Genoms eine der größten wissenschaftlichen Leistungen der Menschheitsgeschichte vollbracht
wurde, die Anlass zu ebenso großen Hoffnungen gibt. Zudem ist es genau dieser Aspekt, der der
Innovationsdimension ‚Molekularisierung’ einen entscheidenden technologischen Inhalt gibt. Auf
der anderen Seite jedoch erwähnen MENRAD et al. (2003) die Branche Medizintechnik nicht einmal,
wenn es um Beschäftigungsimpulse aus der Biotechnologie geht. Die Entwicklung neuer
Medikamente gilt als einer – wenn nicht sogar der – Schwerpunkt der ‚roten’ Biotechnologie.
Pharmaka sind aber definitionsgemäß eben keine Medizinprodukte (s. Kap. 3). Insofern ist die
Bedeutung der Biotechnologie für die Medizin um vieles größer als für die Medizintechnik.
Der dennoch vorhandene Überschneidungsbereich findet sich insbesondere in der Entwicklung von
modernen Diagnosesystemen und massiv-parallelen Analysesystemen (DNA- oder Protein-ChipSysteme) einschließlich chipbasierter Mikrolabore (Lab-on-Chip) für komplexe biochemische
Analysen.
Auf Probenträgern heutiger DNA-Chips (aus Glas oder Silizium) sind bis zu 1,3 Mio. Spots
(Ø = 11µm, Genomchip von Affymetrix, s. WAGNER & WECHSLER 2004, S. 53ff) mit immobilisierten
DNA-Stücken (Oligonukleotiden) als Fängermoleküle untergebracht, die in der Lage sind, alle
menschlichen Gene (ca. 38.500) auf einem Chip zu identifizieren.
Mit der Erkenntnis, dass die Korrelation zwischen aktiven Genen und der Konzentration der durch
sie codierten Proteine nur gering ausfällt, erhielt die Proteomforschung (Proteomics) einen
massiven Schub. Protein-Chips verfügen derzeit über etwa 10.000 Spots (Fa. ZYOMXY, US; nach
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
563
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
WAGNER & WECHSLER 2004, S. 63ff). An dieser Zahl (vgl. DNA-Chip) lässt sich bereits erkennen,
dass die Verfahren noch in den Anfängen stecken. Die Schwierigkeiten bestehen darin, dass
Proteine chemisch labil sind, keine Vervielfältigungsmethoden (wie z. B. PCR für Nukleotidsequenzen) zur Verfügung stehen (daher erhöhte Anforderung an die Sensitivität) und das humane
Proteom auf bis zu 1 Mio. verschiedene Eiweiße geschätzt wird.
Die Fängermoleküle sind aus Proteinbanken erhältlich, die meist mit Hilfe von Phagen hergestellt
werden. Ein besonders bedeutender Einsatzbereich des Proteinchips liegt in der Medikamentenentwicklung.
BACHTLER führt dazu aus:
„In klinischen Untersuchungen werden neue Medikamente an großen Patientengruppen getestet. Dabei
kommt es immer wieder vor, dass manche Patienten überhaupt nicht auf die angewendete Medikation
ansprechen oder es zu Nebenwirkungen kommt. Ursache hierfür ist die genetische Variabilität der
Patienten. Mit diesen Fragestellungen beschäftigten sich zwei Fachgebiete, die so genannte Pharmakogenetik und die Pharmakogenomik.
Dabei untersucht die Pharmakogenetik die Unterschiede des individuellen Ansprechens auf Arzneimittel
aufgrund erblich bedingter Faktoren, vor allem in der klinischen Praxis. Die Pharmakogenomik widmet
sich mehr der Erforschung neuer Wirkstoffe im Labor und versucht zu klären, welche Genunterschiede
für den unterschiedlichen Abbau von Medikamenten oder für deren unterschiedliche Wirkung bei
verschiedenen Patienten verantwortlich sind.“ BACHTLER (2003)
Ziel ist es, entsprechend des Genotyps des Patienten Wirkstoffe individuell so zu dosieren, dass
die erwünschten Arzneimittelwirkungen maximiert, und die unerwünschten Wirkungen minimiert
werden. Darüber hinaus kann die Kenntnis des Genotyps von Tumoren es zulassen, vorherzusagen, ob ein Tumor auf ein Chemotherapeutikum ansprechen wird. In diesem Segment liegen
u. a. auch besondere Chancen für die Lab-on-Chip Systeme, die zukünftig einen Teil der Point-ofCare Diagnostik darstellen könnten (vgl. dazu Kap. 7.12.7).
Die besondere Chance für die Medizintechnik bietet die im Kern pharmakologisch dominierte
Biotechnologie in der sog. Peripherie: Beispiele sind Chip-Arrayer, Auslesegeräte, Trägerherstellung und Diagnose-Handhelds der Zukunft, denen ein größeres Marktvolumen vorhergesagt
wird als den DNA-Chips selbst (s. Tabelle 10.1).
Forecast
In den vergangenen Jahren war die Branchenentwicklung der Biotechnologie durch Konsolidierung
gekennzeichnet, was u. a. auf die Zurückhaltung der Kapitalgeber zurückgeführt wurde und
rückläufige Beschäftigungszahlen in Deutschland (2002 auf 2003: -14 % auf 11.535; ERNST &
YOUNG 2004) zur Folge hatte. Unverändert kennzeichnend für die deutsche Branche ist die
Tatsache, dass die Forschungsausgaben auch im Jahr 2003 noch über dem Branchenumsatz
liegen (Core-Biotech-Unternehmen55).
55
564
Core-Biotech-Unternehmen stellen nur einen restriktiv abgegrenzten Teil der Gesamt-Branche dar:
Wachstumsorientierte, innovative Firmen mit dem Hauptgeschäftszweck in der modernen Biotechnologie.
(ERNST & YOUNG 2004, S. 116)
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Im Jahr 2000 lagen die indirekt durch Nutzung biotechnologischer Verfahren beeinflussten 167.000
Arbeitsplätze zu drei Vierteln in der Lebensmittelindustrie (MENRAD et al. 2003), dann erst folgten
Pharmaindustrie und Feinchemie mit 13.000 bzw. 11.200 Arbeitsplätzen. In den für 2005
berechneten Szenarien könnten es insgesamt zwischen 280.000 und 500.000 Beschäftigte sein,
die indirekt von der Biotechnologie betroffen sind.
Tabelle 10.7:
1)
2)
Literaturangaben zu Marktpotentialen der Biotechnologie bzw. einzelner
Segmente (Produktgruppen, Märkte) im Vergleich nach verschiedenen
Autoren (WW – Weltmarkt); weitere Erläuterungen s. Kap. 10.5.1.
Medizintechnik gesamt
Technologien
Markt
Gesamt: Medizintechnik insgesamt
Gesamt: Medizintechnik insgesamt
WW
D
Biotechnologie
Technologie- bzw. Produktbereiche
Markt
Gesamt: Biotechnologie
Gesamt: Biotechnologie
Gesamt: Biotechnologie
Gesamt: Biotechnologie
Gesamt: Biotechnologie
WW
WW
J
J
J
[nur börsennotierte Biotech-Unternehmen]
[nur börsennotierte Biotech-Unternehmen]
'Core'-Biotech Branche
Volumen
in Mio.
190.000 US-$
12.707 €
Volumen
2003
2002
Zeitraum
US-$
US-$
US-$
US-$
US-$
2007
2002
2005
1999
1997
WW
WW
D
41.000 US-$
35.600 US-$
960 €
2002
2001
2003
7)
DNA-Chips
DNA-Chips
DNA-Chips
WW
WW
WW
750 US-$
745 US-$
150 US-$
2006
2004
1999
7)
Peripherie von DNA-Chips (Chip-Arrayer,
Auslesegeräte, Reagenzien, Software)
WW
1.000 US-$
2006
9)
Lab-on-Chip
Lab-on-Chip
Lab-on-Chip
WW
WW
WW
180 US-$
157 US-$
1.000 US-$
2006
2004
2002
10)
Protein-Chip
WW
400 US-$
2007
Biochips
Biochips
Biochips
Biochips
WW
WW
WW
US
biotechnologiebasierte Diagnostika
biotechnologiebasierte Diagnostika
D
D
13)
gentechnisch hergestellte Arzneimittel
gentechnisch hergestellte Arzneimittel
14)
15)
3)
3)
4)
4)
4)
5)
5)
6)
7)
8)
7)
8)
11)
8)
8)
12)
13)
13)
13)
125.700
77.200
220.000
12.000
9.600
in Mio.
Zeitraum
1.600
3.300
950
3.300
US-$
US-$
US-$
US-$
2004
2004
2000
2004
460 €
450 €
2000
2002
WW
D
27.000 €
1.530 €
2001
2002
Biotechnologie für Diagnostik- und Therapiegeräte
WW
11.000 €
2002
Bioinformatics
US
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
3.082 US-$
2004
565
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Quellen:
1)
2)
3)
4)
5)
6)
7)
8)
9)
10)
11)
12)
13)
14)
15)
Varona 2004;
IG Metall FB Wirtschaft-Technologie-Umwelt [Hrsg.] 2003; Statistisches Bundesamt
ISB 2004; Data Monitor 2003
Piek 2003;
Ernst & Young 2003;
Ernst & Young 2004;
Wagner & Wechsler 2004; zit. nach einer Bioinsight-Studie, DZ Bank
VDI/VDE-IT & Nord LB 2003; Frost & Sullivan
Felten & Hussla 2000; NEXUS
Wagner & Wechsler 2004; zit. Nach einer BioPerspective-Studie 2003 (früher Bioinsight)
ISB 2004; Freedonia, from IHT 12.03.2001
ISB 2004; Frost&Sullivan, from GEN 15 May 2001
Deutsche Industrievereinigung Biotechnologie [Hrsg.] 2003;
Hüsing et al. 2002; Hüsing 2002
ISB 2004; Frost & Sullivan Report 7744 (11/01)
In der Gegenüberstellung des weltweiten Marktes für Medizintechnik und für Biochips insgesamt
werden die Größenverhältnisse deutlich: 190 Mrd. US-$ (2003) für Medizintechnik gegenüber 1,63,3 Mrd. US-$ (2004) für Biochips. Auch in Relation zum Gesamtmarkt für Biotechnologie
(geschätzt etwa 100 Mrd. US-$ in 2004 nach ISB 2004 bzw. DATA MONITOR 2003) liegt dieser der
Medizintechnik besonders nahe stehende Produktbereich in einer Größenordnung deutlich unter
5 %. Daraus ergibt sich, dass der technologisch größte Überschneidungsbereich zwischen
Biotechnologie und Medizintechnik hinsichtlich seiner ökonomischen Bedeutung eher als klein
einzustufen ist. Zum Vergleich: Allein der US-Markt für Bioinformatik für 2004 wird mit etwas über 3
Mrd. US-$ beziffert (ISB 2004, nach FROST & SULLIVAN Report 7744 (11/01)).
Die unterschiedliche technologische Reife der verschiedenen Biochip-Systeme zeigt sich
erwartungsgemäß auch in den Umsatzprognosen. Die aktuelle Reihenfolge (Reife und Umsatz
absteigend) führt von den DNA Chips über Lab-on-Chip zu den Protein-Chips. In Zukunft jedoch
wird den Protein-Chips die größte wirtschaftliche Bedeutung vorhergesagt. Im Jahr 2011 soll der
Umsatz mit Proteinchips den der anderen Biochip-Typen um mehr als 20 % übertreffen (WAGNER &
WECHSLER 2004, S.102, zit. nach FREEDONIA 2002).
Verhältnis zu anderen Schlüsseltechnologien
Es zeigt sich, dass die IuK auch speziell mit Blick auf die Biotechnologie als Enabler einzuschätzen
ist: Antikörperdatenbanken oder Chip-Systeme mit massiv parallelen Analysenmethoden sind nur
zwei Bereiche, die andeuten, welche enormen Datenmassen zu erwarten sind. Nicht zufällig hat
sich gerade im Bereich der Genomforschung mit der Bioinformatik eine neue Teildisziplin
herausgebildet, um diesen besonderen Ansprüchen gerecht zu werden. So betrachtet könnte eine
verzögerte Entwicklung der Leistungsfähigkeit der IuK-Systeme durchaus auch als ‚Disabler’ der
Biotechnologie wirken.
566
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Ebenso offenkundig sind die Bezüge zur Mikrosystemtechnik, die als ‚Trägertechnologie’ für die
Herstellung und weiteren Miniaturisierung der Biochips essentielle Beiträge z. B. im Bereich der
Mikrofluidik etwa für die Reaktionskammern der Lab-on-Chip Systeme liefern muss56.
Schon die Bezeichnung ‚Nanobiotechnologie’ macht die Überschneidung deutlich, die sich im
Besonderen wiederum auf die Weiterentwicklung der Biochips im Sinne einer fortschreitenden
Miniaturisierung bezieht. Aber auch andere bedeutende Aspekte stehen im Fokus: Drug-Delivery,
Nanopartikel, nanostrukturierte Oberflächen usw., die im Kap. 10.5.5 weiter vertieft werden.
Wildcards
Die intensive öffentliche Diskussion zum Umgang mit Stammzellen oder dem Klonen oder
gentechnisch verändertem Saatgut wird ihre Auswirkung zweifellos auch auf andere Bereiche der
Biotechnologie haben.
Auch für die Chip-basierte Diagnostik am Point-of-Care der Zukunft stellen sich eine ganze Reihe
von Fragen bis hin zum Missbrauch der Technologie für ungewollte Diagnostik. Ein besonderer
Aspekt liegt möglicherweise darin, dass sich die ohnehin bestehende Schere zwischen dem
Fortschritt der Diagnostik und den therapeutischen Möglichkeiten noch weiter öffnet (s. FARKAS et
al. 2003). Die mit dem Wissen um eine unausweichlich eintretende Krankheit verknüpften
Bewältigungsprobleme könnten zu einer breiten Ablehnung der entsprechenden Diagnostik führen.
Zudem können Informationsimbalancen zwischen Versicherern und Versicherten dazu führen, dass
Menschen keine Versicherung mehr erhalten oder Versicherte die Versichertengemeinschaft
schädigen können (moral hazard).
10.5.3
Zell- und Gewebetechnik: Tissue-Engineering
Tissue-Engineering befasst sich allgemein mit der Regeneration und dem Ersatz geschädigter
Gewebe und Organe durch Zellen. Etwas detaillierter beschreibt die EU-Kommission (SCMPMD57):
„Tissue-Engineering is the regeneration of biological tissue through the use of cells, with the aid of
supporting structures and/or biomolecules.“ (European Commission 2001, nach: BOCK et al. 2003, S. 3)
Die Definition schließt ausdrücklich Trägerstrukturen (zur Besiedlung mit Zellen) wie z. B. Matrices
und Scaffolds sowie Wachstumsfaktoren mit ein.
Damit reicht die inhaltliche Spanne des Tissue-Engineering von der autologen Chondrozytentransplantation (ACT) zum Wiederaufbau des Gelenkknorpels über gezüchtete Gewebe (z. B. Haut
zum Wundverschluss, Herzklappen) und – in ferner Zukunft – Organe bis hin zur Stammzell-
56
entsprechend werden im Rahmen der entsprechenden Darstellung aktueller Forschungsthemen nur solche
Systeme aus der Labormedizin untersucht, die sich dem Begriff der Mikrosysteme zuordnen lassen
(s. Kap. 7.12.7.1)
57
Scientific Committee on Medical Products and Medical Devices of the European Commission, SCMPMD
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
567
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
forschung und zur regenerativen Medizin, bei der eher die Steuerung natürlicher Heilungsprozesse
im Mittelpunkt steht:
„Dieses Feld […gemeint ist die regenerative Medizin, Anmerk. d. Autors] unterscheidet sich vom Gebiet
des ‚Tissue-Engineering’ dadurch, dass keine Organe oder organähnliche Strukturen auf künstlichen
Trägermaterialien im Labor erzeugt und transplantiert, sondern zelldifferenzierende Mikroumgebungen
zur natürlichen Organentwicklung hergestellt werden.“ (DECHEMA 2004, S. 23)
Tissue-Engineering wird insgesamt auch als Fortsetzung der Transplantationsmedizin verstanden.
Nahe liegender Weise verbinden sich gerade in dieser Perspektive die größten Hoffnungen mit der
Organzüchtung aus patienteneigenen Zellen (autolog), mit der die Gefahr einer Abstoßung des
Transplantates grundsätzlich überwunden werden könnte. Diese Immunreaktion stellt bei der
Verwendung fremden Materials (menschliche (allogene) oder tierische (xenogene) Organspenden)
eines der Hauptprobleme dar.
Literaturlage
Insgesamt konnten nur relativ wenige Quellen identifiziert werden, die sich primär und fokussiert
ausschließlich mit dem Tissue-Engineering als zukünftiger Schlüsseltechnologie für die
Medizintechnik befassen. Das liegt wohl auch daran, dass die Biotechnologie definitionsgemäß das
Tissue Engineering mit einschließt, insofern wird auch in den entsprechenden Quellen das Thema
z. T. ausführlich abhandelt.
Die Relevanz der Quellen ist jedoch insgesamt sehr hoch, denn es liegen ausgesprochen aktuelle
differenzierte Übersichtsarbeiten vor (insbesondere BOCK et al. 2003).
Abbildung 10.9:
Quellenlage zum Tissue-Engineering. Dargestellt sind die Fundstellen mit
Schwerpunkt auf dem Tissue-Engineering nach Relevanz (a) und Aktualität
(b, Publikationsart kumuliert)
15
B
B/C
C
10
5
0
0
1995-1999
5
2000-2004
Zeitraum
Anzahl
(a)
Monographie
Artikel
A/B
Anzahl
Relevanz
A
(b)
Augenfällig ist das gänzliche Fehlen ‚älterer’ Quellen aus der Zeit zwischen 1995 und 1999. Die
Zunahme der Publikationsintensität ab 2000 scheint jedoch nicht nur zufällig oder gar ein
methodischer Artefakt der vorliegenden Analyse zu sein. So finden sich im umfangreichen
568
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Publikandum der Arbeit von BOCK et al. (2003) bei insgesamt 134 Referenzen nur 13 aus der Zeit
vor 2000, davon drei Arbeiten von vor 1995 (z. B. der Pioniere LANGER, R. & VACANTI, J.P. (1993):
Tissue-Engineering. Science 260 (5115), 920-6), die damit außerhalb unseres Recherchezeitraumes liegen. Tissue-Engineering ist also eine noch sehr junge Disziplin, die gerade in der
jüngeren Vergangenheit einen Aufschwung durchlebt hat und der für Zukunft große Bedeutung für
die biomedizinische Forschung vorhergesagt werden (s. Kap. 7.12.13).
Exemplarische Technologievorschau
Angesichts des ‚jugendlichen’ Status der Technologie liegen weitaus mehr Fragen als Antworten
vor. Drei Themenkomplexe stehen derzeit im Mittelpunkt des Interesses von Forschung und
Entwicklung rund um den Differenzierungs- und Wachstumsprozess von einer Vorläuferzelle bis
hin zu einem funktionstüchtigen Organ.
¾ Die verschiedenen möglichen Ursprünge der Vorläuferzellen (allogen, xenogen, autolog)
bedingen ein jeweils spezifisches Eigenschaftsprofil zwischen Verfügbarkeit, Potenz, Risiken
der Krankheitsübertragung und der Abstoßung. Natürlich spielen dabei auch Stammzellen in
embryonaler wie adulter Form (letztere z. B. aus Nabelschnurblut, Knochenmark) eine
wichtige Rolle, da sie ihre Fähigkeit zur Differenzierung in verschiedene Zelltypen (z. B. Haut,
Nerven, Knochen, Knorpel) noch nicht verloren haben.
¾ In vivo entwickeln sich wachsende Zellen gestützt durch die Extrazellulärmatrix (ECM) aus
Struktur-Proteinen, Kohlenhydraten und Signalmolekülen. In vitro soll diese Rolle von
bioabbaubaren Stützgerüsten (Matrices, Scaffolds z. B. aus Polylactid, Hydroxyapatit,
Kollagen) übernommen werden, an die Wachstumsfaktoren mit steuerbarer Freisetzungskinetik gekoppelt sind. Stichworte zu aktuellen Forschungsfragen dabei sind u. a.: Zelladhäsion und –motilität, Hydrogel, Porosität, Gefäßversorgung in vitro (Vaskularisation),
Histokompatibilität der Matrix und ihrer Abbauprodukte, mechanische Reize etc.
Für die Produktion der maßgeschneiderten Gewebe oder Organe gilt es, Bioreaktoren
weiterzuentwickeln bis hin zur Massenproduktion mit Aspekten wie der Qualitätssicherung oder
Lagerung der hergestellten Ersatzorgane. Gerade dieser letztgenannte -noch ungelöste- Aspekt gilt
als Schlüsselstelle für den breiten Einsatz von Ersatzgeweben oder –organen (s. auch
Kap. 7.12.13).
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
569
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Tabelle 10.8:
2012
2013
2014
2015
2016
2017
2018
2019
2023
Beispiel einer euphorischen Technologievorschau für Tissue-Engineering
(Originalzitat)
Chronological table of future technologies
Clinical use of cochlear implant for conductive hearing impairment and sensorineural
hearing impairment
Development of totally implantable artificial heart
Development of totally implantable artificial kidney
Development of biohybrid endocrine organs (combination of living cells and artificial
polymers)
Clinical use of tissue-engineered organs (pancreas, kidney, liver)
Development of extracorporal liver-support system for long-term use
Wide use of long-term organ preservation technology
Development of extracorporeal culture technology of small-sized mammalian foetus
with artificial kidney
Clinical use of totally implantable artificial kidney
Development of retinal implant
Development of artificial muscle
Development of regenerative engineering for organ restoration from differentiated cells
Quelle: aus MITAMURA 1999, Table I, S 9
BOCK et al. (2003) erwarten für die nächste Dekade u. a. Durchbrüche beim Einsatz adulter
Stammzellen, den Aufbau ‚smarter’ Scaffolds mit inkorporierten Signalmolekülen und die
weitgehend vollständige Aufklärung der Zelldifferenzierung. Dennoch seien vollständige künstliche
Organe nach Korrektur der anfänglich zu optimistischen Erwartungen erst für das Jahr 2025 zu
erwarten.
Forecast
Große ökonomische Hoffnungen wurden/werden in das Tissue-Engineering gesetzt, getrieben vom
erwarteten Bedarf an Organreparatur und -ersatz überalternder Gesellschaften. Diese Erwartung
konnten bislang nicht erfüllt werden (HÜSING et al. 2003). Nur wenige Produkte sind überhaupt auf
dem Markt (Hautersatz, Knorpel- bzw. Knochenersatz für Wundverschluss z. B. bei Verbrennungen
oder Ulcera bzw. für die Therapie bei Gelenkverschleiß). Das Marktpotential dürfte derzeit weltweit
bei ca. 60 Mio. € p.a. liegen, davon entfallen etwa zwei Drittel auf die ACT und ein Drittel auf den
Bereich Hautregeneration.
570
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Tabelle 10.9:
Literaturangaben zu Marktpotentialen des Tissue-Engineering bzw. einzelner
Segmente (Technologiebereiche, Produktgruppen) im Vergleich nach verschiedenen Autoren (WW – Weltmarkt); weitere Erläuterungen s. Kap. 10.5.1
Medizintechnik gesamt
Technologien
Markt
Gesamt: Medizintechnik insgesamt
Gesamt: Medizintechnik insgesamt
WW
D
Tissue-Engineering
Technologie- bzw. Produktbereiche
Markt
Tissue-Engineering
Tissue-Engineering
Tissue-Engineering
Tissue-Engineering
WW
WW
US
US
1.300
232
80.000
200
tissue engineered products
tissue engineered products
tissue engineered products (skin, cartilage)
tissue engineered products (skin, cartilage)
WW
WW
WW
EU
3.900
60
40
1
9)
Autologe Chondrozyten Transplantation
9)
1)
2)
Volumen
in Mio.
190.000 US-$
12.707 €
Volumen
in Mio.
Zeitraum
2003
2002
Zeitraum
US-$
US-$
US-$
US-$
2007
2000
2012
2003
€
€
€
€
2007
p.a.
2001
2001
WW
40 €
2002*
skin replacement
skin repair
tissue engineered skin replacement products
WW
WW
WW
20 €
270 €
800 €
2002*
2007
2001
12)
regeneration and repair of tissue and organs
WW
25.000 €
p.a.
13)
human tissue products
US
80.000 €
k.A.
3)
3)
4)
5)
6)
7)
8)
8)
10)
11)
Quellen:
1)
2)
3)
4)
5)
6)
7)
8)
9)
10)
11)
12)
13)
Varona 2004;
IG Metall FB Wirtschaft-Technologie-Umwelt [Hrsg.] 2003; Statistisches Bundesamt
ISB 2004; Frost & Sullivan, from GEN 15.09.2001
Mason 2003;
Mason 2003; Chamber of Commerce (US)
Bock et al. 2003; Business Comunication Comp. BCC 1998
Hüsing et al. 2003;
Bock et al. 2003; Lysaght 2002
Bock et al. 2003; *Schätzung der Autoren
Bock et al. 2003; Medmarket Diligence 2002
Bock et al. 2003; Russell et al. 2001
Bock et al. 2003; Bassett 2001
Bock et al. 2003; Medtech Insight 2000
Ingesamt weichen die Marktprognosen sehr stark voneinander ab. Auch das ist ein Indiz für das
noch frühe Entwicklungsstadium der Technologie:
„Today, the tissue-engineering industry is at the same stage that the pioneer car makers were at in 1900,
with only a handful tissue-engineered products having achieved FDA approval.” (MASON 2003, S. 2)
Die Kosten für einzelne Produkte liegen bei US-$ 700,00 für ein Hauttransplantat (Ø=7 cm,
Apligraf, aus: MASON 2003) und z. B. € 2000,00/100 cm2 für den autologen Hautersatz (BioSeedS,
aus: HÜSING et al. 2003).
Allerdings zeigen erste Arbeiten zur Kosteneffektivität, dass die verfügbaren Haut-Transplantate für
die Therapie nach Verbrennung diesbezüglich nicht überzeugen können. Gleiches gilt bei TissueBMBF-Medizintechnikstudie 2005
571
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Engineering-Produkten für den Gefäßersatz, während der Vergleich zwischen konventioneller
Therapie und ACT zugunsten der Zelltherapie ausfällt.
Verhältnis zu anderen Schlüsseltechnologien
Die Nähe zur Biotechnologie ist offenkundig. Erfolge bei der Aufklärung der Zelldifferenzierung
werden darüber hinaus von Diagnose-Chips der Zukunft erwartet, mit deren Hilfe z. B. die
Signalmoleküle für die Gewebedifferenzierung getestet werden können. Beim Aufbau komplexer
Stützgerüste und der Verlaufskontrolle des Wachstums könnten moderne Bildgebungstechniken
eine wichtige Rolle spielen.
Abbildung 10.10:
Verhältnis des Tissue-Engineering zu anderen Disziplinen und Technologien
(Originalabbildung)
Quelle: aus DECHEMA 2004, S. 20, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors
Grundsätzlich zeigt sich auch beim Tissue-Engineering eine starke Vernetzung zu weiteren
Schlüsseltechnologien, die eine erfolgreiche Entwicklung mitbestimmen werden.
Wildcards
Erneut ist auch hier die gegenwärtige Diskussion um die Verwendung von Stammzellen sowie die
in den Ländern Europas unterschiedliche gesetzliche Regulierung zu nennen.
Ebenso unterscheiden sich die Verfahren zur Kostenerstattung zwischen den Nationalstaaten. Die
im Grunde für alle Innovationen wichtige Kostendiskussion hat bei den bisher nur wenigen
Produkten in Vergleichsstudien in einigen Fällen zur Abwertung der Behandlung mit Verfahren/Produkten des Tissue-Engineering geführt, die statt einer Reduktion eine Steigerung der
Kosten pro qualitätsjustiertem Lebensjahr erbracht haben. Wenn also die Kosten für die Therapie
mit innovativen Transplantaten nicht gesenkt werden können, wird es kaum Chancen für die
Substitution herkömmlicher Behandlungsregimes geben.
572
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
10.5.4
Mikrosystemtechnik
Angesichts der Fülle von Fachrichtungen innerhalb der Mikrosystemtechnik bleibt als generelle
Begriffsbestimmung im Grunde nur der Rückgriff auf die – allen gemeinsame – Größendimension
im Mikrometermaßstab. Mikrosystemtechnik bildet daher gewissermaßen eine Art ‚Schmelztiegel’
oder Sammelbecken verschiedenster Verfahren, die den Aufbau immer kleinerer Komponenten
und Systeme ermöglichen:
„Microsystems are devices that incorporate a combination of microfluidic, micromechanical, microoptical
and microelectronic components.” (WILKINSON 2000, S. 18)
Insofern ist es nachvollziehbar, dass aus der Sicht der Mikrosystemtechnik die Nanotechnologie
eine weitere Stufe auf dem Weg der Miniaturisierung darstellt, die als Hauptgedanke der
Mikrosystemtechnik gleichzeitig auch eine der drei Fortschrittsdimensionen der Medizintechnik
insgesamt darstellt (s. auch Kap. 7.12.7.1).
Die Verfahren zur Herstellung von Mikrosystemen bilden zusammengefasst drei Gruppen:
Siliziumtechnik und halbleiterbasierte Mikrostrukturierung, Lithographie und Abformtechniken,
miniaturisierte Feinwerktechniken/Mikromechanik (z. B. Laserablation, Funkenerosion) (IKB
DEUTSCHE INDUSTRIEBANK AG [Hrsg.] 2000). Sie alle werden in jeweils unterschiedlichen
Kombinationen benötigt, um Sensoren oder Aktuatoren als Chips zu fertigen, die überwiegend in
der IuK-Hardware auch heute schon ihre Anwendung finden. Oft zitiertes Erfolgsbeispiel einer
Alltagsanwendung ist der Druckkopf des Tintenstrahldruckers.
Bedeutende medizinische Anwendungsgebiete für Mikrosysteme bzw. MEMS (microelectromechanical systems) sind Drug-Delivery, Biochips, Implantate (z. B. zur Insulintherapie) und
Applikationen in der minimal-invasiven Chirurgie.
Literaturlage
Die Breite des Technologiefeldes einerseits und der hohe Organisationsgrad der Akteure und der
Branche in Interessensvertretungen mit reger Publikationstätigkeit auf regionaler, nationaler und
internationaler Ebene andererseits sind wohl ausschlaggebend für die insgesamt dichte
Quellenlage. Eine primäre, datenbasierte Technologievorschau58 konnte jedoch nicht ausgemacht
werden. Ein Grund dafür könnte darin bestehen, dass viele Mikrosysteme ihre grundsätzliche
Machbarkeit bereits in anderen Anwendungsfeldern gezeigt haben, bevor sie in die Medizintechnik
integriert werden. Arbeiten mit Schwerpunkt auf die zukünftige Entwicklung sind daher eher
ökonomisch als technologisch ausgerichtet.
58
Das European Microsystems Network NEXUS bietet eine kostenpflichtige Technologie-Roadmap an, die jedoch
nicht zur Verfügung stand.
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
573
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Abbildung 10.11:
Quellenlage zur Mikrosystemtechnik. Dargestellt sind die Fundstellen mit
Schwerpunkt auf der Mikrosystemtechnik nach Relevanz (a) und Aktualität (b,
Publikationsart kumuliert)
A
15
Monographie
Artikel
10
B
Anzahl
Relevanz
A/B
B/C
5
C
0
5
10
0
1995-1999
Anzahl
(a)
2000-2004
Zeitraum
(b)
Exemplarische Technologievorschau
Mikrosysteme (MEMS) haben ihren Ursprung in der Entwicklung und Fertigung von Integrierten
Schaltkreisen und Prozessoren insbesondere für Computersysteme. BOURNE (2001) definiert sie
schlicht als
„…chip level devices that can sense or manipulate the physical environment.“ (BOURNE 2001, S. 1)
Entsprechend werden sie unterteilt in Sensoren zur Messung von z. B. Temperatur, Druck, Kraft,
Beschleunigung oder Detektion chemischer Substanzen und Aktuatoren, die u. a. als Ventile,
Düsen, Schalter oder Spiegel vorkommen. Dazu wird mit den o. a. Verfahren der Mikrostrukturierung eine 3-dimensionale, mehrschichtige Form mit einer lateralen Auflösung im
Mikrometermaßstab in/auf das Substrat gebracht, für das überwiegend Silizium, aber auch Glas,
Kunststoff oder Metall verwendet wird. In einem weiteren Prozessschritt können Kanäle und
Strukturen z. B. mit Biomolekülen/Reagenzien beschichtet oder gefüllt werden. Der Chip wird
verpackt und angeschlossen und stellt z. B. als druckempfindliche Membran das Herz eines
entsprechenden Bauteils dar.
574
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
BAAL (2004) unterteilt biomedizinische MEMS nach in vivo oder in vitro Applikation:
•
•
in vitro: Chip-Systeme für Diagnose und Medikamentenentwicklung
Lab-on-Chip mit komplexeren Prozessketten; die Flüssigkeit wird z. T. aktiv (Aktuatoren) durch
Mikrokanäle geschleust und dabei analysiert
oder
Mikroarrays (DNA-Chips) mit einer großen Zahl gleichartiger Moleküle im Kammern zur
Erkennung bestimmter Sequenzen.
in vivo: Elektrostimulatoren wie Schrittmacher oder Defibrillatoren, Neurostimulatoren und
Implantate (z. B. Cochlea) sowie Biosensoren -oder künftig- Dosierungssysteme für die
Verabreichung von Medikamenten (Drug-Delivery).
Die Anwendung implantierbarer Biosensoren steckt noch in den Anfängen, ebenso die Lab-on-Chip
Systeme (s. Kap. 10.5.2) und das Drug-Delivery. Gerade den Status des letztgenannten Bereichs
kennzeichnet die Einführung des RESPIMAT (BOERINGER INGELHEIM, s.): ein Zerstäuber für die
Inhalationstherapie bei Asthma, dessen Herzstück aus einem Mikroaktuator besteht, der die
Zusammensetzung des Sprühnebels steuert (s. auch Kap. 9.5.1).
Abbildung 10.12:
Beispiel einer Prognose zur Markteinführung verschiedener Mikrosysteme
(Originaldarstellung)
Quelle: aus FELTEN & HUSSLA 2000, S. 8
Charakteristisch und typisch für die Mikrosystemtechnik ist das Denken in ‚Devices’ und weniger in
Technologien oder Techniken. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die zugrunde liegenden
Technologien oft schon bis zur Massenproduktion entwickelt sind. Die technisch-wissenschaftlichen Grundfragen sind damit eigentlich auf breiter Front beantwortet. Das Schlüsselelement
für die Weiterentwicklung der Mikrosystemtechnik wird daher im Technologietransfer auf neue
Anwendungsfelder gesehen:
„Um allerdings die Möglichkeiten der Mikrosystemtechnik auszuschöpfen, ist es erforderlich, die
Umsetzung vorhandenen Wissens in Produkte zu beschleunigen.“ (IKB DEUTSCHE INDUSTRIEBANK AG
[Hrsg.] 2000, S. 5)
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
575
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Entsprechend hält WILKINSON fest:
„Surprisingly, manufacturing these tiny devices is not the main problem to be solved before they can be
applied in medicine. […] The problems lie more in the challenges associated with designing, packaging
and testing new multifunctional microsystems.” (WILKINSON 2000, S. 18)
Gerade diesbezüglich unterscheidet sich die Nanotechnologie von der Mikrosystemtechnik, denn
im ‚Nanokosmos’ gibt es noch sehr viele elementare Fragestellungen, die in der Zukunft gelöst
werden müssen, bevor Prototypen oder sogar Serienprodukte verfügbar sein werden.
Dennoch stellt die Mikrosystemtechnik aktuell wohl das (!) Instrumentarium der Miniaturisierung
dar, das vermutlich für die nähere Zukunft der Medizintechnik eine herausragende Position
einnimmt.
Forecast
Hauptanwendungsgebiet von Mikrosystemtechnik ist und bleibt die IuK-Branche mit einem
besonders starken Wachstum im Bereich mobiler Telekommunikation: ca. 56 % des Gesamtmarktes 2002 liegen im Segment der Informationstechnologie (IKB DEUTSCHE INDUSTRIEBANK AG
[Hrsg.] 2000), für 2005 soll der IuK-Anteil auf etwa zwei Drittel des Gesamtmarktes weiter
anwachsen.
Bereits auf Rang 2 der Marktanteile werden Medizin und Biochemie geführt mit einer
überdurchschnittlichen Wachstumsdynamik.
Aus den Angaben der vorstehenden Tabelle deutet sich eine systematische Schwierigkeit bei der
Abschätzung des ökonomischen Potentials an. Es werden erneut, wie schon zuvor bei der
Biotechnologie (s. Tabelle 10.7.) die Volumina für Biochipsysteme angeführt, diesmal jedoch auch
unter dem Blickwinkel der Mikrosystemtechnik. Eine Abgrenzung des jeweiligen Wertschöpfungsanteils zwischen den Technologien findet in den zur Verfügung stehenden Quellen nicht statt. Auch
innerhalb der Mikrosystemtechnik besteht die Notwendigkeit einer Abgrenzung zwischen der
Chipfertigung i. e. S., dem späteren Produkt und ggf. Produkt begleitende Leistungen. Auch dazu
fehlen die notwendigen Angaben.
Besonders große Zukunftspotentiale werden den Lab-on-Chip Systemen und den Arzneimitteldosiergeräten vorausgesagt, die z. T. als kombinierte Sensor-Aktuator-Implantate, Wirkstoffe wie
z. B. Insulin bedarfsgerecht ausschütten können.
Aus der Analyse der Forschungsschwerpunkte geht mit Blick auf die Mikrofluidik als einer wichtigen
technologischen Basis für die Weiterentwicklung von Lab-on-Chip Systemen hervor, dass gerade
hier Deutschland ausgesprochen aussichtsreich aufgestellt ist (Kap. 7.12.7.3).
576
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Tabelle 10.10:
Literaturangaben zu Marktpotentialen der Mikrosystemtechnik bzw. einzelner
Segmente (Produktgruppen) im Vergleich nach verschiedenen Autoren
(WW – Weltmarkt); weitere Erläuterungen s. Kap. 10.5.1
Medizintechnik gesamt
Technologien
Markt
Gesamt: Medizintechnik insgesamt
Gesamt: Medizintechnik insgesamt
WW
D
Mikrosystemtechnik
Technologie- bzw. Produktbereiche
Markt
Gesamt: Mikrosystemtechnik
Gesamt: Mikrosystemtechnik
Gesamt: Mikrosystemtechnik
Gesamt: Mikrosystemtechnik
WW
WW
WW
WW
35.000
38.500
50.000
13.060
US-$
US-$
US-$
US-$
2002
2002
2000
1996
MST in Medizin/Biochemie
MST in Medizin/Biochemie
Mikrosysteme in der Medizintechnik
WW
WW
WW
10.700 US-$
2.775 US-$
12.000 €
2002
1996
2002
Medical MEMS: Equipment for patient monitoring
Medical MEMS: Equipment for patient monitoring
WW
WW
143 US-$
250 US-$
2005
2000
Medical MEMS: Biochip
Medical MEMS: Biochip
WW
WW
450 US-$
52 US-$
2005
2000
Medical MEMS: Devices (e.g. pacemakers, inhalers)
Medical MEMS: Devices (e.g. pacemakers, inhalers)
WW
WW
68 US-$
18 US-$
2005
2000
Medical MEMS: Instruments
Medical MEMS: Instruments
WW
WW
70 US-$
16 US-$
2005
2000
pacemakers
WW
25.000 US-$
1995
pharmaceutical products that incorporate advanced
drug-delivery
WW
38.000 US-$
2002
6)
cardiac catheters
WW
408 US-$
1996
6)
implantable glucose sensor
k.A.
1.300 US-$
k.A.
in-vitro diagnostics where enzymatic sensor chips are
placed
WW
19.000 US-$
p.a.
1)
2)
3)
4)
3)
4)
4)
4)
3)
5)
5)
5)
5)
5)
5)
5)
5)
6)
7)
6)
Volumen
in Mio.
190.000 US-$
12.707 €
Volumen
in Mio.
Zeitraum
2003
2002
Zeitraum
Quellen:
1)
2)
3)
4)
5)
6)
7)
Varona 2004;
IG Metall FB Wirtschaft-Technologie-Umwelt [Hrsg.] 2003; Statistisches Bundesamt
VDI/VDE-IT & Nord LB 2003; NEXUS REPORT 2002
IKB 2000; NEXUS
Bourne 2001; Cahners In-Stat Group
Felten & Hussla 2000;
Wilkinson 2003a;
Wildcards
Entsprechend der Eigenart der Mikrosystemtechnik als Instrumentarium der Miniaturisierung (zur
Ausbringung) verschiedenster Funktionen, gelten im Grunde jeweils die bereits zuvor für
Biotechnologie und Tissue-Engineering angestellten Überlegungen. Hinzu kommen einige
besondere Aspekte, die im Zusammenhang mit der Nanotechnologie ausführlicher angesprochen
werden sollen.
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
577
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Verhältnis zu anderen Schlüsseltechnologien
Ihre Anwendungsbreite verschafft der Mikrosystemtechnik Berührungspunkte zu im Grunde allen
anderen Schlüsseltechnologien, besonders ausgeprägt für die Zukunft werden es voraussichtlich
die Biotechnologie und die Nanotechnologie sein. Letztere steht nur zu einem gewissen Teil in der
Folge einer weiteren Miniaturisierung. Self-assembling beispielsweise stellt eine neuartige
Herangehensweise (Bottom-up) dar, die der Nanotechnologie eine gewisse Eigenständigkeit
verleiht.
10.5.5
Nanotechnologie
Mit dem technologischen Vorstoß in die Größendimension von 10-9 (‚nano~’) verbinden sich nicht
nur angesichts der weiteren Miniaturisierung, sondern auch der bislang unbekannten Effekte und
Phänomene große und sehr vielfältige Erwartungen. Die Ansätze zur Definition der Nanotechnologie sind beinahe ebenso vielfältig. Gemeinsam ist zumeist die grundlegende
Beschränkung auf die Größe unter 100 nm und damit auf die ‚Nanoskaligkeit’ im engeren Sinne.
Auf dieser noch sehr ‚weitgefassten’ Basis werden weitere Spezifikationen und Eingrenzungen je
nach Perspektive der Autoren vorgenommen: WEVERS & WECHSLER (2002) beispielsweise fordern
u. a. Nanoskaligkeit in mindestens zwei Dimensionen sowie die Verknüpfung von Größe und
Funktionalität.
Ausgedehnt auf den Begriff ‚Nanotechnologie’ lässt sich verallgemeinernd demzufolge formulieren:
„Gegenstand der Nanotechnologie ist die Erforschung, Herstellung und Anwendung von Systemen,
deren funktionale Einheiten Ausdehnungen unter 100 nm aufweisen“ (FARKAS et al. 2003), oder mit
den Initiatoren des NanoMED Workshops 2002 (Berlin) auch „Funktion, Eigenschaft oder
Anwendung sind kausal auf die Nanoskaligkeit zurückzuführen“.
Die genannten Definitionen sind bezüglich der ausgesprochen zahlreichen Anwendungsbereiche
der Nanotechnologie noch offen. Die jeweilige Ausrichtung gibt sich dann in Bezeichnungen wie
z. B. ‚Nanooptik’, ‚Nanoelektronik’ oder ‚Nanobiotechnologie’ zu erkennen. Unter dem
letztgenannten Begriff wird nicht die Schnittmenge zwischen Biotechnologie, sondern
- umfassender - zwischen Biologie und Nanotechnologie verstanden (WAGNER & WECHSLER 2004),
ein Feld, das damit auch medizintechnische Applikationen umschließt.
Die erwartete enorme Anwendungsvielfalt der Nanotechnologie spiegelt sich in der Deutschen
Zukunftsoffensive für Nanotechnologie (BMBF 2004) wider, die über vier Leitinnovationen das
Potential technologisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich strategisch erschließen will: ‚NanoFAB’,
‚NanoLux’, ‚NanoMobil’ und ‚NanoforLife’. Eine vergleichbare Schwerpunktsetzung wurde bereits
im Jahr 2000 in den USA mit der Gründung der NNI (National Nanotechnology Initiative) vollzogen.
Auch Japan setzt auf dieses Technologiefeld. Dies zeigen die Budgets der entsprechenden
Förderung für 2004: ca. 850 Mio. € in den USA, 800 Mio. € in Japan und 290 Mio. € in
Deutschland.
578
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Literaturlage
Die Nanotechnologie ist aktuell wie kaum eine andere Schlüsseltechnologie in der Diskussion,
national wie international. Die stattfindende Ausrichtung führender Technologienationen hat neben
dem ‚Hype’ dazu geführt, dass ein ausgesprochen umfangreiches Schrifttum vorliegt. Aus Sicht der
gegebenen Fragestellung zum Potential der Nanotechnologie für die Medizintechnik ist
festzustellen, dass zahlreiche Fundstellen als ebenso aktuell wie hoch relevant einzustufen sind.
Bemerkenswert ist der große Anteil an deutschen Arbeiten, die auch auf die Impulse des BMBF
zurückgehen, zuletzt mit der Vergabe einer mehrteiligen Innovations- und Technikanalyse explizit
zum Themenfeld Gesundheit.
Abbildung 10.13:
Quellenlage zur Nanotechnologie. Dargestellt sind die Fundstellen mit
ausdrücklichem Schwerpunkt auf der Nanotechnologie nach Relevanz (a) und
Aktualität (b, Publikationsart kumuliert)
20
A
Monographie
Artikel
15
B
Anzahl
Relevanz
A/B
B/C
10
5
C
0
5
0
10
1995-1999
Anzahl
(a)
2000-2004
Zeitraum
(b)
Sie umfasst unter dem Titel „Nanotechnologie pro Gesundheit“ (FARKAS et al. 2003) neben den
Analysen von Patenten, Literatur, internationalen Perspektiven und gesundheitsökonomischen
Modellen eine Delphi-gestützte Technologievorschau. WAGNER & WECHSLER (2004) sowie WEVERS
& WECHSLER (2002) geben einen aktuellen, umfassenden und detaillierten Einblick in die
Nanobiotechnologie und die derzeit in der Entwicklung befindlichen Anwendungen in Medizin und
Pharmazie. Die Arbeiten von ROCO (2003) sowie der Greenpeace–Report (ARNALL 2003)
konzentrieren sich insbesondere auf den internationalen Blickwinkel. Trotz der vorrangig
technologischen Ausrichtung der meisten Publikationen finden sich immer wieder Abschnitte zur
Verantwortbarkeit zukünftiger Innovationen wie z. B. im Abschlussbericht des Büro für
Technikfolgenabschätzung (TAB, PASCHEN et al. 2004). Der Innovationsschub aus dem
Nanokosmos (Bachmann 1998) ist mit Blick auf die Medizin(-technik) daher auch ein Aspekt für die
bioethische Diskussion.
Exemplarische Technologievorschau
Über Self-assembling und Selbstorganisation oder technische Manipulation z. B. mit Rasterkraftmikroskopen lassen sich nanoskalige Strukturen aufbauen, die dann als funktionalisierte
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
579
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Oberflächen, Partikel oder komplexe Nanosysteme ihre jeweilige Funktion übernehmen. Für die
Medizintechnik sind damit folgende Anwendungsfelder von besonderer Bedeutung:
•
•
•
Diagnostik, Analytik
Wirkstoffauslieferung
biofunktionale Oberflächen und Trägerstrukturen
Analytischen wie diagnostischen Ansätzen ist die mit der Nanoskaligkeit verknüpften Erhöhung von
Sensitivität und Selektivität gemeinsam. Einzelne Moleküle können mit der Rasterkraftmikroskopie
(AFM, Atomic Force Microscopy) dargestellt und manipuliert werden. Optische Pinzetten halten
Zellfragmente im Laserstrahl fest oder lösen sie aus übergeordneten Strukturen (DNA aus
Chromatin-Komplexen, WAGNER & WECHSLER 2004). Mithilfe fluoreszierender Nanopartikel
(Quantum-Dots), die nach Bindung an die Zielmoleküle per Laser angeregt werden, können
Struktur und Funktion auf Einzelmolekülebene aufgeklärt werden:
„Quantum dots can be tracked very precisely when molecules are ‘bar coded’ by their unique light
spectrum.” (ARNALL 2003[416], S. 28)
Für die Diagnostik stehen die Chip basierten Systeme (s. Kap. 10.5.4) im Mittelpunkt. Mithilfe der
Nanotechnologie soll zukünftig die Spotdichte noch einmal deutlich vergrößert werden,
Substanzgemische werden bei Lab-on-Chip Systemen z. B. über Nanoporen oder –siebe
aufgetrennt. Innovative Sensoren (z. B. Cantilever) ermöglichen den Nachweis einzelner
Nukleotide als Basis für neue DNA-Chips.
Im Bereich der in vivo Diagnostik bilden nanobasierte Kontrastmittel einen Schwerpunkt im
Rahmen der molekularen Bildgebung. Die Partikel binden spezifisch an Strukturen erkrankter
Gewebe, sammeln sich dort an und lassen sich mit ihrer optischen Komponente beispielsweise
durch einen MRT darstellen. Erste Produkte dieser Art sind bereits auf dem Markt, die allgemeine
Verbreitung erwarten die befragten Experten bereits für den Zeitraum von 2005-2010 (FARKAS et
al. 2003, S. 81).
Im darauf folgenden 5-Jahres Zeitraum wird - so die Experten Einschätzung - die intelligente
Wirkstofffreisetzung ihren Durchbruch hin zur breiten Anwendung erleben (FARKAS et al. 2003,
S. 82).
„Nanopartikel lassen sich nicht nur zum Transport und Schutz biologischer Wirkstoffe einsetzen, sondern
sind auch geeignet, solche Wirkstoffe über Zeiträume bis zu mehreren Monaten dosiert freizusetzen.“
(PASCHEN et al. 2004[719], 303).
Insbesondere für Tumortherapie und die Infektionsabwehr werden mit verschiedenen Ansätzen
Wirkstoffe verkapselt (z. B. liposomal) oder in nanoporige Hüllen einbracht und z. B. über die
Einwirkung fokussierter Magnetfelder am Wirkort freigesetzt. Auf dem Feld des Drug-Delivery ist
Deutschland durchaus aussichtsreich positioniert, was sich z. B. auch am Publikationsanteil
ablesen lässt (WAGNER & WECHSLER 2004, S 38). Damit bieten sich Entwicklungschancen für
Deutschland trotz der allgemeinen Technologieführerschaft der USA auf dem Gebiet der
Nanotechnologie insgesamt an. Diese Ansicht wird auch durch die im Rahmen dieser Studie
erfassten Expertenmeinungen, die im Rahmen der Workshops gesammelt wurde, ausdrücklich
unterstützt (s. Kap. 7.5.3.7)
580
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Wirkstofffreisetzung spielt auch für nanotechnologisch gestaltete Oberflächen eine Rolle, z. B. in
der Beschichtung von Stents (Gefäßstützen) zur Vermeidung der Restenose der Gefäße (s. dazu
Kap. 10.5.7). Darüber hinaus werden nanostrukturierte Beschichtung von Gelenk-Implantaten nicht
nur deren Standzeiten und Verschleißfestigkeit erhöhen, sondern auch das Einwachsen in das
Knochengewebe steuern. Die Steuerung des Zell- und Gewebewachstum bildet auch den
Anknüpfungspunkt für das Tissue-Engineering (s. Kap. 10.5.3) mit dem Aufbau entsprechend
modifizierter, nanostrukturierter Matrices (Scaffold).
Neben den dargestellten Hauptanwendungsgebieten der Nanotechnologie in der Medizin und
Medizintechnik gibt es noch viele weitere Applikationen und Visionen, die angesichts der
gebotenen Kürze hier stichwortartig und in Auszügen erwähnt werden sollen: Nanosensoren für
intelligente Pflaster, implantierbare Sonden, neurologische Prothesen oder Systeme zur
Übertragung von Nervenimpulsen etc.
Auch diese Aufzählung zeigt die hohe Relevanz der Nanotechnologie für die Medizin.
Abbildung 10.14:
Entwicklungschancen durch die Umsetzung der Nanotechnologie in der
Medizin. Einschätzung der Experten in der 1. und 2. Hauptrunde der DelphiBefragung 2003.
Gesellschaft
100%
1. Runde
50%
Gesundheitsversorgung
0%
2.Runde
Wissenschaft
Wirtschaft
Quelle: Originalabbildung aus FARKAS et al. (2003), S. 75
In der Einschätzung der Bedeutung der Nanotechnologie herrscht ebenfalls Einigkeit darüber, dass
diese Schlüsseltechnologie ihr Potential erst in der Zukunft entfalten wird. Viele Fragen für die
geschilderten Anwendungsmöglichkeiten sind noch offen, die Nanotechnologie ist gerade auch mit
Blick auf die Medizintechnik noch ein junges Feld, das jedoch „…revolutionäre Entwicklungen in
der Diagnose und Therapie von Krankheiten…“ (WAGNER & WECHSLER 2004, S 167) erwarten
lässt. Deutsche Stärken lassen sich in den drei o. a. Schwerpunktfeldern ausmachen, wobei der
Innovationsschub für nanotechnologische Anwendungen für die Dekade von 2005-2015
prognostiziert wird (FARKAS et al. 2003).
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
581
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Die Nanotechnologie ist mehr als die bloße Verkleinerung in Fortsetzung der Mikrosystemtechnik.
Dies zeigt auch die folgende Gegenüberstellung technologischer Zukunftstrends, der mit dem
Vorstoß in den Nanokosmos einhergehen könnte.
Tabelle 10.11:
Entwicklung von Technologietrends im Übergang zur Nanotechnologie (zitiert
aus: NEXUS 2002
from micro
to nano
device
system
information
intelligence
manual
unmanned
dependece
autonomy
processing
systhesising
adapting
tailoring
line assembly
self assembly
Quelle: NEXUS 2002, S.159
Forecast
Der Zukunftsbezug der Nanotechnologie stellt für die Vorhersage des ökonomischen Potentials
eine gewisse Schwierigkeit dar. Es liegen derzeit kaum Erfahrungswerte für den Markterfolg
einzelner Anwendungen vor, so dass viele Schätzungen einen sehr prognostischen Charakter
aufweisen.
Die Autoren der vom BMBF beauftragten Studie zum wirtschaftlichen Potential der Nanotechnologie stellen eine relativ inhomogene Datenbasis fest, die eine Gesamtmarktbetrachtung
kaum ermöglicht. Unterschiedliche Abgrenzungen und Bezugsgrößen sind damit wohl ein Grund
für die stark schwankenden Angaben. Ein Weiterer besteht in der Tatsache, dass nanotechnologische Produkte durchweg nicht eigenständig vermarktet werden, sondern vielmehr in Systeme
integriert sind, aus denen der unmittelbare Wertschöpfungsanteil der Technologie selbst nicht mehr
ohne Weiteres abgeleitet werden kann. Andersherum betrachtet sprechen HÜSING et al. (2002,
S 88) von der Nanotechnologie als Hebel für die Erschließung z. B. des sehr großen pharmazeutischen Marktes, der zu einem großen Teil durch Drug-Delivery oder Drug Design aufgewertet
werden wird.
Weniger die aktuellen Marktvolumina, sondern vielmehr die z. T. enormen Wachstumsraten
kennzeichnen diese Schlüsseltechnologie auch im Bezug zur Medizintechnik, die - wenn die
Prognosen Recht behalten - in Zukunft erheblich von der Umsetzung nanotechnologischer
Erkenntnisse und Verfahren profitieren wird.
582
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Tabelle 10.12:
1)
2)
3)
4)
5)
6)
7)
7)
8)
7)
7)
Literaturangaben zu Marktpotentialen der Nanotechnologie bzw. einzelner
Segmente (Produktgruppen) im Vergleich nach verschiedenen Autoren
(WW – Weltmarkt); weitere Erläuterungen s. Kap. 10.5.1
Medizintechnik gesamt
Technologien
Markt
Gesamt: Medizintechnik insgesamt
Gesamt: Medizintechnik insgesamt
WW
D
Nanotechnologie
Technologie- bzw. Produktbereiche
Markt
Gesamt: Nanotechnologie
Gesamt: Nanotechnologie
Gesamt: Nanotechnologie
Gesamt: Nanotechnologie
WW
WW
WW
WW
Biophysikalische Analytik
Biophysikalische Analytik
Volumen
in Mio.
190.000 US-$
12.707 €
Volumen
in Mio.
1.000.000
1.000.000
50.000
53.690
Zeitraum
2003
2002
Zeitraum
US-$
€
€
€
2015
2010
2001
2001
WW
WW
745 US-$
181 US-$
2007
2002
nanoskalige Drug-Delivery-Systeme
NT: Wirkstoffe und Drug-Delivery
NT: Wirkstoffe und Drug-Delivery
WW
WW
WW
50 US-$
33 US-$
8 US-$
2007
2007
2002
Nanobasierte Diagnostik und Analytik
Nanobasierte Diagnostik und Analytik
Gesamtmarkt Biochips/Schnelltest
Protein Chip
DNA-Chip
WW
WW
WW
WW
WW
NT: Tissue-Engineering
NT: Tissue-Engineering
US-$
US-$
US-$
US-$
US-$
2007
2002
2010
2006
2006
WW
WW
2 US-$
0 US-$
2007
2002
Nanopartikel in Sonnenschutzmittel
Ag-Nanopartikel in Antimikrobika
WW
WW
87 US-$
1 US-$
2005
2005
13)
Geräte zur Erzeugung lateraler Nanostrukturen in
Belichtungsmaschinen
WW
1.500,0 €
2002
13)
Herstellung von Rastersonden f. die Nanoanalytik
WW
3.000 €
2002
7)
7)
9)
10)
10)
7)
7)
11)
12)
5)
13)
391
80
2.000
400,0
1.900
Membranen
WW
20.000 US-$
2020
Aufbau von Keramiken, Farben, Kosmetika usw.
WW
12.000 €
2002
Quellen:
1)
2)
3)
4)
5)
6)
7)
8)
9)
10)
11)
12)
13)
Varona 2004;
IG Metall FB Wirtschaft-Technologie-Umwelt [Hrsg.] 2003; Statistisches Bundesamt
Lux Capital (Hrsg.] 2003; National Science Foundation (NSF)
BMBF 2004; Deutsche Bank 2004, Microtechnology Innovation Team
Hüsing et al. 2002; Bachmann 2000
Malanowski 2001; Bachmann 1998
Luther & Malanowski 2004; BCC 2002
Wagner & Wechsler 2004; nach BCC 2003
Luther & Malanowski 2004; VDI-Nachrichten
Luther & Malanowski 2004; Fecht et al. 2003
Luther & Malanowski 2004; BCC 2001
Luther & Malanowski 2004; BCC 2003
Hüsing et al. 2002;
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
583
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Wildcards
Die Nanotechnologie ist gegenwärtig auch von futuristischen Erwartungen geprägt, die als
Nährboden auch utopische Visionen hervorgebracht haben, so z. B. die Vorstellung selbstreplizierender Nano-Roboter, die unsere Immunabwehr beim Kampf gegen Infektionen
unterstützen. So unwahrscheinlich diese Phantasien auch sein mögen, es ist ihnen dennoch
durchaus möglich, die öffentliche Wahrnehmung und die Akzeptanz der Technologie zu
beeinflussen und ihren Fortschritt zu bremsen. FARKAS et al. (2003) stellen zudem fest, dass auch
für die nanotechnologischen Innovationen in der Medizin die gleichen ethisch-sozialen
Fragestellungen aufgeworfen werden wie für die Hochleistungsmedizin insgesamt.
Eine gewisse Besonderheit stellt auch die Frage nach dem Verbleib ultrafeiner Nanopartikel nach
ihrem ‚medizinischen Einsatz’ sowie die Gefahren aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen
durch Nanopartikel dar, die z. B. bei industrieller Produktion entstehen können und freigesetzt
werden. Auch dieses Risiko fehlender Konzepte zur Nachhaltigkeit ist zu berücksichtigen. Die
gegenwärtig noch frühe Phase der Technologieentwicklung schafft jedoch Spielräume und
Potentiale zur Gestaltung der Nachhaltigkeit, die es zu erschließen gilt (STEINFELDT 2004).
Verhältnis zu anderen Schlüsseltechnologien
Schon in der vorangegangenen exemplarischen Technologievorschau wurden die engen
Verknüpfungen zur Zukunft anderer Schlüsseltechnologien deutlich. Die Forschung, Entwicklung
und Produktion im Nanometerbereich hebt im Grunde die althergebrachten Disziplingrenzen auf,
denn es geht unabhängig von der Herkunft des Betrachters aus Physik, Chemie, Biologie,
Ingenieurwissenschaften oder Medizin um Phänomene auf molekularer Ebene. Kaum eine
Technologie ist daher so von einem interdisziplinären Ansatz geprägt und zukünftig davon
abhängig wie die Nanotechnologie. ROCO titelt „Nanotechnology: convergence with modern biology
and medicine“ (2003) und das US-amerikanische National Institute of Health (NIH 2003) formuliert
in seiner Roadmap für das 21. Jahrhundert:
“The scale and complexity of today’s biomedical research problems increasingly demands that scientists
move beyond the confines of their own discipline and explore new organizational models for team
science”. (NIH 2003[720])
10.5.6
Optische Technologien
Es handelt sich um ein sehr weit gefasstes Technologiefeld mit ausgesprochen zahlreichen
Facetten und Anwendungsfeldern, wie es auch die folgende Definition zum Ausdruck bringt:
„Die Optischen Technologien umfassen die Gesamtheit physikalischer, chemischer und biologischer
Naturgesetze und Technologien zur Erzeugung, Verstärkung, Formung, Übertragung, Messung und
Nutzbarmachung von Licht.“ (SIEGEL & LITFIN 2000[509], S. IX)
Oberflächen- und Materialbearbeitung, Mess- und Fertigungstechnik gehören ebenso zum
Anwendungsspektrum der optischen Technologien wie Datenübertragungs- und Speicherungsverfahren, Solartechnik und schließlich auch die Medizin(-technik).
584
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Gerade dieser letztgenannte, hier im Mittelpunkt stehende Anwendungsbereich, hat im Grunde erst
mit der Einführung der Lasertechnologie (als Teil der optischen Technologien insgesamt) erheblich
an Dynamik gewonnen (SIEGEL & LITFIN 2000).
Daher stehen die Anwendungen von Laserstrahlung für medizinische Zwecke im Vordergrund der
nachfolgenden Ausführungen (s. auch Kap. 7.12.9 und Kap. 7.12.10.1).
Das gebündelte, kohärente Licht eines Lasers kann dabei im Grunde folgende Wirkungen im
bestrahlten Material auslösen: Photochemische, photothermische sowie ionisierende Effekte. So
können beispielsweise Farbstoffe als physiologische Gewebemarker zur Fluoreszenz angeregt
werden, oder Zellen absorbieren die Lichtenergie und erwärmen sich (ggf. bis zur Zerstörung) oder
aber extrem kurze Lichtpulse (Ultra-Kurzpulslaser im Femtosekundenbereich) tragen Hartsubstanz
z. B. von Knochen ohne nennenswerte Erwärmung ‚kalt’ ab.
Literaturlage
Insgesamt konnten nur acht Quellen identifiziert werden, die sich mit dem Zukunftspotential des
Lasers (als Kernbereich optischer Technologien) für die Medizintechnik befassen und insofern als
primär für das Technologiefeld einzustufen waren.
Abbildung 10.15:
Quellenlage zu Lasertechnologie/ Optische Technologien. Dargestellt sind die
Fundstellen mit Schwerpunkt auf den Optischen Technologien nach Relevanz
(a) und Aktualität (b, Publikationsart kumuliert)
15
A
Monographie
Artikel
10
B
Anzahl
Relevanz
A/B
B/C
5
C
0
5
0
10
1995-1999
Anzahl
(a)
2000-2004
Zeitraum
(b)
Trotz der geringen Zahl an Fundstellen rechtfertigen die hohe Aktualität (alle datieren aus dem Jahr
2000 oder jünger, s. Abbildung 10.15 b), der durchweg gegebene Übersichtscharakter der Arbeiten
sowie das Vorhandensein zweier Quellen mit hoher Relevanz (‚A/B’) für die Fragestellung die
vorgelegte weitergehende Aufbereitung als ‚Dossier’.
Zudem stellt die „Deutsche Agenda Optische Technologien für das 21. Jahrhundert“ (SIEGEL &
LITFIN 2000, im Auftrag des BMBF) insofern eine Besonderheit dar, als hier ein industriegeführter
Strategieprozess initiiert wurde. Aus der Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und
Wissenschaft wurden gemeinsame Zielvorstellungen und Handlungsempfehlungen für die
Optischen Technologien insgesamt abgeleitet, darunter auch das Anwendungsgebiet
Medizin/Biowissenschaften. Sichtbare Umsetzungen sind u. a. die gegründeten Kompetenznetze
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
585
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
sowie das Förderprogramm ‚Optische Technologien’ mit einem geplanten Ausgabenvolumen von
knapp 280 Mio. € in der Zeit von 2002-2006 (BMBF 2002b, S. 40).
Die Struktur des Förderprogramms zeigt erneut die bereits o. a. Vielfalt der Anwendungsgebiete,
von denen die Medizintechnik ‚nur’ eines ist.
Exemplarische Technologievorschau
Der Einsatz moderner Laserverfahren hat unseren Alltag z. B. in Gestalt von PC oder DVD-Player
längst erreicht. Auch in einigen klinischen Fachbereichen hat sich der Laser insbesondere in Form
von Nd:YAG-, CO2-, Argon- oder Excimer-Lasern als Instrument etabliert (s. HÜSING et al. 2002,
S. 227):
•
•
•
•
•
Ophthalmologie:
Photodynamische Therapie (PDT) bei Altersbedingter Makuladegeneration (AMD), RefraktärChirurgie (LASIK, PRK), Glaukombehandlung
Dermatologie inkl. kosmetischer Behandlungen mit sog. ‚Softlasern’
Haarentfernung, Narben- und Hautfleckenentfernung, Faltenglättung
Chirurgie, insbesondere Endoskopie,
Tumorresektion, Gewebeablation
Diagnostik/Analytik:
Ultra-Hochdurchsatzverfahren, Chip-Diagnostik, Gewebe-Detektion, Bildgebung
Zahnmedizin
Abtragung von Hartsubstanz, Kariesdetektion
Eine große Zukunft wird der lasergestützten Diagnostik und Analytik vorausgesagt (KRÜGER 2003,
STREHLE & POPP 2004, SIEGEL & LITFIN 2000). Dabei wird die Zielstruktur (Gewebe, Zelle, Protein,
DNA) mit einem optischen Marker (Label) verknüpft, der in Abhängigkeit des physiologischen
Status fluoresziert. Die Darstellung und Auswertung der Fluoreszenz geschieht dann zumeist über
die konfokale Lasermikroskopie, die z. B. bei der Medikamentenentwicklung große Bedeutung
erlangt hat. Ein weiteres Verfahren ist die optische Kohärenztomographie in vivo; beide Verfahren
werden in der Zukunft auch in Form von endoskopischen Instrumenten verfügbar sein. Mithilfe von
Fluoreszenzmarkern an geeigneten Liganden und der Detektionstechnik lassen sich so z. B.
Darmkarzinome in einem sehr frühen Stadium identifizieren, lokalisieren und photodynamisch
zerstören. Dazu könnten Partikel mit Farbstoffen versehen werden, die bei lichtinduzierter
Anregung nach Bindung an die Krebszellen zytostatische Substanzen freisetzen (STREHLE & POPP
2004). Diese Photodynamische Therapie wird in analoger Weise auch bei der Behandlung der
AMD eingesetzt (z. B. mit VERTEPORFIN als Photosensitizer) und gilt als ein Erfolgsbeispiel für den
Lasereinsatz in der Medizin.
Neben der Zukunft des Lasers als ergänzende Modalität in der funktionalen Bildgebung und
Navigation basieren zahlreiche medizinische Anwendungen auf dem Laserschneiden, dem
Koagulieren oder dem Carbonisieren von biologischem Material, das oft mit größerer Präzision und
geringerer Invasivität als bei herkömmlichen Verfahren möglich ist.
So wird bei der laser-in-situ-keratomileusis (LASIK) die Fehlsichtigkeit des Patienten korrigiert,
indem mit einem Excimer-Laser im Inneren der Hornhaut Gewebe abgetragen (verdampft) wird,
was die Brechkraft in der gewünschten Weise modifiziert.
586
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Bei den Apparaturen z. B. für die Refraktärchirurgie oder auch die lasergestützte Turmorresektion
in Darm oder Lunge wird deutlich, dass der eigentliche Laser (Strahlquelle) in ein System aus
Strahlführung und optischem Endgerät (z. B. Handstück) eingebettet ist, um das Licht in geeigneter
Form sicher zum Zielgewebe zu bringen. Die technologischen Herausforderungen gerade für
medizinische Anwendungen liegen nicht zuletzt auch in der Entwicklung miniaturisierter Endgeräte
und Optiken, während die Innovationen bei Strahlenquellen selbst eher durch die Anforderungen
aus der Halbleitertechnik getrieben werden (z. B. Extreme UV-Lithographie, BMBF 2002b, S. 14).
Mit der Lithographie wird bereits das Potential des Lasers zur Materialbearbeitung angedeutet, das
sich sowohl auf die Mikro- wie auch auf die Makrotechnik erstreckt. Schweißen, Fräsen oder
Schneiden mithilfe von Laserstrahlung wird auch bei der Fertigung z. B. von Nitinol-Stents
eingesetzt oder etwa – in Form des selective laser meltings (SLM) – beim Aufbau von Scaffolds mit
komplexer dreidimensionaler Geometrie. Insofern sind optische Verfahren im Sinne von
Fertigungstechniken auch mittelbar für die Medizintechnik von Bedeutung.
Forecast
„Deutschland ist in ausgewählten Bereichen der Optischen Technologien bereits an der Weltspitze. […]
Herausragendes Beispiel ist dabei die Materialbearbeitung mit Lasern. Die deutsche Laserindustrie
erreichet hier bei den Laserquellen einen Weltmarktanteil von etwa 38 %.“ (BMBF 2002b[646], S. 10)
Der Weltmarkt für Lasersysteme wird auf ca. 61 Mrd. € (für 2002) beziffert. Davon entfallen je nach
Quelle und Bezugsjahr zwischen 1,5 und 2,3 Mrd. € auf das Anwendungsfeld Medizin (s. Tabelle
10.13), also umgerechnet etwa 2,5-3,8 %.
Die deutsche Spitzenstellung bezieht sich zwar auf nicht-medizintechnische Industriesparten, sie
könnte jedoch ein Fundament darstellen, auf dem auch die Lasermedizin im internationalen
Vergleich Boden gut machen kann. Mit der CARL-ZEISS-MEDITEC AG, Jena, zählt auch ein
deutsches Unternehmen zur Spitzengruppe der globalen Anbieter medizinischer (vor allem
ophthalmologischer) Lasersysteme.
International sind derzeit die USA (ca. 62 %) mit deutlichem Abstand vor Europa (23 %) und Asien
(15 %) der größte Markt für medizinische Laser (HÜSING et al. 2002, S. 234, nach WHEELER 2002).
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
587
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Tabelle 10.13:
1)
2)
Literaturangaben
zu
Marktpotentialen
Optischer
Technologien/Lasertechnologie bzw. einzelner Segmente (Technologiebereiche,
Produktgruppen) im Vergleich nach verschiedenen Autoren (WW – Weltmarkt); weitere Erläuterungen s. Kap. 10.5.1
Medizintechnik gesamt
Technologien
Markt
Gesamt: Medizintechnik insgesamt
Gesamt: Medizintechnik insgesamt
WW
D
Optische Technologien
Technologie- bzw. Produktbereiche
Markt
Optische Technologien insgesamt
Lasersysteme insgesamt
Lasersysteme für die Informationstechnologie
Lasersysteme für die Medizin
Lasermedizin insgesamt
WW
WW
WW
WW
WW
Medizinlaser
Medizinlaser
Medizinlaser
Volumen
in Mio.
190.000 US-$
12.707 €
Volumen
2003
2002
Zeitraum
US-$
€
€
€
€
1998
2002
2002
2002
2001
WW
WW
WW
500 US-$
460 US-$
280 US-$
2000
1999
1996
Refractive lasers
Refractive lasers
Ophthalmologische Laser
WW
WW
WW
870 US-$
350 US-$
644 €
2006
2001
2001
Aesthetic laser surgery
Aesthetic laser surgery
Faltenentfernung, Abtragen von Hautmalen, Narben
etc.
Hair removal (Epilation)
WW
WW
WW
1.046 US-$
520 US-$
84 €
2006
2001
2001
WW
1.300 US-$
2001
13)
Biophotonic fluoreszence technology (Diagnostics)
WW
2.500 US-$
k.A
14)
Chirurgie-Laser
WW
950 €
2001
Dentallaser
WW
25 €
2001
3)
4)
4)
5)
6)
7)
8)
8)
9)
9)
6)
10)
10)
11)
12)
6)
55.000
61.200
41.000
1.500
2.300
in Mio.
Zeitraum
Quellen:
1)
2)
3)
4)
5)
6)
7)
8)
9)
10)
11)
12)
13)
14)
Varona 2004;
IG Metall FB Wirtschaft-Technologie-Umwelt [Hrsg.] 2003; Statistisches Bundesamt
BMBF 2002b; Arizona Optics 1999
Kayenburg 2004;
Kayenburg 2004; (extrapoliert aus Grafik)
Hüsing et al. 2002; Wheeler 2002
VDI/VDE-IT & Nord LB 2003; Laser Focus World
VDI/VDE-IT & Nord LB 2003;
Smith 2002; WaveLight HSBC Report 2001
Smith 2002; HBSC Trinkhaus & Burkhardt
Hüsing et al. 2002; Asclepion 2000
Smith 2002; Palmor Medical Technologies
Smith 2002; Mediscience Technology Corporation
Hüsing et al. 2002; Lewotzky 2001
Anwendungen Optischer Technologien in der Augenheilkunde besitzen die wirtschaftlich größte
Bedeutung innerhalb der Lasermedizin. Eine wesentliche Rolle spielen dabei die Verfahren zur
Korrektur der Fehlsichtigkeit (LASIK, PRK), für die sich zwar in den USA eine gewisse Sättigung
abzeichnet; in Europa jedoch rechnen die Experten aufgrund der bislang noch geringeren
Marktdurchdringung mit deutlichen Wachstumsraten (HÜSING et al. 2002). So waren es im Jahr
588
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
2000 in den USA ca. 600 Visuskorrekturen mit Lasereinsatz, in Spanien knapp über 200 und in
Deutschland weniger als 50 jeweils pro 100.000 Einwohner. (SMITH 2002, S. 104)
Die Wachstumsprognose für derartige Eingriffe ist u. a. deshalb besonders interessant, weil die
Kosten (z. B. LASIK ca. 1.900 € - 2.200 € pro Auge) für die genannten Verfahren i. d. R. nicht von
den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden.
Eine ähnlich große wirtschaftliche Bedeutung kommt den kosmetischen (ästhetischen)
Laserbehandlungen zu: Faltenglättung, Entfernung von Haaren oder Tätowierungen zählen u. a. zu
dem Feld, in dem üblicherweise relativ leistungsschwache Laser (‚Softlaser’) einsetzt werden.
Größere Bedeutung als den therapeutischen Anwendungen kommt wohl der Diagnostik bzw.
Analytik mit biophotonischen Methoden zu. Dies korrespondiert auch mit der Prognose für die
chipbasierten Analysesysteme der Zukunft (s. Kap. 10.5.4), für deren Entwicklung Laser- und
Nanotechnologie mit der Mikrosystemtechnik gemeinsam wesentliche Impulse liefern können.
Der ökonomische Stellenwert der Dentallaser mit ca. 25 Mio. € (weltweit für 2001) ist demgegenüber noch vergleichsweise gering. Am Beispiel des ‚Laser-Bohrers’ zeigen HÜSING et al.
(2002), wie die in diesem Fall geringe Technikakzeptanz der Zahnärzte in ihrer GatekeeperFunktion (s. Kap. 9.4.7) den Einzug einer Technologie in die Versorgung verlangsamt, obschon:
„…56 von 100 Patienten würden sogar einen Aufpreis bezahlen, wenn statt des Bohrers ein Laser
eingesetzt würde“ (HÜSING et al. 2002, S. 255, nach einer Arbeit von WIGDOR 1997).
Wildcards
Hohe Investitionskosten bei hoher Innovationsrate, die Größe der Geräte, notwenige Fachkenntnis
für den Umgang sowie Unfallverhütungs- und Sicherheitsvorschriften mit entsprechenden Auflagen
stehen einem breiten Einsatz der Laserverfahren entgegen, insbesondere unter dem aktuellen
Zwang der Kostendämpfung. Grundsätzlich gelten diese Hemmnisse z. B. auch für viele
bildgebende Verfahren, wobei jedoch hier die Anwendungen in aller Regel in die Erstattung durch
die Kostenträger aufgenommen werden. Dies gilt für zahlreiche Laseranwendungen nicht, auch
zuletzt aufgrund des oft fehlenden Wirksamkeitsnachweis (HÜSING et al. 2002, S. 274ff). In einigen
Fällen (z. B. bei Rekanalisation peripherer Arterien) ist vielmehr der Nachweis geführt worden,
dass keine positive Evidenz vorliegt. Geringe Evidenz bedeutet aber auch geringes Substitutionspotential, d. h. die nur schwachen Vorzüge der Laseranwendungen reichen nicht aus, um die
etablierten Verfahren abzulösen.
Erfolgreich eingeführt wurden medizinische Laser vielmehr dann, wenn es kaum oder keine
konventionellen Behandlungsalternativen gab, wie etwa bei der Behandlung der altersbedingten
Makuladegeneration (AMD).
Verhältnis zu anderen Schlüsseltechnologien
Die Optischen Technologien werden zuweilen auch als ‚Schrittmachertechnologie’ oder ‚Enabling
Technology’ bezeichnet (BMBF 2002b). Diese Charakterisierung trifft jedoch für ihr Verhältnis zum
IuK-Sektor weitaus eher zu als für ihre Wirkung auf die Medizintechnik. Dies belegen u. a. die sehr
unterschiedlichen Anteile dieser beiden Sektoren am Gesamtmarkt der Lasersysteme.
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
589
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Eine besondere Nähe zeichnet sich zwischen der Nanotechnologie und der Lasertechnologie ab,
und zwar in doppelter Weise. Zum einen können Laser als Werkzeug zur nanoskaligen
Strukturierung funktionaler Oberflächen eingesetzt werden. Zum anderen bilden Nanostrukturierung und Selbstorganisation die Grundlage neuartiger Halbleiterlaser.
10.5.7
Tiefensonde: Stent
Der folgende Exkurs folgt dem Konzept der Tiefensonden (s. Kap. 2). Insofern sollen nachfolgend
die selbstexpandierbaren Gefäßstützen (Stents) beispielhaft vertiefend hinsichtlich ihrer
technologischen Zukunft dargestellt werden. Dazu wurde zum einen der recherchierte
Datenbestand (vgl. dazu Kap. 10.3.3) hinsichtlich seiner Bezüge und Aussagen zum Stichwort
‚Stent’ durchsucht, und zum anderen einzelne, aktuelle Ergänzungen aus einer Internetsuche mit
dem o. a. Stichwort hinzugefügt. Zweifellos stellt der damit vorhandene Bestand an Quellen nur
einen kleinen Ausschnitt dar; dennoch lassen sich einige Entwicklungstendenzen identifizieren. Die
Struktur der nachfolgenden Darstellung entspricht weitestgehend dem Aufbau der vorangegangenen Potentialdossiers für die Schlüsseltechnologien (s. Kap. 10.5.1)
Zur Basistechnologie und Historie der Gefäßstützen insgesamt, deren Entwicklungsbemühungen
sich gegenwärtig auf die Lösung der Restenoseproblematik fokussieren, sei auf die ausführliche
Darstellung in Kapitel 9.4.3. verwiesen.
Technologievorschau
Im Rahmen einer Delphi-Befragung gehen (kumulativ59) 73 % der Experten davon aus, dass bis
zum Zeitraum zwischen 2010 und 2015 die Restenoserate nach PTCA (Gefäßaufdehnung) mit
koronaren Stents durch nanotechnologische Oberflächenmodifikation durchweg auf unter 5 %
gesenkt sein wird (FARKAS et al. 2003 S. 82, Tab. 5.9). Korrespondierend dazu berichten
WAGNER & WECHSLER (2004, S. 124) einerseits von der Ausnutzung des Lotus-Effektes zur
Verminderung der Benetzbarkeit und andererseits von innovativen Beschichtungsverfahren, die
Nano-Poren auf der Stentoberfläche erzeugen, in die radioaktive Nuklide zur Unterdrückung der
Restenose eingelagert werden.
Neben der Einlagerung radioaktiver Substanzen, der Erfolgaussichten derzeit kontrovers diskutiert
werden, gilt die Beschichtung des Stents mit Wirkstoffen bzw. Einlagerung von Medikamenten in
Depots zur Steuerung des Zellwachstums (Drug-eluting-Stent) grundsätzlich als viel versprechender Weg (s. a. RIVM 2003). Der Rapamycin beschichtete Stent (Sirolimus) beispielsweise
zeigt im Vergleich zu konventionellen Gefäßstützen eine Reduktion der Restenose um ca. 35 %
(RICKENBACHER 2004).
59
590
Anmerkung der Autoren zur Methode: „statistisch handelt es sich dabei um die Medianklasse der kumulierten
Häufigkeiten der ordinal skalierten Zeitachse als Lagemaß dieser Verteilung. Der ‚genaue’ Medianwert selbst
liegt in dieser Klasse, hier also einem Zeitraum von 5 Jahren, und bezeichnet jenen Punkt, an dem insgesamt
50% der Expertengruppe (die Mehrheit) erreicht wird.“ (FARKAS et. al. 2003, S. 81, Fußnote 13)
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Ein weiterer Ansatz zur Erhöhung der Verträglichkeit richtet sich auf die kontrollierte Bioresorbierbarkeit der Gefäßstütze z. B. durch die Verwendung einer Magnesium-Legierung (Absorbierbarer
Magnesiumstent AMS der Firma BIOTRONIK), die zudem kompatibel für die Magnetresonanz (MR)
ist. Mit dem vollständigen Abbau des Stents wird die Ursache für die Reizung der Gefäßwand
entfernt; zudem tragen die Abbauprodukte selbst zur Unterdrückung der unerwünschten
Gewebereaktion bei.
Schließlich stellt auch die Kombination der oben skizzierten Ansätze (Medikamentenbeschichtung,
Bioresorbierbarkeit, MR-Kompatibilität) einen aktuellen Lösungsweg dar. Aus der aktuellen
Entwicklungskooperation zwischen CONOR Medsystem und BIOTRONIK soll beispielsweise ein
bioabsorbierbarer Drug-eluting-Stent mit steuerbarer Freisetzungskinetik des Depot-Wirkstoffs
entstehen, dessen Markteinführung für 2005 geplant ist (BIOTRONIK 2004).
Forecast
KNAPPE et al. (2000, S. 113) beschreiben den Stent als kosteneffektive medizinische Technologie
und großen medizinischen Fortschritt, der zudem für große Fallzahlen angewendet wird. Dies
manifestiert sich bei aller Unterschiedlichkeit der Prognosen (s. Tabelle 10.14) auch in den
Angaben zum ökonomischen Potential nieder. Stents repräsentieren einen vergleichsweise großen
Teilmarkt für Medizinprodukte. Dementsprechend ist er gerade auch für große und global
agierende Produzenten interessant (z. B. CORDIS, COOK, MEDTRONICS, BOSTON SCIENTIFIC,
GUIDANT).
Tabelle 10.14:
1)
2)
3)
4)
1)
1)
5)
6)
7)
1)
8)
Literaturangaben Marktpotentialen verschiedener Stent-Technologien im
Vergleich nach verschiedenen Autoren (WW – Weltmarkt); weitere Erläuterungen s. Kap. 10.5.1
Medizintechnik gesamt
Technologien
Markt
Gesamt: Medizintechnik insgesamt
Gesamt: Medizintechnik insgesamt
WW
D
Stent-Technologien
Technologie- bzw. Produktbereiche
Markt
Gesamtmarkt koronare Stents
Cardiovascular stent
WW
WW
2.000 US-$
2.000 US-$
k.A.
2001
Drug-eluting-Stent
Drug-eluting-Stent
Drug-eluting-Stent
Stents mit Wirkstoffreservoirs
Vaskuläre Medikamentenfreisetzung bei Restenose
EU
J
US
WW
WW
200
460
3.350
4.000
4.000
US-$
US-$
US-$
US-$
US-$
2003
2005
2005
k.A.
2006
Interventional cardiology products
WW
5.500 US-$
2003
Angioplasty of coronary vessels, stents (Therapy
Costs)
WW
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Volumen
in Mio.
190.000 US-$
12.707 €
Volumen
in Mio.
48.000 €
Zeitraum
2003
2002
Zeitraum
2000
591
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Quellen:
1)
2)
3)
4)
5)
6)
7)
8)
Varona 2004;
IG Metall FB Wirtschaft-Technologie-Umwelt [Hrsg.] 2003; Statistisches Bundesamt
Wagner & Wechsler 2004;
Felten & Hussla 2000;
Scully et al. 2003; Michael Wienstein of JP and Morgan
Wagner & Wechsler 2004; Nasdaq 2003
Biotronik 2004; CONOR Medsystems
Hüsing et al. 2003; Lysaght & Loughlin 2000
Die prognostizierten Zuwächse deuten an, dass insbesondere Drug-eluting-Stents ein großes
Zukunftspotential besitzen.
Wie schon die o. a. Zusammenarbeit zweier Unternehmen mit komplementären Technologieschwerpunkten (Wirkstofffreisetzung – abbaubare Stents) nahe legt, bestehen auch für Klein- und
mittelständische Unternehmen Chancen, sich durch Spezialisierung und Kooperationen
Marktanteile zu sichern.
Interessanter Weise stellt der technologische Fortschritt und der Erfolg bei der Bekämpfung der
Restenose unter ökonomischer Perspektive ein Risiko dar, da sich der Bedarf und die Nachfrage
um den Anteil der nicht mehr nötigen Revisionseingriffe vermindern wird (s. dazu auch
Kap. 12.3.7.).
Verhältnis zu anderen Schlüsseltechnologien
Die dargestellten Entwicklungswege der Stent-Technologie zeigen eine tief greifende Vernetzung
der Schlüsseltechnologien. Bezeichnender Weise treten die jeweiligen Ansätze teils als
Wettbewerber und teils Entwicklungspartner auf: Z. B. Lotus-Effekt versus MedikamentenBeschichtung oder aber Nanoporen als Wirkstoffdepots für biotechnologische entwickelte
Pharmaka.
Für die Zukunft vaskulärer Stents spielen zusammengefasst die Fortschritte vieler Technologien
eine wichtige Rolle, insbesondere Nano-, Bio-, Material- und auch die Produktionstechnologien
(s. Kap. 9.4.3). Ihr volles Potential erschließt sich jedoch erst in ganzer Breite durch die
produktbezogene Zusammenarbeit der genannten Disziplinen.
Differenzierungsmöglichkeiten (und damit Raum für Wettbewerb) ergeben sich u. a. durch
spezifische Indikationsstellungen, wie etwa der Einsatz abbaubarer Gefäßstützen bei Kindern zur
Berücksichtung des entwicklungsbedingten Organ- und Gewebewachstums.
10.6
Wettbewerb um internationale Technologieführerschaft
Der Begriff ‚Technologieführerschaft’ findet sich häufig im Zusammenhang mit Jahresabschlüssen
innovationsorientierter Unternehmen. Dies deutet bereits die beiden Komponenten des
Begriffsverständnisses an, nämlich wissenschaftlicher Vorsprung und darauf aufbauender
wirtschaftlicher Erfolg. Eine analoge Strukturierung (Technologievorschau & Forecast) liegt den
Potentialdossiers (s. Kap. 10.5.1) der Schlüsseltechnologien bereits zugrunde. Verlässt man nun
die Unternehmensebene und wechselt zur Gegenüberstellung ganzer Staaten, so wird der Fokus
592
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
sehr viel breiter und die Positionsbestimmung damit ungleich schwieriger. Diese Problematik mag
ein Grund dafür sein, warum sich in der hier bearbeiteten Literatur nur wenige Quellen finden, die
den internationalen Vergleich technologischer Leistungsfähigkeit explizit aufgreifen. Ein weiterer
Aspekt kommt hinzu: Ein schlüssiges, international abgestimmtes Indikatorensystem zur Positionsbestimmung einzelner Länder zu Technologiefeldern möglichst mit Verknüpfung zur Medizintechnik
ist gegenwärtig nicht auszumachen. Insofern basieren die Vergleiche zumeist auf der in
Befragungen oder Workshops ermittelten Meinung von Experten, z. T. kombiniert mit der
Patentierungs- und Publikationsleistung oder Branchenkennziffern. Dies gilt für die analysierten
Quellen und auch für die hier vorgelegte Studie (s. Kap. 8, Kap. 7.4, Kap. 7.5).
Auf die Frage, wie Deutschland in den für die Medizintechnik relevanten Schlüsseltechnologien
international positioniert ist, ergibt die Literaturanalyse zwar kein geschlossenes Bild, aber doch
Prognosen und Indizien:
Mikrosystemtechnik
Die Positionen auf den Teilmärkten der Mikrosystemtechnik im Vergleich führender Industrienationen sind nach einer Analyse der Deutschen Industriebank (IKB 2000) gekennzeichnet von
deutschen Stärken insbesondere in der Kraftfahrzeugsensorik und deutlich schwächer ausgeprägt
in der Medizintechnik. Die USA liegen danach in der Biomedizin/Gentechnik ebenso wie für die
MEMS vorne, Japan behauptet sich u. a. in Consumerprodukten und der Peripherie von
Datenverarbeitungsgeräten.
„Insgesamt lässt sich feststellen, dass im Bereich der Mikrosystemtechnik, was die Technologieentwicklung wie auch die Anwendung in der unternehmerischen Praxis betrifft, die USA führend sind und
dass Japan und Europa gleichauf folgen. Innerhalb Europas wird Deutschland in einer Spitzenposition
gesehen.“ (IKB 2000 S. 7)
Nanotechnologie
Übereinstimmend stellen LUTHER et al. (2004) und FARKAS et al. (2003) nach Analyse der
Patentierungsaktivitäten und Erhebung der Experteneinschätzung die globale Vormachtstellung der
USA in diesem Technologiefeld fest. Dies gilt auch für den Teilbereich Nanotechnologie & Medizin.
Beide Quellen sehen jedoch Deutschland gleichauf mit Großbritannien führend in Europa.
Besonderes Entwicklungspotential aufgrund vorhandener Stärken zeichnet sich in den Feldern
Drug-Delivery, erhöhte Analysesensitivität, nanobasierte Kontrastmittel und Implantathaftung für
Deutschland ab (FARKAS et al. 2003, S. 218).
Als aufstrebende Nationen gelten u. a. die Schweiz, Südkorea (geringe Bezüge zur NanoBiomedizin), Taiwan und Japan nicht zuletzt auch aufgrund der Bereitstellung umfangreicher
staatlicher Mittel zur Förderung von FuE (ROCO 2003, S. 340). In diesem Zusammenhang ist auch
die deutsche Zukunftsoffensive zur Nanotechnologie zu erwähnen, in der für 2005 ein
Fördervolumen von knapp 300 Mio. € in Aussicht gestellt wird (BMBF 2004, S. 20).
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
593
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Optische Technologien
Deutschland zeichnet sich durch eine Spitzenstellung in der industriellen Materialbearbeitung mit
Lasern aus (BMBF 2002b). Dieses Querschnittspotential birgt die Chance, auch in anderen
Anwendungsbereichen Optischer Technologien auf Weltniveau zu agieren. Ob dies mit Blick auf
die moderne Medizintechnik gelingen kann, bleibt offen.
Biotechnologie
“The United States is leading the industry.” (PIEK 2003, S.9/10)
Mit dieser Einschätzung u. a. auf der Basis der Patentierungsaktivität beginnt die Gegenüberstellung führender Biotechnologienationen. Den USA folgen Japan und - erneut als aufstrebendes
Land – angesichts großer staatlicher Anstrengungen Südkorea, das seine Finanzierungsleistungen
im Zeitraum von 1998-2001 um 400 % gesteigert hat (PIEK 2003).
Unter Bezugnahme auf den Bericht zur Technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands aus dem
Jahr 2003 resümieren die Autoren des jüngsten Deutschen Biotechnologiereports, dass zwar die
Richtung des laufenden Strukturwandels stimmt, andere Länder jedoch dynamischer agieren und
an Deutschland vorbeiziehen (ERNST & YOUNG 2004, S. 109). Eine eindeutige Positionierung
nehmen die Autoren jedoch nicht vor.
Tissue-Engineering
In einer zusammenfassenden Darstellung mit Fokus auf die europäische Situation zum TissueEngineering wird festgestellt:
“Research in this area presents a priority funding field in many Member States and European research
activities can be considered equal to the USA, with Germany and UK leading.” (BOCK et al. 2003, S.35)
Dabei ist zu berücksichtigen, dass aufgrund des frühen Stadiums der Technologieentwicklung zur
zukünftigen Kommerzialisierung derzeit kaum Aussagen getroffen werden können.
Eine Besonderheit der deutschen Situation stellt die hohe Anzahl Klein- und Mittelständischer
Unternehmen dar, die in Europa von den anderen Mitbewerberländern nicht erreicht wird: von
insgesamt 113 identifizierten Unternehmen entfallen 39 auf Deutschland, gefolgt von 18 in
Großbritannien und 10 in Frankreich (aus: HÜSING et al. 2003, S. 75).
Fazit
Der ausgewertete Literaturbestand enthält insgesamt nur wenige Quellen, die eine internationale
Standortbestimmung für die Schlüsseltechnologien explizit vornehmen. Die vorhandenen
Einzelaussagen sehen jedoch weitgehend übereinstimmend die USA in allen Technologiefeldern
weltweit führend. Deutschland nimmt zumeist im europäischen Vergleich eine Spitzenstellung ein.
Eine globale Vormachtstellung für eine der medizintechnisch relevanten Schlüsseltechnologien
wird für Deutschland nicht berichtet.
594
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
10.7
Diskussion der Ergebnisse, Ausblick
Die nachfolgende Diskussion versucht eine Interpretation und Einordnung der dargestellten
Analyseergebnisse zu geben, um schließlich Anregungen für den zukünftigen Diskurs und
mögliche Entwicklungsimpulse vorzustellen. Als solche ist sie unvermeidlich subjektiv und spiegelt
nur die Meinung der Verfasser dieses Abschnitts wider.
Den Ausgangspunkt der Analyse bildete zunächst die Annahme, dass diverse Schlüsseltechnologien sowohl mit der Medizintechnik als auch untereinander Überlappungsbereiche
ausbilden, die quasi die Entstehungsgebiete innovativer Medizinprodukte symbolisieren. Art,
Ausmaß und Lage dieser Schnittmengen war jedoch unbekannt. Insofern stellt die in Abbildung
10.16 vorgenommene, willkürliche Anordnung nur eine von vielen Möglichkeiten dar.
Abbildung 10.16:
Veranschaulichung der Ausgangshypothese: Modellvorstellungen zum
Verhältnis der Schlüsseltechnologien zur Medizintechnik
Optik
IuK
MST
…
MedizinTechnik
BioT
Material
Nano
verwendete Abkürzungen/ Symbole: BioT – Biotechnologie, IuK-Informations- und Kommunikationstechnologien,
Material-Neue Materialien, Materialtechnologien; MST-Mikrosystemtechnik, Nano- Nanotechnologie, Optik-Optische
Technologien, TE-Tissue-Engineering, … -weitere Technologien;
Quelle: AKM
Um das Innovationspotential von Schlüsseltechnologien für die Zukunft der Medizintechnik zu
beleuchten, galt es, Strukturmerkmale abzuleiten, die das Beziehungsgeflecht ordnen und
systematisieren können.
Modell der Fortschrittsdimensionen
Mit den als Fortschrittsdimensionen bezeichneten Grundrichtungen zukünftiger Entwicklungen in
der Medizintechnik (Computerisierung, Miniaturisierung, Molekularisierung) ergab sich in
Anlehnung an die Vorarbeiten von MAU (in: LAUBACH et al. 2002) eine Modellvorstellung jenseits
der Ebene von Schlüsseltechnologien.
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
595
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Abbildung 10.17:
Modell der Fortschrittsdimensionen für die zukünftige Entwicklung der
Medizintechnik (modifiziert nach MAU in: LAUBACH et al. 2002)
Molekularisierung
-FunktionDrug Eluting Stent
Computerisierung
-Enabling TechnologyMiniaturisierung
-Ausbringung/ApplikationComputertomograph
Der ‚Innovationswürfel’ ermöglicht eine Einordnung z. B. von Produkten oder Projekten der
Medizintechnik weitgehend unabhängig von Schlüsseltechnologien. Medizinprodukte werden im
Innern des Würfels entsprechend ihres Anteils an den drei Fortschrittsdimensionen angeordnet.
Der Drug-eluting-Stent beispielsweise weist beträchtliche Werte hinsichtlich der Molekularisierung
(Wirkstoffmoleküle) und der Miniaturisierung auf, wohingegen keine (unmittelbaren) Bezüge zur
Computerisierung bestehen.
In analoger Weise ließen sich nicht nur weitere Medizinprodukte, sondern auch Forschungsprojekte eines Institutes, eines Projektträgers oder eines Landes positionieren und vergleichbar
machen, um etwa national unterschiedliche strategische Schwerpunkte zu identifizieren. Dazu
bedarf es durchaus noch weiterer methodischer Operationalisierungsschritte, die jedoch möglich
erscheinen.
Die Rechtwinkligkeit des Würfels bedeutet formal betrachtet die völlige Unabhängigkeit der
Dimensionen untereinander. Davon ist jedoch kaum auszugehen, auch deshalb nicht, weil über
viele Autoren Einigkeit über die zukünftige Konvergenz der Fachdisziplinen herrscht. Insofern stellt
das Modell diesen Sachverhalt vereinfacht, dafür jedoch anschaulich dar.
Mit der Wahl solcher Fortschrittsdimensionen, die durchweg von mehreren Schlüsseltechnologien
erfolgreich adressiert werden können, nimmt das Modell eher die Blickrichtung der Lösung und des
klinischen Nutzens ein und forciert so durchaus den Wettstreit der Technologien um die besten
Ansätze.
Verhältnis der Schlüsseltechnologien zur Medizintechnik
Die Schlüsseltechnologien lassen sich zunächst den drei Fortschrittsdimensionen zuordnen, und
zwar im Hinblick auf die möglichen Beiträge der Technologien zur Innovationsentwicklung in den
Dimensionen. Es ergeben sich dann Beziehungen gemäß Tabelle 10.15.
596
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Tabelle 10.15:
Zuordnung zwischen Fortschrittdimensionen und Schlüsseltechnologien nach
den zu erwartenden Beiträgen zur Innovationsentwicklung
Fortschrittsdimension
Computerisierung
Miniaturisierung
Molekularisierung
korrespondierende Schlüsseltechnologien
-
Informations- und Kommunikationstechnologie (IuK)
Mikrosystemtechnik, Nano- und Optische Technologien
Biotechnologie, Tissue-Engineering
Die solcherart getroffene, vereinfachte Zuordnung vermittelt allerdings eine Eindeutigkeit, die die
realen Verhältnisse zweifellos überzeichnet. So weist beispielsweise der Bereich Biophotonik als
Teilgebiet der Optischen Technologien eine größere Nähe zur Molekularisierung auf als zur
Miniaturisierung. Dennoch - insgesamt unterstützen die in den dargestellten Potentialdossiers
aufgeführten Schwerpunkte der Technologien im Grundsatz die dargestellten Beziehungen.
Ergänzend dazu sind für die weitere Modellentwicklung zwei Aspekte von Bedeutung:
•
•
der Fundamentalcharakter der IuK als genereller Enabler der Medizintechnik
die definitionsbedingt größere Distanz der Biotechnologie (inkl. Tissue-Engineering) zur
Medizintechnik als zur Wirkstoffentwicklung oder -produktion; denn lt. Gesetz (MPG) bildet die
überwiegend pharmakologische Wirkung den Übergang vom Medizinprodukt zum Medikament.
Zusammengefasst münden die vorgenannten Überlegungen zum Verhältnis zwischen
Schlüsseltechnologien und Medizintechnik in ein 2-Schalen-Modell, das von einem ‚IuK-Sockel’
getragen wird.
Die Miniaturisierungstechnologien bilden dabei die innere, während sich die Ansätze aus der
Molekularisierung in der äußeren Schale wieder finden. Alles wird gleichermaßen gestützt und
stimuliert von der IuK-Technologie. Die Entstehung konkreter, innovativer Medizinprodukte lässt
sich nun entlang von Entwicklungslinien vorstellen, wie sie in Abbildung 10.18 als Beispiele
eingezeichnet wurden:
•
•
•
P1 - z. B. Drug-eluting-Stent als lasergeschnittenes Nitinolgeflecht mit einer biotechnologisch
entwickelten Wirkstoffbeschichtung.
P2 - z. B. DNA-Chip-System mit Biomarkern in mikrofluidischen Kanälen inkl. der
dazugehörigen Auslese- und Datenverarbeitungstechnik
P3 - z. B. Inkubator für autologe Zell-, Gewebe- oder Organkulturen
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
597
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Abbildung 10.18:
Aus der Literaturanalyse entwickelte alternative Modellvorstellung zum
Verhältnis der Schlüsseltechnologien zur Medizintechnik
P1
IuK
BioT
IuK Nano
Optik
Medizin
Technik
IuK
TE
IuK
MST
P3
P2
IuK
…
verwendete Abkürzungen/ Symbole: P1-P3 – mögliche Entwicklungswege für innovative Produkte der Medizintechnik;
BioT – Biotechnologie, IuK-Informations- und Kommunikationstechnologien, MST-Mikrosystemtechnik, NanoNanotechnologie, Optik-Optische Technologien, TE-Tissue-Engineering, … -weitere Technologien;
Quelle: AKM
Selbstverständlich sind neben diesen Beispielen zahlreiche weitere Variationen der Entwicklungswege vorstellbar, etwa als Zick-Zack-Verläufe oder von innen nach außen statt umgekehrt wie
oben dargestellt. Im Vergleich zur Ausgangshypothese einer willkürlichen Überlappung versucht
das Schalenmodell der jeweiligen Bedeutung der Technologien für den Innovationsprozess
Rechnung zu tragen. Es fällt zudem auf, dass die Materialtechnologien nicht mehr eigenständig
aufgeführt werden. Das liegt einerseits an der ausgesprochen geringen Anzahl auffindbarer
Literaturquellen, die sich der Zukunftsprojektion der Materialtechnologien auf die Medizintechnik
widmen60. Andererseits liegen herausragende Perspektiven dieses Feldes in der Nanotechnologie.
So scheint es auch der Verband für neue Materialien NEMA e.V. zu sehen. Die zahlreichen Bezüge
zur Nanotechnologie auf der Homepage des Verbandes legen eine solche Interpretation jedenfalls
nahe (www.neuematerialien.de, [04.11.2004]). Insofern wird zumindest ein bedeutender Teil des
Zukunftspotentials durch die Nanotechnologie stellvertretend repräsentiert. Einen ähnlichen Zusammenhang findet man auch für die Elektronik, deren Gewicht sich eher mittelbar durch ihre
60
598
Bezeichnenderweise sehen nur wenige der befragten Vertreter aus der Wissenschaft (s. dazu Kap. 7.6.3,
insbesondere Abbildung 7.50 und Abbildung 7.51) in ‚Neuen Werkstoffen/Materialen’ eine erstrangige
Schüsseltechnologie; demgegenüber bewerten die Industrievertreter dieses Technologiefeld für die Zukunft
bedeutender als z.B. die Mikrosystemtechnik.
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
großen Anteile an der Mikrosystemtechnik und der IuK ergibt. Eine eigenständige Thematisierung
unter dem hier gewählten Rechercheansatz lässt das Ergebnis der Literaturanalyse jedenfalls nicht
zu.
Konvergenz - Interdisziplinarität - Kommunikation
Die konzentrische Anordnung der Technologieschalen im Modell soll auch die Konvergenz der
Fachdisziplinen andeuten. Die Grenzen zwischen Ingenieur-, Naturwissenschaften und Medizin
werden durch den Fortschritt immer weiter aufgelöst. Gemeinsamer Gegenstand werden immer
stärker molekulare oder atomare Phänomene, die es zu nutzen oder zu modifizieren gilt.
Gemeinsamkeiten gewinnen die Oberhand auch dann, wenn der Betrachtungswinkel z. B. eines
Laserphysikers und eines Molekularbiologen weiterhin eine gewisse Eigenart behält. Die Folge der
Konvergenz – über die an sich große Einigkeit in der Literatur besteht - insbesondere für die
Medizintechnik heißt: Interdisziplinarität in der praktischen Umsetzung von FuE. Angewendet
beispielsweise auf die Projektförderung bedeutet dies die Notwendigkeit, stärker als bisher den
Bedarf aus der konkreten medizinischen Praxis zu identifizieren, um dann alle Technologien dazu
aufzurufen, Lösungsvorschläge und –ansätze anzubieten, die es schließlich gemeinsam
(interdisziplinär) umzusetzen gilt. In einem gewissen Gegensatz dazu besitzen Technologiegetriebene Innovationen häufig keine konkreten Anwendungsziele, sondern sind vielmehr mit
einem bewusst breit gefassten Lösungsangebot aus einer technologischen Richtung kommend auf
der Suche nach Anwendungsmöglichkeiten. Oft entstehen auf diesem Weg Produktinnovationen
(gänzlich neuartige Verfahren, vgl. dazu das ‚Technology-Push’-Modell, Kap. 9.3.4) mit der
unausweichlichen Folge der Leistungsausweitung. Prozessinnovationen hingegen, wie sie durch
bedarfsorientierte Ansätze stärker mobilisiert werden können, zeichnen sich durch eine
gesundheitsökonomisch erstrebenswerte Verbesserung der Ressourcennutzung aus. Dies könnte
zusätzlich medizintechnische Innovationen auslösen, gleichsam ein ‚Sog’ aus der Praxis.
Ein Bekenntnis zu Interdisziplinarität muss seinen Niederschlag auch in der Aus- und Weiterbildung
der Fachberufe finden. Dies sollte jedoch nicht als Aufforderungen zur Gleichmacherei der Inhalte
missverstanden werden. Im Gegenteil – vertiefte Fachkenntnis bildet vielmehr das Fundament für
eine erfolgreiche, disziplinübergreifende Zusammenarbeit. Allerdings muss noch etwas
hinzukommen, nämlich die Bereitschaft und die Fähigkeit zu Kommunikation auf gleicher
Augenhöhe, doch gerade hier liegt das Defizit. In einer aktuell vorgelegten Studie bezeichnen
Hochschulabsolventen nach den ersten Berufsjahren die Anforderungen an die Kommunikationsfähigkeit als besonders hoch und sehen hier den größten Mangel in der Hochschulausbildung
(KERST & MINKS 2004, S. II). Die gegebene Vielschichtigkeit der Medizintechnik verschärft die
Notwendigkeit großer kommunikativer und sozialer Kompetenz noch weiter, so dass hier womöglich eine Schlüsselaufgabe für die Gestaltung der Zukunftsfähigkeit liegt.
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
599
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Integration und Präsenz der Medizintechnik
Im Verlauf der Recherche entstand ein Eindruck von der Geschlossenheit, mit der bestimmte
Technologierichtungen bzw. ihre Repräsentanten auftreten. Der Organisationsgrad der
Mikrosystemtechnik oder der IuK-Branche war dabei insgesamt beeindruckend. Den zahlreichen
Facetten und Einzelaspekten war stets ihre Integration in einer gemeinsamen Ausrichtung
gegenübergestellt. Wichtige Instrumente dazu sind regelmäßige Publikationen über die
aktualisierten Zukunftsperspektiven und Entwicklungsansätze, das Fortschreiben von TechnologieRoadmaps oder das Angebot an Brachen- und Technologieinformationen, wie sie beispielsweise
durch das Informationssekretariat Biotechnologie für dieses Feld aufbereitet und angeboten
werden.
Für die Medizintechnik fehlen derartige Strukturen bislang. Ihre Einrichtung könnte jedoch nicht nur
die öffentlichen Wahrnehmung erheblich fördern, sondern zudem auch einen wesentlichen Beitrag
zum Abbau von Kommunikationsbarrieren zu anderen Wissenschafts-, Technologie- und
Anwendungsfeldern leisten. Durch gemeinsame Begrifflichkeiten, ein international einheitliches
Verständnis von Technologien und der Medizintechnik insgesamt, vielleicht sogar bis hin zum
möglichen Verzicht auf die Verwendung des Begriffs ‚Schlüsseltechnologie’, der international (als
‚key technology’) in der Literatur zur technologischen Zukunft der Medizintechnik kaum anzutreffen
ist61, ließe sich der Vision eines europäischen Forschungsraumes ein Stück näher kommen.
Der Rolle Deutschlands als der in vielen medizintechnisch bedeutenden Technologien europäisch
- noch - führenden Nation kommt dabei ein besonderes Gewicht zu, verbunden mit einer
herausragenden Gestaltungschance.
10.8
Zusammenfassung
Nahezu allen Schlüsseltechnologien wird das Potential zugeschrieben, Innovationsimpulse für die
Megabranche Gesundheit liefern zu können. Eine vergleichende Gegenüberstellung der Potentiale
für die Medizintechnik liegt jedoch bislang nicht vor.
Zur Klärung der Bedeutung der in Kapitel 9.2.3. identifizierten Schlüsseltechnologien für die
Zukunft der Medizintechnik wurden daher folgende Fragen in den Mittelpunkt dieses Studienteils
gerückt:
•
•
•
61
600
Welche Schlüsseltechnologien sind für die Medizintechnik aus technologischer Sicht
besonders relevant?
Wie sehen die internationalen Technologievorschauen aus?
Wo steht Deutschland bei diesen relevanten Schlüsseltechnologien im internationalen
Vergleich?
Im digital vorliegenden Teil der zum Kap. 10 recherchierten Literatur (ca. 100 Dateien, Studien) wird der Begriff
‚technology’ 17.467-mal verwendet, wohingegen ‚key technology’ oder ‚key technologies’ in 11 Dateien nur 41mal auftritt (entspricht ca. 0,23 %). Zum Vergleich: in den wenigen deutschsprachigen Studien, die digital
vorlagen, findet der Begriff ‚Schlüsseltechnologie(n)’ 89-fach Verwendung (10 Dateien); allein im Kapitel 10
„Innovationspotential von Schlüsseltechnologien“ der vorliegenden Studie benutzen die Verfasser
‚Schlüsseltechnologie’ insgesamt 89-mal.
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
Unter Zugrundelegung der Begriffskategorien ‚Schlüsseltechnologien, Medizintechnik,
Forecasting/Foresight’ wurde eine stichwortbasierte, komplexe Literaturrecherche u. a. in Medline,
OPAC-Systemen, im Internet sowie weiteren Archiven und Beständen für den Zeitraum 1995-2004
durchgeführt, die nach Selektion schließlich 124 Treffer ergab.
Die Analyse und Auswertung des Datenbestandes war mehrstufig angelegt. Ausgehend von einem
Überblick zur Datenlage über das Verhältnis von Schlüsseltechnologien insgesamt zur
Medizintechnik bis hin zu ‚Potentialdossiers’ einzelner Technologien wurden abschließend
weiterführende Überlegungen diskutiert.
Die kurzgefassten Ergebnisse der skizzierten Arbeitsschritte sind dabei folgende:
¾ Die Literaturlage stellt sich insgesamt als stark fragmentiert dar. Als Publikationsart
überwiegen Monagraphien bzw. Studien gegenüber Artikeln in Fachzeitschriften. Es konnten
nur sehr wenige primäre Foresights zur Fragestellung ausgemacht werden, die empirische
Daten zur Auswirkungen von Schlüsseltechnologien bzw. ihrer Teilaspekte auf die Medizintechnik beinhalten und in ihrer Projektion auch konkrete Zeiträume benennen. Hinzu kommt,
dass einige Technologien (insbesondere Informations- und Kommunikationstechnologien,
Mikrosystemtechnik und Nanotechnologie) bzgl. der Literaturlage dicht besetzt sind, während
zu anderen (u. a. Elektronik, Neue Werkstoffe) nur einzelne Fundstellen ausgemacht werden
konnten.
¾ Medizintechnischer Fortschritt entwickelt sich entlang von drei Fortschrittsdimensionen:
Computerisierung, Miniaturisierung und Molekularisierung. Gleichsam als Achsen eines
Entwicklungskoordinatensystems könnten diese Fortschrittsdimensionen zur Einstufung/Charakterisierung medizintechnischer Zukunftslösungen angewendet werden.
¾ Durch die Verknüpfung mit den Schlüsseltechnologien erhalten die Fortschrittsdimensionen
eine spezifische Bedeutung für die Entwicklung moderner Medizinprodukte. Informations- und
Kommunikationstechnologien (IuK) korrespondiert als herausragender Enabler mit der
Computerisierung; Mikrosystemtechnik, Nanotechnologie sowie Optische Technologien
stehen für die Fortschritte in der Miniaturisierung der Applikation; Biotechnologie und TissueEngineering lassen insbesondere Fortschritte für die biomolekularen Primärfunktionen
erwarten.
¾ Bezüglich ihres Entwicklungsstandes sind Tissue-Engineering und Nanotechnologie junge
Technologiefelder mit großem Potential, aber derzeit noch kleiner Bedeutung in der Umsetzung. Mikrosystemtechnik sowie Optische Technologien sind gemessen anhand der
aktuellen Marktvolumina reifere Technologien.
¾ Diagnostische Verfahren werden im Vergleich zu therapeutischen Ansätzen bei den
Technologieprojektionen in den erstellten Potentialdossiers sowohl bei der Informationstechnologie, als auch bei der Nano-, Laser-, Biotechnologie sowie der Mikrosystemtechnik
(Chip-Systeme, molekulare Bildgebung, high-throughput- und Point-of-Care-Systeme) sehr
stark betont. Die ökonomischen Forecasts bestätigen das Übergewicht diagnostischer
Innovationen mit den prognostizierten Weltmarktvolumina: für Drug-Delivery als Beispiel einer
BMBF-Medizintechnikstudie 2005
601
Innovationspotential von Schlüsseltechnologien
therapeutischen Innovation werden für 2007 ca. 30-50 Mio. €, für diagnostische Biochips
2005 ca. 450 Mio. US-$ vorhergesagt.
¾ Als zukünftige Innovationsschwerpunkte für die Therapie zeichnen sich insbesondere
Fortschritte bei Implantaten und Drug-Delivery-Systemen (Mikrosystemtechnik, Nanotechnologie) sowie Organersatz (Tissue-Engineering) ab.
¾ Entwicklungshemmnisse für Reifung und Diffusion der Innovationen können aus folgenden
Aspekten grundsätzlich für alle Technologien - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß erwachsen: ungewollte, unkontrollierte Diagnostik; fehlende Wirksamkeit oder geringes
Substitutionspotential, fehlender Nachweis der Kostenvorteile, Technologieakzeptanz bei der
Zielgruppe (z. B. älteren Menschen), Dysbalance zwischen weit entwickelten diagnostischen
Möglichkeiten und den dazu fehlenden therapeutischen Ansätzen.
¾ Der ausgewertete Literaturbestand enthält insgesamt nur wenige Quellen, die eine
internationale Standortbestimmung für die Schlüsseltechnologien explizit vornehmen. Die
vorhandenen Einzelaussagen sehen jedoch weitgehend übereinstimmend die USA in allen
Technologiefeldern weltweit führend. Deutschland nimmt im europäischen Vergleich zumeist
eine Spitzenstellung gemeinsam mit Großbritannien ein. Eine globale Vormachtstellung für
eine der medizintechnisch relevanten Schlüsseltechnologien wird für Deutschland nicht
berichtet.
¾ Zahlreiche Autoren sind überzeugt von der Konvergenz der Technologien in der Zukunft.
Immer mehr Fachdisziplinen sind erforderlich, um gemeinsam technologische Lösungen und
Anwendungen erfolgreich zu entwickeln. Damit steigen allerdings auch die Anforderungen an
das Miteinander der Fachleute und –disziplinen. Interdisziplinäre Kommunikation wird damit
zum kritischen Erfolgsfaktor des Innovationsprozesses.
In der abschließenden Diskussion wird der Versuch unternommen, ausgehend von der Bedeutung
des Enablers IuK, der auch zur Integration des späteren Produktes in das ‚health care information
age’ einen wichtigen Beitrag leisten kann, über alternative Modellvorstellungen das Verhältnis der
Schlüsseltechnologien zur Medizintechnik zu systematisieren und zu veranschaulichen. Daraus
leiten sich Anregungen ab, die auf eine stärkere Förderung folgender Bereiche hindeuten:
Bedarfsinduzierte Innovationsentwicklung (im Unterschied zu technologiegetriebener),
Interdisziplinarität sowie Integration der vielfältigen Aspekte der Medizintechnik und der sie
stimulierenden Technologien.
602
BMBF-Medizintechnikstudie 2005