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taz mag DAS WOCHENENDMAGAZIN DER TAGESZEITUNG HURRA!HURRA!HURRA!HURRA! 12 m2 Spielwiese Das Konzept der Entwicklungsredaktion war: kein Konzept. Ins taz.mag sollten Texte, die woanders nicht reinpassten. Ein Hoch auf die Freiheit SEITE IV & V I LITERATUR POLITISCHES BUCH Pfleger des eigenen Hasses Aufbruch – wohin? Von nun an werden alte Bücher neu gelesen. Detlef Kuhlbrodt macht den Anfang mit Dostojewskis „Dämonen“ – übrigens auch etwas für die RAF-Debatte SEITE VI Wie viele Spaltungen hätten S’ denn gern? Die Sozialwissenschaftler Stephan Lessenich und Frank Nullmeier kennen im zerfallenden Land mehr, als einem lieb ist SEITE VII SONNABEND/SONNTAG, 12./13. MAI 2007 19. WOCHE NR. 500 Das Porträt von Stephan Kaufmann hat sein Freund Sven gemalt. Bei der Beerdigung stellte Annelie Kaufmann das Bild neben den Sarg FOTO: JULIA BAIER Warum? Ein Fassadenkletterer und Stuntman stürzt am 23. Oktober 2006 vom Dach eines „Selbstmörderhochhauses“ in Berlin. Einen Abschiedsbrief hinterlässt er nicht. Aber eine Mutter mit vielen Fragen AUS FREDERSDORF BARBARA BOLLWAHN Am 20. Oktober 2006 besucht Annelie Kaufmann ihren Sohn Stephan im Unfallkrankenhaus Berlin-Marzahn. Der 33-Jährige hat sich als Stuntman in der Westernstadt „El Dorado“ in Templin verletzt. Bei einer Cowboy-und-Indianer-Show verpasste er den Absprung von einem Saloondach. Er ist auf eine Gewehrattrappe gefallen und hat sich das rechte Handgelenk gebrochen. Seine Mutter weiß, dass er Angst hat, dass die Hand vielleicht nicht wieder hundertprozentig einsatzfähig sein wird. Die Ärzte sagen, dass die Chancen gut stehen. Der Sohn freut sich über ihren Besuch. Der Mutter fällt auf, dass er sich mehr als sonst freut, sie zu sehen. Aber er wirkt auch bedrückt, abwesend. Sie gehen auf dem Klinikgelände spazieren, essen Eis, sprechen miteinander. Sie will wissen, was mit ihm los ist. „Du kannst mir alles sagen. Du musst mich nicht schonen.“ Wirklich schockieren kann sie nichts. Ihr Sohn ist ein trainierter Kickboxer mit Tätowierungen von einem roten Fisch, einem Teufel, einem Drachenkopf, einer Frau und Blumen und einem Kapuzenkopf auf Ober- und Unterarmen und Brust. Mit 16 Jahren wurde er das erste Mal wegen gefährlichen Körperverletzung verwarnt. Es folgten Wiedergutmachungsauflagen, Geld- und Bewährungsstrafen und weitere Vergehen. Einige Jahre hat er als Türsteher gearbeitet und war Anhänger des BFC Berlin, des früheren Ostberliner Dynamo- Sportclubs, der eine besondere Förderung durch den Chef der Staatssicherheit, Erich Mielke, genossen hat. Er gehörte der Hooliganszene an. Ein harter Kerl, der austeilt und einsteckt. Im Krankenhaus weint er. Die Mutter will wissen, was ihn bedrückt. Ihr Sohn erzählt ihr schließlich von einer Gefängnisstrafe, die er ihr bisher verschwiegen hat. Bis zum März 2003 saß er wegen gefährlicher Körperverletzung acht Monate in Haft. Unter Tränen spricht er über seine Angst vor einem bevorstehenden zweiten Gefängnisaufenthalt. Weil er gegen vier Polizeibeamte, die am 18. Mai 2003 morgens um fünf einen Vorführungsbefehl der Amtsanwaltschaft vollstrecken wollten, Widerstand geleistet hatte, muss er sieben Monate ins Gefängnis. Wegen einer Theaterprobe hatte er einen Termin für eine Zeugenaussage verpasst und sollte nun vorgeführt werden. Stephan Kaufmann, der gelernte Stahlbetonbauer, hatte sich nach seiner Haft aus der Türsteher- und Hooliganszene zurückgezogen, einen Höhenarbeiterschein erworben und als selbstständiger Industriekletterer gearbeitet. D er gut aussehende junge Mann spielte als Statist im Film „Stalingrad“ mit, wurde für eine Werbeaktion „Die Stadt bin ich“ des Berliner Stadtmagazins zitty fotografiert und fand Zugang zum Theater. In dem Musical „Adam Schaf hat Angst oder Das Lied vom Ende“ von Georg Kreisler, das am Berliner Ensemble aufgeführt wurde, stand er mit einem anderen Boxer auf der Bühne. In den Gesangspausen lieferten sie sich einen Boxkampf als Parabel auf das Leben. An diesem Tag im Mai, als die Polizei vor seiner Wohnungstür in Berlin stand, wollte er nach Wien fliegen. Um bei einer Aufführung von „Adam Schaf hat Angst“ zu boxen. Als ihn die Polizei mitnehmen wollte, rastete er aus. Die Mutter spürt, dass ihn noch etwas anderes belastet als das Gefängnis. „Du musst mir nichts verheimlichen“, drängt sie. Aber er hat ihr nichts weiter zu sagen. Nach drei Stunden verabschieden sie sich. Sobald er aus dem Krankenhaus entlassen wird, haben sie beschlossen, wollen sie zusammen Ordnung in seine Papiere und in sein Leben bringen, bevor er ins Gefängnis muss. Zum Abschied sagt sie, dass sie stolz auf ihn ist. Fortsetzung auf Seite 2 ➤➤ II SONNABEND/SONNTAG, 12./13. MAI 2007 warum? TAZ MAG Annelie Kaufmann führt ein Wollgeschäft. „Stephan hatte viele, viele Freunde“, sagt sie. Der Sohn war Boxer, das Stadtmagazin „zitty“ fotografierte ihn für eine Werbekampagne ➤ Fortsetzung von Seite 1 Es ist dunkel, als sie die etwa 30 Kilometer nach Hause fährt, nach Fredersdorf. Ein kleiner Ort mit 12.000 Einwohnern in Märkisch-Oderland östlich von Berlin, wo sie mit ihrem Mann in einem Einfamilienhaus lebt, in dem sie ein Wollgeschäft betreibt. Während der Fahrt macht sich ein seltsames Gefühl im Auto breit. „Das war es jetzt?“, fragt sie sich immer wieder. Sicher ist sie in ihrer Unsicherheit nur in einem Punkt: „Er hat mir etwas vorenthalten.“ Nur: Was? Am liebsten wäre sie umgekehrt. Aber sie sitzt nur ungern im Dunkeln am Steuer. Außerdem muss sie am nächsten Morgen ausgeschlafen sein. Für die Steuererklärung, die sie für ihr Wollgeschäft machen muss. Für ihren Mann, der an Alzheimer leidet. Drei Tage später ist Stephan Kaufmann tot. Am Montag, dem 23. Oktober 2006, liegt er mit einem Schädelbruch, einem gebrochenen Fußgelenk, Rippenbrüchen und einem Beckenbruch vor einem 18-stöckigen Hochhaus in der Dolgenseestraße in Berlin-Lichtenberg. Stephan Kaufmann, der seinen Lebensunterhalt als Stuntman und Fassadenkletterer in der Höhe verdiente, fand in der Tiefe den Tod. Zwei Hausmeister entdecken den Körper gegen 14.30 Uhr. Der herbeigerufene Notarzt führt ein EKG durch, bei dem er noch „leichte Aktivitäten“ feststellt, wie er im Leichenbericht vermerkt. Äußere Lebenszeichen stellt er am noch warmen Leichnam nicht fest. „Aufgrund der mit dem Leben nicht vereinbaren Verletzungen“, steht in dem Bericht, „wurde auf Reanimationsmaßnahmen verzichtet.“ Der Arzt stellt einen nicht natürlichen Tod fest. Weil sich keine Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden ergeben, wird keine Obduktion angeregt. Stephan Kaufmann ist schon acht Stunden tot, als seine Mutter einen Anruf aus der Klinik bekommt. Man sagt ihr, dass ihr Sohn sein Zimmer morgens gegen 8.30 Uhr verlassen habe und nicht zurückgekehrt sei. Sie macht sich keine wirklichen Sorgen. Sie glaubt, dass er sich gelangweilt habe und möglicherweise Freunde getroffen hat. Anderthalb Stunden später, gegen Mitternacht, klingelt es an ihrer Haustür. Vor der Tür stehen zwei Polizeibeamte in Zivil. Sie überbringen die Nachricht, dass ihr Sohn von einem Hochhaus gesprungen ist, das als „Selbstmörderhaus“ bekannt sei. Bevor sie überhaupt realisiert, was passiert ist, wird sie nach möglichen Gründen gefragt. Sie erzählt von den Existenzängsten ihres Sohnes und einem bevorstehenden Haftantritt. Als die Beamten wieder gehen, bleibt Annelie Kaufmann mit einem Informationsblatt für Angehörige zurück. Und mit dem Schock über den unerklärbaren Verlust ihres einzigen Kindes. Zwischen 11.000 und 12.000 Menschen nehmen sich jedes Jahr in Deutschland das Leben. Das entspricht 1,3 Prozent aller Todesfälle. Dazu kommt eine Dunkelziffer sogenannter versteckter Selbstmorde: Menschen, die in der Absicht, ihrem Leben ein Ende zu bereiten, in ihren Wagen steigen oder eine Überdosis Drogen nehmen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wählt etwa die Hälfte der Selbstmörder den Tod durch Erhängen oder Ersticken. Zehn Prozent springen in die Tiefe, so wie Stephan Kaufmann. Hinterlassen sie kein Wort der Erklärung, kommt zum schmerzvollen Verlust eine quälende Ungewissheit. Zwei Tage nach dem Tod von Stephan Kaufmann wird seine Leiche zur Beerdigung freigegeben. Zur gleichen Zeit werden auch die Ermittlungen eingestellt. Für die Behörden gibt es keinen Zweifel an dem Selbstmord. Auf dem Friedhof in Fredersdorf erinnert ein Grabstein mit fünf Buchstaben und zwei Jahreszahlen an ihn: „Kaufi 1973 – 2006“. Zur Beerdigung kommen etwa hundert Freunde – Stephan war beliebt, stand oft im Mittelpunkt. Die Mutter hat ein Lied ausgewählt, das ihm viel bedeutete. „Dieser Weg“ von Xavier Naidoo, mit dem sich die deutsche Fußballmannschaft zur WM Mut gemacht hat. „Dieser Weg wird kein leichter sein. Dieser Weg wird steinig und schwer. Nicht mit vielen wirst du dir einig sein. Doch dieses Leben bietet so viel mehr.“ Annelie Kaufmann, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und große silberne Ringe in den Ohren, will über den Tod ihres Sohnes sprechen. Sie hat den Kontakt zur Presse gesucht. Weil es ihr hilft. Weil sie anderen Angehörigen sagen will, dass sie nicht allein sind mit ihren Fragen. Die 56-Jährige entschuldigt sich für die Unordnung im Haus. Es ist viel liegengeblieben seit dem 23. Oktober. Außerdem muss sie sich um ihren alzheimerkranken Mann kümmern, der sich immer weniger in seinem Leben zurechtfindet. Und um ihr Wollgeschäft mit den Strickrunden, zu denen sie sich jede Woche aufrafft, damit sie sich nicht in ihrem Kummer verkriecht. Zu guter Letzt leidet sie unter den Wechseljahren. Ein beschissenes Alter, wie sie es nennt. E s tut so weh, dass ich es nicht verhindern konnte“, sagt sie und blättert in Fotoalben. Auf die Rückseite eines Bildes, das ihren Sohn in einem russischen Soldatenmantel und mit blutverschmiertem Gesicht als Statisten in dem Film „Stalingrad“ zeigt, hat er geschrieben: „Meine Gedanken sind immer bei Dir, meiner geliebten Mutti“. Zu dieser Zeit, erzählt Annelie Kaufmann, hätten sie und ihr Sohn wieder zueinander gefunden. Auch wenn sie sich manchmal monatelang nicht gesehen hätten, sei das Verhältnis sehr innig gewesen. „Wenn er sich nicht meldet, geht’s ihm gut.“ Solche Sätze bekommen jetzt, wo er nicht mehr lebt, einen kaum zu ertragenden Klang für die Mutter. Annelie Kaufmann lacht laut auf. Lieber würde sie schreien. Das Wort „Selbstmord“ umgeht sie. Sie sagt „es“ oder „das“. Sie ist hin- und hergerissen zwischen Verzweiflung, Ohnmacht, Schuldgefühlen, Verdächtigungen und Wut. Ihr Sohn hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Das macht die Suche nach einer Erklärung so schwer. Hat sie ihren Sohn wirklich gekannt oder nur einen Teil von ihm? Ist er vielleicht nicht von dem Hochhaus gesprungen, sondern wurde von jemandem hinuntergestoßen? Hat er nicht wenige Tage vor seinem Tod diesen seltsamen Satz gesagt „Die wollen uns fertigmachen“? Haben Polizei und Staatsanwaltschaft wirklich gründlich genug ermittelt, um ein Fremdverschulden auszuschließen? Bei ihren telefonischen und schriftlichen Nachfragen bei den Behörden fühlt sie sich „wie ein lästiges Übel“, das man abwimmelt. Beruhigend ist das nicht. Sie fährt in die Westernstadt „El Dorado“ und spricht mit Kollegen und Freunden. Doch Antworten findet sie nicht. Sie macht sich auf den Weg zu dem Hochhaus nach Lichtenberg und verfasst ein Flugblatt. „Zeugen gesucht“ steht neben einem Foto ihres Sohnes, auf dem er offen und sympathisch in die Kamera lacht. „Am 23. Oktober 2006 stürzte mein Sohn Stephan Kaufmann vermutlich vom Haus der Dolgenseestraße 43“, schreibt sie. „Die Polizei geht davon aus, dass es Selbstmord war, und hat wahrscheinlich deshalb keine weiteren Ermittlungen unternommen. Da es keinen Abschiedsbrief gibt und ich Zweifel daran habe, dass er so einen Schritt getan hat, bin ich gezwungen, eigene Ermittlungen zu unternehmen.“ Die Mutter fragt, wer Hinweise liefern kann. Unterschrieben hat sie mit „Vielen Dank, die Mutti“. Bei dem Netzanbieter des Handys ihres Sohnes fordert sie Listen mit den Gesprächen der letzten Tage an. Sie wählt die Nummern, die er gewählt hat, in der Hoffnung, den Ansatz einer Erklärung zu finden. Doch die Freunde, Bekannten und Kollegen können nur ihr Beileid aussprechen. Sie fährt in die Wohnung ihres Sohnes, um einige Sachen von ihm und seinen alten Teddy zu holen. Da fällt ihr auf, dass er in den letzten Monaten vor seinem Tod fast täglich Zahlungsaufforderungen oder Mahnungen in seinem Briefkasten hatte. „Er hätte seine Schulden peu à peu abzahlen können“, ist sie überzeugt. Vorsichtshalber hat sie aber das Erbe ausgeschlagen. Annelie Kaufmann sitzt auf ihrem Sofa und versucht, das Durcheinander in ihrem Kopf zu ordnen. Hätte sie strenger mit ihrem Sohn sein, ihm mehr Vorhaltungen machen sollen? Hat er es nicht trotzdem geschafft, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen? „Ich sagte ihm immer, du musst deinen Weg selber finden. Das ist besser, als hinterherzurennen, Stullen zu schmieren und Socken zu stopfen.“ Wieder lacht sie dieses laute Lachen. „Es war doch immer was los“, sagt sie plötzlich mit leiser Stimme. „Wie bei Felix.“ Gemeint ist Felix S., dem die Journalistin Jana Simon mit ihrem Buch „Denn wir sind anders“ eine Art Denkmal gesetzt hat. Darin beschreibt sie einen einerseits gewalttätigen und andererseits liebenswerten jungen Mann, der in der DDR geboren ist und im wiedervereinigten Deutschland nirgendwo seinen Platz findet. Es gibt viele Parallelen zwischen Felix S. und Stephan Kaufmann. Beide sind in der DDR aufgewachsen. Beide trainierten im „Boxtempel“ in Berlin-Weißensee, wo sie sich gegenseitig abgeklatscht haben. Beide waren Kickboxmeister und in der Berliner Kampfsportszene bekannt. Beide sahen in Bruce Lee ihr Vorbild. Beide verdienten ihr Geld als Türsteher, drifteten in die Hooliganszene ab, waren immer wieder in Schlägereien verwickelt und wurden verurteilt. Beide hatten Probleme mit einer gebrochenen Hand und immer wieder mit Geld. Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden, die keine Freunde, aber miteinander bekannt waren, ist ihr Ende: Felix S. erhängte sich 2001 im Alter von 31 Jahren in der Untersuchungshaft in Berlin. Stephan Kaufmann sprang mit 33 Jahren in den Tod. Jana Simons Buch hat Annelie Kaufmann gelesen. „Jetzt können sie sich beide wieder abklatschen“, sagt sie und kämpft mit den Tränen. Das Buch bestärkt sie in ihrer Überzeugung, dass die Suche nach dem Platz im Leben für junge Menschen immer schwerer wird, dass Konkurrenzdenken und der Einsatz von Ellenbogen keine guten Voraussetzungen sind. „Wer heute keine Existenzangst kriegt, tickt nicht richtig“, sagt sie. Zum ersten Mal benutzt sie das Wort „Selbstmord“. „Wenn es wirklich Selbstmord war, dann ist Stephan an der Gesellschaft zerbrochen.“ Im Unterschied zu Felix S. lebte ihr Sohn bereits seit 1986 im Westen. Die Kaufmanns waren mit ihrem damals 13-jährigen Jungen ausgereist. Damit die Umstellung nicht zu schwer werden sollte, zogen sie von ihrem Ostberliner Stadtteil Lichtenberg in das Westberliner Neubaugebiet Märkisches Viertel. Doch Stephan Kaufmann gewöhnte sich nur schwer ein. Er prügelte sich mit türkischen Jugendlichen, begann mit Karate. Zwischen 14 und 18, erzählt die Mutter, war es besonders schlimm. „Wir konnten nicht miteinander reden. Er meinte, sich behaupten zu müssen.“ Weil Stephan in der Schule nicht genug lernte, verbot sie ihm den Sport. Heute fragt sie sich, ob das ein Fehler war, ob er mit dem Sport ohne Waffen in den Händen vielleicht einen Halt gefunden hätte. Das Hochhaus, von dem er gesprungen ist, liegt nur wenige Kilometer von der Wohnung entfernt, wo er bis zu seiner Übersiedelung nach Westberlin gelebt hat. Fehlt ein Abschiedsbrief, gewinnt die Frage „Was wäre wenn?“ an Bedeutung, ohne eine Hilfe zu sein. Annelie Kaufmann fragt sich auch, was gewesen wäre, hätte ihr Sohn nicht wieder ins Ge- FOTOS: JULIA BAIER (RECHTS); PROMO fängnis gemusst. Nach einer Revision der Staatsanwaltschaft war die Bewährung für die Haftstrafe aufgehoben worden. In dem Urteil des Landgerichts heißt es, dass allein der Ausstieg aus seinem früheren Umfeld noch nicht die Erwartung zulasse, dass er künftig keine neuen Gewalttaten begehen werde. Auch die Tatsache, dass er die letzten drei Jahre nicht straffällig geworden ist, lasse „eine günstige Legalprognose nicht nachvollziehbar erscheinen“. A nnelie Kaufmann will Klarheit über die Umstände des Todes ihres Sohnes. Sie legt Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen ein. Für sie gibt es zu viele Widersprüche. Zum Beispiel der Ledergürtel, den der Sohn trug. Nach Angaben des Kriminalkommissars, der vor Ort war, ist der Gürtel am achten Loch abgerissen. Der Notarzt dagegen protokolliert, dass der Gürtel neben der Schnalle „sauber durchgetrennt“ ist. Er weist in seinem Bericht auf ein Hämatom hin, auf das in der Leichenbesichtigung der Polizei nicht eingegangen wird. Zudem kritisiert der Anwalt, dass die Polizei neun Stunden brauchte, um die Mutter über den Tod ihres Sohnes zu informieren und der Ermittlungsaufwand „deutlich unter dem Niveau ist“, das bei einem unnatürlichen Todesfall geboten sei. Die Generalstaatsanwaltschaft prüft aufgrund der Beschwerde den Vorgang erneut. Ende März dieses Jahres teilt ihr die Behörde die Bestätigung der Einstellung mit. „Wenn es, wie hier, keine Anhaltspunkte für Feinde des Verstorbenen, die ihm nach dem Leben trachteten, gibt, ist auch nichts zu ermitteln.“ Der Pressesprecher der Berliner Staatsanwaltschaft, Michael Grunwald, kann verstehen, dass sich Angehörige mehr von den Ermittlungen erhoffen. „Aber wir sind weder in der Lage noch gesetzlich befugt, einen Selbstmord unzweifelhaft nachzuweisen“, sagt er. „Wenn keine Anhaltspunkte für Fremdverschulden vorliegen, muss das Verfahren eingestellt werden.“ Die vollkommene Aufklärung eines Suizids sei nicht Aufgabe der Staatsanwaltschaft. Zwischen den Familienfotoalben findet Annelie Kaufmann ein Büchlein mit Texten aus „Adam Schaf hat Angst oder Das Lied vom Ende“. Darin heißt es: „Ja, das Bier wird teurer, das Papier wird teurer, haben Politiker uns jetzt erklärt. Auch das Öl wird teurer und das Mehl wird teurer. Nur der Mensch ist nach wie vor nichts wert.“ Sie kämpft mit den Tränen. Bei der Premiere saß sie im Berliner Ensemble im Publikum. Sie war so stolz, dass ihr Sohn eine sinnvolle Verwendung für seine Fäuste gefunden hatte. Stephan Kaufmann wollte sich durchboxen. Er hat es nicht geschafft. BARBARA BOLLWAHN, 43, ist taz-Reporterin. Sie schrieb bereits am 27. September 1997 im allerersten taz.mag die Ost-West-Titelgeschichte „Es gibt kein Zurück“ europa singt TAZ MAG S ONNAB END/S ONNTAG, 12. /13. MAI 2007 bernde Sängerin singt Leises, das bitte nicht überhört wird! Ihr Vater hat die bosnische Nationalhymne komponiert. 2. Spanien – D’Nash: I Love You Mi Vida. Ooops, they did it again! Könnte auch diesmal reichen für einen der letzten Plätze. Liebe Spanier, was habt ihr euch denn dabei gedacht? Wenn Boygroup, dann bitte richtig! Abstoßend. 3. Qualifikant vom Donnerstag. 4. Irland – Dervish: They Can’t Stop The Spring. Beim Rekordsieger Irland muss man immer etwas genauer hinhören. Diesmal gibt es traditionelle unverkitschte irische Musik. Ein bisschen Friedensbotschaft, ein bisschen Hand in Hand – und der Titel ist sogar ein Zitat von Dubček zum Prager Frühling. Aber alles so, dass es nicht wehtut. Fein! 5. Finnland – Hanna Pakarinen: Leave Me Alone. Hat was von Roxette, die mit so was Weltstars wurden, und auch was von Gracia, die damit den Grand Prix Eurovision 2005 schändete. Finnland war oft Letzter. War Lordi nur ein Einzelfall? 6. Qualifikant vom Donnerstag. 7. Qualifikant vom Donnerstag. 8. Qualifikant vom Donnerstag. 9. Litauen – 4Fun: Love Or Leave. Warm-ums-Herz-Musik mit akustischen Gitarren und einer Sängerin mit Vaya-Con-Dios-Wehmut im Timbre. 10. Griechenland – Sarbel: Yassou Maria. Nach einer neuen Studie sind die Griechen die Europäer mit dem meisten Sex. Jetzt schicken sie uns den heterosexuellen Bruder von Ricky Martin und wollen uns zeigen, wie’s geht. Shake It Up, Shake It Up? 11. Qualifikant vom Donnerstag. 12. Schweden – The Ark: The Worrying Kind. Eine Glamour-Rock-Show mit einem menschenfängerischem Frontmann mit Kajal um die Augen, Esprit, Schmuselächeln, Pailletten und nackter Hühnerbrust. 13. Frankreich – Les Fatals Picards: L’amour à la française. Liebe kennt keine Grenzen mehr, behaupten die Franzosen. Schöne Partynummer! 14. Qualifikant vom Donnerstag. 15. Russland – Serebro: Song #1. So was würde man eigentlich von den Briten erwarten. Aktueller Pop vom Feinsten! Einer der wenigen Songs, die es europaweit in die Charts schaffen könnten. Letztes Mal war Russland Zweiter. Dank dieser drei spicigen Girls, die absolut lampenfieberfrei auftreten werden, könnte es diesmal zur Krone reichen. 16. Deutschland – Roger Cicero: Frauen regier’n die Welt. Hätte dieser handwerklich perfekte Jazzer mehr daran geglaubt, dass er den deutschen Vorentscheid gewinnen kann, hätte er wohl ein anderes Lied ausgesucht. Wir werden nie erfahren, was damit dann alles möglich gewesen wäre. Ein krasser Auftritt wird’s wohl so und so. 17. Qualifikant vom Donnerstag. 18. Ukraine – Verka Serduchka: Dancing Lasha Tumbai. Der Beitrag, der am meisten polarisiert: Ist das allerübelster Trümmertuntentrash? Oder ist das allerallerübelster Trümmertuntentrash, also irgendwie schon wieder gut? 19. United Kingdom – Scooch: Flying The Flag. Bereits im letzten Jahr dachte man, das Mutterland des Pop sei mit seinem singenden Schulmädchenreport ganz unten angekommen. Doch einer geht noch, hat man sich gedacht und verwundert nun ganz Europa mit einem äußerst merkwürdigem Flugbegleiterklimbim. 20. Rumänien – Todomondo: Liubi, Liubi, I Love You. Das kommt bestimmt an: Jede Strophe dieses netten Schunkellieds wird in einer anderen europäischen Sprache gesungen. Deutsch haben sie vergessen. Dürfen wir das durchgehen lassen? 21. Qualifikant vom Donnerstag. 22. Qualifikant vom Donnerstag. 23. Armenien – Hayko: Anytime You Need. Frei nach Günther Oettinger könnte man behaupten, dass der Armenier als solcher keine schwülstigen, triefenden Liebesballaden mag. Ja, dass er sogar ein regelrechter Gegner solcher schwülstigen, triefenden Liebesballaden sei. Könnte man behaupten. Aber dann müsste man sich wohl später von sich selber distanzieren. 24. Qualifikant vom Donnerstag. Kitsch & Klasse Heute, 21 Uhr, ARD, 52. Eurovision Song Contest aus Helsinki. 24 Lieder sind im Finale dabei – hier die Prognosen und Nachrufe VON IVOR LYTTLE & JOHANNES KRAM V orrunde vom Donnerstag. Welche zehn Songs es ins heutige Finale schafften, stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest. Bitte in die Liste nachtragen! 1. Bulgarien – Elitsa Todorova & Stoyan Yankulov: Water. Ein Lied kann eine Trommel sein. Ethnotechno, der unziemlich schnell auf den Geist geht! 2. Israel – Teapacks: Push The Button. 25 Jahre ein bisschen Frieden haben nichts bewirkt. Jetzt rüstet Israel musikalisch halbkrawallig auf: spaßig! 3. Zypern – Evridiki: Comme çi, comme ça. Ohne Worte – als wär’s ein Stück von Ralph Siegel. Veteraninnen verdienen unseren Respekt! 4. Weißrussland – Koldun: Work Your Magic. Sänger Dmitrys Mutter, Gründerin des Lady-Di-Fanclubs von Minsk, wollte immer eine Tochter wie Di – mit ihrem Filius gelang ihr das fast. Der gewann bei „Russland sucht den Superstar“: unbegreifliches Land. 5. Island – Eiríkur Hauksson: Valentine Lost. Wer die Scorpions mag, kann jetzt die Augen zumachen und sich ein paar hässliche alte Männer vorstellen. 6. Georgien – Sopho Khalvashi: Visionary Dream. Kate Bush für Anfänger. Für einen Eurovision Song Contest (ESC) wohl zu schräg. Georgien, erstmals beim ESC dabei, will ihr ein stripteasefähiges Kleid empfehlen. 7. Montenegro – Stevan Faddy: Ajde kroci. Einschläfernde Easy-Rider-Nummer. Aber Stevan hat Charme und schottische Vorfahren. Vielleicht rockt er ja wenigstens den Saal. 8. Schweiz – DJ Bobo: Vampires Are Alive. Auch über Untote sollte man nur Gutes sagen. Dem verdienten Kindertechnomacher wünscht man, dass er das Event in Würde hinter sich lässt. 9. Moldawien – Natalia Barbu: Fight. Die Dame rockt, geigt und schreit um ihr Leben. Wir sollten sie erhören! 10. Niederlande – Edsilia Rombley: On Top Of The World. Ihr Mann hat ihr dies Lied gestrickt. Scheidungsgrund. 11. Albanien – Frederik Ndoci: Hear My Plea. Hört sich an wie eine fiese Parodie auf einen Eurovisionssong aus, sagen wir, Albanien. Ist aber ernst gemeint. Favorit für die rote Laterne. 12. Dänemark – DQ: Drama Queen. Love it or hate it. Die perfekte Dancenummer und Peter Andersen als Fummeldiva das perfekte neue Role Model für Europas Frauendarsteller. Viva La Diva könnte wieder mal gewinnen. Sein Mann hat das Kleid geschneidert. 13. Kroatien – Dragonfly feat. Dado Topic: Vjerujem u ljubav. Frauen regieren nicht die Welt. Wenn’s so wäre, dürfte die Sängerin von Dragonfly mit ihrer tollen Stimme allein auftreten und müsste sich nicht neben den Altrocker Dado und seine Kumpels stellen. 14. Polen – The Jet Set: Time To Party. In Polen gedeihen nicht nur die Kartoffeln, auch die Musikproduktionen. Diese will zu viel: Manhattan Transfer meets Britney Spears meets Rap. Mal was anderes, sexy auf alle Fälle. 15. Serbien – Marija Serifovic: Molitva. Was für eine Energie! Für Marija, keine konventionelle Schönheit, mit ihrer kraftvollen Ballade könnte der Auftritt der Durchbruch sein. Hoffentlich meint es die Bildregie gut mit ihr. 16. Tschechische Republik – Kabát: Mála dáma. Diese Jungs liefern das ESC- Debüt ihres Landes – machen auf böse Rocker. Wer schon immer gegen die Eurovisionsosterweiterung war, wird sich jetzt bestätigt fühlen. 17. Portugal – Sabrina: Dança conmigo. Sollen sich mal ein Vorbild an Finnland nehmen: Immer verlieren, plötzlich gewinnen. Das Lied macht alles zunichte. Süß! Portugal nutzt die drei Minuten nur für die Präsentation einiger neuer Tanzschritte für die beginnende Cluburlaubsaison an der Algarve. 18. Mazedonien – Karolina: Mojot svet. Eher gediegener Ethnopop. Tausendmal gehört, tausendmal ist nix passiert. Aber Karolina gibt nie auf: Sie ist das zweite Mal beim ESC dabei. 19. Norwegen – Guri Schanke: Ven a bailar conmigo. Der schwedische Komponist Thomas G:son hat auch den spanischen Beitrag geschrieben – und das ist kein gutes Omen. Guri selbst müht sich redlich und schreckt auch vor einem tiefen Griff in die Federklamottentrickkiste nicht zurück. 20. Malta – Olivia Lewis: Vertigo. Nerviges Ethnogetanze, -gefiedel und -rumgesinge. Aber wir wollen uns nicht beschweren: Noch voriges Jahr hörte sich fast die Hälfte aller Beiträge so an. 21. Andorra – Anonymous: Let’s Save The World. Britpop aus den Pyrenäen! Diese Teenieband (einer ist sogar so jung, dass er gar nicht auf der Bühne dabei sein wird!) will mit ihrem Lied die Welt vor Umweltzerstörung retten. Idealismus, der belohnt werden muss. Ehrlich! 22. Ungarn – Magdi Rúzsa: Unsubstantial Blues. Ja! Ja! Eine richtig gute Bluesnummer beim ESC. Der Beitrag ist exemplarisch für die große Bandbreite guter Titel verschiedener Musikstile beim diesjährigen Event. 23. Estland – Gerli Padar: Partners In Crime. Sie muss die unheilvolle Allianz zwischen Komponist und Texter dieses Titels vortragen. Was ist bloß aus diesem Siegerland von 2001 geworden? 24. Belgien – The Krazy Mess Groovers: Love Power. Nicht so richtig crazy, und so richtig grooven tun sie auch nicht, „Mess“ ist jedoch treffend. 25. Slowenien – Alenka Gotar: Cvet z juga. Alenka, mach sie alle platt! Klassikpop ist zwar schon ziemlich abgelutscht, aber diese Frau hat das Zeug, alle zu verblüffen. Hoffentlich bewältigt sie ihr Lampenfieber: „It ain’t over till the fat lady sings.“ 26. Türkei – Kenan Dogulu: Shake it up shekerim. Wer hinhört, könnte merken, dass die Hälfte des Textes auf Englisch gesungen wird. Ansonsten gut geschüttelte Achtzigerdisco. 27. Österreich – Eric Papilaya: Get A Life. Nie war es so leicht, dieses Land nicht mal zu ignorieren. Eine Rockhymne? Bon Jovi hat nicht alle Jünger verdient! 28. Lettland – Bonaparti.lv: Questa notte. Das Milk-and-Honey-HallelujaPrinzip: Bei jeder Strophe steigt ein zusätzlicher Sänger dieser sechs Tenöre ein. Bombastisches Ende: Kitsch. Pathos. Klasse. Könnte funktionieren. Finale, heute, 21 Uhr, ARD. Wer’s aus der Vorrunde ins Finale geschafft hat, wird Kommentator Peter Urban mitteilen. Abstimmen dürfen später auch alle in der Vorrunde gescheiterten Länder. 2.436 Punkte stehen insgesamt zur Verteilung an. 1. Bosnien-Herzegowina – Marija Šestić: Rijeka bez imena. Eine bezau- III Roger Cicero (Deutschland), Drama Queen (Dänemark), Les Fatals Picards (USA, nein, Frankreich), Serebro (Russland) FOTOS: ESC 2007 IVOR LYTTLE, 46, Hafenausrüstungsbetriebsmanager, ist Herausgeber des Fanmagazins Euro Song News, lebt in Bremen; JOHANNES KRAM, 40, Autor und Medienmanager, entwickelte 1998 Konzept und Realisation der Guildo-Horn-Kampagne („Kreuzzug der Liebe“); 2001 und 2002 brachte er in den deutschen Vorentscheidungen Joy Fleming jeweils auf den zweiten Platz. Er lebt in Berlin IV 500 SONNABEND/SONNTAG, 12./13. MAI 2007 taz.mag 223 vom 5. Januar 2002, „Der Orter aus Leipzig“. Nike Breyers Interview mit dem Maler Neo Rauch bereitet den Boden für eine unverkrampftere Rezeption seines Werks. Der Boom folgte Die Entwicklungsredaktion war sich 1997 sofort einig, was auf den neuen Seiten stehen sollte – schöne Texte –, aber trotz heftigen Grübelns war das Magazin noch namenlos. So wiederholte sich ein Stück taz-Geschichte: Wie bei der Gründung der Zeitung konnte sich der Verein der Freunde der tageszeitung auch diesmal partout auf keinen programmatischen Namen einigen, als der Hamburger Grafiker Wolfgang Kenkel längst den Auftrag für ein Layout erhalten hatte. Mit dem Pragmatismus des Künstlers schaffte Kenkel Tatsachen und entwarf den schwarzroten Schriftzug „taz.mag“ kurzerhand nach seinem persönlichen Geschmack. Fortan hatte der schöne Inhalt eine schöne Form und die quälende Suche nach einer (letztlich völlig überflüssigen!) Programmatik ein Ende. KLAUDIA WICK , seinerzeit Klaudia Brunst und Chefredakteurin der taz, heute Medienjournalistin („Faction TV“, taz.mag vom 30. August 2003; „Geliebtes Bildarchiv“, 21. Dezember 2002) Es ist schön, einen Ort für seine Geschichten zu haben, der einen nicht von vornherein festlegt und bei dem einen nur die eigenen Beschränkungen begrenzen. Ich habe fürs taz.mag größere Stücke gemacht über schwierige Mutter-Sohn-Beziehungen, Oberhemden im Alltag, heterosexuellen Neid auf die existenzielle Wucht eines homosexuellen Coming-out oder den Schriftsteller Dieter Wellershoff. Als ebenso seltsam wie lehrreich erschien es mir immer, dass der Ort, an dem dieser weite Raum der unbegrenzten journalistischen Möglichkeiten Woche für Woche bebrütet, geplant und schließlich hergestellt wird, das kleinste Büro im taz-Gebäude ist. Zwei Redakteure und ein Praktikant sitzen auf vielleicht zwölf Quadratmetern beieinander, der dritte Kollege findet sich gleich auf der anderen Seite der Glaswand. Fast ein Lehrstück: Auch enge Räume können große Möglichkeiten eröffnen. Ein Besucherstuhl wäre dann und wann aber schon gut. DIRK KNIPPHALS , Literaturredakteur der taz („Distanz, lebenslänglich“, 11. Mai 2002; „Hemden wirken disziplinierend“, 6. Dezember 2003) Damals dachte ich als notorisch kurzsichtiges Mitglied einer tagesaktuellen Redaktion, es sei für das Thema sowieso zu spät. „Ist Amerika das neue Rom?“, fragte ich im taz.mag vom 31. August 2002, immerhin fast ein Jahr nach dem vielzitierten Anschlag von New York. Die Redaktion redete mir gut zu, und irgendwann fiel beiläufig der Satz: Warum machst du daraus kein Buch? Das nahm ich erst mal gar nicht ernst, dafür sei es erst recht zu spät – dachte ich. TAZ MAG taz.mag 374 vom 4. Dezember 2004, „Warst du auch lieb?“. Andrea Roedigs intensives Interview mit einem SM-Paar bringt Eltern beim Frühstück in Aufklärungsnot: Was tut die Frau auf dem Titel? Volle vier Jahre nach besagtem Anschlag erschien mein Buch, und kein einziger der Rezensenten warf mir Fristversäumnis vor. Offenbar muss eine Zeitung, um mit der Zeit zu gehen, auf manchen Seiten zeitlos sein. RALPH BOLLMANN , Ressortleiter tazInland („Thüringen im Teilungswahn“, 21. August 2004; „Currywurst und Cappuccino“, 6. Januar 2001) Nach einer Geschichte kommt immer noch eine Geschichte. Vor zwei Jahren schrieb ich im taz.mag über das Leben meines polnischen Großvaters, der während des Zweiten Weltkriegs in der Exilarmee aufseiten der Alliierten kämpfte. Kurz darauf erreichte mich ein Brief. Der Beitrag habe sie sehr an die eigenen „verworrenen Zeiten“ erinnert, schrieb Regina Klettke, eine pensionierte Lehrerin aus Bergheim. Sie selbst wurde 1935 in Polen geboren, als Tochter eines Kaschuben und einer Danziger „Freistädterin“. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen wurde ihre Familie zu „Volksdeutschen“ erklärt – was ihre Mutter nicht daran hinderte, sich um die Frau und die Kinder eines Nachbarn zu kümmern, der auch in die polnische Exilarmee eingetreten war. Als der Krieg zu Ende ging, flohen die Klettkes nach Schleswig-Holstein. Eines Nachmittags, sie sammelten gerade Brombeeren, hielt plötzlich ein Jeep vor ihnen. Ein fremder Mann in englischer Uniform sprang heraus und umarmte die Mutter. Es war der polnische Nachbar. „Und es blieb nicht bei der Umarmung“, schreibt Regina Klettke. „Schön, nicht?“ Ja, wirklich. KOLJA MENSING , Autor („Last Exit Provinz“, 9. November 2002; „Solche Sachen waren gewesen“, 26. November 2005) An einem Wochentag im Winter 2004 saßen mein Kollege Jan Feddersen und ich mit dem Soziologen Heinz Bude für ein großes taz.mag-Interview im „Sale e Tabacchi“ unter der taz. Während dieses Gesprächs erklärte uns Bude, dass und warum Angela Merkel bald Deutschland regieren würde. Nicht oft hat mich ein Interviewpartner so beeindruckt. Trotzdem dachte ich: Die Merkel? Na ja, Herr Bude, jetzt lassen wir aber mal die Kirche schön im Dorf. Am 28. Februar 2004 erschien „Und dann wird Merkel Kanzlerin“. Der Rest ist Geschichte – und bestätigt ein weiteres Mal die alte Weisheit: taz.mag – hier haben Sie es zuerst gelesen. PETER UNFRIED , stellv. Chefredakteur der taz („Warum sind die Grünen so ängstlich und sprachlos?“, 10. Februar 2007; „Leben im Widerspruch“, 24. August 2002) „Gehen Sie jetzt ins Adlon!“, hatte die Pressedame nach diversen Fehlstarts am Telefon gesagt und „Adlon“ französisch ausgesprochen. „Die Fürstin hat jetzt Zeit für Sie.“ Marianne Fürstin zu Sayn-Wittgenstein-Sayn hatte gerade ein fulminantes Buch mit ihren PromiSchnappschüssen der 40er- bis 90erJahre veröffentlicht und gab Interviews für ihre erste Ausstellung. Allerdings saß sie, als ich im Hotel ankam, noch zu Tisch, in Begleitung eines Herrn. „Das war der Siegfried“, sagte sie kurz darauf bei der Begrüßung. Bitte? „Na, der Siegfried! Von Siegfried & Roy.“ Aha. Ich muss recht dumm geschaut haben. Die betagte Dame war groß in Form. Gegen Ende fragte sie: „Von welcher Zeitung sind Sie eigentlich?“ „Vom taz.mag – dem Magazin der tageszeitung.“ Jetzt schaute die Fürstin mich an wie ich vorhin sie. „Eine linksalternative Tageszeitung“, schob ich nach – und sah, wie sie sacht zurückschrak. Am Abend war eine Kollegin zur Aftershow-Party in der Paris Bar geladen. Und sie traute ihren Ohren kaum, als die Fürstin kundtat: „Und wissen S’ was? Wissen S’, wer mir am besten g’fallen hat von all den Presseleuten? Der Mann von der linksradikalen tageszeitung!“ REINHARD KRAUSE , taz.mag-Redakteur („Das Pathos devianter Frisuren“, 30. Oktober 1999; „Sexbombe im Kinderzimmer“, 18. November 2006) Fünfhundert, das ist ein halbes Tausend. Ein schöner Anlass, dem Magazin mindestens fünfhundert weitere Ausgaben zu wünschen und mich bei denen zu bedanken, die das Blatt machen. Für die ausgezeichnete Betreuung meiner Texte. Für die vielen Gespräche, unten im taz-Café, die mir als freiem Autor Mut zum Weitermachen gegeben haben, und natürlich nicht zuletzt für das Forum, das das taz.mag bietet. Dort habe ich meine erste Reportage überhaupt veröffentlichen können. Das ist zwei Jahre her, und ich kann sagen, ich fühle mich beim taz.mag wie zu Hause. Es ist nie leicht, die richtigen Worte für Jubiläumsgrüße zu finden, aber diese hier kommen von Herzen. THOMAS FEIX , Autor („Bei Waldschrats“, 4. Februar 2006; „Endlich Frau König“, 12. August 2006) Karlsruhe. 18 Uhr. Das Taxi hält vor dem Bundesverfassungsgericht. Nur noch wenige Beamte arbeiten. Nur einer ist hellwach und empfängt uns neugierig. Nicht ohne Skepsis. Die Linken – da weiß man ja nie … Karlsruhe. 23 Uhr. Die Tische des italienischen Restaurants leeren sich nach und nach. Die letzten Gäste zahlen. Nur an einem Tisch sitzt noch er, der konservative, ja als reaktionär verrufene Verfassungsrichter Udo Di Fabio, und sitzen wir, die Linken, bei Wein, Bier und – der Fortsetzung des Gesprächs. taz.mag 3 vom 11. Oktober 1997, „Wir waren so unheimlich konsequent“. Petra Grolls und Jürgen Gottschlichs Interview mit Stefan Wisniewski ist ein Urtext der RAF-Aufarbeitung. Brisant: War der Ex-Terrorist Bubacks Mörder? 2 12 m Spielwiese Dies ist die 500. Ausgabe des taz.mags. Ein prächtiger Anlass für 600 Zeilen Rückblicke, Gratulationen und Making-ofs Des streitbaren Gesprächs. Die Tonbänder sind gesprengt, drei große Seiten längst gefüllt. Der Ärger ist programmiert. Darf man mit solchen Leuten reden? Ja. Im Magazin darf man das. SUSANNE LANG , taz-zwei-Redakteurin, („Ich-Kampfschriften pro familia“, 24. März 2007; „So regiert Frank Schirrmacher“, 24. Juni 2006) Es war im Juni vor sechs Jahren. Ich saß in meinem Garten im Brandenburgischen. Es war Samstag, in den Nachbargärten sangen die Rasenmäher, ich las das taz.mag. „Ich habe Krebs“ lautete der Titel, geschrieben hatte die Selbstauskunft unser USA-Korrespondent Peter Tautfest. Er nahm mich mit auf seine letzte Reise, durch deutsche Krankenzimmer und Arztpraxen. Zu seiner Frau, seinen Kindern. Ganz in die Nähe des Todes. Peter Tautfest hatte Krebs, 18 Monate später würde er, der Nichtraucher, an Lungenkrebs sterben. Da waren sieben Seiten taz.mag. Sieben Seiten, auf denen sogar sein Röntgenbild zu sehen war, der Tumor in seiner Brust. Es war, ich muss das Wort gebrauchen, ergreifend. Und es machte mir klar, was in der taz journalistisch möglich ist. Weil es in diesem Blatt einen Platz wie das mag gibt. Ich habe mich bei Peter Tautfest nicht mehr für seinen Text bedankt. Schade. ANJA MAIER , Redakteurin taz-Reportage („Summer of Hope“, 2. August 2003; „H - Ä - N - D - E - H - O - C - H“, 18. Oktober 2003) Das taz.mag ist eine verführerische Spielwiese mit allen Möglichkeiten dieser Medienwelt, die wirkliche Welt zu beschreiben, fernab von Zwängen der Aktualität. „Was ist der Aufhänger?“, „Wo ist die soziale Relevanz?“, solche Fragen bekommt man dort nicht zu hören. Hauptsache, die Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Ein einzelnes Schicksal allein reicht, um relevant zu sein. So konnte ich einen etwas durchgeknallten millionenschweren Immobilienfritzen porträtieren, der sich für den Thomas Mann des Proletariats hält. Oder zwei Jungs auf einer halb illegalen Tour auf der Suche nach mittlerweile gut bezahltem Altmetall begleiten. Der manchmal auftretende Verdacht, dass sich das taz-mag mehr an Männer als an Frauen wendet, verschwindet, wenn ich Geschichten lese wie Ende April die von dem taubblinden Mann und seiner Verständigung mit der Welt. BARBARA BOLLWAHN , taz-Reporterin („Nie war er so wertvoll wie heute“, 28. Oktober 2006; „Ein Bier gegen die Angst“, 19. April 2003) Sobald ich mir einen kleinen Ruhm erschrieben hatte, das wusste ich früh, musste ich zur taz gehen. Aber erst dann. Ich wollte von meiner Lieblingszeitung keine Absage aufgrund mangelnder Erfahrung! Nach meinem ersten Israelbesuch schrieb ich einen Bericht über den Drogenkonsum der Soldaten, den ich dort beobachtet hatte, und wusste, den würde nur die taz drucken. Tatsächlich! Es wurde meine erste ganze Seite im taz.mag, und ich war stolz. Leider kam keine weitere Meldung mehr von der taz, und so prostituierte ich mich aufgrund von Schulden, wie sie junge freie Journalisten oft haben, in einer PR-Agentur. Ich war sehr unglücklich, mein Chef drohte mit Kündigung. So fasste ich mir ein Herz und rief beim taz.mag an. Man erinnerte sich gut an mich und freute sich, dass ich wiederaufgetaucht war. Es kam noch besser: Gerade war eine 500 TAZ MAG taz.mag 222 vom 29. Dezember 2001. Die Nr. 222 stellt lauter Sach- und Lachfragen. ©TOM sorgt für die Optik. Die 100. Ausgabe des taz.mag erschien experimentell im Querformat – die Kollegen im Haus tobten, vor Wut taz.mag 195 vom 16. Juni 2001, „In der Spaßfalle“. Mono.mags zum CSD zählen zu den jährlichen Fixpunkten der taz.mag-Historie. Die Geschlechterseite „der die das“ erscheint kursorisch Sonett auf das taz.mag Beschrieb ich Deine teuren Seiten die bald 500-mal die tageszeitung zieren so müsste ich unmäßig mich verbreiten und würde rasch die Lust am Lob verlieren Ob Judith aus Damaskus den syrischen Tyrannen geißelt Ob Reinhard uns aus Frankreich mit Dandy Katerine befremde Ob Jan den Terroropfern hierzulande einen späten Grabstein meißelt Stets geht die Fahrt des mags quer durchs erotisch-geografische Gelände Dass man (von Zeit zu Zeit) Dich schmäht, soll nicht Dein Schaden sein Stets war das Schöne der Verleumder Ziel Verdächtigungen zier’n Dich ungemein Der Übelkrähen sind am Himmel viel Den letzten Vierzeiler hab ich geklaut Ein Gruß aus Stratford für die Geburtstagsbraut CHRISTIAN SEMLER Hospitanz im Magazin frei, also kündigte ich den schlimmen PR-Job, war fortan pleite, aber glücklich! Bis zum heutigen Tag, denn sie gaben mir die Chance, meine Nahost-Affinität zu professionalisieren und spannende Storys zu schreiben. Dies sende ich aus Beirut, wo ich gerade mit einem USFernsehteam drehe und endlich richtig Geld verdiene. (Keine Sorge: Das taz.mag hat die Storys, um die es geht, schon im letzten Jahr veröffentlicht.) JASNA ZAJCEK , Autorin („Kalte Fische im Haifischbecken“, 22. Juli 2006; „Checkpoint Palästina“, 21. Januar 2006) Man verfolgte in der westfälischen Provinz trotz Drohungen „SpermaAbklatschspuren“ in einem Mordfall, cruiste unerschrocken durch die Pinienwälder der Adria und wurde fast von einem Stricher erwürgt, erkundete ohne Splitterschutzweste und mit der Notfallnummer der Deutschen Botschaft in der Tasche die illegale Homoszene Beiruts. Doch das Schönste an der Reise ist immer das Nach-Hause-Kommen: „Du musst das Thema aber auch wirklich durchdringen, mit kühlem Blick. Nicht wieder pischipuschi.“ Au weia, wo sie einen wohl beim nächsten Mal hinschicken? Ich bin bereit. MARTIN REICHERT , taz-Redakteur („Ein Schnitt fürs Leben“, 9. September 2006; „Adieu, Habibi!“, 29. Juni 2006) Alles fing vor acht Jahren mit einer Absage an, von der taz-Kultur: Das eingereichte Interview sei „toll, aber viiiiel zu lang“. Ich solle es doch mal beim Magazin versuchen, die hätten dort – seufz! – mehr Frei- und Spielraum auch für „längere Sachen“. Es wurde der Auftakt zu einer bis heute andauernden lockeren Interviewfolge und der Beginn ei- S ONNAB END/S ONNTAG, 12. /13. MAI 2007 ner wunderbaren Freundschaft. So beschert mir – size matters! – ein großartiges taz.mag-Format (Interviews von drei Zeitungsseiten Länge! Wo gibt’s das sonst?!) als Autorin bis heute immer wieder aufs neue Lust und Leid. NIKE BREYER , Autorin („Flachdach ist spießig“, 22. April 2006; „Comeback eines Liebestöters“, 14. Februar 2004) In Wien, wo neuerdings wieder osteuropäische Kollegen in den Kaffeehäusern ihrer Melancholie nachhängen, hört man, sie schreiben ein Krockie. Die Krockies gehören einem versunkenen Genre der Zeitungen des Ostens an, die man liest, während man das Kipferl in den morgendlichen Kaffee tunkt. Um Krockies zu schreiben, kommen die östlichen Kollegen nicht mehr ohne Notebooks aus, weswegen Plätze mit Steckdosen rar sind. Im Café Westend am Westbahnhof gibt es eine einzige Steckdose, direkt am Eingang, wo es zugig ist. Wer den ungemütlichen Tisch ergattern will, muss früh aufstehen oder sich beim Ober einschleimen, der ein heimtückischer Mensch ist. Eines schönen Tages werde ich dort für das taz.mag ein Krockie schreiben. TILL EHRLICH , taz-Sättigungsbeileger („Kochen ist Gold“, 3. März 2007; „Rothschild trifft Mapuche“, 21. Oktober 2006) Als es das taz.mag noch gar nicht gab, war ich eine Zeitlang Redakteurin in der taz Bremen für eine Kulturseite, die mit ihren wilden Themen durchaus als kleine Vorläuferin des überbordenden taz.mags gelten konnte. Dann zog ich in ein Städtchen und lernte das rücksichtsvolle Schreiben für die Heimatzeitung kennen. Wie wunderbar, dass wenig später das taz.mag geboren wurde! Da konnte ich mich als eBay-süchtige oder PC-Spiel-verrückte Mutter outen oder nachforschen, warum Schlachter menstruierende Frauen nicht in die Schlachteküche lassen. Mit dem taz.mag im Hintergrund fällt es mir leicht, heimatzeitungsfreundlich zu sein. Was für ein Glück! CORNELIA KURTH , Autorin („Sie machen ja alles falsch!“, 27. Dezember 2003; „Verdorbenes Blut“, 2. März 2002) Er ist der Einzige in meinem Bekanntenkreis, der letztes Jahr nicht ein WMSpiel gesehen hat. Mit Fußball kann er nichts anfangen, Massenvergnügungen stoßen ihn ab. Vielleicht interessiert sich Reinhard Krause deswegen für Keramik – auch als Einziger in meinem Bekanntenkreis. Über seine Abneigung gegen das eine und seine Vorliebe für das andere hat er im taz.mag geschrieben. Vielleicht haben Sie die Artikel ja gelesen – vom größten Teil seiner Arbeit jedoch nehmen Sie als Leser nur Notiz, wenn sie schludrig gemacht wird. Also nie! Reinhard Krause ist Redakteur im taz.mag. Ein Unsichtbarer, der Spuren hinterlässt. In den Texten anderer. Und damit das niemand bemerkt – auch nicht die Autoren –, streift er sich dabei deren Schuhe über und tut so, als wären es seine. Als wäre er schon immer in diesem Text zu Hause gewesen. Er fremdelt nie. Reinhard Krause lässt andere glänzen. Das ist sein Job. Und den macht er so gut, dass er ihn leider bald woanders ausüben wird – gut, dass er diese Zeilen vorher noch liest, und zwar nicht nur, weil sie dadurch sicher besser werden. DAVID DENK , Ex-taz-Volontär („Er und ich“, 12. August 2006; „Saufen einmal ums Eck“, 7. Januar 2006) Besonders liebe ich das taz.mag für seine Indiskretionen. Keine Schwäche, die nicht geoutet würde in der Autorenzeile. Oder glauben Sie, die Verfasserin hätte je freiwillig zugegeben, ohne Putzfrau zu leben (damals!) oder auf Musik „fern jeder Feurigkeit“ abzufahren? Einmal, unter einem Porträt des äthiopischen Langstreckenläufers Haile Gebrselassie, stand da schwarz auf weiß: „Heike Haarhoff braucht für 10.000 Meter auf jeden Fall einen fahrbaren Untersatz.“ Dabei habe ich das noch nie ausprobiert. Ehrlich! HEIKE HAARHOFF , taz-Reporterin („Todesmarsch in die Freiheit“, 23. April 2005; „Die Zweifel bestehen fort“, 17. Dezember 2005) Das taz.mag ist eine wunderbare Spielwiese, und ihr lasst die AutorInnen experimentieren. Ich durfte über Otto Weiniger und die neue Männerliteratur bei euch schreiben, über päpstliche Perversionen oder das Glück des Katholizismus. Solche Texte entstehen oft nur, weil es das taz.mag gibt. V taz.mag 386 vom 26. Februar 2005. Ein Undercover-Bericht aus einem Trainingscamp für US-Soldaten in Bayern. Der Artikel erscheint unter Pseudonym – und wird mit einem CNN Award ausgezeichnet Einmal habe ich euch ein heikles Interview angeboten. Nur die taz schien mir seriös, alternativ und mutig genug, es zu drucken – ein Interview mit zwei schwulen Sadomasochisten, in dem es darum ging, genau zu beschreiben, was sie tun und was SM mit ihnen macht. Ganz so unerschrocken wart ihr, lieber Jan, lieber Reinhard, aber doch nicht, denn ihr wolltet just die Stellen kürzen, in denen es um Stromzufuhr für gewisse Mannesteile ging. Man hörte euch förmlich unter Kastrationsängsten ächzen. Als alte Feministin musste ich schon schmunzeln, aber sei’s drum, als neue Feministin verstehe ich euch ja! Ich wünsche dem taz.mag weiter viele gute Texte und AutorInnen und Strom an den geeigneten Stellen. ANDREA ROEDIG , Autorin („Erregtes Warten“, 23. Dezember 2006; „Schluss mit dem Sex“, 4. Oktober 2003) In einem gläsernen Verhau, der mit ein wenig gutem Willen an ein Aquarium mit höchst exotischen Zier- und Kampffischen erinnert, sitzt das Magazin der taz. Einmal kam der Große Schlagerpiranha angeschossen und fragte, ob er mir einen lang gehegten Wunsch erfüllen dürfe bzw. ich denn nicht mal mit Cat Stevens plaudern wolle, ich wisse schon, „Morning Has Broken“ und so, der sich seit fast 30 Jahren Yusuf Islam nenne und seitdem mit keinem Christenmenschen mehr gesprochen habe, jedenfalls mit keinem Journalisten, was aber kein Problem sei: „Hier, die Telefonnummer, das wird schon“, tätschel, tätschel. Wenig später verbrachte ich etliche Stunden mit Cat Stevens alias Yusuf Islam. Wir stritten über Folk und Pop und das Bildverbot im Islam, streiften theoretische und theologische Themen. Am Ende bekniete ich ihn, doch bitte einfach wieder die Gitarre in die Hand zu nehmen. Zwei Jahre später erschien „An Other Cup“ von Yusuf Islam, wofür ich mich bei allen Cat-Stevens-Fans in aller Form entschuldigen möchte. ARNO FRANK , Redakteur taz zwei („Ein scheinheiliger Krieger“, 21. Mai 2005; „A steht für Allah“, 1. November 2003) Das taz.mag ist indiskret. Sollen die Autoren doch mal erzählen, wie es wirklich zugeht. So kamen wir zu Bekenntnissen von RAF-Leuten, Spektakeln aus dem Alltag, hörten von Schmutz und Dreck, von Sex und Erotischem. Die besten Ideen, fanden wir, entstanden, wenn andere dachten, sie erzählten etwas privat. Einer, neulich, aus einem anderen Ressort, raunzte eine freie Journalistin an: „Mein Gott, kannst du nicht mal aufschreiben, dass dieser ganze Sexmist, dieses ‚größer, praller, möpsiger‘ nicht mehr auszuhalten ist. Für mich schon gar nicht.“ Meine Frage, ob er diese wütenden Stoßseufzer nicht einmal fürs taz.mag aufschreiben wolle, beantwortete er mit einer Furchtfalte am Kinn: „Mal sehen.“ Er traute sich doch nicht. Leider. Es hätte klasse sein können, einmal von einem heterosexuellen Mann aufgefächert zu bekommen, dass er das Klischee vom Mann, der nur auf Pornografisches steht, für Blödsinn hält. Das taz.mag hat oft Scheinblödsinn gedruckt. Es hat oft sehr gefallen. Uns erst recht! JAN FEDDERSEN , taz.mag-Redakteur, („Ich jamme nicht mehr“, 12. Juli 2003; „Alles, jetzt, sofort“, 17. August 2002) „Ihr müsst erkennbarer werden“, sagt der Kollege bei der Konferenz. Würde er das Magazin machen, stünde auf der Dritten Seite jeden Samstag ein Interview. „Das machen andere auch so.“ Die Kollegin sagt auf der Weihnachtsfeier: „Für die Fünf muss eine Kolumne her!“ Außerdem Fotos von den Autoren – verlässlich, immer dieselben. Feste Themen, feste Genres, feste Texte, festgefahren. Nur das, was jede Woche erscheint – die Letzten Fragen – sei ja nur noch grässlich. „Weg damit!“ Doch auf der Treppe, im Lift, am Fahrradstand oder am Nachbartisch im taz-Café sagen sie dann: „Wilde Mischung letztens. JUDITH LUIG , Gut!“ taz.mag Redakteurin, („Kunststadt im Probemodus“, 28. April 2007; „Same, same – but different“, 16. August 2003) Warum ich das taz.mag liebe: Original-taz.mag-Mail vom 13. März 2006 an mich: „ich weiß jetzt, worauf es bei deinem freud-aufsatz ankäme. lass uns morgen einen kaffee trinken.“ 29. März: „meinst du, dass wir heute oder montag zeit fänden, um über dein freud-thema zu sprechen? lass mich rasch wissen, wie uns das gelingen kann.“ 8. August: „ich freue mich auf deinen text am 22. august.“ 19. September: „bist du schon mit deinen beiden texten weitergekommen: antisemitismus und freud?“ 29. September: „dein text ist ein gelungener auftakt zu einem schönen redaktionellen prozess. ich bitte um einige präzisierungen.“ 20. Oktober: „nach dem quotenmäßig außergewöhnlich erfolgreichen porno.mag brauchen wir neue highlights. du sollst dabei sein. kurz gesagt: antisemitismus? freud?“ 1. November: „freud? änderungen? wann? du uns schwer unter druck setzen wollen? nein? na also! dann mal rasch.“ 2. Dezember: „lass mich um deinen freud-fortschritt wissen.“ Der Text ist am 16. Dezember 2006 im taz.mag erschienen. PHILIPP GESSLER , Redakteur im Schwerpunktpool der taz („Lasst euch nicht betören“, 10. März 2007; „Wozu noch nach Israel“, 29. November 2003)