Aufm Mode Cerruti GQ 1212.indd
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GQ M d 20 J ST Y L E 12 =MODE= ATELIERBESUCH IM NAMEN DES HERRN Seit Nino Cerruti sein Modelabel verkauft hat, pflegt er ganz die Familientradition der Stoffproduktion TEXT: David Baum FOTO: FABIO FALCETTA Mann mit Wurzeln NINO CERRUTI HAT IN PARIS ENTWORFEN, HOLLYWOOD AUSGESTATTET, ABER DER HEIMAT BIELLA STETS DIE TREUE GEHALTEN Dezember 2012--GQ.DE 175 STYLE / 2012 W WACH UND BLAU UND HELL leuchten die 82-jährigen Augen, so sehr, dass man davon ausgehen muss, dass Liebe im Spiel ist. Und tatsächlich gerät Nino Cerruti sogleich ins Schwärmen. „Sie ist einfach wundervoll“, sagt er. „Ich verehre sie!“, ruft er. Typisch Italiener, denkt man. So sind sie eben, wenn es um Frauen geht, egal, wie alt sie auch sein mögen. Doch wie sich herausstellt, gilt Cerrutis Verehrung, zumindest in diesem Moment, gar nicht dem weiblichen Geschlecht. Sondern einer Maschine, vor der er gerade steht. Einer sehr unansehnlichen Maschine übrigens, die aber, wie Cerruti begeistert ausführt, auf ganz besonders raffinierte Weise verschiedenartige Fäden zu einem Stoff zusammenführt. Und das zehnmal schneller, als es andere ihrer Art vermögen. „Von einem 176 GQ.DE--Dezember 2012 deutschen Maschinenbauer“, sagt Nino Cerruti und verneigt sich lächelnd dankend. „Ein Meisterwerk!“ Es ist eben alles eine Frage des Blickwinkels: auf welche Weise man die Welt betrachtet. Im Idealfall aus hellen, wachen, blauen Augen wie diesen, die auch nach 82 Jahren immer noch mehr Schönes entdecken als nicht so Schönes. Antonio Cerruti, genannt Nino, wäre eigentlich an einem Punkt angelangt, an dem er alles Recht hätte, zufrieden auf ein stolzes Lebenswerk zurückzublicken. Wie jung und tragisch er hineingestoßen wurde, 19 Jahre alt war Nino erst, als er den frühen Tod des Vaters überwinden und die Lanificio Fratelli Cerruti weiterführen musste, jene Textilfabrik, die der Großvater mit den Großonkeln 1881 gegründet hatte; jener Betrieb, in dem er heute steht und der erfolgreicher ist denn je. Geschäftstüchtig ist er aber von Anfang an gewesen: Er wollte die Stoffe aus der Fabrik der Öffentlichkeit zeitgemäß präsentieren und verpackte sie deshalb in eine Modekollektion. So schuf der junge Mann früh und beinahe nebenbei die Weltmodemarke Cerruti. Signor Nino SO WIRD DER PADRONE (0.LI.) VON DEN MITARBEITERN DES HAUSES VOLLER SYMPATHIE GERUFEN Maschinist BEI DER STOFFPRODUKTION (O.) SETZT ER NICHT NUR AUF TRADITION, SONDERN AUCH AUF MODERNE TECHNIK FOTOS: FABIO FALCETTA (2), STUDIO CANAL (1), WARNER BROS. ENTERTAINMENT (1), TOUCHSTONE (1), 20TH CENTURY FOX ENTERTAINMENT (1) M d J / Atelierbesuch Ich wollte Mode nie um der Mode willen machen. Ich wollte einen Lebensstil ausstatten“ Stil für die Stars KAUM EIN DESIGNER PRÄGTE DEN LOOK VON HOLLYWOODFILMEN MEHR ALS NINO CERRUTI „BASIC INSTINCT“ „DIE HEXEN VON EASTWICK“ „PRETTY WOMAN“ Nino Cerruti müsste heute nicht mal rot werden, wenn er sich im Rückblick als Pionier bezeichnen würde, weil gehobene Herrenkonfektion dieser Art vor ihm einfach nicht existierte. Er könnte auch launig davon erzählen, wie er damals den jungen Schaufensterdekorateur Giorgio Armani entdeckte und zu seinem Assistenten machte. Und wie er auf noch eine andere Idee kam, seine Mode weiter bekannt zu machen: indem er als erster Designer Stars einkleidete, schließlich ganze Filme ausstattete. Erst kamen Mastroianni und Delon, dann die Größen aus Hollywood, Michael Douglas, Jack Nicholson, Richard Gere, Denzel Washington. In der Folge wurde Cerruti selbst ein Star, stets erkennbar an seinem Markenzeichen, dem gelben Pullover, den er smart um die Schultern geworfen hatte, wenn er die Laufstege beschritt. Eine Legende. Signor Cerruti lächelt aber bloß, freundlich und etwas skeptisch. Legende, who? Als hätte er darüber noch gar nicht so genau nachgedacht. Als wäre das alles nur eine Episode gewesen, denn schließlich steht er doch genau da, wo er angefangen hat, in seiner alten Fabrik, im süßen kleinen Biella, nördlich von Turin und Mailand. Seine feinen Hände prüfen gerade den Rohstoff, die Schafwolle, die frisch geliefert wurde und darauf wartet, die vielen Arbeitsprozesse zu durchlaufen, um schließlich als Faden gefärbt und durch die Wundermaschine zu einem edlen Stoff verwoben zu werden. „WA L L S T R E E T “ Cerruti und die Filmstars – das war von Beginn an eine erfolgreiche Symbiose. Nachdem er zunächst Helden des europäischen Films angezogen hatte, wagte er bald den Sprung nach Hollywood. „Erst trugen die Stars meine Mode im Film, dann privat – und wenn sie einen Oscar bekamen, auch bei der Verleihung“, erinnert sich Cerruti Dezember 2012--GQ.DE 177 S T Y L E / Atelierbesuch / 2012 Familienfäden M d J DIE LANIFICIO CERRUTI PRODUZIERT NICHT NUR STOFFE FÜR VIELE MODEHÄUSER, SONDERN AUCH WIEDER FÜR EINE EIGENE KLEINE LINIE, DIE SOHN JULIAN (FOTO RE., MITTE) BETREUT Fabrik für Fabrics IM ALTEN STAMMHAUS IN BIELLA ENTSTEHEN SEIT 1881 DIE MITUNTER EXQUISITESTEN STOFFE DER MODEBRANCHE 178 GQ.DE--Dezember 2012 Kein K in Wunder, dass viele Kreationen der großen Modehäuser – Chanel, Bottega Veneta, Armani, Hermès, Brioni, Chloé und immer so weiter – bis heute aus Stoffen gemacht sind, die hier in Biella entstehen. O O O OBEN IN DER VILLA, die Ninos Vater einst seiner Frau geschenkt hat, tischt das Küchenpersonal nun das Mittagessen auf, Hühnchen in einem Ragout aus Hühnerherzen mit Kartoffeln aus dem eigenen Garten. Die famiglia, zu der auch Ninos Lebensgefährtin Sibylla Jahr sowie allerlei Freunde gehören, nimmt an der liebevoll gedeckten Tafel Platz. Alles ist so gemütlich, so unaufgeregt, so ganz anders, als man es sich bei einem Modedesigner zu Hause vorstellen würde. „Ach, Mode“, winkt Nino Cerruti ab. „Ich wollte nie Mode um der Mode willen machen – heute dies, morgen das. Ich wollte nur einen gewissen Lebensstil ausstatten.“ Mehr gibt es dazu gerade nicht zu sagen, beim Essen. Sollen andere große Worte machen über ihn, Nino, den Mann mit den klarsten Augen der Welt. AUF DEM iPAD: WEITERE BILDER AUS DER MANUFAKTUR IN BIELLA FOTOS: CURVA DI CONTRASTO (3), FABIO FALCETTA (1) „Wirklichen Respekt habe ich vor meinem Vater Silvio“, sagt Cerruti jetzt. „Er hat die wunderschönsten Stoffe produziert, dabei hatte er keine feine Wolle von Tieren aus dem Hochland des Pamir zur Verfügung, sondern bloß von italienischen Schafen.“ An den Wänden der Flure der Lanificio hängen überall Porträts des Cerruti-Clans, in den Ateliers arbeitet schon die nächste Generation. Ninos Sohn Julian, der in Paris aufgewachsen ist und in den USA studiert hat, ist vor einigen Jahren in die Heimat der Ahnen gezogen. Er hat neue Stoffe und neue Techniken eingeführt und inzwischen sogar eine eigene kleine Modelinie gegründet. Was schon aus juristischen Gründen gar nicht so einfach ist, weil es eine Modekollektion unter dem Namen Cerruti nicht mehr geben darf, seit Nino die Marke samt Namensrechten verkauft hat. „Natural Born Elegance“ hat Julian seine Linie deshalb getauft, die die gewohnt herausragende Qualität der Cerruti-Stoffe zunächst nur in Form von Schleifen und Krawatten bietet. Sieht man auch Julian die Stoffe erfühlen, erkennt man schnell die gleiche Leidenschaft wie bei seinem Vater Nino. Nun stehen beide in einer der älteren Hallen der Fabrik und blättern in riesigen, fast antiquarisch anmutenden, ledergebundenen Büchern: dem Stoffarchiv. „Diese hier waren 1910 der letzte Schrei“, sagt Nino und zeigt auf feine Muster, die auf den einzelnen Seiten angebracht wurden und mit handschriftlichen Notizen versehen sind. „Das ist das Gedächtnis der italienischen Mode“, sagt Julian. Seit 1881 wurde jeder einzelne Stoff hier archiviert, „mit allen nötigen Informationen, die wir bräuchten, um sie sofort wieder herstellen zu können“, sagt Julian, und Nino nickt bestätigend.