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DAS WOCHENENDMAGAZIN DER TAGESZEITUNG
HURRA!HURRA!HURRA!HURRA!
12 m2 Spielwiese
Das Konzept der Entwicklungsredaktion
war: kein Konzept. Ins taz.mag sollten
Texte, die woanders nicht reinpassten.
Ein Hoch auf die Freiheit
SEITE IV & V
I
LITERATUR
POLITISCHES BUCH
Pfleger des eigenen Hasses
Aufbruch – wohin?
Von nun an werden alte Bücher neu gelesen. Detlef Kuhlbrodt macht den Anfang
mit Dostojewskis „Dämonen“ – übrigens
auch etwas für die RAF-Debatte SEITE VI
Wie viele Spaltungen hätten S’ denn gern?
Die Sozialwissenschaftler Stephan Lessenich
und Frank Nullmeier kennen im zerfallenden
Land mehr, als einem lieb ist
SEITE VII
SONNABEND/SONNTAG, 12./13. MAI 2007
19. WOCHE
NR. 500
Das Porträt von Stephan Kaufmann hat
sein Freund Sven gemalt. Bei der Beerdigung stellte Annelie Kaufmann das Bild
neben den Sarg FOTO: JULIA BAIER
Warum?
Ein Fassadenkletterer und Stuntman stürzt am 23. Oktober 2006 vom
Dach eines „Selbstmörderhochhauses“ in Berlin. Einen Abschiedsbrief
hinterlässt er nicht. Aber eine Mutter mit vielen Fragen
AUS FREDERSDORF
BARBARA BOLLWAHN
Am 20. Oktober 2006 besucht Annelie
Kaufmann ihren Sohn Stephan im Unfallkrankenhaus Berlin-Marzahn. Der
33-Jährige hat sich als Stuntman in der
Westernstadt „El Dorado“ in Templin
verletzt. Bei einer Cowboy-und-Indianer-Show verpasste er den Absprung
von einem Saloondach. Er ist auf eine
Gewehrattrappe gefallen und hat sich
das rechte Handgelenk gebrochen. Seine Mutter weiß, dass er Angst hat, dass
die Hand vielleicht nicht wieder hundertprozentig einsatzfähig sein wird.
Die Ärzte sagen, dass die Chancen gut
stehen. Der Sohn freut sich über ihren
Besuch. Der Mutter fällt auf, dass er sich
mehr als sonst freut, sie zu sehen. Aber
er wirkt auch bedrückt, abwesend.
Sie gehen auf dem Klinikgelände
spazieren, essen Eis, sprechen miteinander. Sie will wissen, was mit ihm los
ist. „Du kannst mir alles sagen. Du
musst mich nicht schonen.“ Wirklich
schockieren kann sie nichts. Ihr Sohn
ist ein trainierter Kickboxer mit Tätowierungen von einem roten Fisch, einem Teufel, einem Drachenkopf, einer
Frau und Blumen und einem Kapuzenkopf auf Ober- und Unterarmen und
Brust. Mit 16 Jahren wurde er das erste
Mal wegen gefährlichen Körperverletzung verwarnt. Es folgten Wiedergutmachungsauflagen, Geld- und Bewährungsstrafen und weitere Vergehen. Einige Jahre hat er als Türsteher gearbeitet und war Anhänger des BFC Berlin,
des früheren Ostberliner Dynamo-
Sportclubs, der eine besondere Förderung durch den Chef der Staatssicherheit, Erich Mielke, genossen hat. Er gehörte der Hooliganszene an. Ein harter
Kerl, der austeilt und einsteckt.
Im Krankenhaus weint er. Die Mutter
will wissen, was ihn bedrückt. Ihr Sohn
erzählt ihr schließlich von einer Gefängnisstrafe, die er ihr bisher verschwiegen hat. Bis zum März 2003 saß
er wegen gefährlicher Körperverletzung acht Monate in Haft. Unter Tränen
spricht er über seine Angst vor einem
bevorstehenden zweiten Gefängnisaufenthalt. Weil er gegen vier Polizeibeamte, die am 18. Mai 2003 morgens um
fünf einen Vorführungsbefehl der
Amtsanwaltschaft vollstrecken wollten,
Widerstand geleistet hatte, muss er sieben Monate ins Gefängnis. Wegen einer
Theaterprobe hatte er einen Termin für
eine Zeugenaussage verpasst und sollte
nun vorgeführt werden.
Stephan Kaufmann, der gelernte
Stahlbetonbauer, hatte sich nach seiner
Haft aus der Türsteher- und Hooliganszene zurückgezogen, einen Höhenarbeiterschein erworben und als selbstständiger Industriekletterer gearbeitet.
D
er gut aussehende junge Mann
spielte als Statist im Film „Stalingrad“ mit, wurde für eine Werbeaktion „Die Stadt bin ich“ des
Berliner Stadtmagazins zitty fotografiert und fand Zugang zum Theater. In
dem Musical „Adam Schaf hat Angst
oder Das Lied vom Ende“ von Georg
Kreisler, das am Berliner Ensemble aufgeführt wurde, stand er mit einem anderen Boxer auf der Bühne. In den Gesangspausen lieferten sie sich einen
Boxkampf als Parabel auf das Leben. An
diesem Tag im Mai, als die Polizei vor
seiner Wohnungstür in Berlin stand,
wollte er nach Wien fliegen. Um bei einer Aufführung von „Adam Schaf hat
Angst“ zu boxen. Als ihn die Polizei mitnehmen wollte, rastete er aus.
Die Mutter spürt, dass ihn noch etwas anderes belastet als das Gefängnis.
„Du musst mir nichts verheimlichen“,
drängt sie. Aber er hat ihr nichts weiter
zu sagen. Nach drei Stunden verabschieden sie sich. Sobald er aus dem
Krankenhaus entlassen wird, haben sie
beschlossen, wollen sie zusammen Ordnung in seine Papiere und in sein Leben
bringen, bevor er ins Gefängnis muss.
Zum Abschied sagt sie, dass sie stolz auf
ihn ist.
Fortsetzung auf Seite 2 ➤➤
II
SONNABEND/SONNTAG, 12./13. MAI 2007
warum?
TAZ MAG
Annelie Kaufmann führt ein Wollgeschäft. „Stephan hatte viele, viele Freunde“, sagt sie. Der Sohn war Boxer, das Stadtmagazin „zitty“ fotografierte ihn für eine Werbekampagne
➤ Fortsetzung von Seite 1
Es ist dunkel, als sie die etwa 30 Kilometer nach Hause fährt, nach Fredersdorf. Ein kleiner Ort mit 12.000 Einwohnern in Märkisch-Oderland östlich von
Berlin, wo sie mit ihrem Mann in einem
Einfamilienhaus lebt, in dem sie ein
Wollgeschäft betreibt. Während der
Fahrt macht sich ein seltsames Gefühl
im Auto breit. „Das war es jetzt?“, fragt
sie sich immer wieder. Sicher ist sie in
ihrer Unsicherheit nur in einem Punkt:
„Er hat mir etwas vorenthalten.“ Nur:
Was? Am liebsten wäre sie umgekehrt.
Aber sie sitzt nur ungern im Dunkeln
am Steuer. Außerdem muss sie am
nächsten Morgen ausgeschlafen sein.
Für die Steuererklärung, die sie für ihr
Wollgeschäft machen muss. Für ihren
Mann, der an Alzheimer leidet.
Drei Tage später ist Stephan Kaufmann tot. Am Montag, dem 23. Oktober
2006, liegt er mit einem Schädelbruch,
einem gebrochenen Fußgelenk, Rippenbrüchen und einem Beckenbruch
vor einem 18-stöckigen Hochhaus in
der Dolgenseestraße in Berlin-Lichtenberg. Stephan Kaufmann, der seinen Lebensunterhalt als Stuntman und Fassadenkletterer in der Höhe verdiente,
fand in der Tiefe den Tod.
Zwei Hausmeister entdecken den
Körper gegen 14.30 Uhr. Der herbeigerufene Notarzt führt ein EKG durch, bei
dem er noch „leichte Aktivitäten“ feststellt, wie er im Leichenbericht vermerkt. Äußere Lebenszeichen stellt er
am noch warmen Leichnam nicht fest.
„Aufgrund der mit dem Leben nicht
vereinbaren Verletzungen“, steht in
dem Bericht, „wurde auf Reanimationsmaßnahmen verzichtet.“ Der Arzt stellt
einen nicht natürlichen Tod fest.
Weil sich keine Anhaltspunkte für
ein Fremdverschulden ergeben, wird
keine Obduktion angeregt. Stephan
Kaufmann ist schon acht Stunden tot,
als seine Mutter einen Anruf aus der
Klinik bekommt. Man sagt ihr, dass ihr
Sohn sein Zimmer morgens gegen 8.30
Uhr verlassen habe und nicht zurückgekehrt sei. Sie macht sich keine wirklichen Sorgen. Sie glaubt, dass er sich gelangweilt habe und möglicherweise
Freunde getroffen hat. Anderthalb
Stunden später, gegen Mitternacht,
klingelt es an ihrer Haustür. Vor der Tür
stehen zwei Polizeibeamte in Zivil. Sie
überbringen die Nachricht, dass ihr
Sohn von einem Hochhaus gesprungen
ist, das als „Selbstmörderhaus“ bekannt
sei. Bevor sie überhaupt realisiert, was
passiert ist, wird sie nach möglichen
Gründen gefragt. Sie erzählt von den
Existenzängsten ihres Sohnes und einem bevorstehenden Haftantritt. Als
die Beamten wieder gehen, bleibt Annelie Kaufmann mit einem Informationsblatt für Angehörige zurück. Und
mit dem Schock über den unerklärbaren Verlust ihres einzigen Kindes.
Zwischen 11.000 und 12.000 Menschen nehmen sich jedes Jahr in
Deutschland das Leben. Das entspricht
1,3 Prozent aller Todesfälle. Dazu
kommt eine Dunkelziffer sogenannter
versteckter Selbstmorde: Menschen,
die in der Absicht, ihrem Leben ein
Ende zu bereiten, in ihren Wagen steigen oder eine Überdosis Drogen nehmen. Nach Angaben des Statistischen
Bundesamtes wählt etwa die Hälfte der
Selbstmörder den Tod durch Erhängen
oder Ersticken. Zehn Prozent springen
in die Tiefe, so wie Stephan Kaufmann.
Hinterlassen sie kein Wort der Erklärung, kommt zum schmerzvollen Verlust eine quälende Ungewissheit.
Zwei Tage nach dem Tod von Stephan
Kaufmann wird seine Leiche zur Beerdigung freigegeben. Zur gleichen Zeit
werden auch die Ermittlungen eingestellt. Für die Behörden gibt es keinen
Zweifel an dem Selbstmord. Auf dem
Friedhof in Fredersdorf erinnert ein
Grabstein mit fünf Buchstaben und
zwei Jahreszahlen an ihn: „Kaufi 1973 –
2006“. Zur Beerdigung kommen etwa
hundert Freunde – Stephan war beliebt,
stand oft im Mittelpunkt. Die Mutter
hat ein Lied ausgewählt, das ihm viel
bedeutete. „Dieser Weg“ von Xavier Naidoo, mit dem sich die deutsche Fußballmannschaft zur WM Mut gemacht hat.
„Dieser Weg wird kein leichter sein. Dieser Weg wird steinig und schwer. Nicht
mit vielen wirst du dir einig sein. Doch
dieses Leben bietet so viel mehr.“
Annelie Kaufmann, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und große silberne Ringe in den Ohren, will
über den Tod ihres Sohnes sprechen.
Sie hat den Kontakt zur Presse gesucht.
Weil es ihr hilft. Weil sie anderen Angehörigen sagen will, dass sie nicht allein
sind mit ihren Fragen. Die 56-Jährige
entschuldigt sich für die Unordnung im
Haus. Es ist viel liegengeblieben seit
dem 23. Oktober. Außerdem muss sie
sich um ihren alzheimerkranken Mann
kümmern, der sich immer weniger in
seinem Leben zurechtfindet. Und um
ihr Wollgeschäft mit den Strickrunden,
zu denen sie sich jede Woche aufrafft,
damit sie sich nicht in ihrem Kummer
verkriecht. Zu guter Letzt leidet sie unter den Wechseljahren. Ein beschissenes Alter, wie sie es nennt.
E
s tut so weh, dass ich es nicht verhindern konnte“, sagt sie und blättert in Fotoalben. Auf die Rückseite
eines Bildes, das ihren Sohn in einem russischen Soldatenmantel und
mit blutverschmiertem Gesicht als Statisten in dem Film „Stalingrad“ zeigt,
hat er geschrieben: „Meine Gedanken
sind immer bei Dir, meiner geliebten
Mutti“. Zu dieser Zeit, erzählt Annelie
Kaufmann, hätten sie und ihr Sohn wieder zueinander gefunden. Auch wenn
sie sich manchmal monatelang nicht
gesehen hätten, sei das Verhältnis sehr
innig gewesen. „Wenn er sich nicht meldet, geht’s ihm gut.“ Solche Sätze bekommen jetzt, wo er nicht mehr lebt, einen kaum zu ertragenden Klang für die
Mutter. Annelie Kaufmann lacht laut
auf. Lieber würde sie schreien.
Das Wort „Selbstmord“ umgeht sie.
Sie sagt „es“ oder „das“. Sie ist hin- und
hergerissen zwischen Verzweiflung,
Ohnmacht, Schuldgefühlen, Verdächtigungen und Wut. Ihr Sohn hat keinen
Abschiedsbrief hinterlassen. Das macht
die Suche nach einer Erklärung so
schwer. Hat sie ihren Sohn wirklich gekannt oder nur einen Teil von ihm? Ist
er vielleicht nicht von dem Hochhaus
gesprungen, sondern wurde von jemandem hinuntergestoßen? Hat er
nicht wenige Tage vor seinem Tod diesen seltsamen Satz gesagt „Die wollen
uns fertigmachen“? Haben Polizei und
Staatsanwaltschaft wirklich gründlich
genug ermittelt, um ein Fremdverschulden auszuschließen? Bei ihren telefonischen und schriftlichen Nachfragen bei den Behörden fühlt sie sich „wie
ein lästiges Übel“, das man abwimmelt.
Beruhigend ist das nicht.
Sie fährt in die Westernstadt „El Dorado“ und spricht mit Kollegen und
Freunden. Doch Antworten findet sie
nicht. Sie macht sich auf den Weg zu
dem Hochhaus nach Lichtenberg und
verfasst ein Flugblatt. „Zeugen gesucht“
steht neben einem Foto ihres Sohnes,
auf dem er offen und sympathisch in
die Kamera lacht. „Am 23. Oktober 2006
stürzte mein Sohn Stephan Kaufmann
vermutlich vom Haus der Dolgenseestraße 43“, schreibt sie. „Die Polizei geht
davon aus, dass es Selbstmord war, und
hat wahrscheinlich deshalb keine weiteren Ermittlungen unternommen. Da
es keinen Abschiedsbrief gibt und ich
Zweifel daran habe, dass er so einen
Schritt getan hat, bin ich gezwungen,
eigene Ermittlungen zu unternehmen.“
Die Mutter fragt, wer Hinweise liefern
kann. Unterschrieben hat sie mit „Vielen Dank, die Mutti“. Bei dem Netzanbieter des Handys ihres Sohnes fordert
sie Listen mit den Gesprächen der letzten Tage an. Sie wählt die Nummern,
die er gewählt hat, in der Hoffnung, den
Ansatz einer Erklärung zu finden. Doch
die Freunde, Bekannten und Kollegen
können nur ihr Beileid aussprechen.
Sie fährt in die Wohnung ihres Sohnes, um einige Sachen von ihm und seinen alten Teddy zu holen. Da fällt ihr
auf, dass er in den letzten Monaten vor
seinem Tod fast täglich Zahlungsaufforderungen oder Mahnungen in seinem
Briefkasten hatte. „Er hätte seine Schulden peu à peu abzahlen können“, ist sie
überzeugt. Vorsichtshalber hat sie aber
das Erbe ausgeschlagen.
Annelie Kaufmann sitzt auf ihrem
Sofa und versucht, das Durcheinander
in ihrem Kopf zu ordnen. Hätte sie
strenger mit ihrem Sohn sein, ihm
mehr Vorhaltungen machen sollen?
Hat er es nicht trotzdem geschafft, sich
am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu
ziehen? „Ich sagte ihm immer, du
musst deinen Weg selber finden. Das ist
besser, als hinterherzurennen, Stullen
zu schmieren und Socken zu stopfen.“
Wieder lacht sie dieses laute Lachen. „Es
war doch immer was los“, sagt sie plötzlich mit leiser Stimme. „Wie bei Felix.“
Gemeint ist Felix S., dem die Journalistin Jana Simon mit ihrem Buch
„Denn wir sind anders“ eine Art Denkmal gesetzt hat. Darin beschreibt sie einen einerseits gewalttätigen und andererseits liebenswerten jungen Mann,
der in der DDR geboren ist und im wiedervereinigten Deutschland nirgendwo
seinen Platz findet. Es gibt viele Parallelen zwischen Felix S. und Stephan Kaufmann. Beide sind in der DDR aufgewachsen. Beide trainierten im „Boxtempel“ in Berlin-Weißensee, wo sie
sich gegenseitig abgeklatscht haben.
Beide waren Kickboxmeister und in der
Berliner Kampfsportszene bekannt.
Beide sahen in Bruce Lee ihr Vorbild.
Beide verdienten ihr Geld als Türsteher,
drifteten in die Hooliganszene ab, waren immer wieder in Schlägereien verwickelt und wurden verurteilt. Beide
hatten Probleme mit einer gebrochenen Hand und immer wieder mit Geld.
Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden, die keine Freunde, aber miteinander bekannt waren, ist ihr Ende: Felix S.
erhängte sich 2001 im Alter von 31 Jahren in der Untersuchungshaft in Berlin.
Stephan Kaufmann sprang mit 33 Jahren in den Tod.
Jana Simons Buch hat Annelie Kaufmann gelesen. „Jetzt können sie sich
beide wieder abklatschen“, sagt sie und
kämpft mit den Tränen. Das Buch bestärkt sie in ihrer Überzeugung, dass
die Suche nach dem Platz im Leben für
junge Menschen immer schwerer wird,
dass Konkurrenzdenken und der Einsatz von Ellenbogen keine guten Voraussetzungen sind. „Wer heute keine
Existenzangst kriegt, tickt nicht richtig“,
sagt sie. Zum ersten Mal benutzt sie das
Wort „Selbstmord“. „Wenn es wirklich
Selbstmord war, dann ist Stephan an
der Gesellschaft zerbrochen.“
Im Unterschied zu Felix S. lebte ihr
Sohn bereits seit 1986 im Westen. Die
Kaufmanns waren mit ihrem damals
13-jährigen Jungen ausgereist. Damit
die Umstellung nicht zu schwer werden
sollte, zogen sie von ihrem Ostberliner
Stadtteil Lichtenberg in das Westberliner Neubaugebiet Märkisches Viertel.
Doch Stephan Kaufmann gewöhnte
sich nur schwer ein. Er prügelte sich mit
türkischen Jugendlichen, begann mit
Karate. Zwischen 14 und 18, erzählt die
Mutter, war es besonders schlimm. „Wir
konnten nicht miteinander reden. Er
meinte, sich behaupten zu müssen.“
Weil Stephan in der Schule nicht genug
lernte, verbot sie ihm den Sport. Heute
fragt sie sich, ob das ein Fehler war, ob
er mit dem Sport ohne Waffen in den
Händen vielleicht einen Halt gefunden
hätte. Das Hochhaus, von dem er gesprungen ist, liegt nur wenige Kilometer von der Wohnung entfernt, wo er bis
zu seiner Übersiedelung nach Westberlin gelebt hat.
Fehlt ein Abschiedsbrief, gewinnt die
Frage „Was wäre wenn?“ an Bedeutung,
ohne eine Hilfe zu sein. Annelie Kaufmann fragt sich auch, was gewesen wäre, hätte ihr Sohn nicht wieder ins Ge-
FOTOS: JULIA BAIER (RECHTS); PROMO
fängnis gemusst. Nach einer Revision
der Staatsanwaltschaft war die Bewährung für die Haftstrafe aufgehoben
worden. In dem Urteil des Landgerichts
heißt es, dass allein der Ausstieg aus seinem früheren Umfeld noch nicht die
Erwartung zulasse, dass er künftig keine neuen Gewalttaten begehen werde.
Auch die Tatsache, dass er die letzten
drei Jahre nicht straffällig geworden ist,
lasse „eine günstige Legalprognose
nicht nachvollziehbar erscheinen“.
A
nnelie Kaufmann will Klarheit
über die Umstände des Todes
ihres Sohnes. Sie legt Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen ein. Für sie gibt es zu viele
Widersprüche. Zum Beispiel der Ledergürtel, den der Sohn trug. Nach Angaben des Kriminalkommissars, der vor
Ort war, ist der Gürtel am achten Loch
abgerissen. Der Notarzt dagegen protokolliert, dass der Gürtel neben der
Schnalle „sauber durchgetrennt“ ist. Er
weist in seinem Bericht auf ein Hämatom hin, auf das in der Leichenbesichtigung der Polizei nicht eingegangen
wird. Zudem kritisiert der Anwalt, dass
die Polizei neun Stunden brauchte, um
die Mutter über den Tod ihres Sohnes
zu informieren und der Ermittlungsaufwand „deutlich unter dem Niveau
ist“, das bei einem unnatürlichen Todesfall geboten sei. Die Generalstaatsanwaltschaft prüft aufgrund der Beschwerde den Vorgang erneut. Ende
März dieses Jahres teilt ihr die Behörde
die Bestätigung der Einstellung mit.
„Wenn es, wie hier, keine Anhaltspunkte
für Feinde des Verstorbenen, die ihm
nach dem Leben trachteten, gibt, ist
auch nichts zu ermitteln.“
Der Pressesprecher der Berliner
Staatsanwaltschaft, Michael Grunwald,
kann verstehen, dass sich Angehörige
mehr von den Ermittlungen erhoffen.
„Aber wir sind weder in der Lage noch
gesetzlich befugt, einen Selbstmord
unzweifelhaft nachzuweisen“, sagt er.
„Wenn keine Anhaltspunkte für Fremdverschulden vorliegen, muss das Verfahren eingestellt werden.“ Die vollkommene Aufklärung eines Suizids sei
nicht Aufgabe der Staatsanwaltschaft.
Zwischen den Familienfotoalben findet Annelie Kaufmann ein Büchlein
mit Texten aus „Adam Schaf hat Angst
oder Das Lied vom Ende“. Darin heißt es:
„Ja, das Bier wird teurer, das Papier wird
teurer, haben Politiker uns jetzt erklärt.
Auch das Öl wird teurer und das Mehl
wird teurer. Nur der Mensch ist nach
wie vor nichts wert.“ Sie kämpft mit den
Tränen. Bei der Premiere saß sie im Berliner Ensemble im Publikum. Sie war so
stolz, dass ihr Sohn eine sinnvolle Verwendung für seine Fäuste gefunden
hatte. Stephan Kaufmann wollte sich
durchboxen. Er hat es nicht geschafft.
BARBARA BOLLWAHN, 43, ist taz-Reporterin.
Sie schrieb bereits am 27. September 1997
im allerersten taz.mag die Ost-West-Titelgeschichte „Es gibt kein Zurück“
europa singt
TAZ MAG
S ONNAB END/S ONNTAG, 12. /13. MAI 2007
bernde Sängerin singt Leises, das bitte
nicht überhört wird! Ihr Vater hat die
bosnische Nationalhymne komponiert.
2. Spanien – D’Nash: I Love You Mi
Vida. Ooops, they did it again! Könnte
auch diesmal reichen für einen der letzten Plätze. Liebe Spanier, was habt ihr
euch denn dabei gedacht? Wenn Boygroup, dann bitte richtig! Abstoßend.
3. Qualifikant vom Donnerstag.
4. Irland – Dervish: They Can’t Stop
The Spring. Beim Rekordsieger Irland
muss man immer etwas genauer hinhören. Diesmal gibt es traditionelle unverkitschte irische Musik. Ein bisschen
Friedensbotschaft, ein bisschen Hand
in Hand – und der Titel ist sogar ein Zitat von Dubček zum Prager Frühling.
Aber alles so, dass es nicht wehtut. Fein!
5. Finnland – Hanna Pakarinen: Leave
Me Alone. Hat was von Roxette, die mit
so was Weltstars wurden, und auch was
von Gracia, die damit den Grand Prix
Eurovision 2005 schändete. Finnland
war oft Letzter. War Lordi nur ein Einzelfall?
6. Qualifikant vom Donnerstag.
7. Qualifikant vom Donnerstag.
8. Qualifikant vom Donnerstag.
9. Litauen – 4Fun: Love Or Leave.
Warm-ums-Herz-Musik mit akustischen Gitarren und einer Sängerin mit
Vaya-Con-Dios-Wehmut im Timbre.
10. Griechenland – Sarbel: Yassou
Maria. Nach einer neuen Studie sind
die Griechen die Europäer mit dem
meisten Sex. Jetzt schicken sie uns den
heterosexuellen Bruder von Ricky Martin und wollen uns zeigen, wie’s geht.
Shake It Up, Shake It Up?
11. Qualifikant vom Donnerstag.
12. Schweden – The Ark: The Worrying
Kind. Eine Glamour-Rock-Show mit
einem menschenfängerischem Frontmann mit Kajal um die Augen, Esprit,
Schmuselächeln, Pailletten und nackter
Hühnerbrust.
13. Frankreich – Les Fatals Picards:
L’amour à la française. Liebe kennt
keine Grenzen mehr, behaupten die
Franzosen. Schöne Partynummer!
14. Qualifikant vom Donnerstag.
15. Russland – Serebro: Song #1. So was
würde man eigentlich von den Briten
erwarten. Aktueller Pop vom Feinsten!
Einer der wenigen Songs, die es europaweit in die Charts schaffen könnten.
Letztes Mal war Russland Zweiter. Dank
dieser drei spicigen Girls, die absolut
lampenfieberfrei auftreten werden,
könnte es diesmal zur Krone reichen.
16. Deutschland – Roger Cicero: Frauen regier’n die Welt. Hätte dieser handwerklich perfekte Jazzer mehr daran geglaubt, dass er den deutschen Vorentscheid gewinnen kann, hätte er wohl
ein anderes Lied ausgesucht. Wir werden nie erfahren, was damit dann alles
möglich gewesen wäre. Ein krasser Auftritt wird’s wohl so und so.
17. Qualifikant vom Donnerstag.
18. Ukraine – Verka Serduchka: Dancing Lasha Tumbai. Der Beitrag, der am
meisten polarisiert: Ist das allerübelster Trümmertuntentrash? Oder ist
das allerallerübelster Trümmertuntentrash, also irgendwie schon wieder gut?
19. United Kingdom – Scooch: Flying
The Flag. Bereits im letzten Jahr dachte
man, das Mutterland des Pop sei mit
seinem singenden Schulmädchenreport ganz unten angekommen. Doch einer geht noch, hat man sich gedacht
und verwundert nun ganz Europa mit
einem äußerst merkwürdigem Flugbegleiterklimbim.
20. Rumänien – Todomondo: Liubi,
Liubi, I Love You. Das kommt bestimmt
an: Jede Strophe dieses netten Schunkellieds wird in einer anderen europäischen Sprache gesungen. Deutsch
haben sie vergessen. Dürfen wir das
durchgehen lassen?
21. Qualifikant vom Donnerstag.
22. Qualifikant vom Donnerstag.
23. Armenien – Hayko: Anytime You
Need. Frei nach Günther Oettinger
könnte man behaupten, dass der Armenier als solcher keine schwülstigen,
triefenden Liebesballaden mag. Ja, dass
er sogar ein regelrechter Gegner solcher schwülstigen, triefenden Liebesballaden sei. Könnte man behaupten.
Aber dann müsste man sich wohl später
von sich selber distanzieren.
24. Qualifikant vom Donnerstag.
Kitsch &
Klasse
Heute, 21 Uhr, ARD, 52. Eurovision Song
Contest aus Helsinki. 24 Lieder sind im Finale
dabei – hier die Prognosen und Nachrufe
VON IVOR LYTTLE & JOHANNES KRAM
V
orrunde vom Donnerstag. Welche zehn Songs es ins heutige
Finale schafften, stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest.
Bitte in die Liste nachtragen!
1. Bulgarien – Elitsa Todorova & Stoyan Yankulov: Water. Ein Lied kann eine
Trommel sein. Ethnotechno, der unziemlich schnell auf den Geist geht!
2. Israel – Teapacks: Push The Button.
25 Jahre ein bisschen Frieden haben
nichts bewirkt. Jetzt rüstet Israel musikalisch halbkrawallig auf: spaßig!
3. Zypern – Evridiki: Comme çi,
comme ça. Ohne Worte – als wär’s ein
Stück von Ralph Siegel. Veteraninnen
verdienen unseren Respekt!
4. Weißrussland – Koldun: Work Your
Magic. Sänger Dmitrys Mutter, Gründerin des Lady-Di-Fanclubs von Minsk,
wollte immer eine Tochter wie Di – mit
ihrem Filius gelang ihr das fast. Der gewann bei „Russland sucht den Superstar“: unbegreifliches Land.
5. Island – Eiríkur Hauksson: Valentine Lost. Wer die Scorpions mag, kann
jetzt die Augen zumachen und sich ein
paar hässliche alte Männer vorstellen.
6. Georgien – Sopho Khalvashi: Visionary Dream. Kate Bush für Anfänger.
Für einen Eurovision Song Contest
(ESC) wohl zu schräg. Georgien, erstmals beim ESC dabei, will ihr ein stripteasefähiges Kleid empfehlen.
7. Montenegro – Stevan Faddy: Ajde
kroci. Einschläfernde Easy-Rider-Nummer. Aber Stevan hat Charme und
schottische Vorfahren. Vielleicht rockt
er ja wenigstens den Saal.
8. Schweiz – DJ Bobo: Vampires Are
Alive. Auch über Untote sollte man nur
Gutes sagen. Dem verdienten Kindertechnomacher wünscht man, dass er
das Event in Würde hinter sich lässt.
9. Moldawien – Natalia Barbu: Fight.
Die Dame rockt, geigt und schreit um
ihr Leben. Wir sollten sie erhören!
10. Niederlande – Edsilia Rombley:
On Top Of The World. Ihr Mann hat ihr
dies Lied gestrickt. Scheidungsgrund.
11. Albanien – Frederik Ndoci: Hear
My Plea. Hört sich an wie eine fiese Parodie auf einen Eurovisionssong aus, sagen wir, Albanien. Ist aber ernst gemeint. Favorit für die rote Laterne.
12. Dänemark – DQ: Drama Queen.
Love it or hate it. Die perfekte Dancenummer und Peter Andersen als Fummeldiva das perfekte neue Role Model
für Europas Frauendarsteller. Viva La
Diva könnte wieder mal gewinnen. Sein
Mann hat das Kleid geschneidert.
13. Kroatien – Dragonfly feat. Dado
Topic: Vjerujem u ljubav. Frauen regieren nicht die Welt. Wenn’s so wäre,
dürfte die Sängerin von Dragonfly mit
ihrer tollen Stimme allein auftreten
und müsste sich nicht neben den Altrocker Dado und seine Kumpels stellen.
14. Polen – The Jet Set: Time To Party.
In Polen gedeihen nicht nur die Kartoffeln, auch die Musikproduktionen. Diese will zu viel: Manhattan Transfer
meets Britney Spears meets Rap. Mal
was anderes, sexy auf alle Fälle.
15. Serbien – Marija Serifovic: Molitva.
Was für eine Energie! Für Marija, keine
konventionelle Schönheit, mit ihrer
kraftvollen Ballade könnte der Auftritt
der Durchbruch sein. Hoffentlich
meint es die Bildregie gut mit ihr.
16. Tschechische Republik – Kabát:
Mála dáma. Diese Jungs liefern das ESC-
Debüt ihres Landes – machen auf böse
Rocker. Wer schon immer gegen die Eurovisionsosterweiterung war, wird sich
jetzt bestätigt fühlen.
17. Portugal – Sabrina: Dança conmigo. Sollen sich mal ein Vorbild an Finnland nehmen: Immer verlieren, plötzlich gewinnen. Das Lied macht alles zunichte. Süß! Portugal nutzt die drei Minuten nur für die Präsentation einiger
neuer Tanzschritte für die beginnende
Cluburlaubsaison an der Algarve.
18. Mazedonien – Karolina: Mojot
svet. Eher gediegener Ethnopop. Tausendmal gehört, tausendmal ist nix
passiert. Aber Karolina gibt nie auf: Sie
ist das zweite Mal beim ESC dabei.
19. Norwegen – Guri Schanke: Ven a
bailar conmigo. Der schwedische Komponist Thomas G:son hat auch den spanischen Beitrag geschrieben – und das
ist kein gutes Omen. Guri selbst müht
sich redlich und schreckt auch vor einem tiefen Griff in die Federklamottentrickkiste nicht zurück.
20. Malta – Olivia Lewis: Vertigo.
Nerviges Ethnogetanze, -gefiedel und
-rumgesinge. Aber wir wollen uns nicht
beschweren: Noch voriges Jahr hörte
sich fast die Hälfte aller Beiträge so an.
21. Andorra – Anonymous: Let’s Save
The World. Britpop aus den Pyrenäen!
Diese Teenieband (einer ist sogar so
jung, dass er gar nicht auf der Bühne
dabei sein wird!) will mit ihrem Lied die
Welt vor Umweltzerstörung retten.
Idealismus, der belohnt werden muss.
Ehrlich!
22. Ungarn – Magdi Rúzsa: Unsubstantial Blues. Ja! Ja! Eine richtig gute
Bluesnummer beim ESC. Der Beitrag ist
exemplarisch für die große Bandbreite
guter Titel verschiedener Musikstile
beim diesjährigen Event.
23. Estland – Gerli Padar: Partners In
Crime. Sie muss die unheilvolle Allianz
zwischen Komponist und Texter dieses
Titels vortragen. Was ist bloß aus diesem Siegerland von 2001 geworden?
24. Belgien – The Krazy Mess Groovers: Love Power. Nicht so richtig crazy,
und so richtig grooven tun sie auch
nicht, „Mess“ ist jedoch treffend.
25. Slowenien – Alenka Gotar: Cvet z
juga. Alenka, mach sie alle platt! Klassikpop ist zwar schon ziemlich abgelutscht, aber diese Frau hat das Zeug,
alle zu verblüffen. Hoffentlich bewältigt sie ihr Lampenfieber: „It ain’t over
till the fat lady sings.“
26. Türkei – Kenan Dogulu: Shake it
up shekerim. Wer hinhört, könnte merken, dass die Hälfte des Textes auf Englisch gesungen wird. Ansonsten gut geschüttelte Achtzigerdisco.
27. Österreich – Eric Papilaya: Get A
Life. Nie war es so leicht, dieses Land
nicht mal zu ignorieren. Eine Rockhymne? Bon Jovi hat nicht alle Jünger verdient!
28. Lettland – Bonaparti.lv: Questa
notte. Das Milk-and-Honey-HallelujaPrinzip: Bei jeder Strophe steigt ein zusätzlicher Sänger dieser sechs Tenöre
ein. Bombastisches Ende: Kitsch. Pathos. Klasse. Könnte funktionieren.
Finale, heute, 21 Uhr, ARD. Wer’s aus
der Vorrunde ins Finale geschafft hat,
wird Kommentator Peter Urban mitteilen. Abstimmen dürfen später auch alle
in der Vorrunde gescheiterten Länder.
2.436 Punkte stehen insgesamt zur Verteilung an.
1. Bosnien-Herzegowina – Marija
Šestić: Rijeka bez imena. Eine bezau-
III
Roger Cicero (Deutschland), Drama Queen (Dänemark), Les Fatals
Picards (USA, nein, Frankreich), Serebro (Russland) FOTOS: ESC 2007
IVOR LYTTLE, 46, Hafenausrüstungsbetriebsmanager, ist Herausgeber des Fanmagazins
Euro Song News, lebt in Bremen; JOHANNES
KRAM, 40, Autor und Medienmanager, entwickelte 1998 Konzept und Realisation der
Guildo-Horn-Kampagne („Kreuzzug der
Liebe“); 2001 und 2002 brachte er in den
deutschen Vorentscheidungen Joy Fleming
jeweils auf den zweiten Platz. Er lebt in Berlin
IV
500
SONNABEND/SONNTAG, 12./13. MAI 2007
taz.mag 223 vom 5. Januar 2002, „Der Orter aus Leipzig“. Nike Breyers Interview mit dem Maler Neo Rauch bereitet den Boden für eine unverkrampftere
Rezeption seines Werks. Der Boom folgte
Die Entwicklungsredaktion war sich
1997 sofort einig, was auf den neuen
Seiten stehen sollte – schöne Texte –,
aber trotz heftigen Grübelns war das
Magazin noch namenlos. So wiederholte sich ein Stück taz-Geschichte: Wie bei
der Gründung der Zeitung konnte sich
der Verein der Freunde der tageszeitung auch diesmal partout auf keinen
programmatischen Namen einigen, als
der Hamburger Grafiker Wolfgang Kenkel längst den Auftrag für ein Layout erhalten hatte. Mit dem Pragmatismus
des Künstlers schaffte Kenkel Tatsachen
und entwarf den schwarzroten Schriftzug „taz.mag“ kurzerhand nach seinem
persönlichen Geschmack. Fortan hatte
der schöne Inhalt eine schöne Form
und die quälende Suche nach einer
(letztlich völlig überflüssigen!) Programmatik ein Ende.
KLAUDIA WICK , seinerzeit Klaudia
Brunst und Chefredakteurin der taz,
heute Medienjournalistin („Faction TV“,
taz.mag vom 30. August 2003; „Geliebtes Bildarchiv“, 21. Dezember 2002)
Es ist schön, einen Ort für seine Geschichten zu haben, der einen nicht von
vornherein festlegt und bei dem einen
nur die eigenen Beschränkungen begrenzen. Ich habe fürs taz.mag größere
Stücke gemacht über schwierige Mutter-Sohn-Beziehungen, Oberhemden
im Alltag, heterosexuellen Neid auf die
existenzielle Wucht eines homosexuellen Coming-out oder den Schriftsteller
Dieter Wellershoff.
Als ebenso seltsam wie lehrreich erschien es mir immer, dass der Ort, an
dem dieser weite Raum der unbegrenzten journalistischen Möglichkeiten Woche für Woche bebrütet, geplant und
schließlich hergestellt wird, das kleinste Büro im taz-Gebäude ist. Zwei Redakteure und ein Praktikant sitzen auf vielleicht zwölf Quadratmetern beieinander, der dritte Kollege findet sich gleich
auf der anderen Seite der Glaswand.
Fast ein Lehrstück: Auch enge Räume
können große Möglichkeiten eröffnen.
Ein Besucherstuhl wäre dann und wann
aber schon gut.
DIRK KNIPPHALS , Literaturredakteur
der taz („Distanz, lebenslänglich“, 11. Mai
2002; „Hemden wirken disziplinierend“,
6. Dezember 2003)
Damals dachte ich als notorisch kurzsichtiges Mitglied einer tagesaktuellen
Redaktion, es sei für das Thema sowieso
zu spät. „Ist Amerika das neue Rom?“,
fragte ich im taz.mag vom 31. August
2002, immerhin fast ein Jahr nach dem
vielzitierten Anschlag von New York.
Die Redaktion redete mir gut zu, und irgendwann fiel beiläufig der Satz: Warum machst du daraus kein Buch? Das
nahm ich erst mal gar nicht ernst, dafür
sei es erst recht zu spät – dachte ich.
TAZ MAG
taz.mag 374 vom 4. Dezember 2004, „Warst du auch lieb?“. Andrea Roedigs
intensives Interview mit einem SM-Paar bringt Eltern beim Frühstück in Aufklärungsnot: Was tut die Frau auf dem Titel?
Volle vier Jahre nach besagtem Anschlag erschien mein Buch, und kein
einziger der Rezensenten warf mir
Fristversäumnis vor. Offenbar muss
eine Zeitung, um mit der Zeit zu gehen,
auf manchen Seiten zeitlos sein.
RALPH BOLLMANN , Ressortleiter tazInland („Thüringen im Teilungswahn“,
21. August 2004; „Currywurst und Cappuccino“, 6. Januar 2001)
Nach einer Geschichte kommt immer
noch eine Geschichte. Vor zwei Jahren
schrieb ich im taz.mag über das Leben
meines polnischen Großvaters, der
während des Zweiten Weltkriegs in der
Exilarmee aufseiten der Alliierten
kämpfte. Kurz darauf erreichte mich
ein Brief. Der Beitrag habe sie sehr an
die eigenen „verworrenen Zeiten“ erinnert, schrieb Regina Klettke, eine pensionierte Lehrerin aus Bergheim. Sie
selbst wurde 1935 in Polen geboren, als
Tochter eines Kaschuben und einer
Danziger „Freistädterin“. Nach dem
Überfall der Wehrmacht auf Polen wurde ihre Familie zu „Volksdeutschen“ erklärt – was ihre Mutter nicht daran hinderte, sich um die Frau und die Kinder
eines Nachbarn zu kümmern, der auch
in die polnische Exilarmee eingetreten
war. Als der Krieg zu Ende ging, flohen
die Klettkes nach Schleswig-Holstein.
Eines Nachmittags, sie sammelten gerade Brombeeren, hielt plötzlich ein
Jeep vor ihnen. Ein fremder Mann in
englischer Uniform sprang heraus und
umarmte die Mutter. Es war der polnische Nachbar. „Und es blieb nicht bei
der Umarmung“, schreibt Regina Klettke. „Schön, nicht?“ Ja, wirklich.
KOLJA MENSING , Autor („Last Exit Provinz“, 9. November 2002; „Solche Sachen
waren gewesen“, 26. November 2005)
An einem Wochentag im Winter 2004
saßen mein Kollege Jan Feddersen und
ich mit dem Soziologen Heinz Bude für
ein großes taz.mag-Interview im „Sale e
Tabacchi“ unter der taz. Während dieses
Gesprächs erklärte uns Bude, dass und
warum Angela Merkel bald Deutschland regieren würde.
Nicht oft hat mich ein Interviewpartner so beeindruckt. Trotzdem dachte
ich: Die Merkel? Na ja, Herr Bude, jetzt
lassen wir aber mal die Kirche schön im
Dorf. Am 28. Februar 2004 erschien
„Und dann wird Merkel Kanzlerin“. Der
Rest ist Geschichte – und bestätigt ein
weiteres Mal die alte Weisheit: taz.mag
– hier haben Sie es zuerst gelesen.
PETER UNFRIED , stellv. Chefredakteur
der taz („Warum sind die Grünen so
ängstlich und sprachlos?“, 10. Februar
2007; „Leben im Widerspruch“, 24. August 2002)
„Gehen Sie jetzt ins Adlon!“, hatte die
Pressedame nach diversen Fehlstarts
am Telefon gesagt und „Adlon“ französisch ausgesprochen. „Die Fürstin hat
jetzt Zeit für Sie.“ Marianne Fürstin zu
Sayn-Wittgenstein-Sayn hatte gerade
ein fulminantes Buch mit ihren PromiSchnappschüssen der 40er- bis 90erJahre veröffentlicht und gab Interviews
für ihre erste Ausstellung. Allerdings
saß sie, als ich im Hotel ankam, noch zu
Tisch, in Begleitung eines Herrn. „Das
war der Siegfried“, sagte sie kurz darauf
bei der Begrüßung. Bitte? „Na, der Siegfried! Von Siegfried & Roy.“ Aha. Ich
muss recht dumm geschaut haben.
Die betagte Dame war groß in Form.
Gegen Ende fragte sie: „Von welcher Zeitung sind Sie eigentlich?“ „Vom taz.mag
– dem Magazin der tageszeitung.“ Jetzt
schaute die Fürstin mich an wie ich vorhin sie. „Eine linksalternative Tageszeitung“, schob ich nach – und sah, wie sie
sacht zurückschrak.
Am Abend war eine Kollegin zur Aftershow-Party in der Paris Bar geladen.
Und sie traute ihren Ohren kaum, als
die Fürstin kundtat: „Und wissen S’ was?
Wissen S’, wer mir am besten g’fallen
hat von all den Presseleuten? Der Mann
von der linksradikalen tageszeitung!“
REINHARD KRAUSE , taz.mag-Redakteur
(„Das Pathos devianter Frisuren“, 30.
Oktober 1999; „Sexbombe im Kinderzimmer“, 18. November 2006)
Fünfhundert, das ist ein halbes Tausend. Ein schöner Anlass, dem Magazin
mindestens fünfhundert weitere Ausgaben zu wünschen und mich bei denen zu bedanken, die das Blatt machen.
Für die ausgezeichnete Betreuung meiner Texte. Für die vielen Gespräche, unten im taz-Café, die mir als freiem Autor
Mut zum Weitermachen gegeben haben, und natürlich nicht zuletzt für das
Forum, das das taz.mag bietet. Dort
habe ich meine erste Reportage überhaupt veröffentlichen können. Das ist
zwei Jahre her, und ich kann sagen, ich
fühle mich beim taz.mag wie zu Hause.
Es ist nie leicht, die richtigen Worte für
Jubiläumsgrüße zu finden, aber diese
hier kommen von Herzen.
THOMAS FEIX , Autor („Bei Waldschrats“,
4. Februar 2006; „Endlich Frau König“,
12. August 2006)
Karlsruhe. 18 Uhr. Das Taxi hält vor
dem Bundesverfassungsgericht. Nur
noch wenige Beamte arbeiten. Nur einer ist hellwach und empfängt uns neugierig. Nicht ohne Skepsis. Die Linken –
da weiß man ja nie …
Karlsruhe. 23 Uhr. Die Tische des italienischen Restaurants leeren sich nach
und nach. Die letzten Gäste zahlen. Nur
an einem Tisch sitzt noch er, der konservative, ja als reaktionär verrufene
Verfassungsrichter Udo Di Fabio, und
sitzen wir, die Linken, bei Wein, Bier
und – der Fortsetzung des Gesprächs.
taz.mag 3 vom 11. Oktober 1997, „Wir waren so unheimlich konsequent“.
Petra Grolls und Jürgen Gottschlichs Interview mit Stefan Wisniewski ist ein
Urtext der RAF-Aufarbeitung. Brisant: War der Ex-Terrorist Bubacks Mörder?
2
12 m
Spielwiese
Dies ist die 500. Ausgabe des taz.mags.
Ein prächtiger Anlass für 600 Zeilen
Rückblicke, Gratulationen und Making-ofs
Des streitbaren Gesprächs. Die Tonbänder sind gesprengt, drei große Seiten
längst gefüllt. Der Ärger ist programmiert. Darf man mit solchen Leuten reden? Ja. Im Magazin darf man das.
SUSANNE LANG , taz-zwei-Redakteurin,
(„Ich-Kampfschriften pro familia“, 24.
März 2007; „So regiert Frank Schirrmacher“, 24. Juni 2006)
Es war im Juni vor sechs Jahren. Ich saß
in meinem Garten im Brandenburgischen. Es war Samstag, in den Nachbargärten sangen die Rasenmäher, ich las
das taz.mag. „Ich habe Krebs“ lautete
der Titel, geschrieben hatte die Selbstauskunft unser USA-Korrespondent
Peter Tautfest. Er nahm mich mit auf
seine letzte Reise, durch deutsche Krankenzimmer und Arztpraxen. Zu seiner
Frau, seinen Kindern. Ganz in die Nähe
des Todes. Peter Tautfest hatte Krebs,
18 Monate später würde er, der Nichtraucher, an Lungenkrebs sterben.
Da waren sieben Seiten taz.mag. Sieben Seiten, auf denen sogar sein Röntgenbild zu sehen war, der Tumor in seiner Brust. Es war, ich muss das Wort gebrauchen, ergreifend. Und es machte
mir klar, was in der taz journalistisch
möglich ist. Weil es in diesem Blatt einen Platz wie das mag gibt. Ich habe
mich bei Peter Tautfest nicht mehr für
seinen Text bedankt. Schade.
ANJA MAIER , Redakteurin taz-Reportage („Summer of Hope“, 2. August
2003; „H - Ä - N - D - E - H - O - C - H“,
18. Oktober 2003)
Das taz.mag ist eine verführerische
Spielwiese mit allen Möglichkeiten dieser Medienwelt, die wirkliche Welt zu
beschreiben, fernab von Zwängen der
Aktualität. „Was ist der Aufhänger?“, „Wo
ist die soziale Relevanz?“, solche Fragen
bekommt man dort nicht zu hören.
Hauptsache, die Geschichte ist es wert,
erzählt zu werden. Ein einzelnes Schicksal allein reicht, um relevant zu sein. So
konnte ich einen etwas durchgeknallten millionenschweren Immobilienfritzen porträtieren, der sich für den
Thomas Mann des Proletariats hält.
Oder zwei Jungs auf einer halb illegalen
Tour auf der Suche nach mittlerweile
gut bezahltem Altmetall begleiten. Der
manchmal auftretende Verdacht, dass
sich das taz-mag mehr an Männer als
an Frauen wendet, verschwindet, wenn
ich Geschichten lese wie Ende April die
von dem taubblinden Mann und seiner
Verständigung mit der Welt.
BARBARA BOLLWAHN , taz-Reporterin
(„Nie war er so wertvoll wie heute“,
28. Oktober 2006; „Ein Bier gegen die
Angst“, 19. April 2003)
Sobald ich mir einen kleinen Ruhm erschrieben hatte, das wusste ich früh,
musste ich zur taz gehen. Aber erst
dann. Ich wollte von meiner Lieblingszeitung keine Absage aufgrund mangelnder Erfahrung! Nach meinem ersten Israelbesuch schrieb ich einen Bericht über den Drogenkonsum der Soldaten, den ich dort beobachtet hatte,
und wusste, den würde nur die taz drucken. Tatsächlich! Es wurde meine erste
ganze Seite im taz.mag, und ich war
stolz. Leider kam keine weitere Meldung mehr von der taz, und so prostituierte ich mich aufgrund von Schulden,
wie sie junge freie Journalisten oft haben, in einer PR-Agentur.
Ich war sehr unglücklich, mein Chef
drohte mit Kündigung. So fasste ich mir
ein Herz und rief beim taz.mag an. Man
erinnerte sich gut an mich und freute
sich, dass ich wiederaufgetaucht war.
Es kam noch besser: Gerade war eine
500
TAZ MAG
taz.mag 222 vom 29. Dezember 2001. Die Nr. 222 stellt lauter Sach- und
Lachfragen. ©TOM sorgt für die Optik. Die 100. Ausgabe des taz.mag erschien experimentell im Querformat – die Kollegen im Haus tobten, vor Wut
taz.mag 195 vom 16. Juni 2001, „In der Spaßfalle“. Mono.mags zum CSD
zählen zu den jährlichen Fixpunkten der taz.mag-Historie. Die Geschlechterseite „der die das“ erscheint kursorisch
Sonett auf das taz.mag
Beschrieb ich Deine teuren Seiten
die bald 500-mal die tageszeitung zieren
so müsste ich unmäßig mich verbreiten
und würde rasch die Lust am Lob verlieren
Ob Judith aus Damaskus den syrischen Tyrannen geißelt
Ob Reinhard uns aus Frankreich mit Dandy Katerine befremde
Ob Jan den Terroropfern hierzulande einen späten Grabstein meißelt
Stets geht die Fahrt des mags quer durchs erotisch-geografische Gelände
Dass man (von Zeit zu Zeit) Dich schmäht, soll nicht Dein Schaden sein
Stets war das Schöne der Verleumder Ziel
Verdächtigungen zier’n Dich ungemein
Der Übelkrähen sind am Himmel viel
Den letzten Vierzeiler hab ich geklaut
Ein Gruß aus Stratford für die Geburtstagsbraut
CHRISTIAN SEMLER
Hospitanz im Magazin frei, also kündigte ich den schlimmen PR-Job, war
fortan pleite, aber glücklich! Bis zum
heutigen Tag, denn sie gaben mir die
Chance, meine Nahost-Affinität zu
professionalisieren und spannende
Storys zu schreiben. Dies sende ich aus
Beirut, wo ich gerade mit einem USFernsehteam drehe und endlich richtig
Geld verdiene. (Keine Sorge: Das
taz.mag hat die Storys, um die es geht,
schon im letzten Jahr veröffentlicht.)
JASNA ZAJCEK , Autorin („Kalte Fische im
Haifischbecken“, 22. Juli 2006; „Checkpoint Palästina“, 21. Januar 2006)
Man verfolgte in der westfälischen
Provinz trotz Drohungen „SpermaAbklatschspuren“ in einem Mordfall,
cruiste unerschrocken durch die Pinienwälder der Adria und wurde fast
von einem Stricher erwürgt, erkundete
ohne Splitterschutzweste und mit der
Notfallnummer der Deutschen Botschaft in der Tasche die illegale Homoszene Beiruts. Doch das Schönste an der
Reise ist immer das Nach-Hause-Kommen: „Du musst das Thema aber auch
wirklich durchdringen, mit kühlem
Blick. Nicht wieder pischipuschi.“ Au
weia, wo sie einen wohl beim nächsten
Mal hinschicken? Ich bin bereit.
MARTIN REICHERT , taz-Redakteur („Ein
Schnitt fürs Leben“, 9. September 2006;
„Adieu, Habibi!“, 29. Juni 2006)
Alles fing vor acht Jahren mit einer Absage an, von der taz-Kultur: Das eingereichte Interview sei „toll, aber viiiiel zu
lang“. Ich solle es doch mal beim Magazin versuchen, die hätten dort – seufz! –
mehr Frei- und Spielraum auch für
„längere Sachen“. Es wurde der Auftakt
zu einer bis heute andauernden lockeren Interviewfolge und der Beginn ei-
S ONNAB END/S ONNTAG, 12. /13. MAI 2007
ner wunderbaren Freundschaft. So beschert mir – size matters! – ein großartiges taz.mag-Format (Interviews von
drei Zeitungsseiten Länge! Wo gibt’s das
sonst?!) als Autorin bis heute immer
wieder aufs neue Lust und Leid.
NIKE BREYER , Autorin („Flachdach ist
spießig“, 22. April 2006; „Comeback eines Liebestöters“, 14. Februar 2004)
In Wien, wo neuerdings wieder osteuropäische Kollegen in den Kaffeehäusern ihrer Melancholie nachhängen,
hört man, sie schreiben ein Krockie. Die
Krockies gehören einem versunkenen
Genre der Zeitungen des Ostens an, die
man liest, während man das Kipferl in
den morgendlichen Kaffee tunkt. Um
Krockies zu schreiben, kommen die östlichen Kollegen nicht mehr ohne Notebooks aus, weswegen Plätze mit Steckdosen rar sind. Im Café Westend am
Westbahnhof gibt es eine einzige Steckdose, direkt am Eingang, wo es zugig ist.
Wer den ungemütlichen Tisch ergattern will, muss früh aufstehen oder sich
beim Ober einschleimen, der ein heimtückischer Mensch ist. Eines schönen
Tages werde ich dort für das taz.mag ein
Krockie schreiben.
TILL EHRLICH , taz-Sättigungsbeileger
(„Kochen ist Gold“, 3. März 2007; „Rothschild trifft Mapuche“, 21. Oktober 2006)
Als es das taz.mag noch gar nicht gab,
war ich eine Zeitlang Redakteurin in der
taz Bremen für eine Kulturseite, die mit
ihren wilden Themen durchaus als
kleine Vorläuferin des überbordenden
taz.mags gelten konnte. Dann zog ich
in ein Städtchen und lernte das rücksichtsvolle Schreiben für die Heimatzeitung kennen. Wie wunderbar, dass wenig später das taz.mag geboren wurde!
Da konnte ich mich als eBay-süchtige
oder PC-Spiel-verrückte Mutter outen
oder nachforschen, warum Schlachter
menstruierende Frauen nicht in die
Schlachteküche lassen. Mit dem
taz.mag im Hintergrund fällt es mir
leicht, heimatzeitungsfreundlich zu
sein. Was für ein Glück!
CORNELIA KURTH , Autorin („Sie machen
ja alles falsch!“, 27. Dezember 2003;
„Verdorbenes Blut“, 2. März 2002)
Er ist der Einzige in meinem Bekanntenkreis, der letztes Jahr nicht ein WMSpiel gesehen hat. Mit Fußball kann er
nichts anfangen, Massenvergnügungen
stoßen ihn ab. Vielleicht interessiert
sich Reinhard Krause deswegen für Keramik – auch als Einziger in meinem Bekanntenkreis. Über seine Abneigung
gegen das eine und seine Vorliebe für
das andere hat er im taz.mag geschrieben. Vielleicht haben Sie die Artikel ja
gelesen – vom größten Teil seiner Arbeit jedoch nehmen Sie als Leser nur
Notiz, wenn sie schludrig gemacht
wird. Also nie! Reinhard Krause ist Redakteur im taz.mag. Ein Unsichtbarer,
der Spuren hinterlässt. In den Texten
anderer. Und damit das niemand bemerkt – auch nicht die Autoren –, streift
er sich dabei deren Schuhe über und tut
so, als wären es seine. Als wäre er schon
immer in diesem Text zu Hause gewesen. Er fremdelt nie. Reinhard Krause
lässt andere glänzen. Das ist sein Job.
Und den macht er so gut, dass er ihn leider bald woanders ausüben wird – gut,
dass er diese Zeilen vorher noch liest,
und zwar nicht nur, weil sie dadurch sicher besser werden.
DAVID DENK , Ex-taz-Volontär („Er und
ich“, 12. August 2006; „Saufen einmal
ums Eck“, 7. Januar 2006)
Besonders liebe ich das taz.mag für
seine Indiskretionen. Keine Schwäche,
die nicht geoutet würde in der Autorenzeile. Oder glauben Sie, die Verfasserin
hätte je freiwillig zugegeben, ohne
Putzfrau zu leben (damals!) oder auf
Musik „fern jeder Feurigkeit“ abzufahren? Einmal, unter einem Porträt
des äthiopischen Langstreckenläufers
Haile Gebrselassie, stand da schwarz
auf weiß: „Heike Haarhoff braucht für
10.000 Meter auf jeden Fall einen fahrbaren Untersatz.“ Dabei habe ich das
noch nie ausprobiert. Ehrlich!
HEIKE HAARHOFF , taz-Reporterin („Todesmarsch in die Freiheit“, 23. April
2005; „Die Zweifel bestehen fort“, 17. Dezember 2005)
Das taz.mag ist eine wunderbare Spielwiese, und ihr lasst die AutorInnen
experimentieren. Ich durfte über Otto
Weiniger und die neue Männerliteratur
bei euch schreiben, über päpstliche Perversionen oder das Glück des Katholizismus. Solche Texte entstehen oft nur,
weil es das taz.mag gibt.
V
taz.mag 386 vom 26. Februar 2005. Ein Undercover-Bericht aus einem Trainingscamp für US-Soldaten in Bayern. Der Artikel erscheint unter Pseudonym
– und wird mit einem CNN Award ausgezeichnet
Einmal habe ich euch ein heikles Interview angeboten. Nur die taz schien
mir seriös, alternativ und mutig genug,
es zu drucken – ein Interview mit zwei
schwulen Sadomasochisten, in dem es
darum ging, genau zu beschreiben, was
sie tun und was SM mit ihnen macht.
Ganz so unerschrocken wart ihr, lieber
Jan, lieber Reinhard, aber doch nicht,
denn ihr wolltet just die Stellen kürzen,
in denen es um Stromzufuhr für gewisse Mannesteile ging. Man hörte
euch förmlich unter Kastrationsängsten ächzen. Als alte Feministin musste
ich schon schmunzeln, aber sei’s drum,
als neue Feministin verstehe ich euch
ja! Ich wünsche dem taz.mag weiter viele gute Texte und AutorInnen und
Strom an den geeigneten Stellen.
ANDREA ROEDIG , Autorin („Erregtes
Warten“, 23. Dezember 2006; „Schluss
mit dem Sex“, 4. Oktober 2003)
In einem gläsernen Verhau, der mit
ein wenig gutem Willen an ein Aquarium mit höchst exotischen Zier- und
Kampffischen erinnert, sitzt das Magazin der taz. Einmal kam der Große
Schlagerpiranha angeschossen und
fragte, ob er mir einen lang gehegten
Wunsch erfüllen dürfe bzw. ich denn
nicht mal mit Cat Stevens plaudern wolle, ich wisse schon, „Morning Has Broken“ und so, der sich seit fast 30 Jahren
Yusuf Islam nenne und seitdem mit keinem Christenmenschen mehr gesprochen habe, jedenfalls mit keinem Journalisten, was aber kein Problem sei:
„Hier, die Telefonnummer, das wird
schon“, tätschel, tätschel.
Wenig später verbrachte ich etliche
Stunden mit Cat Stevens alias Yusuf Islam. Wir stritten über Folk und Pop und
das Bildverbot im Islam, streiften theoretische und theologische Themen. Am
Ende bekniete ich ihn, doch bitte einfach wieder die Gitarre in die Hand zu
nehmen. Zwei Jahre später erschien
„An Other Cup“ von Yusuf Islam, wofür
ich mich bei allen Cat-Stevens-Fans in
aller Form entschuldigen möchte.
ARNO FRANK , Redakteur taz zwei („Ein
scheinheiliger Krieger“, 21. Mai 2005;
„A steht für Allah“, 1. November 2003)
Das taz.mag ist indiskret. Sollen die
Autoren doch mal erzählen, wie es wirklich zugeht. So kamen wir zu Bekenntnissen von RAF-Leuten, Spektakeln aus
dem Alltag, hörten von Schmutz und
Dreck, von Sex und Erotischem. Die
besten Ideen, fanden wir, entstanden,
wenn andere dachten, sie erzählten etwas privat. Einer, neulich, aus einem
anderen Ressort, raunzte eine freie
Journalistin an: „Mein Gott, kannst du
nicht mal aufschreiben, dass dieser
ganze Sexmist, dieses ‚größer, praller,
möpsiger‘ nicht mehr auszuhalten ist.
Für mich schon gar nicht.“ Meine Frage,
ob er diese wütenden Stoßseufzer nicht
einmal fürs taz.mag aufschreiben wolle, beantwortete er mit einer Furchtfalte am Kinn: „Mal sehen.“ Er traute
sich doch nicht. Leider. Es hätte klasse
sein können, einmal von einem heterosexuellen Mann aufgefächert zu bekommen, dass er das Klischee vom
Mann, der nur auf Pornografisches
steht, für Blödsinn hält. Das taz.mag hat
oft Scheinblödsinn gedruckt. Es hat oft
sehr gefallen. Uns erst recht!
JAN FEDDERSEN , taz.mag-Redakteur,
(„Ich jamme nicht mehr“, 12. Juli 2003;
„Alles, jetzt, sofort“, 17. August 2002)
„Ihr müsst erkennbarer werden“, sagt
der Kollege bei der Konferenz. Würde er
das Magazin machen, stünde auf der
Dritten Seite jeden Samstag ein Interview. „Das machen andere auch so.“ Die
Kollegin sagt auf der Weihnachtsfeier:
„Für die Fünf muss eine Kolumne her!“
Außerdem Fotos von den Autoren – verlässlich, immer dieselben. Feste Themen, feste Genres, feste Texte, festgefahren. Nur das, was jede Woche erscheint – die Letzten Fragen – sei ja nur
noch grässlich. „Weg damit!“ Doch auf
der Treppe, im Lift, am Fahrradstand
oder am Nachbartisch im taz-Café sagen sie dann: „Wilde Mischung letztens.
JUDITH LUIG ,
Gut!“
taz.mag Redakteurin, („Kunststadt im
Probemodus“, 28. April 2007; „Same,
same – but different“, 16. August 2003)
Warum ich das taz.mag liebe:
Original-taz.mag-Mail vom 13. März
2006 an mich: „ich weiß jetzt, worauf es
bei deinem freud-aufsatz ankäme. lass
uns morgen einen kaffee trinken.“ 29.
März: „meinst du, dass wir heute oder
montag zeit fänden, um über dein
freud-thema zu sprechen? lass mich
rasch wissen, wie uns das gelingen
kann.“ 8. August: „ich freue mich auf
deinen text am 22. august.“ 19. September: „bist du schon mit deinen beiden
texten weitergekommen: antisemitismus und freud?“
29. September: „dein text ist ein gelungener auftakt zu einem schönen redaktionellen prozess. ich bitte um einige präzisierungen.“ 20. Oktober: „nach
dem quotenmäßig außergewöhnlich
erfolgreichen porno.mag brauchen wir
neue highlights. du sollst dabei sein.
kurz gesagt: antisemitismus? freud?“
1. November: „freud? änderungen?
wann? du uns schwer unter druck setzen wollen? nein? na also! dann mal
rasch.“ 2. Dezember: „lass mich um
deinen freud-fortschritt wissen.“
Der Text ist am 16. Dezember 2006
im taz.mag erschienen.
PHILIPP GESSLER , Redakteur im Schwerpunktpool der taz („Lasst euch nicht betören“, 10. März 2007; „Wozu noch nach
Israel“, 29. November 2003)