V Schriftsystem 20090907 - UK-Online
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V Schriftsystem 20090907 - UK-Online
Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 1 Semesterprogramm Thema Datum 16.4. System und Norm; Schriftsystem und Orthographie; Schriftsystem und lautlich realisiertes Sprachsystem; Schriftsystemeinheiten 23.4. Phonographie: traditionelle Graphem-Phonem-Beziehungen 30.4. Phonographie: Laut- und Schreibsilbe, Fußstruktur 7.5. Phonographie: Laut- und Buchstabenmerkmale 14.5. Morpheme: morphologisch bedingte Schreibungen; Worttrennung 21.5. Feiertag 28.5. Morpheme: Divis, Apostroph, Binnengroßschreibung 4.6. Pfingstferien 11.6. Feiertag 18.6. Wort oder Syntagma: Zusammen- oder Getrenntschreibung 25.6. Syntax: wortinitiale Großschreibung – zwei Auffassungen 2.7. Syntax: Kommasetzung im Deutschen 3.7. Zwischenprüfung 9.7. Syntax: Kommasetzung sprachvergleichend 16.7. Syntax: Interpunktion im Ansatz von Bredel (2008) – Filler (Gedankenstrich, Auslassungspunkte) 23.7. Syntax: Interpunktion im Ansatz von Bredel (2008) – Klitika (Punkt, Semikolon, Fragezeichen, Ausrufezeichen, Komma) Notationen <Tag> Schriftform /ta:g/ zugrunde liegende phonologische Form [ta:k] phonologische Oberflächenform, phonetische Realisierung System und Norm; Schriftsystem und Orthographie Sprachregularität als Teil des Sprachsystems: historisch gewachsene, allein Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft (Muttersprechern) verfügbare Gesetzmäßigkeit einer Sprache. Nach Auffassung Chomskys verfügen alle Menschen über ein angeborenes universelles Sprachsystem (Universalgrammatik). Das Schriftsystem ist die im graphischen Medium realisierte Variante des Sprachsystems. Das ist das System aller schriftbezogenen Regularitäten einer Sprache und der schriftlichen Formen, die diesen Regularitäten entsprechen, d. h. das System aller prinzipiell möglichen Schreibformen (vgl. Neef 2005, referiert in Dürscheid 2006: 127). Bsp.: <fal>, <faal>, <fahl> für /fa:l/ Das Sprachsystem des Deutschen wird in mindestens drei Modalitäten realisiert: lautsprachlich, schriftsprachlich und gebärdensprachlich. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 2 Regel im engeren Sinne (als Gegenbegriff zu Regularität, s. Eisenberg 2006, Bd. 1, S. 6f.): theoretisches Modell einer Sprachregularität. D. h. innerhalb einer bestimmten Theorie mit deren Mitteln formulierte Beschreibung einer Regularität. Prinzip: Regel oder Regularität mit einem sehr großen Anwendungsbereich, d. h. eine sehr allgemeine (ggf. universale) Regel bzw. Regularität. Explizite Sprachnorm als Teil des Normsystems: Eine von sozialen Sprach- oder Kulturinstitutionen (z. B. Dudenredaktion, Journalismusverband, Kultusministerkonferenz) explizit formulierte Festlegung (präskriptive Aussage), die innerhalb der Möglichkeiten bzw. des Variantenspektrums des Sprachsystems eine Möglichkeit als verbindlich auswählt. Die wichtigste Funktion der Sprachnormierung ist die Schaffung einer überregionalen Standardsprache [allgemeiner: Leitvarietät]. Die Orthographie ist die im graphischen Medium realisierte Variante des sprachlichen Normsystems. Das Standarddeutsche [alltagssprachl. das Hochdeutsche] ist die implizit und weitgehend auch explizit normierte überregionale Varietät des deutschen Sprachsystems. Explizite Normen können alle (etwa lautliche, morphologische, syntaktische, semantische, pragmatische, orthographische) Aspekte der Sprache erfassen. Explizit normativ orientierte Grammatiken heißen präskriptiv (Gegenbegriff: deskriptiv). Zum Verhältnis zwischen Sprachsystem (Schriftsystem) und Normsystem (Orthographie): "Normative Festlegungen [...] bleiben in der Regel innerhalb dessen, was vom System gedeckt ist. Sie treffen eine Auswahl unter systematisch zulässigen Formen" (Eisenberg 2006, Bd. 1, S. 10). "Ein sprachliches Normsystem ist ein sozial verankertes Modell des Sprachsystems" (Eisenberg 1983: 50). sprachlich korrekt / richtig vs. sprachlich inkorrekt / falsch werden nur in normativen / präskriptiven Aussagen gebraucht (stattdessen auch: normkonform / normwidrig). In Beschreibungen des Sprachsystems (d.h. deskriptiven Theorien) werden stattdessen akzeptabel / inakzeptabel oder grammatisch / ungrammatisch verwendet. Der Begriff ‚implizite Norm’ ist schwerer einzugrenzen: "Die grammatischen Regularitäten unserer Sprache brauchen nicht bewusst zu sein, aber sie sind verbindlich. Wir erwerben sie und halten uns an sie. Man hat sie deshalb implizite Normen genannt." (Eisenberg 2006, Bd. 1, S. 10) norm- und sprachsystemkonform des Bären, dem Bären norm- und schriftsystemkonform <Tal> für /ta:l/ normwidrig, aber systemkonform in best. Sprachvarietäten des Bärs, dem Bär normwidrig, aber schriftsystemkonform <Taal>, <Tahl> für /ta:l/ norm- und systemwidrig *des Bär, *dem Bäre norm- und schriftsystemwidrig *<Tall> für /ta:l/ Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 <Stuhl> für /štu:l/ <Stul> für /štu:l/ 3 *<Stuul> für /štu:l/ Literatur zum Verhältnis zwischen System und Norm Coseriu, Eugenio. 1971. System, Norm und Rede. In: Petersen, Uwe (Hrsg.). Coseriu, Eugenio: Sprache. Strukturen und Funktionen. XII Aufsätze zur allgemeinen und romanischen Sprachwissenschaft. Duden. 1985. Richtiges und gutes Deutsch. Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle. 3. neu bearb. und erw. Aufl. Dudenreihe Bd. 9. Mannheim: Dudenverlag. (ständig neue überarbeitete Auflagen). ●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien. 3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 1 und Kap. 4.1. Eisenberg, Peter. 1983. Orthographie und Schriftsystem. In: Günther, Klaus B. / Günther, Hartmut (Hgg.). Schrift, Schreiben, Schriftlichkeit. Tübingen: Niemeyer, 41-68. ●Eisenberg, Peter. 2006. Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3. durchges. Aufl. Stuttgart: Metzler. ●Fuhrhop, Nanna. 2005. Orthografie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Kap. 1. Neef, Martin. 2005. Die Graphematik des Deutschen. Tübingen: Niemeyer. Das orthographische Normsystem Augst, Gerhard / Blüml, Karl / Nerius, Dieter / Sitta, Horst (Hgg.). 1997. Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen: Niemeyer. Duden. 1991. Die Rechtschreibung der deutschen Sprache. 20. Aufl. Mannheim et al.: Dudenverlag. Kommentar: Die letzte Auflage mit dem alten Normsystem. Duden. 1996. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 21., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag. Kommentar: Die erste Auflage mit dem neuen Normsystem. Duden. 2006. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag. Kommentar: Die erste Auflage mit der Reform der Reform. ●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien. 3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 5. Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.). 1995. Deutsche Rechtschreibung. Vorlage für die amtliche Regelung. Tübingen: Narr. Vollständiger Nachdruck im Duden (1996). Schriftsystem und lautlich realisiertes Sprachsystem Über das Verhältnis zwischen Schriftsystem und lautlich realisiertem Sprachsystem gibt es zwei verschiedene Auffassungen: - die Autonomie- bzw. Korrespondenzhypothese - die Ableitbarkeitshypothese Die Korrespondenzhypothese (u. a. alle Arbeiten von Peter Eisenberg, Hartmut Günther, Utz Maas, Christa Röber-Siekmeyer, Rüdiger Weingarten, Beatrice Primus, Ursula Bredel, Nanna Fuhrhop, Martin Neef):1 1 Diese Auffassung wird irreführenderweise auch als ‚Autonomiehypothese’ bezeichnet, obwohl keiner ihrer Vertreter behauptet, dass ein Schriftsystem völlig unabhängig vom lautlich realisierten Sprachsystem ist (s. Definition Schriftsystem). Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 4 ● Es gibt eigenständige Schriftsystemregularitäten bzw. -prinzipien. ● Schriftsystem-Einheiten (wie etwa Buchstabe, Graphem, Spatium, Interpunktionszeichen) können ohne Bezug auf das lautlich realisierte Sprachsystem definiert werden. ● Es gibt Korrespondenzregeln zwischen Schriftsystemeinheiten und lautlich realisierten Spracheinheiten in beiden Richtungen. Beispiel: Die Schriftsystemeinheit der Schreibsilbe und die Schriftsystemregeln der Worttrennung am Zeilenende stimmen mit der phonologischen Silbeneinheit und der phonologischen Worttrennung nach Sprechsilben nicht genau überein (vgl. <wid-rig> vs. /vi-driç/). Es gibt allerdings Korrespondenzen zwischen Worttrennungsregeln nach Schreibsilben und Worttrennungsregeln nach Sprechsilben. Die (derivationelle) Ableitbarkeitshypothese ● Eigenständige Schriftsystemregularitäten sind Randerscheinungen. ● Schriftsystem-Einheiten (wie etwa Buchstabe, Graphem, Spatium, Interpunktionszeichen) können nicht ohne Bezug auf das lautlich realisierte Sprachsystem definiert werden. ● Schriftsprachliche Formen sind vollständig aus ihrer lautlich realisierten Form ableitbar. ● Das lautlich realisierte Sprachsystem ist phylogenetisch [sprachevolutionär], ontogenetisch [hinsichtlich des individuellen Spracherwerbs] und logisch primär. Vertreter der Ableitbarkeitshypothese Bierwisch, Manfred. 1972. Schriftstruktur und Phonologie. In: Probleme und Ergebnisse der Psychologie 43, 21-44. Garbe, Burckhard. 1985. Graphemtheorien und mögliche Strukturmodelle zur Beschreibung der Orthographie. In: Augst, Gerhard (Hg.). Graphematik und Orthographie. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 1-21. Ossner, Jakob. 1996. Silbifizierung und Orthographie des Deutschen. Linguistische Berichte 165, 369-400. Evidenz gegen die Ableitbarkeitshypothese ● Es gibt sehr systematische eigenständige Schriftsystemprinzipien. ● Schriftsprachliche Formen (z. B. Dehnungszeichen, Worttrennung am Zeilenende) können nicht vollständig aus ihrer lautlich realisierten Form abgeleitet werden. M.a.W.: Es gibt Fälle, die nicht ausschließlich lautsprachlich motiviert sind. ● Es gibt sehr systematische schriftsystembasierte Korrespondenzen, d.h. solche, die aus der graphematischen Form die phonologische Form ableiten. ● Selektive Sprachstörungen, d.h. die schriftsprachliche Kompetenz ist gestört, die lautsprachliche Kompetenz ist intakt. Logische vs. derivationelle Abhängigkeit Definition Schriftsystem: Ein graphisches Zeichensystem ist ein Schriftsystem, wenn es einen konventionalisierten, regelhaften Zusammenhang mit dem lautlich realisierten System einer Einzelsprache aufweist. Laut dieser Definition2 ist jedes Schriftsystem von der entsprechenden Lautsprache logisch abhängig, aber nicht umgekehrt. M.a.W.: Es gibt keine Schriftsprache im strikten 2 Einen weiteren Schriftsystembegriff findet man z.B. bei Harris (1985), der auch das mathematische Zeichensystem und das musikalische Notensystem als Schriftsystem auffasst. In dieser weiten Auffassung Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 5 Sinn ohne entsprechende Lautsprache, aber durchaus Lautsprachen ohne entsprechendes Schriftsystem. Die Lautsprache ist somit eine notwendige Bedingung, aber keine hinreichende Bedingung für die entsprechende Schriftsprache. Diese logische Abhängigkeit wurde in der traditionellen Forschung im Sinne einer derivationellen Ableitung missverstanden (vgl. Neef 2005). Derivationelle Sicht und Schreiberperspektive: Wenn der Laut /a/ vorliegt (logisch hinreichende Bedingung), dann schreibe den Buchstabe <a>. Korrespondenztheoretische Sicht und Leseperspektive: Wenn schriftlich <a> vorliegt, dann spricht man /a/ aus (logisch notwendige Bedingung). Literatur zum Verhältnis zwischen Schriftsystem und lautlich realisiertem Sprachsystem ●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien. 3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 1 und Kap. 4.2. ●Maas, Utz. 1992. Grundzüge der deutschen Orthographie. Tübingen: Niemeyer. Kap. 1. ●Neef, Martin / Primus, Beatrice. 2001. Stumme Zeugen der Autonomie - Eine Replik auf Ossner. Linguistische Berichte 187, 353-378. Neef, Martin. 2005. Die Graphematik des Deutschen. Tübingen: Niemeyer. Günther, Hartmut / Pompino-Marschall, Bernd. 1996. Basale Aspekte der Produktion und Perzeption mündlicher und schriftlicher Äußerungen. In: Günther, Hartmut / Ludwig, Otto (Hgg.). Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. 2. Bd. Berlin: de Gruyter, 903-917. Schriftsystemeinheiten Schriftsystemvarianten Normaler Textmodus vs. Listenmodus (Tabellen, Werbeplakate u. Ä.), mathematische oder chemische Formeln u. Ä. (vgl. Bredel 2008) Dies ist der Textmodus. H2O im Listenmodus Native Schreibung vs. Buklee Fremdwortschreibung vs. Bouclé fremde Schreibung consecutio temporum Besondere Systeme bilden u. a. die Schreibung der Eigennamen (z. B. Claus, Troisdorf, Franck), der Interjektionen und Lautmalereien (z. B. brrr, hmmm). Falls nicht ausdrücklich anders angegeben, beziehen sich alle Angaben in der Vorlesung (Definitionen, Regeln u. a.) auf den normalen Textmodus und die native Schreibung ohne Eigennamen und Interjektionen bzw. Lautmalereien. ist ein Schriftsystem logisch unabhängig von einem lautlich realisierten Sprachsystem. Lit.: Harris, Roy. 1995. Signs of writing. London: Routledge. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 Die Grundeinheiten des deutschen Schriftsystems nach Gallmann (1985:10f., vgl. auch Günther 1988: 64f.) 3 1) Segmente: Buchstaben, Hilfszeichen wie Komma, Punkt und Apostroph, Ziffern, Diakritika u. Ä. 2) lineare suprasegmentale Mittel: durchgehende Großschreibung, Hoch-/Tiefstellung, Unterstreichung, Schriftart wie Kursive oder Fett, Sperren u. Ä. 3) flächige suprasegmentale Mittel: Zeile, Einzug, Umrandung, Textblock wie Titel, Abschnitt und Fußnote u. Ä. Alle diese (und ggf. weitere hier noch nicht vorgestellte) Einheiten und Mittel sind lt. Gallmann nicht weiter zerlegbare, relevante Struktureinheiten in dem Sinn, dass sich die Schriftsystemregeln des Deutschen auf sie beziehen. Segmente sind Einheiten, die in der horizontalen oder additiv-vertikalen Verkettung nicht weiter zerlegt werden können. So sind bspw. <ä> und <ü> keine Segmente, weil sie aus einem Buchstaben und einem Diakritikum bestehen. Hinweis: Für B. Primus und U. Bredel sind die meisten Buchstaben und viele Interpunktionszeichen in distinktive Einzelsegmente zerlegbar. Buchstaben Die autonome distributionelle Definition von Buchstaben bei Günther (1988: 67): Buchstaben sind segmentale Einheiten des Schriftsystems, die in grundsätzlich beliebig langer Folge alternierend (d. h. auch selbständig) auf einer Zeile erscheinen können. Die Relevanz der Buchstaben für das Schriftsystem des Deutschen zeigt sich darin, dass es Regeln gibt, die sich auf sie beziehen. Eine buchstabenbezogene Regel ist die Anfangsgroßschreibung wie in Weg vs. Waldweg und weg von hier. Dass diese Regel buchstaben- und nicht graphembezogen ist, demonstriert Schrift vs. *SCHrift. Auch der visuelle Umfang, d. h. das graphische Gewicht eines Wortes bemisst sich an der Zahl seiner Buchstaben. Diakritika können nicht selbständig, sondern nur durch eine vertikale additive Verknüpfung an einen Buchstaben vorkommen. Bsp.: <ä>, <é> Hilfszeichen. z. B. Interpunktionszeichen, können nicht oder nur sehr eingeschränkt miteinander kombiniert werden. Das gilt auch für das Leerzeichen (Spatium). Seine Funktion ist es, graphematische Worteinheiten zeilenintern anzuzeigen, und in dieser Funktion darf es nicht wiederholt werden. Ziffern sind funktional betrachtet Logogramme, die einen direkten Bedeutungsbezug herstellen (keine Abbildung der phonologischen Form). Distributionell lassen sie sich dadurch bestimmen, dass sie zwar miteinander, aber nur sehr eingeschränkt mit Buchstaben kombiniert werden (vgl. Günther 1988: 67). Buchstabenvarianten (Allographen) Hinsichtlich des Schriftsystems nicht-funktionale Buchstabenvarianten: 3 Gallmann fasst alle relevanten Struktureinheiten des deutschen Schriftsystems als Grapheme auf. Graphematik wird u. a. in Dürscheid (2006) entsprechend weit gefasst. In dieser Vorlesung werden nur diejenigen Einheiten als Grapheme bezeichnet, die aus Buchstaben bestehen. 6 Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 7 Druckschriftbuchstabe vs. Handschriftbuchstabe, Times vs. Arial u. a. Hinweis: solche Varianten können soziale, ästhetische o. ä. Funktionen übernehmen. Funktionale Buchstabenvarianten: Majuskel <B> vs. Minuskel <b>, recte vs. kursive Varianten <b> vs. <b> in wissenschaftlichen Texten. Kleinbuchstaben der normalen (oder: recte) Druckschrift sind die unmarkierten Varianten bzw. Grundvarianten (vgl. Gallmann 1985, Günther 1988). Von ihnen lässt sich der Gebrauch der anderen Varianten durch Regeln ableiten (vgl. Klein-/Großschreibung). Grapheme Grapheme können gemäß der Ableitbarkeitshypothese auf der Basis von Phonemen wie folgt definiert werden (Garbe 1985: 10): Phonembasierte Definition: Ein Graphem ist die Menge aller Schreibungen, die es für ein Phonem gibt. Nach Garbes Auffassung entspricht z. B. dem Phonem /a:/ unter Ausschluss von Fremdgraphien und Eigennamen das Graphem <A, a, Ah, ah, Aa, aa> das z. B. in As, das, Ahnung, Fahndung, Aar und Haar verwendet wird. In dieser Sicht ist ein Graphem ein graphischer Repräsentant eines Phonems bzw. ein Zeichen, dessen Bezeichnetes ein Phonem ist. Bedeutungsbezogene autonome Definition: Ein Graphem ist die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit des Schriftsystems (Günther 1988: 77). Die Parallele zur funktionalen Definition des Phonems: Phoneme sind die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten des mündlichen Sprachsystems. Grapheme lassen sich analog zu Phonemen mit Hilfe von Minimalpaaren ermitteln (nach Günther 1988: 82): <a> <b> <c> <d> <e> <f> <g> <h> <i> <j> <k> <l> <m> <n> <o> dann – denn bein – dein sank – sack dort – wort echt – acht fett – nett gast – hast heiß – weiß ist – ost jagt – sagt kann – wann leer – heer mehr – wehr nein – wein ohr – ihr <p> <q> <r> <s> <t> <u> <v> <w> <x> <y> <z> <ä> <ö> <ü> <ß> pest – nest quell – duell rein – sein sohn – hohn tier – bier um – am voll – toll wahr – jahr axt – amt yoga – toga zorn – dorn äst – ist hölle - halle üben - eben reißen - reisen Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 8 Ein Kritikpunkt an Günthers Graphemdefinition ist der fehlende Bezug zu den Schriftsystemregeln des Deutschen. Wenn man allein mit Minimalpaaren arbeitet, kommt man ggf. zu keinem klaren Ergebnis (vgl. Kohrt 1985: 441, Augst 1985: 113): ma/sch/en ma/ch/en ma/l/en mi/s/ch mi/l/ch mis/ch mis/t Ergebnis: es könnte sich bei <sch> um eine Folge von Graphemen handelt. Die Worttrennungsregel ist eine einschlägige graphembezogene Regel, die das Zerlegen von Graphemen in Buchstaben verbietet. Erst durch Hinzuziehen dieser Regel erkennt man, dass es sich bei <sch> und <ch> in den obigen Beispielen um unzerlegbare Einheiten des Schriftsystems handelt. Dass nicht jede Buchstabenfolge <sch> das besprochene Graphem repräsentiert (vgl. Häs-chen, Mäus-chen), tut nichts zur Sache. Es zeigt nur, dass das Deutsche neben dem Graphem <sch> auch die Graphemfolge <<s><ch>> hat. Autonome regelbasierte Definition: Ein Graphem ist ein aus Buchstaben gebildetes Segment, das in graphematischen Regeln als kleinste unteilbare relevante Einheit fungiert (Eisenberg 2005). Unzerlegbarkeit alleine reicht als Kriterium nicht aus. Die Doppelvokale in Haar, Moor oder Heer sind zwar nicht trennbar, aber ihre Nichttrennbarkeit lässt sich alternativ durch die Tatsache erklären, dass beide Vokalgrapheme im Nukleus der Schreibsilbe stehen. Im Zweifelsfall ist dem Grundsatz zu folgen, dass zusätzliche Grundeinheiten – in diesem Fall neben <a>, <o> und <e> die zusätzlichen Grapheme <aa>, <oo>, <ee> – nicht ohne triftigen Grund anzunehmen sind. Dass Grapheme lexikalisch distinktive (bedeutungsunterscheidende) Einheiten sind, folgt aus der allgemeinen Bestimmung, dass es sich um relevante Einheiten des Schriftsystems handelt. Die Definition fordert nicht, dass ein Graphem für alle graphematischen Regeln als kleinste Einheit fungiert. Es gibt Regeln, in denen Buchstaben relevante Einheiten sind, wie die oben erwähnte Regel der Anfangsgroßschreibung. Das native Grapheminventar von Eisenberg (2005, 2006: 306): 9 Vokalgrapheme: <a>, <e>, <i>, <o>, <u>, <ä>, <ö>, <ü>, <ie> 20 Konsonantengrapheme: <b>, <d>, <f>, <g>, <ch>, <h>, <j>, <k>, <l>, <m>, <n>, <p>, <qu>, <r>, <s>, <sch>, <ß>, <t>, <w>, <z> Keine produktiven Grapheme des Deutschen laut Eisenberg (2006: 306): <c, y, v, x>. Für <c> ist dies unumstritten. Grapheme anderer Schriftsysteme sind z. B. <ph>, <é> und <ai> wie in Telephon, Bouclé und Malaise. Ein gutes Kriterium für die Unterscheidung zwischen nicht-nativer Einheit und produktiver nativer Einheit: Falls es sich nicht um Eigennamen oder Fachtermini handelt, gibt es eine starke Tendenz, eine nicht-native Einheit durch eine produktive native Einheit zu ersetzen: Club, Klub Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 9 Bouclé, Buklee Graphie, Grafie Bouclé, Buklee Malaise, Maläse Yoghurt, Jogurt Literatur über die Schriftsystemvarianten und –einheiten: Augst, Gerhard. 1985. Dehnungs-h und Geminate in der graphematischen Struktur. In: Augst, Gerhard (Hg.). Graphematik und Orthographie. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 112-121. ●Bredel, Ursula. 2008. Die Interpunktion des Deutschen. Ein kompositionelles System zur Online-Steuerung des Lesens. Tübingen: Niemeyer. ●Eisenberg, Peter. 2005. Der Buchstabe und die Schriftstruktur des Wortes. DUDEN. Die Grammatik. 7., völlig neu erarb. und erw. Aufl. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim, 61-94. ●Eisenberg, Peter. 2006. Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3. durchges. Aufl. Stuttgart: Metzler. Kap. 8 Gallmann, Peter. 1985. Graphische Elemente der geschriebenen Sprache. Grundlagen für eine Reform der Orthographie. Tübingen: Niemeyer. Garbe, Burckhard. 1985. Graphemtheorien und mögliche Strukturmodelle zur Beschreibung der Orthographie. In: Augst, Gerhard (Hg.). Graphematik und Orthographie. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 1-21. Günther, Hartmut. 1988. Schriftliche Sprache: Strukturen geschriebener Wörter und ihre Verarbeitung beim Lesen. Tübingen: Narr. Kohrt, Manfred. 1985. Problemgeschichte des Graphembegriffs und des frühen Phonembegriffs. Tübingen: Niemeyer. Literatur über die Geschichte der Schrift und über andere Schriftsysteme Campbell, George L. 1997. Handbook of scripts and alphabets. London: Routledge. Coulmas, Florian. 1989. The writing systems of the world. Oxford: Blackwell. Coulmas, Florian. 2003. Writing systems: An introduction to their linguistic analysis. Cambridge: Cambridge University Press. Daniels, Peter / Bright, William (eds.) 1996. The world's writing systems. Oxford: Oxford University Press. ●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien. 3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 2 und Kap. 3. Günther, Hartmut/Ludwig, Otto (Hgg.). 1994/1996. Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. 1. Bd. 1994. 2. Bd. 1996. Berlin: de Gruyter. Haarmann, Harald. 1990. Universalgeschichte der Schrift. Frankfurt am Main: Campus. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 10 Phonographie: Traditionelle Graphem-Phonem-Beziehungen Phonologische Grundlagen Phonetische Symbole und traditionelle phonetisch-phonologische Merkmale der deutschen Konsonanten (vgl. Internationales Phonetisches Alphabet (IPA)) ● Artikulationsort (der passiven Artikulatoren) ● Artikulationsart ● Phonation / Stimmhaftigkeit stimmlos/ stimmhaft plosiv frikativ nasal labial dentalalveolar p/b t/d k/g Paar/Bar tu/du Kuss/Guss [ana] Anna f/v s/z / ç/ x/- fahr/ wahr weiße/ weise schön/ Gage ich/Jahr ach rau m n ŋ muss Nuss Enge lateral postalveolar palatal velar uvular glottal / laryngal h hau l lau vibrant r R rau rau Hinweis: Statt des Frikativs [] erscheint oft der Approximant "Halbvokal" [j] Traditionelle phonetisch-phonologische Merkmale der deutschen Vokale gespannt & lang / ungespannt & kurz geschlossen (hoch) halb geschlossen (mittel) offen (tief) vorn ungerundet i: / e: / / : hinten gerundet y: / ø: / œ ungerundet / gerundet u: / o: / : / a Das Drei-Stufen-Modell der Graphematik von Peter Eisenberg Eisenberg 2006, Kap. 8; übernommen in Fuhrhop (2005) und Dürscheid (2006) phonographische alphabetische) Schreibung: Korrespondenzen zu einer rein segmentalphonologischen Repräsentation, d.h. die Verschriftung phonologischer Information, die unabhängig von der Silbenstruktur ist. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 11 Schriftsysteme, deren Grundeinheiten sich auf Phoneme beziehen, nennt man Alphabetschriften. silbische Schreibung: Verschriftung silbenstruktureller phonologischer Information morphologische Schreibung: Verschriftung morphologischer Information, wie etwa Stamm vs. Affix, Stammkonstanz (vgl. sie hall--en, es hall--t, wir reis--en, er reis--t) Die auch als Prinzipien der Orthographie bekannten Generalisierungen sind keine konkreten Schriftsystemregeln, sondern allgemeinere und somit abstraktere Generalisierungen über solche Regeln. Sie fassen einzelne Schriftsystemregeln zusammen und ordnen sie nach den Teilbereichen des mündlichen Sprachsystems in phonologische, lexikalische, morphologische, syntaktische oder etwa semantische ein (wegweisend durch diesen Ebenenbezug ist Nerius / Scharnhorst (1980)). phonographische Schreibung lt. Eisenberg /haln/ <halen> /halt/ <halt> /st/ <reißt> /te:ln/ <schtelen> /te:lt/ <schtelt> silbische Schreibung lt. Eisenberg <hallen> <halt> morphologische Schreibung lt. Eisenberg <hallt> (vs. <halt>) <reist> <stehlen> <stehlt> Das phonologische Prinzip in traditionellen Formulierungen Starke, restriktive Variante: J e d e m Graphem / Buchstaben entspricht genau e i n Phonem / Laut und umgekehrt j e d e m Phonem / Laut genau e i n Graphem / Buchstabe. Schwächere, weniger restriktive Variante: Phonemen lassen sich r e g e l h a f t Grapheme zuordnen. Alltagssprachliche Variante: Schreib, wie du sprichst! Die Vorteile der Auffassung von Eisenberg: Eisenberg differenziert in Einklang mit der neueren Phonologieforschung zwischen der Ebene der Segmente und der Silbenstrukturebene. Eisenbergs Ansatz kann dadurch u. a. den Unterschied zwischen Schriftsystem und Normsystem sowie den Schriftspracherwerb angemessener erfassen. Phonographische Schreibung: Die Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln (GPKRegeln) für Konsonanten in Eisenberg (2006, Kap. 8): /p/→ <p> /pçst/ - <Post> /t/→ <t> /k/→ <k> /ton/ - <Ton> /kalt/ - <kalt> /b/→ <b> /d/→ <d> /bnt/ - <bunt> /dst/ - <Durst> Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 //→ <g> /nst/ - <Gunst> /kv/→ <qu> /f/→ <f> /kvl/ - <Qual> /fç/ - <Frosch> /s/→ <ß> /z/→ <s> //→ <sch> / /→ <ch> /v/→ <w> //→ <j> /h/ → <h> /m/→ <m> /n/→ <n> /!/→ <ng> /l/→ <l> //→ <r> /t"s/→ <z> /us/ - <Ruß> /zamt/ - <Samt> /ot/ - <Schrot> /ml / - <Milch> /vk/ - <Werk> /!/ - <jung> /hat/ - <hart> /ml / - <Milch> /napf/ - <Napf> /!/ - <jung> /l t/ - <Licht> / t/ - <Recht> /t"sat/ - <zart> 12 Eine GPK-Regel hat allgemein die Form einer sog. kontextfreien Ersetzungsregel, bei der eine Folge von Phonemen durch eine Folge von Graphemen ersetzt wird. Eindeutigkeit einer Abbildung liegt vor, wenn das betreffende Phonem nur einmal in einer GPK-Regel vorkommt. Das ist im o.g. System der Fall bis auf [k], [v], [t] und [s], die sowohl für sich als auch in den Phonemfolgen [kv] und [t"s] vorkommen. Eineindeutigkeit einer Abbildung liegt vor, wenn das betreffende Phonem und das betreffende Graphem nur einmal in einer GPK-Regel vorkommen. Dies ist bspw. für /p/→ <p> der Fall. Die GPK-Regeln für Vokale in Eisenberg (2006, Kap. 8) a. Gespannte Vokale /i/→ <ie> /kil/ - <Kiel> /y/→ <ü> /vyst/ - <wüst> /e/→ <e> /vem/ - <wem> /ø/→ <ö> /øn/ - <schön> /æ/→ <ä> /bæ/ - <Bär> //→ <a> /tn/ - <Tran> /o/→ <o> /ton/ - <Ton> /u/→ <u> /mut/ - <Mut> b. Ungespannte Vokale //→ <i> /ml / - <Milch> /'/→ <ü> /h'p/ - <hübsch> //→ <e> /vlt/ - <Welt> /œ/→ <ö> /kœln/ - <Köln> /a/→ <a> /kalt/ - <kalt> /)/→ <o> /f)st/ - <Frost> //→ <u> /t/ - <Gurt> Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 13 c. Reduktionsvokal //→ <e> /k / - <Kirche> d. Diphthonge /ai/→ <ei> /au/→ <au> /)i/→ <eu> /bain/ - <Bein> /t"saun/ - <Zaun> /h)i/ - <Heu> Nachteile des Modells von Eisenberg / Weiterentwicklungen 1) Eisenberg (2006: 310): „[es] wurde die Blickrichtung vom Lautlichen zum Geschriebenen gewählt. Diese Blickrichtung ist nicht die einzig mögliche und auch nicht in irgendeiner Weise natürlicher als die vom Geschriebenen auf das Lautliche.“ Vgl. vom Geschriebenen zum Lautlichen Primus (2000) und Neef (2005). Vgl. auch die Ausführungen zur Korrespondenz- vs. Ableitbarkeitshypothese weiter oben. 2) Phoneme werden als Bündel von phonologischen Merkmalen definiert. Auch Buchstaben lassen sich weiter zerlegen => merkmalsbasierte Graphematik (s. spätere Vorlesung). 3) Keine konsequente Trennung zwischen zugrundeliegender phonologischer Form (eigenständigen Phonemen) und oberflächenphonologischer Form (Phone, Allophone) Primus (2000): Nicht-distinktive (nicht bedeutungsunterscheidende) lautliche Kontraste werden graphematisch nicht gekennzeichnet. M.a.W.: regulär verschriftet werden die zugrundeliegenden phonologischen Formen bzw. Phoneme. Nicht gekennzeichnet werden somit folgende Kontraste, die nach Meinung der meisten Phonologen nicht bedeutungsunterscheidend sind. Von Eisenberg berücksichtigt: phonetisch die r-Varianten die Aspiration der glottale Verschluss der velare / dorsale Frikativ Graphematik [o:t] vs. [to:,] [the:] zugrundeliegend phonologisch // /te:/ [ana] [bax] /ana/ /ba / <Anna> <Bach> Graphematik [t:k] zugrundeliegend phonologisch /t:g/ [] -- <Kirche> [!] /n/ <jung> Von Eisenberg nicht berücksichtigt: phonetisch die Auslautverhärtung (lt. Eisenberg morphologisch) das Schwa ist kein eigenständiges Phonem (vgl. Becker 1996, Wiese 2000) der velare Nasal ist kein eigenständiges Phonem <rot>, <Tor> <Tee> <Tag> Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 (Wiese 2000) gespannt/ungespannt bzw. lang/kurz sind nicht segmentalphonologisch distinktiv (Becker 1996, Wiese 2000) z. B. [:] vs. [a] 14 <Tal> vs. <an> Eisenberg (2006: 309): Die Abbildung der betonbaren Vokale ist eindeutig, aber nicht eineindeutig, weil Paare von gespannten und ungespannten Vokalen auf ein Graphem abgebildet werden. Man kann durchaus erwägen, nur ein Vokalsystem anzusetzen und Gespanntheit/Ungespanntheit aus der Silbenstruktur abzuleiten. Die Phonem-GraphemBeziehungen für die betonbaren Vokale sind dann eineindeutig. Exkurs Auslautverhärtung: Alle Obstruenten (Plosive und Frikative) werden im Silbenreim (zweite Nukleusposition und Silbenkoda) stimmlos realisiert. Tag [k] Rad [t] gib [p] - Tages [g] Räder [d] geben [b] Löwchen [f] Röslein [s] - Löwe [v] Rose [z] Exkurs über die Ableitung des velaren Nasals durch phonologische Regeln: Bsp.: /lang/ zugrundeliegende Repräsentation (Lexikon) /laŋg/ Nasalassimilation [laŋ] g-Tilgung nach [ŋ], phonetische Form Begründung für die Phonemfolge /ng/ anstelle von /ŋ/: - der velare Nasal kommt nicht als Silben- oder Wortanfang vor - vor dem velaren Nasal erscheint kein langer Vokal - in einigen Dialekten ist /g/ hörbar, vgl. auch jung - Jugend - Ökonomie: ein Phonem weniger, eine GPK-Regel weniger Phonographie: Laut- und Schreibsilbe, Fußstruktur Die neuere Schriftsystemforschung trägt der in der neueren Phonologie entwickelten Annahme Rechnung, dass lautliche und somit auch graphematische Einheiten auf mehreren Ebenen hierarchisch strukturiert sind (suprasegmentale oder autosegmentale Phonologie). Die Verschriftung silbenstruktureller Information wird bereits bei Maas (1992) und Eisenberg (2005, 2006) berücksichtigt (erste Aufl. 1995 bzw. 1998; übernommen von Fuhrhop (2005) und Dürscheid (2006)). Beispiele für silbische Schreibungen bei Eisenberg (op. cit.): - die Schreibung <st> und <sp> anstelle von <scht> und <schp> im Anfangsrand einer Schreibsilbe wie in <stark> und <spröde> - das System der Schreibdiphthonge - die Schreibung von Silbengelenken (Schärfungsgraphien) wie in <hallen> und <Betten> - Dehnungsgraphien wie in <ge-hen> und <steh-len> Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 15 Nachteile der bisherigen silbischen Ansätze in der Graphematik: - keine graphematischen silbischen Strukturen (keine Baumdiagramme) - graphematische Füße werden vernachlässigt - Schwa und Gespanntheit werden weiterhin segmental aufgefasst (s. weiter oben) Hierarchische graphematische Strukturen am Bsp. des Wortes schrieben (Primus 2009): <ω> | F σ O N graphematisches Wort graphematischer Fuß σ O N | | G G G G G G | | | | | sch r i e b e | <gerundet> <kanonisch> graphematische Silben K | G | n Konstituenten der Silbe: O = Onset / Anfangsrand N = Nukleus, K = Koda, Endrand Grapheme Buchstaben Buchstabenmerkmale für <e> Laut- und Schrifteinheiten sind analog strukturiert: beide Systeme verfügen über die oben angegebenen, teilweise anders benannten Struktureinheiten und strukturieren diese auch weitgehend analog. Die kleinste funktionale Spracheinheit ist das Merkmal, d. h. die kleinste bedeutungsunterscheidende Komponente eines Lautes oder Buchstabens. Die oben angegebenen Merkmale für <e> werden später erläutert. Merkmale werden zu Buchstaben zusammengefügt. Bestimmte Buchstaben können alleine oder in bestimmten Verbindungen wie bspw. <sch> Grapheme bilden. Grapheme wiederum bilden Silbenkonstituenten, die zu ganzen Silben, sodann zu Füßen und schließlich zu Wörtern zusammengefügt werden. In der Phonologie wird eine solche hierarchische Anordnung prosodische Hierarchie genannt. Im Deutschen sind drei Silbentypen relevant: ● betonte Vollsilben (auch Tonsilben) ● unbetonte Vollsilben und ● Reduktionssilben.4 Vollsilben können den Wortakzent tragen, Reduktionssilben nicht. Da Wörter betonbar sein müssen, folgt, dass ein Wort aus mindestens einer Vollsilbe bestehen muss. D.h.: Reduktionssilben gibt es nur in mehrsilbigen Wörtern. Der Nukleus (Kern) jeder Vollsilbe hat zwei Positionen, die obligatorisch gefüllt werden müssen. Der Nukleus jeder Reduktionssilbe ist einfach (nicht verzweigend) und besteht nur aus V (für die Phonologie Wiese 2000, für die Graphematik Primus 2000, 2003, 2009). 4 Eine etwas andere Auffassung findet man in den Arbeiten von Utz Maas und Röber-Siekmeyer. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 16 Schärfungsschreibung (graphematische Konsonantenverdopplung) Duden-Rechtschreibung (2006) und manche Standardwerke (Nerius 2007): „Folgt im Wortstamm auf einen betonten kurzen Vokal nur ein einzelner Konsonant, so kennzeichnet man die Kürze des Vokals durch Verdopplung des Konsonantenbuchstabens“. Erfasst: Bett, Bett--en, Lamm, Lämm--er, hall--t, renn--st Nicht erfasst: Ärzt--innen, Kollege Ausnahmen: mit, an, ob (Funktionswörter), Bus, Limit, Anorak (Fremdwörter?), Papa Eisenberg (1997, 2005, 2006): Ist ein Konsonant ein Silbengelenk, so wird er durch Verdopplung des Buchstabens für den Konsonanten dargestellt. Gelenkkonsonanten sind eine Folge der silbenstrukturellen Besonderheit des Deutschen, dass ein betonter Kurzvokal nie in offener Silbe stehen kann. Lamm und Bett befolgen dieses Gesetz durch einen silbenschließenden Konsonanten, Betten und Lämmer durch einen Gelenkkonsonanten. Ein Gelenkkonsonant ist dadurch charakterisiert, dass er eine Silbe schließt und zugleich die nächste Silbe eröffnet, wie in (a) weiter unten gezeigt. Da Gelenkkonsonanten nur nach Kurzvokal vorkommen, zeigt die graphematische Konsonantenverdopplung auch Vokalkürze an, aber eben nur indirekt. Phonologisches Silbengelenk (a) graphematische Doppelkonsonanz (b): (a) (b) /ω/ σ O /l N <ω> σ O N K | | V C C V | | i t ə n / σ O V | < l i σ N O | C C | | t t N | V | e K n> Erfasst: Betten, Lämmer Nicht erfasst: Bett, Lamm, hall--t, renn—st (morphologisch erklärt) Nicht erfasst: Ärztinnen, Kollege Ausnahmen: Limit, Anorak, Kamera (Fremdwörter?), Mama Keine Ausnahmen: mit, an, ob Ein grundsätzlicher Vorteil der Analyse von Eisenberg liegt in der Tatsache, dass die Verdopplung des Konsonantengraphems unmittelbar aus den Eigenschaften des entsprechenden phonologischen Konsonanten abgeleitet wird. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 17 Dehnungszeichen (Primus 2000, 2003, 2009) Phonologische Grundlagen: Die silbenstrukturelle Repräsentation der Vokalopposition (Wiese 2000, Lenerz 2000), vgl. auch /litən/ weiter oben. σ σ O R │ N C C │ │ k n V C i O <Knie> R │ N C C │ │ k n V │ i R – Reim (Nukleus+Koda) C │ f <Kniff> Die Vokalquantität bzw. Gespanntheit ist weitgehend nur in Tonsilben bedeutungsunterscheidend (Becker 1996). Phonologischer Silbennukleus /l Graphematischer Silbennukleus N N V C V C i d/ <l N V C /z e / i N V C | | <l i e d> d> N V | <s e N C | e> V C <s e K C | h> Alternativ könnte man das Dehnungs-h wie die anderen Dehnungszeichen in der zweiten Nukleusposition platzieren. Der Unterschied: Das Dehnungs-h erscheint auch im Onset, vgl. <se-hen>, die anderen nicht. Graphematische silbenstrukturelle Beschränkungen (i) Vokalbuchstaben in Dehnungsfunktion besetzen die zweite Nukleusposition. (ii) Die phonologisch nicht-korrespondierenden (stummen) Buchstaben <a, e, o> und die phonologisch korrespondierenden Buchstaben <i, u> sind in der zweiten Nukleusposition komplementär verteilt. Die Form der stummen Buchstaben <e, a, o> weist ein gerundetes Grundelement auf (einen Halbkreis oder Spazierstock), während das Grundelement der phonographischen Buchstaben <i u> gerade ist (vgl. Primus 2003, 2006). Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 (a) S s H M N (b) 18 N V X │ │ e e i e a a r o o r │ <gerundet> /stumm/ V │ s e S a H e B ä X │ i i t e u u m e │ <nicht gerundet> /korrespondierend/ Diese Beschränkung schließt die Dehnungsgraphien <ii>, <uu> und <üü> aus. (iii) In der zweiten Nukleusposition sind komplexe Grapheme oder Buchstabenfolgen ausgeschlossen (Komplexitätsbeschränkung). Vier Datenbereiche a) –d) werden damit erklärt: a) Komplexe Grapheme können nicht als Schärfungszeichen verwendet werden: waschen lachen *waschschen *lachchen b) Umlautbuchstaben sind komplex (Buchstabe + Trema) und können nicht als Dehnungszeichen verwendet werden: Haar Boot *Häärchen *Böötchen Härchen Bötchen c) Die phonologische Umlautung von /u/ im Diphthong kann nicht verschriftet werden: Baum heute *Baüme *heüte Bäume heute Hinweis: phonologisch wird nur /u/ umgelautet / frontiert (vgl. Wiese 2000). d) <ß> ist aus der Ligatur von < ʃ> und < ʒ> entstanden, vgl. die Bezeichnung „Eszet“. Die Neuregelung behandelt es stillschweigend als komplexes Graphem: es kann nie einem Kurzvokal folgen. Alte Regelung: Neue Regelung: Fuß, Füße Fluß, Flüsse Fuß, Füße Fluss, Flüsse s, ß und ss Phonologie /s/ erscheint im Standarddeutschen in nativen Wörter nie im absoluten Silbenonset. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 Bsp.: Samt /zamt/, */samt/ Fremdwort: Set /st/ 19 Dialektal: Samt /samt/ Im Silbenreim (bzw. in allen C-Positionen nach der V-Nukleusposition) wird zugrunde liegendes /z/ als [s] realisiert (Auslautverhärtung). Bsp.: Haus zugrunde liegend /z/ wie in Hauses Graphematik GPK-Metaprinzip (Primus 2000): GPK-Regeln beziehen sich auf die zugrunde liegende phonologische Form (phonologisches Lexikonwissen). a) b) /s/→ <ß> /z/→ <s> /us/ - <Ruß> /zamt/ - <Samt> c) <ß> ist ein komplexes Graphem und kann daher nicht in der zweiten Nukleusposition erscheinen (Primus 2003). Eisenberg (2005, 2006) Eisenberg (2005, 2006) /ms/ → <muß> *<muß> <mus> <muss> nach GPK-Regel a) nach Beschränkung c) nach Metabeschränkung d) morphologische Schreibung wegen müssen /bs/ → <buß> *<buß> <bus> nach GPK-Regel a) nach Beschränkung c) nach Metabeschränkung d) d) Der Regelkonflikt zwischen GPK-Regeln und strukturellen graphematischen Beschränkungen für Sibilanten (s-Laute) wird zugunsten der Schreibung mit <s> gelöst (Metabeschränkung, d. h. Regelung des Beschränkungskonflikts; Quellenangabe: Primus, dieses Vorlesungsskript). Die Schreibung mit <s> wird als Default bezeichnet. e) //→ <sch> /ot/ - <Schrot> (Eisenberg 2006) f) Im Silbenonset kann <scht> und <schp> nicht realisiert werden (Eisenberg 2006). /te:ln/ → <schtelen> *<schtelen> <stelen> <stehlen> nach GPK-Regel e) nach Beschränkung f) nach Metabeschränkung d) Dehnungsgraphie – phonologisch nicht vorhersagbar Fazit: Die Schreibung <s> für /s/ oder // ist in Eisenbergs Ansatz nicht phonologisch determiniert. Der Vorteil der suprasegmentalen Graphematik: Sie ermöglicht die Formulierung einfacher graphematischer Regeln. Für die V-Position gelten mit Ausnahme der e-Laute bidirektionale (eineindeutige) Phonem-Graphem-Korrespondenzen (Eigennamen, Fremdwörter ausgenommen). Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 V | /a/ /i/ /u/ /o/ /y/ /ø/ <=> <=> <=> <=> <=> <=> V | <a> <i> <u> <o> <ü> <ö> 20 Hinweis: Der Buchstabe <y> ist nicht nativ! Hinweis: Die Vokallänge ist irrelevant in der V-Position. Das Ebenenprinzip: Suprasegmentale phonologische Kontraste werden graphematisch rein suprasegmental repräsentiert (keine spezifischen Buchstaben für Langvokal vs. Kurzvokal und für Schwa); segmentale phonologische Kontraste werden graphematisch segmental repräsentiert. Silbenstrukturen im Schriftspracherwerb ● Die Auswertung des Korpus von Thomé (1999) ergab, dass Schulkinder der Komplexitätsbeschränkung intuitiv folgen (vgl. Neef / Primus 2001). Thomé hat 62 Kunstwörter 79 Schülern der 3. und 4. Klasse diktieren lassen. Auf rund 110 phonographische Fehler – darunter <klieckig> oder <cklechich> für [klεkix] – kommt nur eine Verletzung der Komplexitätsbeschränkung vor, nämlich <plaüsen>. ● Die Untersuchung von Röber (2006) zum Schrifterwerb der i-Laute ergibt, dass die meisten Falschschreibungen der Verzicht auf Markierung mit <e> oder <h> (Stifel) oder überflüssige Markierungen (Apfelsiene) sind. Solche Fehler bestätigen die Hypothesen, - dass für die Schreibsilbe zwei distinkte Nukleuspositionen anzunehmen sind und - dass die zweite Position suprasegmentalen lautlichen Gegebenheiten vorbehalten und daher auf der Buchstabenebene phonographisch weniger systematisch ist als die erste Nukleusposition. ● Andere Untersuchungen zeigen die Relevanz graphematischer Silbenstrukturen bei der Gelenkschreibung (vgl. Röber-Siekmeyer / Pfisterer 1998) sowie bei Handbewegungen oder Tastenbetätigungsintervallen beim Schreiben (Nottbusch 2008). Fußstrukturen (Primus 2009) Der Fuß ist eine Einheit, die genau eine Tonsilbe und gegebenenfalls eine oder zwei unbetonte Silben enthält. Die Fußstruktur von schrieben und litten weiter oben ist ein Trochäus mit einer Tonsilbe und einer Reduktionssilbe. Dieser Fußtyp ist kanonisch für das Deutsche, dem sehr viele flexionsmorphologische Formen folgen (vgl. Wiese 2000, Eisenberg 2006). Mit Bezug auf die kanonische Fußstruktur können wir die Systematik der Verschriftung der Vokalquantität gut in den Griff bekommen. (I) Die Verschriftung der Vokalquantität in der Tonsilbe eines kanonischen Trochäus vorangehender Kurzvokal ↔ keine graphematische Langvokal → Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 graphematische Doppelkonsonanz (regulär, produktiv) Betten Lacke lottern Happen offen lassen Widder irren wirren Doppelkonsonanz ↔ vorangehender Langvokal (regulär, produktiv) be ten Lake Lote hapern Ofen lasen wider Iren Viren 21 Dehnungszeichen (irregulär, unproduktiv) Beeten doofen wieder ihren vieren In der zweiten Zeile erscheinen die entscheidenden beiden Silbenstrukturpositionen umrahmt: in allen drei Fällen steht ein <e> in der ersten Nukleusposition. Hier wird die Vokalqualität eindeutig fixiert. In der zweiten Nukleusposition erscheint in Betten ein stummer Gelenkanzeiger und in Beeten ein stummer Dehnungsbuchstabe. In beten wird <e> mit beiden Nukleuspositionen assoziiert und zeigt damit Vokallänge an, was oberflächlich betrachtet nicht zu erkennen ist. Warum verzichtet man so häufig auf die Verschriftung der Vokallänge? Warum ist sie weitgehend unproduktiv? Eine Antwort ergibt sich, wenn man Gelenkschreibungen im kanonischen Trochäus als Referenz heranzieht (erste Spalte). Um kanonische Trochäen zu erhalten, ist meistens eine Flexionsform vonnöten (vgl. Eisenbergs Begriff der Explizitform (2006)). Beachten muss man lediglich, dass Gelenkschreibungen bei komplexen Graphemen nicht möglich sind, weil in der zweiten Nukleusposition keine komplexen Grapheme stehen können: *raschscheln, *lachchen, *laßßen. Dies bedeutet, dass bei komplexen intervokalischen Graphemen die Vokalquantität nicht eindeutig erkennbar ist, vgl. duschen mit Lang- oder Kurzvokal und huschen mit Kurzvokal. Ansonsten ist die Verschriftung von Gelenkbildung und mithin Vokalkürze durch eine graphematische Doppelkonsonanz im kanonischen Trochäus regulär und produktiv (vgl. jobben, joggen). Erst die Regelhaftigkeit der Gelenkschreibung bedingt die Regelhaftigkeit ihrer Absenz (zweite Spalte): Wenn sie nicht vorliegt, wie in beten, kann man im kanonischen Trochäus auf Vokallänge schließen. Dies gilt per logischem Gesetz: „Wenn ein Silbengelenk und als Folge davon ein Kurzvokal vorliegt, dann wird das Graphem, das dem Gelenkkonsonanten entspricht, verdoppelt“ (erste Spalte). Dies ist logisch äquivalent mit „Wenn kein doppelter Konsonantbuchstabe vorliegt, dann ist dieser Konsonant kein Gelenk und der vorangehende Vokal nicht kurz“ (zweite Spalte). Eine explizite Dehnungsgraphie (dritte Spalte) ist folglich beim kanonischen Trochäus nicht nötig. Sie ist in der Tat unproduktiv, auch wenn für den Langvokal /i:/ im nativen Wortschatz <ie> wesentlich häufiger vorkommt als <i> (vgl. Röber 2006). Die nächste Synopse in (II) zeigt, dass sich die Verhältnisse in einer nicht-kanonischen Fußstrukturposition ändern. D.h.: die Tonsilbe ist nicht wortinital wie in Kommode, blamiert und Allee oder der Fuß endet nicht mit einer Reduktionssilbe wie in Limit und Koma. In solchen Fällen ist lediglich die Dehnungsgraphie mit <ee> und <ie> bei einigen betonten Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 22 Suffixen regulär und produktiv (dritte Spalte). Der einfache Pfeil in den ersten beiden Spalten gibt an, in welcher Richtung Irregularität herrscht. (II) Die Verschriftung der Vokalquantität in einer nicht-kanonischen Fußstrukturposition vorangehender Kurzvokal keine graphematische → graphematische Doppelkonsonanz → Doppelkonsonanz vorangehender Langvokal regulär: Kommode irregulär: Limit, blamiert regulär: Lima, Koma irregulär: Limit, blamiert Langvokal → Dehnungszeichen; regulär und produktiv in einigen betonten Suffixen: Allee, Armee, Buklee Magie, Chemie radieren, dosieren Fazit: Die graphematische Doppelkonsonanz zeigt im kanonischen Trochäus regelhaft phonologische Gelenke an; ihre Absenz signalisiert im kanonischen Trochäus einen Langvokal. Dehnungszeichen sind in der Tonsilbe des kanonischen Trochäus mithin unnötig und deshalb unproduktiv. Die Verhältnisse kehren sich in nicht-kanonischen Fußstrukturen um. Die graphematische Doppelkonsonanz ist hier unsystematisch, womit aus ihrer Absenz auch keine Vokallänge abgeleitet werden kann. Dehnungszeichen sind hingegen in nicht-kanonischen Fußstrukturen produktiv. Damit zeigen sie nicht nur Vokallänge an, sondern auch die Tatsache, dass eine nicht-kanonische Fußstruktur vorliegt, nämlich dass eine in dieser Position unerwartete Tonsilbe vorliegt. Zusammenfassung. Eine hierarchische Strukturierung oberhalb der Phonem- und Buchstabenebene scheint prima facie unnötig komplex. Nichtsdestotrotz wird diese Komplexität durch mehrere große Vorteile wettgemacht. Zum einen erlauben die verschiedenen Struktureinheiten einen systematischeren Zugriff auf phonographische Regularitäten als herkömmliche Ansätze, die mehr Unregelmäßigkeiten in Kauf nehmen müssen. Zum anderen können wir größere Zusammenhänge besser verstehen. Literatur zur Phonologie Becker, Thomas. 1996. Das Vokalsystem der deutschen Standardsprache. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Hall, Tracy A. 2000. Phonologie. Eine Einführung. Berlin: de Gruyter. Lenerz, Jürgen. 2000. Zur sogenannten Vokalopposition im Deutschen. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 19, 167-209. Ramers, Karl-Heinz. 2001. Einführung in die Phonologie. 2. Aufl. (1. Aufl. 1998). München. Wiese, Richard. 2000. The phonology of German. 1st ed. 1996. 2nd rev. ed. 2000. Oxford: Oxford University Press. Literatur zur Graphematik (Lautebene und Silbenebene) Duden. 2006. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag. Kommentar: Die erste Auflage mit der Reform der Reform. ●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien. 3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 4.3. ●Eisenberg, Peter. 1997. Die besondere Kennzeichnung der kurzen Vokale - Vergleich und Bewertung der Neuregelung. In: Augst, Gerhard et al. (Hgg.). Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen: Niemeyer, 323-336. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 23 ●Eisenberg, Peter. 2005. Der Buchstabe und die Schriftstruktur des Wortes. In: DUDEN. Die Grammatik. 7., völlig neu erarb. und erw. Aufl. hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim, 61-94. ●Eisenberg, Peter. 2006. Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3. durchges. Aufl. Stuttgart: Metzler. Kap. 8. ●Fuhrhop, Nanna. 2005. Orthografie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Kap. 2.-3. ●Maas, Utz. 1992. Grundzüge der deutschen Orthographie. Tübingen: Niemeyer, Kap. 1827. ●Neef, Martin / Primus, Beatrice. 2001. Stumme Zeugen der Autonomie - Eine Replik auf Ossner. Linguistische Berichte 187, 353-378. Neef, Martin. 2005. Die Graphematik des Deutschen. Tübingen: Niemeyer. Nerius, Dieter / Scharnhorst, Jürgen. 1980. Grundpositionen der Orthographie. In: Nerius, Dieter / Scharnhorst, Jürgen. (Hgg.). Theoretische Probleme der deutschen Orthographie. Berlin: Akademie Verlag, 11–74. ●Nerius, Dieter. 2007. Deutsche Orthographie. 4. neu bearbeitete Auflage. Hildesheim: Olms. Kap. 4 Nottbusch, Guido. 2008. Handschriftliche Sprachproduktion. 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Linguistische Berichte 179, 350-360. Röber, Christa. 2006. Die Systematik der Orthographie als Basis von Analysen von Kinderschreibungen. Eine empirische Untersuchung zur Schreibung der i-Laute. In: Bredel, Ursula / Günther, Hartmut (Hgg.). Orthographietheorie und Rechtschreibunterricht. Tübingen: Niemeyer, 71-102. Röber-Siekmeyer, Christa / Pfisterer, Katja. 1998. Silbenorientiertes Arbeiten mit einem leseschwachen Zweitklässler. Begründung und Beschreibung einer nicht buchstabenorientierten Unterrichtsfolge zum Lesenlernen. In: Weingarten, Rüdiger / Günther, Hartmut (Hgg.). Schriftspracherwerb. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 36–61. Thomé, Günther. 1999. Orthographieerwerb. Qualitative Fehleranalysen zum Aufbau der orthographischen Kompetenz. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Die Schreibung der Fremdwörter ●Eisenberg, Peter. 2006. Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3. durchges. Aufl. Stuttgart: Metzler. Kap. 8.6. ●Fuhrhop, Nanna. 2005. Orthografie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Kap. 5. ●Maas, Utz. 1992. Grundzüge der deutschen Orthographie. Tübingen: Niemeyer, Kap. 27. Neef, Martin. 2005. Die Graphematik des Deutschen. Tübingen: Niemeyer. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 24 Phonographie: Laut- und Buchstabenmerkmale Primus (2004, 2006): Unsere Schriftzeichen sind in kleinere Basiselemente zerlegbar. Deren Eigenschaften bestimmen die sprachenübergreifende Funktion eines Schriftzeichens und klassifizieren Schriftzeichen zu größeren Form-Funktionsgruppen. Die Zerlegung der Buchstaben ermöglicht die Formulierung von phonographischen Korrespendenzregeln, die ganze Klassen von Buchstaben und Lauten zusammenfassen. Buchstabenstruktur (nur Buchstabenkörper ohne Diakritikum) Coda Kopf Coda Kopf Kriterien für Buchstabenköpfe: obligatorisch, vgl. <i> vertikal bevorzugt länger als eine Coda initiale Position im kanonischen Fall I. Graphematische Kopfrundung und artikulatorische Öffnung am Bsp. der Vokalbuchstaben a. <nicht gerundet > ↔ /geschlossen/ <i>-/ɪ/, <u>-/υ/ b. <gerundet> ↔ /nicht geschlossen/ <e>-/ε/, <o>-/ɔ/, <a>-/a/ Ein Buchstabe mit einem geraden Kopf, wie <i, u>, korrespondiert mit einem geschlossenen Laut, d. h. /ɪ/ oder /υ/. Ein Buchstabe mit einem gerundetem Kopf, wie <a, e, o>, entspricht einem nicht geschlossenen, d. h. einem mit größerer Mundöffnung produzierten Laut, wie /a, ε, ɔ/. II. Kanonische Ausrichtung und Artikulationsort a. <kanonisch> ↔ /vorne/ b. < nicht kanonisch> ↔ /nicht vorne/ <i>-/ɪ/, <e>-/ε/ <u>-/υ/, <o>-/ɔ/, <a>-/a/ Die kanonischen Buchstabenformen fügen sich der rechtsläufigen Zeilenrichtung und bilden möglichst geschlossene geometrische Figuren wie bei <i> und <e>. M.a.W.: der Kopf darf nicht rechts stehen und darf sich nicht nach links öffnen. Die Coda muss sich zum Kopf wenden und somit eine geschlossene geometrische Figur bilden. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 25 Bei Buchstaben, denen weiter hinten artikulierte Laute entsprechen, sind Kopf und Coda nicht kanonisch ausgerichtet: der Kopf zeigt nach links, hat eine linksseitige Coda, oder eine Coda, die sich vom Kopf abwendet, vgl. <j, k, g, a, u>. III setzt das Buchstaben-Phonem-Paar <a>-/a/ von <e>-/ε/ und <o>-/ɔ/ ab: III. < oben offen, d.h. nach oben nicht verbunden> signalisiert höhere Sonorität IV. Das Trema ersetzt den Lautwert /nicht vorne/ durch /vorne/ bei nicht-kanonisch ausgerichteten Vokalbuchstaben. IV ist unabängig von der phonologischen Umlautung wie in Hand-Hände: Bär, Käse, Pädagoge, Büro, Ödem /vorderer Laut/ <kanonische Ausrichtung> /geschlossener Laut/ <gerade Kopflinie> i /nicht-geschlossener Laut/ <gerundete Kopflinie> /nicht-vorderer Laut/ <nicht-kanonische Ausrichtung> ü u e, ö ä o a /offenerer/ Laut als /ε/ und /o/ <oben offen> gegenüber <e> und <o> Graphematische Längenhierarchie (Fuhrhop / Buchmann 2009) langer Kopf schräger Kopf kurzer gerader Kopf kurzer gebogener Kopf nach oben verbunden b, p, q, d, v, w, x, z, k, h, t, ß, j, f gebogene Koda m, n nach oben nicht verbunden nicht gebogene Koda gebogene Koda r, l i u a, e, o L Ä N G E Autonome Definition Konsonantenbuchstabe (nicht in Fuhrhop / Buchmann 2009): ein Buchstabe, der die Position 1-4 auf der Längenhierarchie besetzt, d. h. ein Buchstabe, dessen Kopf lang, schräg oder kurz, gerade und nach oben verbunden ist. Autonome Definition Vokalbuchstabe (nicht in Fuhrhop / Buchmann 2009): ein Buchstabe, der die Position 5-7 auf der Längenhierarchie besetzt, d.h. ein Buchstabe, dessen Kopf kurz und gebogen oder kurz, gerade und nach oben nicht verbunden ist. Vorteile einer merkmalsbasierten Graphematik Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 26 ● Ökonomie: weniger phonographische Korrespondenzregeln Wenn man Vokalquantität und Schwa als silbenbasierte Erscheinungen außen vor lässt, so stellt Eisenberg für die 8 gespannten Vokale 8 einzelne phonographische Korrespondenzregeln auf (vgl. weiter oben). Primus (2009) kommt mit 6 Korrespondenzen aus: s. oben Ia, Ib, IIa, IIb, III und IV. Alle außer der Tremaregel gelten auch für Konsonantenbuchstaben, was in dieser Vorlesung aus Zeitgründen nicht demonstriert werden kann (vgl. Primus 2004, 2006). Wenn man Vokale und Konsonanten zusammenfasst, ist das merkmalsbasierte Modell sehr viel sparsamer als herkömmliche Analysen. Dieser Vorteil ergibt sich aus der klassifizierenden Funktion von Merkmalen (vgl. auch die Rolle der Merkmale in der Phonologie). ● Erklärungsadäquatheit: eine merkmalsbasierte Graphematik stellt größere Zusammenhänge her und erfasst mehr Fakten, z. B.: a) Das graphematische Kopfmerkmal <+ gerundet> signalisiert in der zweiten Nukleusposition die Dehnungsfunktion. Die stummen Buchstaben <e, a, o> haben einen gerundeten Kopf (einen Halbkreis oder Spazierstock), während der Kopf der phonographischen Buchstaben <i u> gerade ist (vgl. weiter oben). b) Man kann Vokal- und Konsonantenbuchstaben autonom definieren (s. oben). Graphematisches Nukleusgesetz: Im Nukleus jeder Schreibsilbe muss ein Vokalbuchstabe stehen (Primus 2003). Dies erklärt u. a., warum <Dirndl> oder <Jandl> graphematisch einsilbig sind, d. h. am Zeilenende nicht getrennt werden können. c) Graphematische Merkmale zeigen die graphematische Silbenstuktur an (vgl. Längenhierarchie). <Dirndl> <können> <Ferien> graphematisch einsilbig (aber phonologisch zweisilbig), hat genau einen Buchstaben, dessen Kopf <kurz , gerundet> oder <kurz, gerade und nach oben nicht verbunden> ist. graphematisch zweisilbig, hat genau zwei Buchstaben, deren Kopf <kurz , gerundet> oder <kurz, gerade und nach oben nicht verbunden> ist. graphematisch dreisilbig (aber phonologisch zweisilbig), hat genau drei Buchstaben, deren Kopf <kurz , gerundet> oder <kurz, gerade und nach oben nicht verbunden> ist. d) Der phonologische Wert eines Buchstabens ergibt sich in vielen Fällen unmittelbar aus der Form der Buchstabenteile. So ist bspw. bei der Artikulation offener Vokale die Lippenstellung und Mundöffnung sichtbar größer, bögiger als bei der Artikulation der geschlossenen Laute. Diesen Unterschied geben gerundete vs. gerade Kopflinien unmittelbar, d. h. ikonisch-bildhaft, wieder. Vordere Laute sind einfacher zu artikulieren und wahrzunehmen als hintere Laute und dementsprechend sind Buchstabenformen für vordere Laute einfacher („kanonischer“) als für hintere Laute, vgl. <i, e> mit <u, o, a>. e) Ein merkmalsbasiertes graphematisches Modell greift auf systematische phonologische Lautkontraste und mithin auf Lautklassen zu und trägt damit zur Stärkung des phonologischen Bewusstseins, einer wichtigen Voraussetzung für die Schrifteignung, unmittelbar bei. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 27 Literatur – Buchstabenmerkmale Althaus, Hans P. 1980. Graphetik. In: Althaus, Hans P./Henne, Helmut/Wiegand, Ernst (Hgg.). Lexikon der germanistischen Linguistik (LGL). 2. neub. Aufl. Tübingen: Niemeyer, 138-142. Berkemeier, Anne. 1998. Kontrastive Analyse von Schriftsysteminventaren. In: Hasert, Jürgen / Ossner, Jakob (Hg.). Schriften schreiben. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST) 56, 48-74. Bredel, Ursula. 2008. Die Interpunktion im gegenwärtigen Deutsch. Ein kompositionelles System zur Online-Steuerung des Lesens. Tübingen: Niemeyer. Brekle, Herbert E. 1994. Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrer historischen Entwicklung. In: Günther, Hartmut/Ludwig, Otto (Hgg.). Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. 1. Bd. Berlin: de Gruyter, 171-204. Fuhrhop, Nanna / Buchmann, Franziska. 2009. Die Längenhierarchie: Zum Bau der graphematischen Silbe. Linguistische Berichte 218, 127-155. Fuhrhop, Nanna / Buchmann, Franziska / Barghorn, Rebecca. 2009. The Letter Length Hierarchy: Evidence from German and English. Erscheint in Written Language and Literacy. ●Primus, Beatrice. 2009. Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems. Erscheint in: Bredel, Ursula / Hinney, Gabriele / Müller, Astrid (Hgg.). Rechtschreib- und Schriftkompetenz: Graphematik, Didaktik, Empirie. Tübingen: Niemeyer. ●Primus, Beatrice. 2003. Zum Silbenbegriff in der Schrift-, Laut- und Gebärdensprache Versuch einer mediumunabhängigen Fundierung. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 22, 3-55. Primus, Beatrice. 2004. A featural analysis of the Modern Roman Alphabet. In: Written Language and Literacy 7.2, 235-274. ●Primus, Beatrice. 2006. Buchstabenkomponenten und ihre Grammatik. In: Bredel, Ursula / Günther, Hartmut (Hgg.). Orthographietheorie und Rechtschreibunterricht. Tübingen: Niemeyer, 5-43. Primus, Beatrice. 2007. Die Buchstaben unseres Alphabets: Form – Entwicklung – Funktion. In: Boschung, Dieter / Hellenkämper, Hansgerd (Hgg.). Kosmos der Zeichen - Schriftbild und Bildformel in Antike und Mittelalter. Wiesbaden: Reichert, 45-65. Watt, William C. 1980. What is the proper characterization of the alphabet? Part 2: Composition. In: Ars Semeiotica 3, 3-46. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 28 Morpheme im Paradigma: morphologisch bedingte Schreibungen Das graphematische Prinzip der Morphemkonstanz (auch Schema- oder Stammkonstanz): Die Schreibung der Wortstämme und Affixe bleibt in der Flexion, in Zusammensetzungen und Ableitungen weitgehend konstant (Internationaler Arbeitskreis 1995: 16). Das allgemeine Prinzip der Paradigmenuniformität: Die Form eines Morphems (z. B. Stammmorphems) ist in einem morphologischen Paradigma (z. B. Flexionsparadigma, Wortfamilie) konstant. Anders formuliert: Vermeide Allomorphie. Noch allgemeiner: Einer Funktion entspricht eine Form. Paradigmatischer (analogischer) Ausgleich in der Sprachgeschichte: Präteritalausgleich Stamm Affix Mhd. Präteritum 1.Pers. Sg. half 1. Pers. Pl. hulfen Nhd. Präteritum 1.Pers. Sg. half 1. Pers. Pl. halfen <ä>-Schreibung für // Das Drei-Stufen-Modell von Peter Eisenberg (Wiederholung): phonographische Schreibung /haln/ <halen> /halt/ <halt> /st/ <geste> silbische Schreibung morphologische Schreibung <hallen> <halt> -- <hallt> wegen <hallen> <gäste> wegen <gast> Eisenbergs (2006) einzige GPK-Regel für // //→ <e> /vlt/ - <Welt> Die phonographische <ä>-Schreibung betrifft nur den gespannten Laut /æ/ bzw. /:/ /æ/→ <ä> /bæ/ - <Bär> Die morphologische <ä>-Schreibung für // im „Internationaler Arbeitskreis“ (1995: 23): Für kurzes [ε] schreibt man ä statt e, wenn es eine Grundform mit a gibt. [...] In wenigen Wörtern schreibt man ausnahmsweise ä. Dies betrifft Wörter wie: ätzen, dämmern, Geländer, Lärm, März, Schärpe. [...] In wenigen Wörtern schreibt man ausnahmsweise e. Dies betrifft Wörter wie: Eltern (trotz alt); schwenken - schwanken." Methodische Kritik am Internationalen Arbeitskreis: Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 29 Nur die zweite Gruppe von Beispielen (Eltern etc.) falsifiziert die wenn-dann-Aussage und enthält echte Ausnahmen. Die erste Gruppe von Beispielen (ätzen etc.) wird von der Regel gar nicht erfasst. Somit handelt es sich nicht um Ausnahmen oder Gegenbeispiele im strikten Sinn. Es handelt sich um nicht erklärte / erfasste / geregelte Fälle. Diese Beispiele wären Ausnahmen nur unter der Interpretation der Regel als genau-dann-wenn-Aussage. Verbflexion, Person Ahd. waskan Singular, Präsens (9. Jh., Otfrid) Nhd. waschen Singular, Präsens Nominalflexion, Numerus Ahd. Nhd. Stamm 1. Pers. 2. Pers. 3. Pers. 1. Pers. 2. Pers. 3. Pers. waskwaskwaskwaschwäschwäsch- Singular Plural Singular Plural Stamm gast gestgast gäst- Bindevokal +Affix u i-st i-t e st t Affix ie Hinweis B. Primus: Die graphematische Stammallomorphie kann man bei morphologischen <ä>-Schreibungen nur dann als beseitigt einstufen, wenn man <ä> als komplexes Graphem bestehend aus <a> + Trema analysiert. M.a.W.: die graphematische Stammkonstanz betrifft den Buchstaben <a>, nicht das Graphem <ä>. Das Stammkonstanzprinzip ist bei Geilfuß-Wolfgang (2007) buchstabenbezogen: Die Buchstaben, aus denen die geschriebenen Stämme eines [morphologischen] Paradigmas bestehen, sollen identisch sein. Neuregelung 1996f.: Neue ä-Schreibungen aufgrund der angegebenen Wortverwandten Obligatorisch: behände (Hand), belämmert (*Lamm), Bändel (Band), ein-/verbläuen (*blau), Gämse (Gams), Gräuel (grauen), Quäntchen (*Quantum), Schlägel (schlagen), schnäuzen (Schnauze), Ständel (Stand), Stängel (Stange), überschwänglich (Überschwang) * falsch angesetzter Wortverwandter ("Volksetymologie") Fakultativ: aufwändig - aufwendig (Aufwand/aufwenden), Schänke - Schenke (Schank/schenken) Rückgängig, obligatorisch: Wechte (kein Wortverwandter mit <a>) Morphologisch motivierte Verdopplung von Konsonantenbuchstaben Phonologisch motivierte Schärfungsschreibung – zwei Auffassungen (Wiederholung): 1. Duden-Rechtschreibung (2006) und manche Standardwerke (Nerius 2007): „Folgt im Wortstamm auf einen betonten kurzen Vokal nur ein einzelner Konsonant, so kennzeichnet man die Kürze des Vokals durch Verdopplung des Konsonantenbuchstabens“. Erfasst: Bett, Bett--en, Lamm, Lämm--er, hall--t, renn--st Nicht erfasst: Ärzt--innen, Kollege Ausnahmen: mit, an, ob (Funktionswörter), Bus, Limit, Anorak, Kamera, Papa Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 30 2. Eisenberg (2006): Ist ein Konsonant ein Silbengelenk, so wird er durch Verdopplung des Buchstabens für den Konsonanten dargestellt. Erfasst: Betten, Lämmer, Modelle Erfasst, keine Ausnahmen: mit, an, ob, in, Bus Nicht erfasst: Bett, Lamm, Modell, hall--t, renn--st (morphologisch erklärt) Nicht erfasst: Ärztinnen, Kollege Ausnahmen: Limit, Anorak, Kamera, Mama Ein grundsätzlicher Vorteil der Analyse von Eisenberg liegt darin, dass die Verdopplung des Konsonantengraphems unmittelbar aus den Eigenschaften des entsprechenden phonologischen Konsonanten abgeleitet wird. Primus (2009): Silbengelenke in einem Trochäus mit Reduktionssilbe (in der kanonischen Fußstruktur des Deutschen) werden ausnahmslos durch graphematische Doppelkonsonanz verschriftet. kein Trochäus mit Reduktionssilbe: Limit, Anorak, Kamera, Mama Trochäus mit Reduktionssilbe, vgl. die Fußstruktur von [Ärzt][innen] Zur Fußstruktur des Deutschen, vgl. Wiese 2000. Morphologisch motivierte Verdopplung von Konsonantenbuchstaben 1. Duden-Rechtschreibung in Fällen, in denen der vorangehende Kurzvokal im Wortstamm nicht betont ist: frittieren (Frittate), nummerieren (Nummer), platzieren (Platz) 2. Eisenberg (viel mehr Fälle): Bett, Lamm, Modell, hall--t, renn--st Der konzeptuelle Vorteil des mehrstufigen Ansatzes von Eisenberg: Paradigmatischer Ausgleich schafft Regularität, ist selbst jedoch nicht vollständig regulär / vorhersagbar. muss – müssen, robbt – robben; ABER: Job – jobben, Bus – Busse, Jet - jetten Erst nach der Neuregelung 1996: frittieren (Frittate), Karamell (Karamelle), Mopp (moppen), nummerieren (Nummer), platzieren (Platz), Stepp (steppen), Stopp (stoppen), Tipp (tippen), Tollpatsch (toll) Die Auslautverhärtung – zwei Auffassungen Traditionell (u.a. Eisenberg 2007, Fuhrhop 2005, Dürscheid 2006): morphologisch bedingt phonographische Schreibung [t.k] <tak> /t./ <tage> silbische Schreibung morphologische Schreibung <tag> wegen <tage> Kritik: [t.k] ist nicht die (zugrundeliegende) phonologische Form, sondern die phonetische Form (s. eckige Klammern), vgl. Wiese 2000. Primus (2000): Nicht-distinktive (nicht bedeutungsunterscheidende) lautliche Kontraste werden graphematisch nicht gekennzeichnet. M.a.W.: regulär verschriftet werden die zugrundeliegenden phonologischen Formen bzw. Phoneme. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 phonetisch zugrundeliegend phonologisch /t./ [t.k] 31 graphematisch <Tag> Exkurs Auslautverhärtung (Wiederholung): Alle Obstruenten (Plosive und Frikative) werden im Silbenreim (zweite Nukleusposition und Silbenkoda) stimmlos realisiert. Tag [k] Rad [t] gib [p] - Tages [g] Räder [d] geben [b] Löwchen [f] Röslein [s] - Löwe [v] Rose [z] Andere morphologische Schreibungen (Auswahl) a) Die Suffixe -zial und -ziell Neuregelung, fakultativ neben -tial/tiell: differenzial (Differenz), existenziell (Existenz), potenzial (Potenz), sequenziell (Sequenz) b) Suffix –ig: König (Könige), beliebig (beliebige) Primus: Die Schreibungen von –ig kann man phonographisch erklären, da die zugrundeliegende phonologische Form des Suffixes auf /g/ endet (vgl. die norddt. Aussprache von Tag, g-Frikativierung bei Wiese 2000). c) Dehnungs-h nach <ie>-Dehnungsgraphie: stiehlt, befiehlt, empfiehlt (s. Eisenberg 2006), da ein Dehnungs-h hier überflüssig ist. Methodische / konzeptuelle Kritik (Geilfuß-Wolfgang 2007): Der Begriff der Grundform (Duden-Rechtschreibung alle neueren Auflagen, Nerius 2004, 2007, Internationaler Arbeitskreis 1995 u.a.), Explizitform (Eisenberg 2006) oder Stützform (Maas 1992) ist überflüssig. Die Grundform ist der nicht-flektierte Stamm: Bett, Lamm, Modell, hall, renn Die Explizitform ist bei Eisenberg der flektierte Stamm (zweisilbig mit Silbengelenk): Betten, Lämmer, Modelle Man kann auf diese Begriffe verzichten, wenn man die Interaktion zwischen phonologischer und morphologischer Schreibung genauer als bei Eisenberg, DudenRechtschreibung, Maas u. a. erfasst (Geilfuß-Wolfgang 2007 im Rahmen der Optimalitätstheorie): Regelhierarchie I /bt/, /btn/ Bett, Betten, Bettes Bet, Beten, Betes Bet, Betten, Bettes Schärfungsschreibung GPK * *** Kommentar: <tt> in Bett kein Silbengelenk Kommentar: drei stumme <t> graphematische Stammkonstanz ** ** * Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 Regelhierarchie II /bt/, /btn/ Bett, Betten, Bettes Bet, Beten, Betes Bet, Betten, Bettes graphematische Stammkonstanz 32 Schärfungsschreibung GPK * ** *** * ** Regelinteraktion (Metaregel): Im deutschen Schriftsystem sind morphologische Schreibregeln höherrangig als phonographische Korrespondenzregeln. Allgemeineres Regelinteraktionsprinzip: Im deutschen Schriftsystem sind innergraphematische Schreibregeln höherrangig als phonographische Korrespondenzregeln. Methodische Kritik an Eisenberg (2006) und traditionellen Graphematikmodellen: Die Regelinteraktion bzw. Ebenen-Interaktion wird nicht genauer erklärt. Literatur – Morphemkonstanz und morphologisch, paradigmatisch motivierte Schreibungen Duden. 2006. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag. ●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien. 3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 4.3. ●Eisenberg, Peter. 2006. Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3. durchges. Aufl. Stuttgart: Metzler. Kap. 8. ●Fuhrhop, Nanna. 2005. Orthografie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Kap. 2.-3. Geilfuß-Wolfgang, Jochen. 2007. Stammkonstanz ohne Stützformen. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 26, 133-154. Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.). 1995. Deutsche Rechtschreibung. Vorlage für die amtliche Regelung. Tübingen: Narr. ●Maas, Utz. 1992. Grundzüge der deutschen Orthographie. Tübingen: Niemeyer, Kap. 1827. Nerius, Dieter. 2004. Das morphematische Prinzip im Rahmen der Orthographietheorie. Sprachwissenschaft 29, 25-32. ●Nerius, Dieter. 2007. Deutsche Orthographie. 4. neu bearbeitete Auflage. Hildesheim: Olms. Kap. 3.1.5 und Kap. 4. ●Primus, Beatrice. 2000. Suprasegmentale Graphematik und Phonologie: Die Dehnungszeichen im Deutschen. Linguistische Berichte 181, 5-34. ●Primus, Beatrice. 2009. Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems. Erscheint in: Bredel, Ursula / Hinney, Gabriele / Müller, Astrid (Hgg.). Rechtschreib- und Schriftkompetenz: Graphematik, Didaktik, Empirie. Tübingen: Niemeyer. Wiese, Richard. 2000. The phonology of German. 1st ed. 1996. 2nd rev. ed. 2000. Oxford: Oxford University Press. Anhang: Morphologische Grundbegriffe Notation für Morphemgrenzen: #, - (Divis), = hier im Skript Ein Morphem ist das kleinste sprachliche Zeichen, d. h. eine Lautstruktur, die eine außerphonologische Funktion [ein signifié] hat. Wenn man (z. B. für Kasusmorpheme) 'Bedeutung' sehr weit fasst, kann man ein Morphem auch als die kleinste bedeutungstragende Einheit des Sprachsystems auffassen. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 33 Ein Allomorph ist eine nicht-funktionale Variante eines Morphems. Das Pluralmorphem hat mehrere Allomorphe wie z.B. -en (Frauen), -n (Blumen), -er (Männer), -e (Tage), -s (Autos) Ein Wortbildungsmorphem (auch lexikalisches Morphem) hat eine lexikalische Bedeutung (z. B. be, such und er in Be=such=er); ein Flexionsmorphem (auch grammatisches Morphem) hat eine grammatische Bedeutung wie etwa Plural, Kasus etc. Ein Stamm ist eine ggf. durch Wortbildungsmorpheme erweiterte Wurzel, an die Flexionsmorpheme treten können (such, besuch, Besucher). Die Wurzel ist das lexikalische Hauptmorphem eines Wortes. Jedes Wort und jeder Stamm besteht aus mindestens einer Wurzel. Eine endozentrische (kopfbasierte, subordinative) morphologische Struktur: Wortform [N, mask, Gen] Stamm [N, mask] Stamm │ Wurzel │ Nacht Flexionssuffix [N, mask, Gen] Stamm [N, mask] Wurzel │ schwärm WB-Suffix [N, mask] │ er s rot markiert: der Kopf der lexikalischen Wortstruktur und die Merkmale, die vom lexikalischen Kopfmorphem bestimmt werden: N = nominal, mask = maskulines Genus grün markiert: der Kopf der flexivischen (grammatischen) Wortstruktur und die Merkmale, die vom flexivischen (grammatischen) Kopf bestimmt werden: N = nominal, mask = maskulines Genus, Gen - Genitiv, Singular Nach der Position zum Stamm werden folgende Affixarten unterschieden: Präfix: aus-bilden, Un-ruhe, ge-lernt Suffix: Bild-ung, Arbeit-er, lern-t-e Innerhalb des Stammes! Infix im Lat.: ru-m-pere / ruptus Kein Infix: Frömm-ig-keit Worttrennung am Zeilenende Duden-Rechtschreibung 2006: „Für die Trennung der Wörter am Zeilenende gibt es zwei Grundprinzipien: Man trennt einfache Wörter nach Sprechsilben, wie sie sich beim langsamen Vorlesen ergeben, und man trennt zusammengesetzte Wörter und Wörter mit Vorsilben nach ihren erkennbaren Bestandteilen.“ (idem Nerius 2007). etwas genauer: man trennt zusammengesetzte Wörter und Wörter mit Präfixen nach ihren erkennbaren morphologischen Bestandteilen. Kritik an den Duden-Worttrennungsregeln(vgl. auch Maas 1992, Günther 1992): Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 34 1) Die Interaktion der Grundprinzipien wird nicht präzisiert. Die obige Formulierung suggeriert, dass im Konfliktfall das zuerst genannte Sprechsilben-Prinzip Vorrang hat. 2) Silbengelenke und onsetlose Schwa-Silben bieten dem Sprechsilbenprinzip Probleme. Man ermutigt Schüler beim Lesen, nicht angemessene Lautformen zu produzieren: zwei Konsonanten statt eines Silbengelenkkonsonanten: Män-ner, Mül-ler, Bes-se-rung, Kat-zen, Städ-ter Vollvokal statt Schwa: Brau-e-rei, fe-en-haft, Se-en-plat-te, ge-hen 3) Die innergraphematische Grundregel kommt nicht vor. Die innergraphematische Worttrennungsregel: Das letzte (und ggf. einzige) Konsonantengraphem zwischen zwei Vokalbuchstaben kommt auf die nächste Zeile. Quelle: Günther 1992, Maas 1992, Eisenberg 2006, Fuhrhop 2005, Dürscheid 2006, Primus 2000, 2009 tre-ten, Ru-der, ra-sche, rei-ßen, Ko-kon, Na-ta-li-tät, bo-xen nä-hen, ge-hen Män-ner, Mül-ler, Bes-se-rung, Kat-zen, Städ-ter war-te, fin-den, Knos-pen wid-rig, dunk-le, Pub-li-kum, Dip-lom, Zyk-lus, Feb-ruar Duden-Rechtschreibung 2006, K 164(2), geht lautbezogen vor: „Ein einzelner Konsonant im Wortinneren kommt in der Regel auf die neue Zeile; von mehreren Konsonanten trennt man nur den letzten ab.“ Kritik: „von mehreren Konsonanten trennt man nur den letzten ab“ ist keine lautbezogene Silbifizierung. Günther (1992): Den Sprechsilbenbezug braucht man nur a) bei Fremdwörtern: Pu-bli-kum, Di-plom, Zy-klus, Fe-bru-ar b) und wenn zwei Vokalbuchstaben aufeinandertreffen, um zwischen (graphematischen oder lautlichen) Diphthong und Hiat zu unterscheiden: Sai-te vs. na-iv, Zoo vs. Zo-ologe Die Regelhierarchie für die Worttrennung am Zeilenende im Konfliktfall und orthographisch zugelassene Dubletten (Primus 2009): morphologisch ver-armt hin-auf graphematisch dunk-le hi-nauf Feb-ruar phonologisch (Sprechsilbe) hi-nauf Zo-ologe Fe-bruar Der Vorrang der morphologischen Trennung ist in der Schriftproduktion (Handschriftzüge, Tastenintervalle) experimentell nachgewiesen (Nottbusch 2008). Spezialregeln - das Verbot der Abtrennung einzelner Vokale (vor der Reform 1996 und nach der Reform 2006): *a-ber, *Ra-ti-o - das Verbot der Trennung von <st> (vor der Reform von 1996) - das Verbot der Trennung von <ck> (nach der Reform von 1996 und 2006): ba-cke, *bakke Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 35 Exkurs – phonologische Silbifizierung: Jede Silbe beginnt idealerweise mit einem Sonoritätsminimum. Daraus folgt: Bei mehreren intervokalischen Konsonanten beginnt die nächste Silbe mit dem am wenigsten sonoren Konsonanten. Sonoritätsskala: tiefe Vokale > hohe Vokale > r > l > Nasale > Frikative > Plosive Trennung nach Sprechsilben: *wi-drig, *dun-kle, Pu-bli-kum, Di-plom, Zy-klus, Fe-bru-ar Literatur - Worttrennung am Zeilenende Duden. 2006. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag. ●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien. 3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 4.3. ●Eisenberg, Peter. 2006. Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3. durchges. Aufl. Stuttgart: Metzler. Kap. 8. ●Fuhrhop, Nanna. 2005. Orthografie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Kap. 2.-3. Geilfuß-Wolfgang, Jochen. 2007. Worttrennung am Zeilenende. Tübingen: Niemeyer. Günther, Hartmut. 1992. Re-re-plik. Zur linguistischen Rekonstruktion und zur anwenderorientierten Formulierung der orthographischen Worttrennungsregel im Deutschen. Deutsche Sprache 20, 244-255. ●Maas, Utz. 1992. Grundzüge der deutschen Orthographie. Tübingen: Niemeyer, Kap. 1827. ●Nerius, Dieter. 2007. Deutsche Orthographie. 4. neu bearbeitete Auflage. Hildesheim: Olms. Kap. 4. Nottbusch, Guido. 2008. Handschriftliche Sprachproduktion. Sprachstrukturelle und ontogenetische Aspekte. Tübingen: Niemeyer. ●Primus, Beatrice. 2003. Zum Silbenbegriff in der Schrift-, Laut- und Gebärdensprache Versuch einer mediumunabhängigen Fundierung. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 22, 3-55. ●Primus, Beatrice. 2009. Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems. Erscheint in: Bredel, Ursula / Hinney, Gabriele / Müller, Astrid (Hgg.). Rechtschreib- und Schriftkompetenz: Graphematik, Didaktik, Empirie. Tübingen: Niemeyer. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 36 Morpheme: Apostroph und Divis (Bindestrich) Apostroph Duden-Rechtschreibung (2006): Der Apostroph zeigt an, dass in einem Wort ein oder mehrere Buchstaben ausgelassen worden sind (vgl. aber K 16). In vielen Fällen können die Schreibenden selbst entscheiden, ob sie einen Apostroph setzen wollen oder nicht (vgl. K 14). K 13: Man setzt einen Apostroph bei Wörtern mit Auslassungen, wenn die verkürzten Wortformen sonst schwer lesbar oder missverständlich wären. Ein einz'ger Augenblick kann alles umgestalten. 's ist schon spät. Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll ... Solche Formen treten oft in dichterischen Texten auf. Als gut lesbar und unmissverständlich gelten dagegen im Allgemeinen die folgenden Fälle: ich wechsle (wechsele) trockner (trockener) Boden Das hör (höre) ich gern. Leg (lege) den Mantel ab. Bursch (Bursche) öd (öde) trüb (trübe) heut (heute) K 14: Man kann einen Apostroph setzen, wenn Wörter der gesprochenen Sprache mit Auslassungen schriftlich wiedergegeben werden und sonst schwer verständlich sind. So 'n Blödsinn! Nimm 'ne andere Farbe. Kommen S' 'nauf! Er hat g'nug. Sie saß auf'm Tisch. Wir gehen in 'n Zirkus. Wie du's haben willst. Da fährt sich's schlecht. Bei den allgemein üblichen Verschmelzungen von Präposition (Verhältniswort) und Artikel setzt man in der Regel keinen Apostroph (zur, zum, beim). K 16: Der Apostroph steht zur Kennzeichnung des Genitivs (Wesfalls) von Namen, die auf s, ss, ß, tz, z, x enden und keinen Artikel o. Ä. bei sich haben. Hans Sachs' Gedichte, Le Mans' Umgebung, Grass' Blechtrommel, Voß' Übersetzung, Ringelnatz' Gedichte, Marx' Philosophie, das Leben Johannes' des Täufers (aber: die Gedichte des Hans Sachs, das Leben des Johannes) Nicht als Auslassungszeichen, sondern in Verdeutlichung der Grundform eines Personennamens wird der Apostroph gelegentlich in folgenden Fällen gebraucht: Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 37 Vor der Adjektivendung -sch. die Grimm'schen Märchen (neben: die grimmschen Märchen) der Ohm'sche Widerstand (neben: der ohmsche Widerstand) Vor dem Genitiv-s. Andrea's Blumenecke (zur Unterscheidung vom männlichen Vornamen Andreas) Willi's Würstchenbude Bindestrich (Divis) Duden-Rechtschreibung (2006): Der Bindestrich kann zur Hervorhebung einzelner Bestandteile in Zusammensetzungen und Ableitungen verwendet werden, die normalerweise in einem Wort geschrieben werden (K 21-25). Er muss gesetzt werden, wenn die Zusammensetzungen mit (einzelnen) Buchstaben, Ziffern oder Abkürzungen gebildet werden und wenn es sich um mehrteilige Zusammensetzungen mit Wortgruppen handelt (K 26-30). Darüber hinaus markiert er, als sogenannter „Ergänzungsstrich“, bei der Zusammenfassung mehrerer Wörter das Ersparen von Wortteilen (K 31). Steht ein Bindestrich am Zeilenende, dann gilt er zugleich als Trennungsstrich. Hervorhebung einzelner Bestandteile in Zusammensetzungen und Ableitungen (K21-25) Hervorhebung: Ich-Sucht (neben: Ichsucht) Soll-Stärke (neben: Sollstärke) etwas be-greifen (um besonders zu betonen, dass ein konkretes Greifen gemeint ist) die Hoch-Zeit der Renaissance (um deutlich hervorzuheben, dass hier die Blütezeit der Renaissance gemeint ist) Unübersichtlichkeit: Mehrzweck-Küchenmaschine Lotto-Annahmestelle Umsatzsteuer-Tabelle Fremdwörter: Desktop-Publishing Shopping-Center unübersichtliche oder sonst schlecht lesbare Zusammensetzungen aus gleichrangigen Adjektiven: ein französisch-deutsches Wörterbuch die medizinisch-technische Assistentin geistig-kulturelle Strömungen Es steht kein Bindestrich, wenn das erste Adjektiv nur die Bedeutung des zweiten Adjektivs näher bestimmt. schwerreich tiefblau lauwarm Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 Zusammengesetzte Farbbezeichnungen werden meist ohne Bindestrich geschrieben, wenn eine Mischfarbe/Farbtönung gemeint ist. das blaurote Kleid (die Farbe des Kleids ist ein bläuliches Rot) Missverständnisse: Druck-Erzeugnis Drucker-Zeugnis Zusammentreffen dreier gleicher Buchstaben in Zusammensetzungen: Kaffee-Ersatz (neben: Kaffeeersatz) Schwimm-Meisterschaft (neben: Schwimmmeisterschaft) Aneinanderreihungen: das Sowohl-als-auch Magen-Darm-Katarrh Mund-zu-Mund-Beatmung Links-rechts-Kombination Make-up A-Dur-Tonleiter 400-m-Lauf E.-T.-A.-Hoffmann-Straße 1.-Klasse-Kabine Substantivisch gebrauchte Infinitive mit mehreren Bestandteilen schreibt man mit Bindestrichen, wenn sonst unübersichtliche und schwer lesbare Aneinanderreihungen entstehen. zum Aus-der-Haut-Fahren das Nicht-mehr-fertig-Werden Aber: das Sichausweinen das Motorradfahren das Inkrafttreten Zusammensetzungen mit Abkürzungen (obligatorisch) Kfz-Papiere, UKW-Sender, Musik-CD Zusammensetzungen mit einzelnen Buchstaben und Ziffern (obligatorisch) i-Punkt, A-Dur, a-Moll, Dehnungs-h, Super-G Vor Nachsilben (Suffixen) steht nur dann ein Bindestrich, wenn sie mit einem Einzelbuchstaben verbunden werden. n-fach, n-tel, die x-te Wurzel (obligatorisch) aber: die 68er, 32stel, 5%ig, FKKler Der Wortbestandteil „-fach“ kann mit oder ohne Bindestrich an die Ziffer angehängt werden: 8fach oder 8-fach, 8,5fach oder 8,5-fach 38 Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 39 Ergänzungsstrich (K31) Einen Ergänzungsstrich (Bindestrich als Ergänzungszeichen) setzt man um anzuzeigen, dass ein gleicher Bestandteil von Zusammensetzungen oder Ableitungen eingespart wird. Ein- und Ausgang Balkon-, Garten- und Campingmöbel saft- und kraftlos Trennstrich (s. Worttrennung am Zeilenende) Kritik an der Duden-Rechtschreibung und anderen Standardwerken - unnötig viele Einzelbestimmungen (z. B. 11 Einzelbestimmungen für den Bindestrich ohne Trennstrich im Duden-Rechtschreibung 2006) - morphologisch nicht gut systematisiert - eine Grundfunktion ist nicht erkennbar. Das Prinzip der funktionalen Eindeutigkeit bzw. Polysemie-Vermeidung („einer Form entspricht genau eine Funktion“) scheint massiv verletzt zu sein. Der Ansatz von Bredel (2008, 2009) Der Ansatz von Bredel hebt sich durch zwei Hauptannahmen von bisherigen Auffassungen ab: i) Die Formmerkmale der Interpunktionszeichen sind nicht arbiträr, sondern funktional motiviert. Die Funktion der Einzelzeichen lässt sich aus den Einzelmerkmalen oder Einzelelementen, aus denen sie zusammengesetzt sind, und der Art ihrer Kombination ermitteln (Kompositionalität). ii) Die Interpunktionszeichen steuern den Leseprozess. Da im Leseprozess auch grammatische Strukturen nach allgemeinen Sprachverarbeitungsstrategien verarbeitet werden, ergeben sich indirekte Bezüge zu grammatischen, u. a. auch morphologischen Strukturen (Optimierung des Leseprozesses als Grundfunktion). In Bredels Ansatz gehören Bindestrich (Divis) und Apostroph zur Klasse der Füllerzeichen (Filler), die auch den Gedankenstrich und die Auslassungspunkte umfasst. Füller formal: ● nicht auf der Grundlinie (zu den Auslassungspunkten s. Bredel 2008, 2009) ● nicht klitisch bzw. asymmetrisch, d.h. links ein Buchstabe, rechts ein Spatium, sondern symmetrisch, d.h. rechts und links von ihnen können graphische Zeichen der gleichen Klasse stehen: Buchstaben links und rechts: n-fach, heil’ge Leerzeichen links und rechts: er geht – glaube ich zumindest – spazieren, er geht ... Füller funktional: Die Füller zeigen dem Leser, dass ein Defekt bei der Verkettung sprachlichen Materials vorliegt. Die verlängerten [reduplizierten] Füller, Gedankenstrich und Auslassungspunkte, zeigen Defekte auf der Satz- und Textebene an. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 40 Die einfachen Füller, Bindestrich und Apostroph, zeigen Defekte innerhalb eines Wortes an. Die horizontalen Füller, Gedankenstrich und Bindestrich, signalisieren Defekte, die im unmittelbar benachbarten Text behoben werden. Die nicht-horizontalen Füller, Auslassungspunkte und Apostroph, zeigen im Text nicht behebbare Defekte, zu denen insbesondere Auslassungen gehören.5 Zusammenfassung – Bindestrich und Apostroph im System der Füller nach Bredel (2008, 2009) – Formmerkmale in Klammern Defekt im benachbarten Text behoben [horizontal] nicht behoben [nicht-horizontal] Defekt innerhalb eines Wortes [einfach] BINDESTRICH / DIVIS auf- und abschreitende See-Elefanten im heiligen Bezirk APOSTROPH heil’gen Defekt auf der Satz- oder Textebene [redupliziert] GEDANKENSTRICH Er hatte das Geld – gestohlen AUSLASSUNGSPUNKTE Er hatte das Geld … Der Divis kommt in drei Umgebungen vor, die in Standardwerken isoliert voneinander behandelt werden: i) als Trennstrich am Zeilenende (heili-[Zeilenwechsel]gen), ii) als Ergänzungsstrich (auf- und abschreitende) iii) als Bindestrich (See-Elefant) Die gemeinsame Eigenschaft dieser Umgebungen in der leseprozessorientierten Auffassung Bredels: Der Divis instruiert den Leser, eine gegebene Buchstabenkette als nicht vollständige Wortstruktur zu erfassen. Der zur Komplettierung erforderliche Wortrest ist jedoch in der unmittelbaren Textumgebung auffindbar. Es handelt sich demnach um einen behebbaren Defekt, eine temporäre Unterbrechung in der Verarbeitung der Wortstruktur. Die Unterbrechung kann erfolgen: i) wegen des Zeilenendes (heili-[Zeilenwechsel]gen) ii) aufgrund einer Koordinationsreduktion (auf- und abschreitende) iii) Es liegen besondere morphologische Strukturen vor, die besser verarbeitet werden können, wenn der Leseprozess wortintern an der besonderen Morphemfuge unterbrochen wird: Remotivierung: be-greifen, Hoch-Zeit Unklare Morphemfuge: Drucker-Zeugnis, Druck-Erzeugnis, See-Elefant Keine endozentrische Komposition: Garmisch-Partenkirchen, französisch-deutsch (Kopulativkomposition) Univerbierung („Aneinanderreihung“ oder Zusammenrückung, keine Komposition): zum Aus-der-Haut-Fahren, das Nicht-mehr-fertig-Werden Univerbierung mit Sondermorphem (obligatorisch) Abkürzungen: Kfz-Papiere, UKW-Sender, Musik-CD einzelne Buchstaben oder Ziffern: i-Punkt, A-Dur, a-Moll, Dehnungs-h, Super-G 5 Bei Bredel (2008, 2009) [±vertikal] anstelle von [±horizontal] Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 41 Der Apostroph ist wie der Divis auf Wortstrukturen bezogen. Im Gegensatz zum Divis indiziert er jedoch Defekte, die nicht in der Textumgebung behoben werden, sondern vom Leser repariert werden müssen. Die Defekte beziehen sich beim Apostroph – wie Bunčić (2004) an mehreren Sprachen zeigt – bevorzugt auf Morpheme, wie etwa: i) bei unklaren Genitivsuffixen: Alice’, Andreas’, Andrea’s ii) bei Eigennamen mit dem adjektivischen Suffix -sche: Grimm’sche ist keine Adjektivierung, sondern eine Kombination aus Eigennamen (s. Großschreibung) und adjektivischem Suffix. Vgl. demgegenüber: grimmsche, kölsche, jambische, melodische iii) bei verkürzten Morphemen: auf’m, ich hab’s, heil’gen Die Vorteile des Ansatzes von Bredel (s. auch Buchstabenanalyse mithilfe von Merkmalen) a) Form und Funktion werden systematisch zueinander in Beziehung gesetzt. - Die Funktion der Zeichen ist aus ihrer Form ableitbar / erlernbar. - Das Prinzip der funktionalen Eindeutigkeit („einem Formmerkmal entspricht genau eine Funktion“) wird befolgt. b) Interpunktionszeichen werden – aufgrund der Dekomposition in Merkmale bzw. Elementarteile – zu Klassen zusammengefügt, so dass man ganzen Klassen von Zeichen eine Grundfunktion zuordnen kann. c) starke Reduzierung der funktionalen Bestimmungen (Einfachheit). Dies wird erreicht durch i) Dekomposition und ii) Leseprozessorientierung anstelle der Angabe grammatischer Konstruktionen wie etwa Komposition, Koordination etc. Literatur Bernabei, Dante. 2003. Der Bindestrich. Vorschlag zur Systematisierung. Frankfurt/M. et al.: Lang. ●Bredel, Ursula. 2008. Die Interpunktion des Deutschen. Ein kompositionelles System zur Online-Steuerung des Lesens. Tübingen: Niemeyer. ●Bredel, Ursula. 2009. Das Interpunktionssystem des Deutschen. In: Linke, Angelika / Feilke, Helmuth (Hgg.). Oberfläche und Performanz. Tübingen: Niemeyer, 117-135. Bunčić, Daniel. 2004. The apostrophe: A neglected and misunderstood reading aid. In: Written Language and Literacy 7.2, 185-204. ●Duden. 2006. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag. Fuhrhop, Nanna 2008. Das graphematische Wort (im Deutschen). Eine erste Annäherung. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 27, 189-228. Gallmann, Peter. 1989. Syngrapheme an und in Wortformen. Bindestrich und Apostroph im Deutschen. In: Eisenberg, Peter / Günther, Hartmut (Hrsg.). Schriftsystem und Orthographie. Tübingen: Niemeyer, 85-110. Heller, Klaus. 2000. „Bindestrich“ und „Zergliederungs-Sucht“. 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Allerdings wird sie zur Vermeidung der Doppelnennung männlicher und weiblicher Formen auch beim Affix -in verwendet (BürgerInnen, KollegInnen), Es handelt sich um einen Bereich des Schriftsystems, der nicht normiert ist, d. h. keine Entsprechung im Normsystem hat. Literatur ●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien. 3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 4.7. Dürscheid, Christa. 2000. Verschriftungstendenzen jenseits der Rechtschreibreform. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 28.2, 237-247. Nussbaumer, M. 1996. BinnenGroßschreibung. In: Sprachreport 3/96. Hrsg. vom Institut für deutsche Sprache, 1-3. Heller, Klaus. 1996. Großschreibung im Wortinneren. In Sprachreport 3/96. Hrsg. vom Institut für deutsche Sprache, 3-4. Wort oder Syntagma: Zusammen- oder Getrenntschreibung 1. Duden-Rechtschreibung (vgl. auch Nerius 2007, Kap. 5.2.1) Duden-Rechtschreibung (2006: 50): „Die Unterscheidung von getrennt geschriebenen Wortgruppen und zusammengeschriebenen Zusammensetzungen ist nicht immer eindeutig möglich. Wo die nachstehenden Hinweise und das amtliche Regelwerk keine Klarheit schaffen, sollte sowohl Getrenntschreibung als auch Zusammenschreibung toleriert werden.“ Die folgende Darstellung behandelt die Getrennt- und Zusammenschreibung unter diesen Gesichtspunkten (vgl. i) – v)): i) Zusammensetzungen und Wortgruppen mit Verben (K 47-56) (auffallen / auf fällt, dass ...; aufeinanderprallen, klein schneiden / kleinschneiden, schwarzarbeiten, preisgeben, davonkommen / davon kommen; da sein, getrennt schreiben, Schlittschuh laufen, einkaufen gehen) „Getrennt schreibt man alle eindeutigen Wortgruppen wie „zusammen verreisen“, „klein beigeben“, „schwindlig machen“, „schwanger werden“ usw. Wegen der Komplexität der Getrennt- und Zusammenschreibung kann es Fälle geben, die mithilfe der nachstehenden Regelungen nicht eindeutig zu klären sind. Wenn auch das Wörterverzeichnis nicht Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 43 weiterhilft, stehen den Schreibenden gewisse Freiräume für eigene Entscheidungen offen.“ ii) Zusammensetzungen und Wortgruppen mit Adjektiven und Partizipien (K 57-62) (bitterkalt, teilnehmend, mondbeschienen; gestochen scharf, riesig groß, schwer verständlich/schwerverständlich) iii) Präposition (Verhältniswort) und Substantiv (K 63) (anstatt, anstelle/an Stelle, zu Fuß) iv) Geografische Namen auf „-er“ (K 64) (Schweizergarde, Walliser Alpen) v) Zahlen (K 65 u. K 66) (neunzehnhundertneunundneunzig, zwei Millionen) Kritik an Duden-Rechtschreibung i) Die beiden weiter unten genannten Grundprinzipien der Getrennt- und Zusammenschreibung werden nicht explizit genannt, sondern nebenbei, sehr ungenau und nur einmal genannt: „Die Unterscheidung von getrennt geschriebenen Wortgruppen und zusammengeschriebenen Zusammensetzungen ist nicht immer eindeutig möglich.“ [Unterstreichung durch B. Primus]. ii) Die Grundprinzipien (bzw. die Unterscheidung zwischen Wortgruppen und Zusammensetzungen) werden nicht für eine Erklärung der 5 aufgeführten Datenbereiche herangezogen. iii) Es werden keine Erkennungsmerkmale bzw. Kriterien der Unterscheidung zwischen Wortgruppen und Zusammensetzungen angegeben. iv) „Wegen der Komplexität der Getrennt- und Zusammenschreibung kann es Fälle geben, die mithilfe der nachstehenden Regelungen nicht eindeutig zu klären sind.“ Diese Angabe geht von der falschen Annahmen aus, dass die Komplexität in der Getrennt- und Zusammenschreibung, also im Schriftsystem, und nicht in der Unterscheidung zwischen Wortgruppen und Zusammensetzungen, also im lautlich realisierten Sprachsystem, liegt. v) Es wird nicht erkannt, dass nicht eindeutig zu klärende Fälle auch darauf zurückzuführen sind, dass es im lautlich realisierten Sprachsystem strukturelle Mehrdeutigkeiten gibt. 2. Fuhrhop (2005, 2007) Weitere verwandte Vorschläge: alle in der Literatur angegebenen Arbeiten außer DudenRechtschreibung und Nerius (2007). Die beiden Grundprinzipien der Getrennt- und Zusammenschreibung (Fuhrhop 2005, 2007): (a) Wortprinzip: Innerhalb eines Wortes erscheint kein Spatium. M.a.W.: Wenn zwei Einheiten durch eine Wortbildungsregel miteinander verknüpft sind, werden sie nicht durch Spatien getrennt. (b) Relationales Prinzip (Syntagmaprinzip): Die Einheiten einer syntaktischen Verknüpfung werden durch Spatien getrennt. M.a.W. Wenn zwei Einheiten in einer syntaktischen Relation zueinander stehen, werden sie durch Spatien getrennt. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 44 Aufgrund der Prinzipien (a) und (b) geht es bei der Spatiumsetzung darum, komplexe Wörter wie etwa Zusammensetzungen von syntaktischen Verknüpfungen (Wortgruppen, Phrasen) im Sprachsystem zu trennen. Die Grundfunktion der Spatiumsetzung ist es, die Einheiten der Syntax (des Satz- und Wortgruppenaufbaus) anzuzeigen (vgl. auch Bredel 2006, 2007). Antike scriptio continua: Griechisches Apollodor-Fragment auf Papyrus, 1. Jh. v. Chr. ΕΚΤΑΣΤΟΥ∆ΙΟΣΦΑΝΤΙΚΕΦΑΛΑΣ Α Π Ο Λ Ε Σ Α Ι Π Ρ Α Τ Ι Σ Τ Α Π Α Ν Τ Ω Ν Das abgebildete Fragment lautet in der Übersetzung: Sie sagten, dass [Athene], aus dem Haupt des Zeus [entsprungen], als erste von allen in der gegen Kronos stattfindenden Schlacht den Pallas tötete. Die Skala zwischen Wortbildung (einem morphologisch komplexen Wort) und syntaktischer Fügung (Wortgruppe) Schwierigkeiten, komplexe Wörter wie etwa Zusammensetzungen von syntaktischen Verknüpfungen (Wortgruppen, Phrasen) zu trennen, liegen in der Natur der lautlich realisierten Sprache und nicht in der Natur des Schriftsystems. Sonnenstrahl, Zeitungsleser, entzündungshemmend N N sonne Fuge n N strahl der Gottesanbeter N N Gott Fuge es N anbeter Kompositum - Erkennungsmerkmale: Grundwort / Kopf immer rechts; Grundwort bestimmt Wortart und Flexionsmerkmale des Kompositums nur 1 Hauptakzent, tendenziell links Erstglied nicht flektierbar Morphemfuge, die kein Flexionssuffix sein kann Glieder keine Wortgruppen, also N und nicht NP, V und nicht VP etc. Vgl. den Artikel der Sonnenstrahl, nicht *Sonnenderstrahl Kompositum - Erkennungsmerkmale: Grundwort / Kopf immer rechts; Grundwort bestimmt Wortart und Flexionsmerkmale des Kompositums nur 1 Hauptakzent, tendenziell links Erstglied nicht flektierbar Glieder keine Wortgruppen, also N und nicht NP, V und nicht VP etc. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 ABER: die Morphemfuge könnte ein Flexionssuffix sein mithilfe / mit Hilfe, sodass / so dass; infolge, trotzdem P P mit N hilfe Rad fahren / radfahren Eis laufen / eislaufen Neuregelung: Rad fahren, eislaufen V N rad V fahren schwarzfahren Univerbierung / Zusammenrückung – Erkennungsmerkmale: kein Grundwort / Kopf rechts nicht produktiv kein Fugenelement nur 1 Hauptakzent, aber: tendenziell rechts Glieder keine Wortgruppen: *mitdeinerhilfe Verb-Inkorporation - Merkmale: Grundwort / Kopf ist V nur 1 Hauptakzent kein Fugenelement Erstglied keine Wortgruppe und somit syntaktisch nicht erweiterbar: nicht statt kein nicht / *kein Rad fahren, nicht /* kein eislaufen *sehr schwarzfahren (schwarz nicht zur Wortgruppe erweiterbar) *großengewinnbringend (gewinn nicht zur Wortgruppe erweiterbar) V A schwarz V fahren gewinnbringend V-Partizip N gewinn V-Partizip bringend syntaktische Fügung NP Erkennungsmerkmale: NP des Gottes N Anbeter PP P mit NP Hilfe deiner Hilfe Hilfe des Vaters Grundwort / Kopf steht rechts oder links zwei Akzente möglich, Hauptakzent tendenziell rechts kein Fugenelement, jedes einzelne Glied ist nach den syntaktischen Regeln flektierbar mindestens ein Glied ist eine Wortgruppe und somit syntaktisch erweiterbar 45 Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 46 VP AP schwindlig sehr schwindlig V machen Partizipphrase NP Gewinn großen Gewinn V-Partizip bringend Die angegeben Schreibvarianten waren jahrzehntelang im Fokus der Reformdiskussion. Hinweis: Wortgruppen können durch ein Wort (nämlich den Kopf) vertreten sein: Hunde bellen, an dich, Kinder laufen schnell. Ein zuverlässiges Kriterium für das Vorliegen einer Wortgruppe ist also nicht, ob sie aus einem Wort besteht oder nicht, sondern ob das Wort zur einer Phrase erweiterbar ist oder nicht (Einfügeprobe). Der unproblematische Bereich umfasst die Fälle, in denen die Anwendung der beiden Prinzipien der Spatiumsetzung sprachlich eindeutige Ergebnisse ergibt (erste und letzte Tabellenzeile). Diese Fälle sind auch im Schriftsystem unproblematisch. In den Randbereich (Tabellenmitte) fallen die Problemfälle, bei welchen die Anwendung der beiden Prinzipien zu Schwierigkeiten oder zu uneinheitlichen Ergebnissen führt. Diese Probleme spiegelt das Schriftsystem lediglich wider. Viele Fälle sind strukturell mehrdeutig und deswegen kann ihre Zusammen- oder Getrenntschreibung nicht per Wörterverzeichnis oder Regel festgelegt werden. Beispiele: Gottesanbeter – Gottes Anbeter mithilfe – mit Hilfe blaumachen – blau machen gewinnbringend – Gewinn bringend Die Missverständnisse, die in der Praxis wie in vielen wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema herrschen, rühren teilweise daher, dass die Einheiten isoliert betrachtet werden. Man meint mit Wortlisten der Sache Herr zu werden. Doch bereits die scheinbar triviale Frage, ob man Gottes?anbeter getrennt oder zusammenschreibt, kann ohne syntaktischen Kontext nicht beantwortet werden. In der Gottesanbeter liegt ein Kompositum vor, während des Gottes Anbeter ein Syntagma ist (Primus 2009). Fazit: die Grundprinzipien der Spatiumsetzung sind sehr einfach. Die Zweifelsfälle ergeben sich aus der Natur des zugrunde liegenden Sprachsystems. Literatur: Duden. 2006. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 47 ●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien. 3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 4.5.3 Eisenberg, Peter. 2006. Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3. durchges. Aufl. Stuttgart: Metzler. Kap. 8.4 ●Fuhrhop, Nanna. 2005. Orthografie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Kap. 7-8 Fuhrhop, Nanna. 2007. Zwischen Wort und Syntagma. Zur grammatischen Fundierung der Getrennt- und Zusammenschreibung. Tübingen: Niemeyer. Günther, Hartmut. 1997. Zur grammatischen Basis der Getrennt-/Zusammenschreibung im Deutschen. In: Dürscheid, Ch./Ramers, K.H./Schwarz, M. (Hgg.). Sprache im Fokus. Festschrift für Heinz Vater zum 65. Geburtstag. Tübingen: Niemeyer, 3-16. Jacobs, Joachim. 2002. Warum wir zusammenschreiben nicht immer zusammenschreiben - Präferenzgesetze im Schriftsystem. In: Restle, David / Zaefferer, Dietmar (Hgg.) 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Die Herausbildung des syntaktischen Prinzips in der Historiogenese und in der Ontogenese der Schrift. In: Bredel, Ursula / Günther, Hartmut (Hgg.). Orthographietheorie und Rechtschreibunterricht. Tübingen: Niemeyer, 139-163. Parkes, Malcolm Beckwith. 1993. Pause and Effect. An Introduction to the History of Punctuation in the West. Berkley: University of California Press. Saenger, Paul. 1997. Space between Words. The Origins of Silent Reading. – California: Stanford University Press. Zum Erwerb der Spatiumsetzung: Bredel, Ursula. 2006. Die Herausbildung des syntaktischen Prinzips in der Historiogenese und in der Ontogenese der Schrift. In: Bredel, Ursula / Günther, Hartmut (Hgg.). Orthographietheorie und Rechtschreibunterricht. Tübingen: Niemeyer, 139-163. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 48 Wortinitiale Großschreibung 1. Die Entstehung der Kleinbuchstaben und der Unterscheidung zwischen Großund Kleinbuchstaben Antike griechische Majuskelschrift - Griechisches Apollodor-Fragment auf Papyrus, 1. Jh. v. Chr. (Wiederholung): ΕΚΤΑΣΤΟΥ∆ΙΟΣΦΑΝΤΙΚΕΦΑΛΑΣ Α Π Ο Λ Ε Σ Α Ι Π Ρ Α Τ Ι Σ Τ Α Π Α Ν Τ Ω Ν Das abgebildete Fragment lautet in der Übersetzung: Sie sagten, dass [Athene], aus dem Haupt des Zeus [entsprungen], als erste von allen in der gegen Kronos stattfindenden Schlacht den Pallas tötete. Die Unzialschrift unterscheidet bereits zwischen langen und kurzen Buchstaben. Sie entstand im 4. Jahrhundert n. Chr. und wurde bis zum 6. Jahrhundert für Bücher (Codices) verwendet: Spätestens ab dem 8. Jh. n. Chr. sind mit der Entwicklung und Etablierung der Karolingischen Minuskelschrift die Kleinbuchstaben zur Normalschrift emporgestiegen; den Großbuchstaben blieb die Rolle der Auszeichnungsschrift für Namen, Absatzanfänge, Titel und andere besondere Funktionen. Althochdeutsche Handschrift, 11. Jh. n. Chr. (Otloh von St. Emmeram, einer der besten Kalligraphen seiner Zeit): Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 49 2. Die wortinitiale Großschreibung im gegenwärtigen Schrift- und Normsystem des Deutschen Die satzinterne Großschreibung bei Substantiven gilt als schwer zu lernen und unsystematisch. Dies liegt weniger in der Natur unseres Schriftsystems als in der Fehleinschätzung vieler Schriftsystemforscher, Didaktiker und Sprachreformer. Hinsichtlich der satzinternen Großschreibung gibt es zwei Auffassungen, denen verschiedene Nominalitätskonzepte entsprechen (vgl. Gallmann 1997): (a) Das Wortartprinzip: Substantive werden mit einem initialen Großbuchstaben geschrieben (Duden-Rechtschreibung (alle Auflagen), Nerius 2007). (b) Das syntaktische Prinzip: Der Kopf jeder Nominalgruppe wird mit einem initialen Großbuchstaben geschrieben (u. a. Maas, Röber-Siekmeyer, Günther, Nünke, Bredel, Eisenberg, Fuhrhop, Primus, s. Literaturangaben). 2.1. Das Wortartprinzip nach Duden-Rechtschreibung Die Auffassung (a) ist wortartbezogen im Sinne der traditionellen Grammatik. Hier herrscht das lexikonbasierte Wortartkonzept, demzufolge Wortarten Lexemklassen sind (vgl. die Duden-Grammatik, Nerius 2007: 204-206). Ein Ausdruck, der nach (a) mit einem initialen Großbuchstaben geschrieben werden muss, wird über die Lexemklasse Substantiv erfasst. Kennzeichnend für diese Wortartkonzeption ist bspw., dass nicht die tatsächliche nominale Flexion und die syntaktischen Begleiter (Artikel, Adjektiv) als Kriterien herangezogen werden, sondern die grundsätzliche Flektierbarkeit nach Kasus und Numerus sowie das feste Genus (Duden-Grammatik). „Die Grundregel lautet, dass Substantive (Nomen, Hauptwörter), Satzanfänge und Eigennamen mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben werden. Schwierigkeiten können dadurch entstehen, dass nicht immer klar zu erkennen ist, ob ein Substantiv, ein Satzanfang oder ein Eigenname vorliegt.“ (Duden-Rechtschreibung 2006: 58) Die Darstellung in Duden-Rechtschreibung (2006: 58f.) behandelt die Groß- und Kleinschreibung unter diesen Gesichtspunkten: Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 50 - Substantive und ehemalige Substantive (K 67-71) - Substantivierungen (K 72-82) - Anrede - Titel und Namen - Satzanfang - Einzelbuchstaben und Abkürzungen K 67 Substantive schreibt man groß. (Vgl. aber K 70 u. K 71): Erde, Kindheit, Verständnis Das gilt auch für Namen: Franziska, Thomas K 68 Auch in Zusammensetzungen und Aneinanderreihungen mit Bindestrich werden die Substantive großgeschrieben. Das erste Wort einer substantivischen Zusammensetzung oder Aneinanderreihung schreibt man auch dann groß, wenn es kein Substantiv ist. Mehrzweck-Küchenmaschine Ad-hoc-Arbeitsgruppe das Auf-der-faulen-Haut-Liegen K 69 Die Bezeichnungen von Tageszeiten nach Adverbien wie „gestern“, „heute“, „morgen“ werden als Substantive angesehen und großgeschrieben. vorgestern Nacht gestern Abend K 70 Aus Substantiven entstandene Wörter anderer Wortarten werden kleingeschrieben. abends, morgens Mir ist angst. (Aber: Ich habe Angst.) dank, kraft ein bisschen (= ein wenig) ein paar (= einige), aber: ein Paar (= zwei zusammengehörende) Schuhe K 71 Aus Substantiven entstandene Verbzusätze werden auch in getrennter Wortstellung kleingeschrieben: teilnehmen, ich nehme an der Veranstaltung teil K 72 Substantivierungen (Gebrauch von Wörtern anderer Wortarten als Substantive) 1. Als Substantive gebrauchte Adjektive und Partizipien werden in der Regel großgeschrieben: das Gute, die Angesprochene, Altes und Neues; und Ähnliches (Abk. u. Ä.) 2. Häufig zeigen vorangehende Wörter wie „alles“, „etwas“, „nichts“, „viel“, „wenig“ den substantivischen Gebrauch an: alles Gewollte, etwas [besonders] Gutes, nichts Wichtiges, viel Unnötiges, wenig Durchdachtes 3. Die Großschreibung gilt auch in festen Wortgruppen: im Dunkeln tappen, im Trüben fischen, auf dem Laufenden sein, zum Besten geben 4. Kleinschreibung gilt dagegen in festen adverbialen Wendungen aus Präposition und artikellosem, nicht dekliniertem Adjektiv. Ist das Adjektiv dekliniert, kann es sowohl kleinals auch großgeschrieben werden. durch dick und dünn, über kurz oder lang von nahem oder Nahem, bis auf weiteres oder Weiteres K 73 Adjektive und Partizipien mit Artikel werden kleingeschrieben, wenn sie Beifügung (Attribut) zu einem vorangehenden oder folgenden Substantiv sind. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 51 Mir gefallen alle Krawatten sehr gut. Besonders mag ich die gestreiften und die gepunkteten (= die gestreiften und gepunkteten Krawatten). K 74 Superlative mit „am“, nach denen man mit „wie?“ fragen kann, schreibt man klein. (In diesen Fällen ist „am“ nicht zu „an dem“ auflösbar.) Etwas zu essen brauchen wir (wie?) am nötigsten. Aber: Es fehlt uns am (= an dem) Nötigsten. K 75 In festen adverbialen Wendungen aus „aufs“ oder „auf das“ und Superlativ, die sich mit „wie?“ erfragen lassen, kann das Adjektiv groß- oder kleingeschrieben werden. Er erschrak aufs Äußerste oder aufs äußerste. K 76 1. Als Substantive gebrauchte Pronomen (Fürwörter) schreibt man groß. (Meist steht in diesen Fällen ein Artikel.) jemandem das Du anbieten ein gewisser Jemand Der Hund ist eine Sie. 2. Sonst schreibt man sie klein, auch wenn sie als Stellvertreter von Substantiven verwendet werden. Kommst du? Da ist doch jemand! Hier hat sich schon mancher verirrt. Wenn einer eine Reise tut ... Es ist alles bereit. 3. Possessivpronomen (besitzanzeigende Fürwörter) in Verbindung mit dem bestimmten Artikel können auch großgeschrieben werden. Jedem das seine oder Seine. Wir haben das unsere oder Unsere zur Finanzierung des Projekts geleistet. K 77 1. Die Zahladjektive „viel“, „wenig“, „[der] eine“, „[der] andere“ können großgeschrieben werden, wenn ihr substantivischer Charakter hervorgehoben werden soll. Das Lob der vielen oder Vielen (= der breiten Masse) war ihr nicht wichtig. 2. In der Regel werden sie jedoch mit allen ihren Beugungs- und Steigerungsformen kleingeschrieben. K 78 1. Als Substantive gebrauchte Grundzahlen schreibt man groß, wenn sie Ziffern bezeichnen. eine Acht schreiben vier Einsen im Zeugnis haben 2. Sonst werden Grundzahlen unter einer Million kleingeschrieben. Alle vier waren jünger als zwanzig. K 79 Die Wörter „hundert“, „tausend“ oder „Dutzend“ können klein- oder großgeschrieben werden, wenn mit ihnen unbestimmte, nicht in Ziffern schreibbare Mengen angegeben werden. Auf dem Platz drängten sich Hunderte oder hunderte von Menschen. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 52 K 80 Als Substantive gebrauchte Bruchzahlen und Ordnungszahlen schreibt man groß. ein Zehntel des Kuchens (aber: ein zehntel Gramm) Die Unterscheidung zwischen Ordnungszahlen, die eine Reihenfolge angeben, und denen, die eine Rangfolge angeben, hat keinen Einfluss mehr auf die Schreibung. Jeder Dritte, der hereinkam, trug einen Hut. Sie wurde Dritte im Weitsprung. Als Erstes werden wir mal im Kühlschrank nachsehen. Den Letzten beißen die Hunde. K 81 Als Substantive gebrauchte Adverbien, Präpositionen, Konjunktionen und Interjektionen schreibt man groß. 1. Adverbien Sie lebt nur im Heute, ein Gestern oder Morgen kennt sie nicht. Auf das ganze Drum und Dran könnte ich verzichten. 2. Präpositionen (Verhältniswörter) Wir müssen das Für und Wider abwägen. 3. Konjunktionen (Bindewörter) Entscheidend ist nicht nur das Ob, sondern auch das Wie. 4. Interjektionen (Ausrufewörter) Mit dem üblichen Weh und Ach gab er ihr schließlich das Geld. 5. Bei mehrteiligen, mit einem Bindestrich verbundenen Konjunktionen gilt das nur für das erste Wort: Es gibt hier nur ein Sowohl-als-auch, kein Entweder-oder. K 82 1. Als Substantive gebrauchte Infinitive (Grundformen) schreibt man groß. das Rechnen, das Lesen, das Schreiben, [das] Verlegen von Rohren, im Sitzen und Liegen, für Hobeln und Einsetzen [der Türen], zum Verwechseln ähnlich, lautes Schnarchen 2. Infinitive ohne Artikel, Präposition oder nähere Bestimmung können in bestimmten Fällen entweder als Substantiv oder als Verb aufgefasst und demnach groß- oder kleingeschrieben werden. ... weil Geben oder geben seliger denn Nehmen oder nehmen ist. Wir lernen [das] Segeln oder [ein Boot] segeln. Kritik an Duden-Rechtschreibung i) Das bekannte Problem der wortartbezogenen Schreibregel sind Substantivierungen und Desubstantivierungen. Dabei sind nicht Wortartwechsel problematisch, die aus einer expliziten Derivation hervorgehen, wie etwa die Substantivierung Leser aus lesen und die Desubstantivierung schriftlich aus Schrift. Problematisch für diese Auffassung sind Konversionen. Ein Wort wird bei Konversion nicht durch Wortbildungsmittel (z. B. Affixe) in eine andere Wortart überführt, sondern lediglich in einer anderen syntaktischen Umgebung und ggf. mit anderer Flexion verwendet, z. B. dunkel werden – dem Dunkelwerden Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 53 ich – des Ichs eine etwas unangenehme Erfahrung – etwas Unangenehmes die Ängste – (mir ist) angst Die Substantivierung durch Konversion wird im Deutschen intensiv und oft ad hoc genutzt. Die Tatsache, dass grundsätzlich jede Wortart syntaktisch wie ein Substantiv verwendet werden kann, stellt die gesamte Konzeption der wortartbezogenen Großschreibregel in Frage. ii) Die Missverständnisse, die in der Praxis wie in vielen wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema herrschen, rühren teilweise daher, dass die Einheiten isoliert betrachtet werden. Man meint mit Wortlisten (dem Wörterbuchteil des Duden-Rechtscheibung) der Sache Herr zu werden. Dies wird durch die Überbewertung des lexikalischen Wortartenprinzips noch verstärkt. 2.2. Das syntaktische Prinzip: Der Kopf (Kern) einer Nominalphrase Das syntaktische Prinzip (b) verwendet das syntaktische relationale Konzept des Kopfes einer Wortgruppe bzw. Phrase. Alternative Bezeichnungen für Kopf sind Kern oder Regens. Jede Phrase hat einen Kopf. Kopf und Phrase haben dieselben kategorialen Eigenschaften. Dies wird bis zu einem gewissen Grad auch in der traditionellen Terminologie berücksichtigt: Verbalphrase – Verb, Nominalphrase – Nomen, Adjektivphrase – Adjektiv usf. Des Weiteren bestimmt das Verknüpfungspotenzial des Kopfes, durch welche weiteren Kategorien eine Phrase erweiterbar ist. Für den Kopf einer Nominalgruppe sind vorangestellte flektierte adjektivische Attribute (große Angst) und artikelähnliche Wörter an ihrem linken Rand kennzeichnend (diese große Angst). Man kann eine Kopfkategorie auch ‚von oben’, d. h. aufgrund der Kategorie der Phrase bestimmen. In diesem Zusammenhang steht das Kriterium der nominalen syntaktischen Funktion (vgl. Gallmann 1997), das u. a. bei Subjekten und Objekten, die nur durch eine Nominalphrase realisiert werden können, sehr nützlich ist. So haben wir nominale Köpfe in hat Angst und kriegt Angst, weil die betreffenden Verben an dieser Stelle nominale Objekte selegieren. Im Unterschied dazu liegen in mir ist angst und das ist mir schnuppe adjektivische Prädikative wie in mir ist kalt vor. Auch Präpositionen regieren in der Regel Nominalphrasen, so dass die Funktion ‚Ergänzung einer Präposition’ auf eine Nominalphrase verweist. Das syntaktische Prinzip (b) setzt ein distributionelles Kategorienkonzept voraus. Das wichtigste Kriterium sind die syntagmatischen Relationen, die eine Einheit eingeht. Damit wird ihr gesamtes syntaktisches Verknüpfungspotenzial erfasst. In der Praxis begnügt man sich mit einigen symptomatischen Verknüpfungen (insbes. mit einem Artikel und einem Adjektiv). syntaktische Kriterien: einen Mann sehen ein robustes Ich haben das schnelle Lesen der Zeitung; Schnarchen stört dein Auf-der-faulen-HautLiegen stört mich die Ad-hoc-Arbeitsgruppe arbeitet gut artikelfähig attributfähig ja ja ja ja ja ja nominale syntaktische Funktion ja (Objekt) ja (Objekt) ja ja ja ja (Subjekt) ja ja ja (Subjekt) Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 das Gute sehen; etwas Unangenehmes erleben sie lebt im Heute; ein Gestern kennt sie nicht das Für und Wider abwägen; entscheidend ist das Ob; es gibt hier kein Entweder-oder eine verdiente Eins bekommen; eine Acht zeichnen eine / die / diese Million Menschen, sechs Millionen, idem Dutzend ein / *das / *dieses hundert Menschen, sechs hundert (sechs *hunderte), idem tausend kraft seines Amtes (aber: die Kraft seines Amtes) er fährt rad (alte Schreibung) er fährt ein schnelles Rad wir lernen segeln (vgl. auch kennenlernen) wir lernen das Segeln gegen den Wind er hat Angst mir ist angst er nimmt teil (aber: er nimmt einen Teil des Geldes) er läuft eis; er steht kopf ich kaufe ein paar Rosen(aber: dort steht ein schönes Paar Schuhe) im Allgemeinen im Dunkeln tappen ohne Weiteres / weiteres er kam abends er mag Franziska weil sie ihn sieht er kam vorgestern Nacht die Ad-hoc-Arbeitsgruppe 54 ja ja ja (Objekt) ja (im) ja, aber semantisch beschränkt ja, aber semantisch beschränkt ja Ergänzung einer Präposition bzw. Objekt ja ja ja ja (Objekt bzw. Subjekt) ja (Objekt) ja, aber semantisch beschränkt nein Klassifikator / Numerativ nein nein nein nein ja nein ja nein ja ja nein (Präposition, Kopf einer PP) nein (Verbinkorporation, s. Getrennt/Zusammenschreibung) ja (Objekt) nein, lernen kann einen Infinitiv regieren ja (Objekt) ja nein ja nein nein nein nein nein nein (indefinites Zahlwort wie einige, mehrere) ja? (im) nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein*) nein*) nein nein Ergänzung einer Präposition Ergänzung einer Präposition nein ja ja nein nein nein, nur indefinite Zahlwörter nein ja (Objekt) nein (vgl. mir ist kalt / *Kälte) nein *) Eigennamen und Pronomen können nur durch Appositionen erweitert werden: ihn, den ich ja aus der Schule kenne; er mag Franziska, meine Freundin. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 55 Fazit: Die größte Reichweite und Zuverlässigkeit hat das syntaktische Prinzip. Daraus ergibt sich als Grundfunktion der wortinitialen Großschreibung die Optimierung der Phrasengliederung durch eine bessere Identifizierung der Nominalphrasen beim Lesen (vgl. Bock et al. 1989, Günther / Nünke 2005). Allerdings sind manche Initialen nur durch das Wortartenprinzip erklärbar. die Ad-hoc-Arbeitsgruppe syntaktisches Prinzip vs. Sowohl-als-auch Wortartenprinzip Die Neuregelung hat das Wortartenprinzip gestärkt: vorgestern Nacht; er fährt Rad (als Verbinkorporation). Die Zweifelsfälle sind im lautlich realisierten Sprachsystem begründet. Zwei Typen von Zweifelsfällen: i) aufgrund von Mehrdeutigkeit, z.B. ich habe Angst / mir ist angst; ein paar / diese Paar Schuhe; kraft seines Amtes / die Kraft seines Armes ii) aufgrund uneinheitlicher syntaktischer Eigenschaften, z.B. im Allgemeinen, ohne Weiteres / weiteres, im Dunkeln tappen, aufs Äußerste / aufs äußerste erschrecken (der in der Präposition inkorporierte Artikel -s (das) kann sowohl ein Substantiv als auch ein Adjektiv im Superlativ begleiten). Literatur: Bock, Michael / Hagenschneider, Klaus / Schweer, Alfred. 1989. Zur Funktion der Großund Kleinschreibung beim Lesen deutscher, niederländischer und englischer Texte. In: Eisenberg, Peter / Günther, Hartmut. (Hgg.). Schriftsystem und Orthographie. Tübingen: Niemeyer, 23-56. Duden. 2006. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag. ●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien. 3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 4.5.2 Eisenberg, Peter. 2006. Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3. durchges. Aufl. Stuttgart: Metzler. Kap. 8.5 ●Fuhrhop, Nanna. 2005. Orthografie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Kap. 6 Gallmann, Peter. 1997. Konzepte der Nominalität. In: Augst, Gerhard/ Blüml, Karl/ Nerius, Dieter/ Sitta, Horst (Hgg.) Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen: Niemeyer, 209-241. ●Maas, Utz. 1992. Grundzüge der deutschen Orthographie. Tübingen: Niemeyer, Kap. 14. Mentrup, Wolfgang (Hg.). 1980. Materialien zur historischen entwicklung der gross- und kleinschreibung. Tübingen: Niemeyer. ●Nerius, Dieter. 2007. Deutsche Orthographie. 4. neu bearbeitete Auflage. Hildesheim: Olms. Kap. 5.2.3 ●Primus, Beatrice. 2009. Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems. Erscheint in: Bredel, Ursula / Hinney, Gabriele / Müller, Astrid (Hgg.). Rechtschreib- und Schriftkompetenz: Graphematik, Didaktik, Empirie. Tübingen: Niemeyer. Zur historischen Entwicklung der Majuskel-Minuskel-Unterscheidung und der wortinitialen Großschreibung Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 56 Bergmann, Rolf / Nerius, Dieter (Hgg.) 1998. Die Entwicklung der Großschreibung im Deutschen von 1500 bis 1700. 2 Bde. Heidelberg: Carl Winter. Bredel, Ursula. 2006. Die Herausbildung des syntaktischen Prinzips in der Historiogenese und in der Ontogenese der Schrift. In: Bredel, Ursula / Günther, Hartmut (Hgg.). Orthographietheorie und Rechtschreibunterricht. Tübingen: Niemeyer, 139-163. Primus, Beatrice. 2007. Die Buchstaben unseres Alphabets: Form – Entwicklung – Funktion. In: Boschung, Dieter / Hellenkämper, Hansgerd (Hgg.). Kosmos der Zeichen - Schriftbild und Bildformel in Antike und Mittelalter. Wiesbaden: Reichert, 45-65. Zum Erwerb und zur Didaktik der wortinitialen Großschreibung Becker, Nicole. 1999. Untersuchungen zum Erwerb der Substantivgroßschreibung bei Grundschulkindern. Examensarbeit Erste Staatsprüfung (Primarstufe): Seminar für Deutsche Sprache und ihre Didaktik, Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Bredel, Ursula. 2006. Die Herausbildung des syntaktischen Prinzips in der Historiogenese und in der Ontogenese der Schrift. In: Bredel, Ursula / Günther, Hartmut (Hgg.). Orthographietheorie und Rechtschreibunterricht. Tübingen: Niemeyer, 139-163. Günther, Hartmut / Nünke, Ellen. 2005. Warum das Kleine groß geschrieben wird, wie man das lernt und wie man das lehrt. Köbes 1 (Kölner Beiträge zur Sprachdidaktik, online) Günther, Hartmut. 2007. Der Vistembar brehlte dem Luhr Knotten auf den bänken Leuster – Wie sich die Fähigkeit zur satzinternen Großschreibung entwickelt. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 26, 155-179. Nünke, Ellen / Wilhelmus, Christiane. 2001. Stufenwörter in Treppengedichten - Ein alternativer Ansatz zur Groß- und Kleinschreibung. Praxis Deutsch 170, 20-23. Röber-Siekmeyer, Christa. 1999. Ein anderer Weg zur Groß- und Kleinschreibung. Düsseldorf: Klett-Grundschulverlag. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 57 Syntax: Kommasetzung im Deutschen 1. Duden-Rechtschreibung und traditionelle Forschung „Die Funktionen des Kommas in der geschriebenen deutschen Literatursprache sind – im Gegensatz zur Funktion der meisten übrigen Satzzeichen – vielgestaltig und schwer überschaubar“ (Nerius 2007: 247). Zitat-Anfang (Duden-Rechtschreibung 2006: 71): Das Komma ist ein Gliederungszeichen. Innerhalb eines Ganzsatzes grenzt es bestimmte Wörter, Wortgruppen oder Teilsätze voneinander oder vom übrigen Text des Satzes ab. Werden solche Wörter, Wortgruppen oder Teilsätze von zwei Kommas eingeschlossen, weil sie in den übergeordneten Text eingeschoben sind, so spricht man auch vom „paarigen“ Gebrauch des Kommas. Die folgende Darstellung behandelt die Kommasetzung unter diesen Gesichtspunkten: ● Bei Aufzählungen (K 100-102) (Feuer, Wasser, Luft und Erde. Sie wirkte ruhig, gelassen, entspannt.) ● Bei nachgestellten Zusätzen (K 103-107) (Das ist Michael, mein Bruder. Sie liest viel, vor allem Krimis.) ● Bei Datums-, Wohnungs-, Literaturangaben (K 108-110) (Sie kommt Mittwoch, den 13. März. Herr Meier aus Bonn, Lindenstraße 12[,] hat zwei Freikarten gewonnen. Ich zitiere aus dem Brockhaus, 21. Auflage, Band 14.) ● Bei Konjunktionen (Bindewörtern) (K 111-113) (Er stand auf und ging. Wir waren arm, aber gesund.) ● Bei Partizip- und Infinitivgruppen (K 114-117) (Das ist[,] grob gerechnet[,] die Hälfte. Sie weigerte sich[,] uns zu helfen.) ● Bei Teilsätzen (selbstständigen Teilsätzen und Nebensätzen) (K 118-125) (Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Nimm das Geld[,] oder lass es bleiben. Ich freue mich, dass du wieder gesund bist.) ● Bei mehrteiligen Nebensatzeinleitungen (K 126-128) (Angenommen[,] dass morgen gutes Wetter ist ...) ● Bei Hervorhebungen, Ausrufen, Anreden (K 129-132) (Deine Mutter, die habe ich gut gekannt. Ach, das ist aber schade. Harry, fahr bitte den Wagen vor.) Zitat Ende (Duden-Rechtschreibung 2006: 71) Das Komma bei Partizip- und Infinitivgruppen eingehender Zitat-Anfang (Duden-Rechtschreibung 2006: 79): K 114 1. Partizipgruppen kann man durch Komma[s] abtrennen, um die Gliederung des Satzes deutlich zu machen oder um Missverständnisse auszuschließen. (Vgl. aber K 115.) Das ist[,] grob gerechnet[,] die Hälfte. Die Renovierung Ihrer Wohnung betreffend[,] möchte ich Ihnen den folgenden Vorschlag machen. 2. Das gilt auch für Adjektivgruppen und entsprechende andere Wortgruppen. Seit mehreren Jahren kränklich[,] hatte er sich in ein Sanatorium zurückgezogen. K 115 1. Partizipgruppen werden durch Komma[s] abgetrennt, wenn sie Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 58 a) mit einem hinweisenden Wort oder einer Wortgruppe angekündigt oder wieder aufgenommen werden, Aus vollem Halse lachend, so kam sie auf uns zu. Auf diese Weise, jeden Stein einzeln umdrehend, hatten wir schließlich Erfolg mit unserer Suche. b) als einem Substantiv oder Pronomen nachgestellte Zusätze oder Erläuterungen anzusehen sind. Er, tödlich getroffen, fiel vom Pferd. Das ist falsch, logisch betrachtet. 2. Das gilt auch für Adjektivgruppen und entsprechende andere Wortgruppen. (Vgl. K 106.) Nur so, bleich und ganz in Schwarz, ist mir mein Großvater in Erinnerung geblieben. Sie, ihr Glas in der Hand [haltend], stand an der Theke. K 116 Infinitivgruppen kann man durch Komma[s] abtrennen, um die Gliederung des Satzes deutlich zu machen oder um Missverständnisse auszuschließen (vgl. aber K 117). Sie weigerte sich[,] zu helfen. Sie weigerte sich[,] uns zu helfen. Wir versuchten[,] die Torte mit Sahne zu verzieren. Sich selbst zu besiegen[,] ist der schönste Sieg. K 117 Infinitivgruppen werden durch Komma abgetrennt, wenn sie 1. mit „als“, „anstatt“, „außer“, „ohne“, „statt“ oder „um“ eingeleitet werden, Ich kenne nichts Schöneres, als mit einem guten Buch am Kamin zu sitzen. Anstatt einen Brief zu schreiben, könntest du auch einfach anrufen. Ihr könnt nichts tun, außer abzuwarten. Er antwortete, ohne gefragt worden zu sein. Wir wollen helfen, statt nur zu reden. Sie ging nach Hause, um sich umzuziehen. 2. von einem Substantiv abhängen, Mein Vorschlag, ins Kino zu gehen, wurde verworfen. Er gab uns den Rat, erst einmal in Ruhe zu überlegen. 3. mit einem hinweisenden Wort angekündigt oder wieder aufgenommen werden. Zu tanzen, das ist ihre größte Freude. Erinnere mich daran, den Mülleimer auszuleeren. Ihre Absicht ist es, im nächsten Jahr nach Mallorca zu fahren. 4. Man kann bei einem einfachen Infinitiv (nur Verb + „zu“) die Kommas auch weglassen, sofern keine Missverständnisse entstehen können. Seine Angst[,] zu versagen[,] war unbegründet. Wir zweifeln nicht daran[,] zu gewinnen. In den folgenden Fällen (in denen der Infinitiv mit einem übergeordneten Verb ein mehrteiliges Prädikat bildet) werden Infinitivgruppen im Allgemeinen nicht durch Komma abgetrennt: 1. Wenn die Infinitivgruppe von einem Hilfsverb oder von „brauchen“, „pflegen“, „scheinen“ abhängig ist. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 59 Die Spur war ganz deutlich zu sehen. Sie haben uns gar nichts zu befehlen! Du brauchst dich wegen dieser Sache nicht zu schämen. Sie pflegt abends ein Glas Wein zu trinken. Er scheint heute schlecht gelaunt zu sein. 2. Wenn die Infinitivgruppe a) mit dem übergeordneten Satz verschränkt ist, Diesen Vorgang wollen wir zu erklären versuchen. (Übergeordneter Satz: „wir wollen versuchen“; Infinitivgruppe: „diesen Vorgang zu erklären“.) b) den übergeordneten Satz einschließt, Den genannten Betrag bitten wir auf unser Konto zu überweisen. (Übergeordneter Satz: „wir bitten“.) c) in der verbalen Klammer steht. Wir hatten den Betrag zu überweisen beschlossen. (Verbale Klammer: „hatten ... beschlossen“; Infinitivgruppe: „den Betrag zu überweisen“.) Zitat Ende (Duden-Rechtschreibung 2006: 79) 2. Die Kommasetzung in der neueren Schriftsystemforschung Quellen: Primus (1993, 1997), sprachvergleichend besser systematisiert in Primus (2007, 2009). Vgl. auch Bredel & Primus (2007), Bredel (2008, 2009), Eisenberg et al. (2005), Mesch (im Erscheinen). Nerius (2007) etwas widersprüchlich: S. 247-248 traditionell; S. 449 bietet eine Systematik in Anlehnung an Primus (1997) ohne direkte Quellenangabe, hält aber am paarigen Komma fest. Komma bei Infinitiv- und Partizipgruppen: Primus (op. cit.), Gallmann (1997), Fuhrhop (2005), Dürscheid (2006). Als Vorläufer die negative Interpunktionsgrundregel von Maas (1992: 86): „Elemente, die in solchermaßen syntaktisch erklärten differenzierten Relationen zueinander stehen, werden durch keine Satzzeichen getrennt.“ Syntaktisch differenzierte Relationen liegen vor genau dann, wenn jedes syntaktische Element in einer bestimmten und von jedem anderen Element verschiedenen syntaktischen Relation steht (d.h. verschiedene Satzglieder und Gliedteile vorliegen). Kommentar Primus: diese Bedingung erfüllen nur syntaktische Subordinationsverhältnisse, vgl. z. B. die CP-IP-VP-Satzstruktur ohne koordinierte Elemente. Die positive Interpunktionsgrundregel (Maas 1992: 87): „Wenn die syntaktischen Relationen zwischen den Elementen eines Satzes nicht differenziert sind, muss ein Komma stehen.“ Erklärt das Komma bei Koordination und bei Herausstellung. Die drei Bedingungen in (1) erklären bis auf wenige Fälle alle Normen zur Kommasetzung im alten Normsystem vor 1996 und im neuen Normsystem nach 2006 (vgl. Primus 2007, 2009, Bredel & Primus 2007): Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 (1) 60 Ein Komma steht zwischen zwei (einfachen oder komplexen) sprachlichen Ausdrücken genau dann, wenn (a) und (b) oder (a) und (c) zutreffen: (a) Die Ausdrücke stehen in derselben kommunikativen Einheit (demselben „Satz“ im weitesten Sinn). (b) Die Ausdrücke sind nicht-subordinativ miteinander verknüpft. (c) Die Ausdrücke sind durch eine Satzgrenze getrennt. Die erste Bedingung (1a) ist sprachenübergreifend gültig und schränkt das Komma auf ein satzinternes Vorkommen ein, wobei Satz im weitesten Sinne gemeint ist (vgl. Ach, du hier?). Anders formuliert (vgl. Bredel (op. cit.)): ein Komma zwischen zwei Ausdrücken signalisiert dem Leser, den syntaktischen Prozessor nicht abzuschalten. Diese Bedingung sondert damit das Komma von satzabschließenden Interpunktionszeichen wie Punkt, Ausrufezeichen und Fragezeichen ab. Die zweite Bedingung (1b) gilt – wie die erste – für alle Sprachen, die das Komma verwenden. Das Komma zeigt in solchen Fällen eine Koordination oder eine Herausstellung an. In beiden Fällen liegt keine kanonische syntaktische Subordination vor. Komma bei Koordination (Duden-Rechtschreibung: Aufzählungen K100-102 und Konjunktionen K111-113, partiell auch Teilsätze, s. (2d)) (2) (a) Feuer, Wasser, Luft und Erde. (b) Sie wirkte ruhig, gelassen, entspannt. (c) Wir waren arm, aber gesund. (d) Nimm das Geld[,] oder lass es bleiben. Was die zweite Bedingung (1b) nicht erfasst, ist die komplementäre Verteilung zwischen einer echten koordinativen Konjunktion wie und und oder und dem Komma, die in den verschiedenen Schriftsystemen unterschiedlich normiert wird. Im Deutschen gilt folgende Zusatzregel: Das Komma erscheint fakultativ neben einem echten Koordinator nur dann, wenn die Konjunkte vollständige Hauptsätze sind. Exkurs: echte koordinierende Konjunktion Nur zwischen den Konjunkten (idem oder): Wir waren arm und (wir waren) gesund. *Wir waren arm, wir waren und gesund. Kein echter Koordinator: Wir waren arm, aber (wir waren) gesund. Wir waren arm, wir waren aber gesund. Wiederholbar: Sie wirkte ruhig und gelassen und entspannt. Kein echter Koordinator: *Sie wirkte ruhig aber gelassen aber entspannt. Exkurs Ende Komma bei Herausstellungen Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 61 Duden-Rechtschreibung: nachgestellte Zusätze (K 103-107), Datums-, Wohnungs-, Literaturangaben (K 108-110), Hervorhebungen, Ausrufe, Anreden (K 129-132), verstreut auch bei den anderen Konstruktionen. Die wichtigsten Herausstellungen des Deutschen nach Altmann (1981) und Beispiele aus Duden-Rechtschreibung (2006) mit der dortigen Beschreibung in Klammern: ● Linksversetzung (Hervorhebung): Deine Mutter, die habe ich gut gekannt. ● vokativische Herausstellung (Anrede): Harry, fahr bitte den Wagen vor. Fahr bitte den Wagen vor, Harry. ● herausgestellte Interjektion (Ausruf): Ach, das ist aber schade. ● Nachtrag (nachgestellte Zusätze): Sie liest viel, vor allem Krimis. Wir müssen etwas unternehmen, und zwar bald. ● Parenthetische Herausstellung / Apposition (nachgestellte Zusätze, Datums-, Wohnungs-, Literaturangaben): Johannes Gutenberg, der Erfinder des Buchdruckes, wurde in Mainz geboren. Dein Wintermantel, der blaue, muss in die Reinigung. Herr Meier aus Bonn, Lindenstraße 12, hat zwei Freikarten gewonnen. Keine Apposition: Heinrich der Löwe. Vgl. aber als Apposition: Heinrich, der Löwe, ... Die Annahme eines paarigen Kommas (Maas 1992, Duden-Rechtschreibung 2006, Nerius 2007) ist überflüssig: Johannes Gutenberg, der Erfinder des Buchdruckes, wurde in Mainz geboren. [ A ] [ zw. A und B keine Subordination B ][ C ] zw. B und C keine Subordination Wie die verschiedenartigen und sehr ungenauen Angaben im Rechtschreibduden zeigen, konnte die traditionelle Forschung Herausstellungen als einheitliches Phänomen nicht erfassen. Damit wird auch die Systematik des Kommas in diesem Bereich verdunkelt. Erkennungsmerkmale: i) intonatorische Herauslösung aus dem Trägersatz. ii) ein syntaktischer Doppelgänger (Pronomen u. Ä.): Deine Mutter, die habe ich gut gekannt. Dieser Doppelgänger ist syntaktisch in den Trägersatz subordinativ eingebunden, fungiert mithin bspw. als Subjekt oder Objekt, und verhindert die Unterordnung des herausgestellten Materials. Auch bei Appositionen findet man eine Verdopplung, vgl. Heinrich der Löwe lebte hier vs. Heinrich, der Löwe, lebte hier. iii) in den Trägersatz nicht integrierbar, vgl. Anreden, Vokative, Interjektionen, Appositionen und einige Nachträge. Es gibt auch mehrdeutige Fälle, wo die Interpretation als Herausstellung nur durch eine Analyse des Diskurszusammenhangs, der Intonation bzw. der Autorintention geklärt werden kann: Geh, bitte, nach Hause! vs. Geh bitte nach Hause! Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 62 Die Optionsfreiheit gilt nicht dem Komma, sondern der syntaktischen Konstruktion. Bei einer Interpretation als Herausstellung muss der Schreiber die Kommas setzen. Bei Unterordnung darf er kein Komma verwenden. Die dritte Bedingung (1c) verlangt in Verbund mit der ersten Bedingung (1a) ein Komma bei satzinternen Satzgrenzen. Solche liegen vor bei ● Satzkoordination (vgl. (2d) weiter oben) ● Herausstellung, wo Elemente außerhalb des Trägersatzes stehen, sie selbst aber nicht satzwertig sein müssen (anders Nerius 2007: 449). ● Satzsubordination (bei „Neben“sätzen und satzwertigen Infinitiv- und Partizipgruppen) Satzkoordination und Herausstellung werden durch die zweite, sprachenübergreifende Bedingung (1b) erfasst, aber die Satzsubordination wird nur durch die dritte, sprachspezifische Bedingung (1c) erklärt. Während Nebensätze, die durch finite Verben gebildet werden, für die dritte Bedingung völlig unproblematisch sind, führte die Kommasetzung bei Partizip- und Infinitivkonstruktionen zu erheblichen Verständnisschwierigkeiten und fiel aus diesem Grund der Reform von 1996 zum Opfer. Die Reform von 2006 stellte die Verhältnisse vor 1996 weitgehend wieder her. Abgrenzungsprobleme im lautlich realisierten Sprachsystem: Partizipgruppen können verbal und mithin satzwertig sein, oder adjektivisch und mithin Adjektivphrasen sein. Partizipgruppen können des Weiteren subordiniert oder herausgestellt werden. Das ist[,] grob gerechnet[,] die Hälfte. Aus vollem Halse lachend, so kam sie auf uns zu. (Komma obligatorisch, weil das hinweisende Wort „so“ eine Herausstellung signalisiert.) Er, tödlich getroffen, fiel vom Pferd. (Komma obligatorisch, weil eine Herausstellung vorliegt.) Infinitivkonstruktionen können im Deutschen ihre Satzwertigkeit verlieren, wenn sie kohärent angeknüpft sind. Bei kohärenten Infinitivgruppen bilden Matrixverb und subordiniertes Infinitivverb eine Art komplexes Prädikat. i) Infinitivgruppen, die als Adjunkte / Adverbiale fungieren, sind nie kohärent und müssen folglich durch Komma abgetrennt werden. Solche Adjunkte werden mit „als“, „anstatt“, „außer“, „ohne“, „statt“ oder „um“ eingeleitet. Ich kenne nichts Schöneres, als mit einem guten Buch am Kamin zu sitzen. Anstatt einen Brief zu schreiben, könntest du auch einfach anrufen. Ihr könnt nichts tun, außer abzuwarten. Er antwortete, ohne gefragt worden zu sein. Wir wollen helfen, statt nur zu reden. ii) Infinitivgruppen, die als Attribute von einem Substantiv abhängen, sind nie kohärent: Mein Vorschlag, ins Kino zu gehen, wurde verworfen. Er gab uns den Rat, erst einmal in Ruhe zu überlegen. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 63 iii) Infinitivgruppen, die mit einem hinweisenden Wort angekündigt oder wieder aufgenommen werden, sind nie kohärent; sie sind meistens sogar herausgestellt. Zu tanzen, das ist ihre größte Freude. Erinnere mich daran, den Mülleimer auszuleeren. Ihre Absicht ist es, im nächsten Jahr nach Mallorca zu fahren. iv) Kohärente Infinitivgruppen, die nicht durch ein Komma abgetrennt werden dürfen, hängen von einem Hilfsverb oder von „brauchen“, „pflegen“, „scheinen“, „drohen“ ab. Die Spur war ganz deutlich zu sehen. Sie haben uns gar nichts zu befehlen! Du brauchst dich wegen dieser Sache nicht zu schämen. Sie pflegt abends ein Glas Wein zu trinken. Er scheint heute schlecht gelaunt zu sein. Das Haus droht einzustürzen. v) Wenn eine Infinitivgruppe als Objekt bestimmter Verben wie versuchen oder bitten fungiert, kann sie kohärent oder inkohärent sein. Eindeutig kohärent bei Satzverschränkung und innerhalb der verbalen Klammer: Diesen Vorgang wollen wir zu erklären versuchen. (Verschränkung: Objekt von zu erklären im Vorfeld von wollen ... versuchen). Den genannten Betrag bitten wir auf unser Konto zu überweisen. (Verschränkung w.o.) Wir hatten den Betrag zu überweisen beschlossen. (in der verbalen Klammer) Fazit: Duden-Rechtschreibung (2006) und andere traditionelle Darstellungen erfassen die in der neueren Forschung herausgearbeitete einfache Systematik des Kommas nicht. Salopp formuliert signalisiert das Komma eine satzinterne Nicht-Subordination oder eine satzinterne Satzgrenze. Zweifelsfälle und Probleme ergeben sich nicht im reformierbaren Schriftsystem, sondern im nicht-reformierbaren lautlich realisierten Sprachsystem. Literatur: Afflerbach, Sabine. 1997. Ontogenese der Kommasetzung vom 7. bis zum 17. Lebensjahr. Eine empirische Studie. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Altmann, Hans. 1981. Formen der 'Herausstellung' im Deutschen. Tübingen: Niemeyer. ●Bredel, Ursula. 2008. Die Interpunktion des Deutschen. Ein kompositionelles System zur Online-Steuerung des Lesens. Tübingen: Niemeyer. ●Bredel, Ursula. 2009. Das Interpunktionssystem des Deutschen. In: Linke, Angelika / Feilke, Helmuth (Hgg.). Oberfläche und Performanz. Tübingen: Niemeyer, 117-135. ●Bredel, Ursula / Primus, Beatrice. 2007. Komma et Co: Zwiegespräch zwischen Grammatik und Performanz. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 26, 81-131. Duden. 2006. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag. ●Dürscheid, Christa. 2006. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien. 3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, Kap. 4.6 •Eisenberg, Peter / Feilke, Helmut / Menzel, Wolfgang. 2005. Zeichen setzen Interpunktion. Basisartikel Praxis Deutsch 191. ●Fuhrhop, Nanna. 2005. Orthografie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, Kap. 9. Gallmann, Peter. 1997. Zum Komma bei Infinitivgruppen. In: Augst, Gerhard et al. (Hgg.) Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen: Niemeyer, 435-462. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 64 Günther, Hartmut. 2000. "...und hält den Verstand an" - Eine Etüde zur Entwicklung der deutschen Interpunktion 1522-1961. In: Thieroff, Rolf / Tamrat, Matthias / Fuhrhop, Nanna / Teuber, Oliver (Hgg.) Deutsche Grammatik in Theorie und Praxis. Festschrift für Peter Eisenberg. Tübingen: Niemeyer, 275-286. ●Maas, Utz. 1992. Grundzüge der deutschen Orthographie. Tübingen: Niemeyer, Kap. 89. ●Nerius, Dieter. 2007. Deutsche Orthographie. 4. neu bearbeitete Auflage. Hildesheim: Olms. Primus, Beatrice. 1993. Sprachnorm und Sprachregularität: Das Komma im Deutschen. In: Deutsche Sprache 21, 244-263. Primus, Beatrice. 1997. Satzbegriffe und Interpunktion. In: Augst, Gerhard et al. (Hgg.). Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen: Niemeyer, 463-488. Primus, Beatrice. 2007. The typological and historical variation of punctuation systems: Comma constraints. Written Language and Literacy 10.2, 103-128. ●Primus, Beatrice. 2009. Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems. Erscheint in: Bredel, Ursula / Hinney, Gabriele / Müller, Astrid (Hgg.). Rechtschreib- und Schriftkompetenz: Graphematik, Didaktik, Empirie. Tübingen: Niemeyer. Kommasetzung im Sprachvergleich Der Interpunktion, dem Komma im Besonderen, werden in der Forschung unterschiedliche Funktionen zugewiesen (vgl. Bredel & Primus 2007, Mesch (i. E.)): (1) (2) (3) (4) prosodische bzw. stilistisch-rhetorische semantische (z. B. Nerius 2007: 147f.) syntaktische (Eisenberg 1979, Behrens 1989, Primus op. cit.) Steuerung des Online-Leseprozesses (Bredel op. cit.) Einem Interpunktionssystem werden in einigen Ansätzen mehrere Funktionen zugeschrieben, vgl. Baudusch (1981, 2000) zum Deutschen: Intonation Syntax Semantik u. a. Interpunktion ODER: die verschiedenen Funktionen werden zur typologischen oder diachronen Differenzierung von Interpunktionssystemen herangezogen (vgl. die kritische Diskussion in Bredel & Primus 2007, Primus 2007). Fälle wie die folgenden unterstützen scheinbar die These, die Kommasetzung sei semantisch und/oder prosodisch-stilistisch motiviert: (1) Ich rate, ihm schnell zu helfen. Ich rate ihm, schnell zu helfen. Ich rate ihm schnell, zu helfen. (2) Der Lehrer sagt, Hans beherrscht die Kommasetzung nicht. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 65 Der Lehrer, sagt Hans, beherrscht die Kommasetzung nicht. Zur vermeintlichen prosodischen und stilistisch-rhetorischen Funktion des Kommas: Die Varianten in (2) haben eine unterschiedliche Intonation / Prosodie und einen unterschiedlichen stilistischen Effekt. ABER: Die Unterschiede in Prosodie und Stilistik sind die Folge einer unterschiedlichen syntaktischen Konstruktion (nämlich einer Herausstellung), die wiederum die Kommasetzung direkt determiniert. Zur vermeintlichen semantischen Funktion des Kommas: Die Varianten in (1) und (2) haben je eine unterschiedliche Bedeutung. ABER: Die unterschiedliche Bedeutung ist die Folge einer unterschiedlichen syntaktischen Konstruktion, die wiederum die Kommasetzung direkt determiniert. Dem Komma kommt die Aufgabe zu, dem Leser die jeweilige syntaktische Konstruktion optisch anzuzeigen. Zwischen Kommasetzung und Semantik gibt es kein unmittelbares Verhältnis. Die traditionelle funktionale Interpunktionstypologie geht davon aus, dass die o.g. Funktionen jeweils unterschiedliche Interpunktionssysteme determinieren. Dabei spielt die Kommasetzung, welche die deutlichste Sprachvariation zeigt, eine entscheidende Rolle in der Interpunktionstypologie. Das bedeutet, dass in unterschiedlichen Kommasystemen eine jeweils unterschiedliche Funktion als dominant erachtet wird. rhetorisch-stilistische Interpunktion grammatisch-syntaktische Interpunktion "Die Satzzeichen sind graphische Zeichen für den Intonationsverlauf und die Gliederung der Rede durch Pausen." (Berschin et al. 1995: 156) "Die Satzzeichen tragen zur Konstituierung und Kennzeichnung bestimmter syntaktischer Bezüge und Konstruktionen bei." (Behrens 1989: 128) Es gibt keine festen Regeln, die Zeichensetzung hängt vielmehr "sehr vom subjektiven Stilgefühl" ab. (Vera-Morales 1995: 812) Intonation, Stil Semantik/Pragmatik Syntax Interpunktion Intonation Bsp. die romanischen Interpunktionssysteme Interpunktion Bsp.: die moderne deutsche Interpunktion kontrovers diskutiert: ältere deutsche Interpunktion (Besch 1981, dagegen argumentiert Günther 2000) englische Interpunktion (Quirk et al. 1972, Nunberg / Briscoe 2002) Quirk et al. (1972: 1055): "punctuation practice is governed primarily by grammatical considerations [...] traditional attempts to relate punctuation directly to (in particular) pauses are misguided. Nor, except to a minor and peripheral extent, is punctuation concerned with expressing emotive or rhetorical overtones, as prosodic features frequently are [...] there are two important qualifications to make to the foregoing generalizations [...] a great deal of flexibility possible in the use of the comma" Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 66 Als diachrone Hypothese: rhetorisch-stilistische > grammatische Interpunktion Vgl. u.a. Müller 1964 zum Lateinischen, Besch 1981 zum Deutschen Bredel & Primus (2007), Primus (2007): Bei der Interpunktion geht es im Kern: a) nicht um syntaktische Konstruktionen, sondern um grundlegende syntaktische Verknüpfungsrelationen / -verfahren. b) um eine besondere (Komma), defektive (Gedankenstrich, Auslassungspunkte) oder abwesende syntaktische Verknüpfung (Satzabschlusszeichen). Alle Kommasetzungssysteme sind syntaktisch motiviert und unterscheiden sich nur hinsichtlich der Bedingung (1c) voneinander. (1) Ein Komma steht zwischen zwei (einfachen oder komplexen) sprachlichen Ausdrücken genau dann, wenn (a) und (b) oder (a) und (c) zutreffen: (a) Die Ausdrücke stehen in derselben kommunikativen Einheit (demselben „Satz“ im weitesten Sinn). (b) Die Ausdrücke sind nicht-subordinativ miteinander verknüpft. Für Koordinationen mit einem echten Koordinator haben unterschiedliche Systeme eine unterschiedliche Zusatzregel, welche die komplementäre Verteilung von Komma und Koordinator regelt. (c) Die Ausdrücke sind durch eine Satzgrenze getrennt. Kommasysteme, in denen (1c) neben (1a, b) gilt: z. B. Deutsch, Russisch, Ungarisch, älteres Norwegisch, älteres Schwedisch Kommasysteme, in denen nur (1a, b), nicht (1c) gilt: z. B. alle romanischen Sprachen, Englisch, neueres Norwegisch und Schwedisch Bsp. Englisch Satzinterne Satzgrenzen ohne Herausstellung (relevant ausschließlich für Bedingung (1c)): Restriktive Relativsätze: *Dogs, that bark, don't bite. (* in der Sprichwort-Lesart) Cleft-Sätze: *It was John, who won the race. Subjekt- oder Objektsätze ohne pronominale Kopie:*I told him, that he was a liar. Obligatorische Herausstellungen (Bedingung (1b)): My neighbour, she's just won the lottery. I don't think a lot of him, the new manager. I suggest you drop the idea, Audrey. *My neighbour, just won the lottery. *I don't like, the new manager. *I suggest you drop the idea Audrey. Optionale Herausstellung: Frankly, it was an absolute disgrace. Frankly it was an absolute disgrace. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 67 Ambig: I know Helen I know, Helen. ‘Ich kenne Helene.’ ’ich weiß (es), Helene.’ Zusätzliche Literatur, s. auch Vorlesung zur Kommasetzung im Deutschen Baudusch, Renate. 1981. Prinzipien der deutschen Interpunktion. Zeitschrift für Germanistik 2, 206–218. Baudusch, Renate. 2000. Zeichensetzung klipp und klar. Funktion und Gebrauch der Satzzeichen verständlich erklärt. Völlig neu bearbeitet und erweitert von Dr. Ulrich Adolphs und Dr. Gisela Hack-Molitor. Gütersloh, München: Bertelsmann. Behrens, Ulrike. 1989. Wenn nicht alle Zeichen trügen. Interpunktion als Markierung syntaktischer Konstruktionen. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Berschin, Helmut / Fernández-Sevilla, Julio / Felixberger, Josef. 1995. Die spanische Sprache. 2. Aufl. München: Hueber. Besch, Werner. 1981. Zur Entwicklung der deutschen Interpunktion seit dem späten Mittelalter. In: Smits, K./Besch, W./Lange, V. (Hgg.). Interpretation und Edition deutscher Texte des Mittelalters. Festschrift für John Asher. Berlin: Erich Schmidt, 187206. Eisenberg, Peter. 1979. Grammatik oder Rhetorik? Über die Motiviertheit unserer Zeichensetzung. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 7, 323-337. Günther, Hartmut. 2000. "...und hält den Verstand an" - Eine Etüde zur Entwicklung der deutschen Interpunktion 1522-1961. In: Thieroff, R. / Tamrat, M. / Fuhrhop, N. / Teuber, O. (Hgg.) Deutsche Grammatik in Theorie und Praxis. Festschrift für Peter Eisenberg. Tübingen: Niemeyer, 275-286. Mesch, Birgit (im Erscheinen). Kleines Zeichen – grosse Wirkung: Das Komma im Deutschen und Spanischen. Vortrag für den "Internationalen Germanisten-Kongress" in Sevilla vom 15. bis 17. Dez. 2008. Zur Veröffentlichung eingereicht in: Estudios Filológicos Alemanes. Revista del Grupo de Investigación. Filología Alemana. Bd. 16. Sevilla: Fénix Editora. Im Erscheinen. Müller, Rudolf Wolfgang. 1964. Rhetorische und syntaktische Interpunktion. Untersuchungen zur Pausenbezeichnung im antiken Latein. Dissertation, Universität Tübingen. Nunberg, Geoffrey / Ted Briscoe. 2002. Punctuation. In: Huddleston, R. / Pullum, G.K. The Cambridge Grammar of the English Language. Cambridge: Cambridge University Press, 1723-1764. Quirk, Randolph / Greenbaum, Sidney / Leech, Geoffrey / Svartvik, Jan. 1972. A grammar of contemporary English. London: Longman, Appendix III: Punctuation 1053-1081. Vera-Morales, José. 1995. Spanische Grammatik. München / Wien / Oldenburg. Die Interpunktion im Ansatz von Bredel – Filler (Gedankenstrich, Auslassungspunkte) Definition (Bredel 2008, 2009): Die Interpunktionszeichen sind einelementige Paradigmen des Schriftsystems [d. h. nicht füreinander substituierbar], die nicht miteinander kombinierbar, nicht verbalisierbar sind, selbständig vorkommen und ohne graphischen Kontext darstellbar sind. Der Schrägstrich ist verbalisierbar und somit im Sinne der obigen Definition kein Interpunktionszeichen: Schüler/innen → Schüler und Schülerinnen. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 68 Die Interpunktionszeichen des Deutschen gemäß obiger Definition: <- ’… – . , ; : ! ? ( ) „“> Der Ansatz von Bredel hebt sich durch zwei Hauptannahmen von bisherigen Auffassungen ab: i) Kompositionalität: Die Formmerkmale der Interpunktionszeichen sind nicht arbiträr, sondern funktional motiviert. Die Funktion der Einzelzeichen lässt sich aus den Einzelmerkmalen oder Einzelelementen, aus denen sie zusammengesetzt sind, und der Art ihrer Kombination ermitteln. ii) Optimierung des Leseprozesses als Grundfunktion: Die Interpunktionszeichen steuern den Leseprozess. Mithin gehören sie zur Performanz (neuronale Sprachverarbeitung) und nicht zum grammatischen System (Kompetenz). Da im Leseprozess auch grammatische Strukturen nach allgemeinen Sprachverarbeitungsstrategien verarbeitet werden, ergeben sich indirekte Bezüge zu grammatischen, u. a. auch morphologischen und syntaktischen Strukturen. Grundfunktion der Interpunktion: Interpunktionszeichen treten nur dann auf, wenn der Leser von Default-Sprachverarbeitungsstrategien abweichen muss (vgl. auch Maas 1992 in grammatischen Termini in der Vorlesung zur Kommasetzung im Deutschen). In Bredels Ansatz gehören Gedankenstrich und Auslassungspunkte zur Klasse der Füllerzeichen (Filler), die auch Bindestrich (Divis) und Apostroph umfasst. Füller formal: ● Merkmal [+LEER]: kein Grundlinienkontakt. Auslassungspunkten sind zugrundeliegend hochgestellte Apostrophe: <´´´>. Dies war auch ihre ursprüngliche historisch belegte Form. ● Filler besetzen einen eigenen segmentalen Schreibraum und können links und rechts neben sich denselben Typ von Zeichen haben. Klitika lehnen sich an ein Stützzeichen an: S e e - Filler E l e f a n t! Klitikon Buchstaben links und rechts: n-fach, heil’ge Leerzeichen links und rechts: er geht – glaube ich zumindest – spazieren, er geht ... Füller funktional: okulomotorische Zeichen („Augenzeichen“): Anzeiger defekter Einheiten. Das Wort bzw. der Text muss rekodiert werden (Rekodieren). Die verlängerten [+reduplizierten] Füller, Gedankenstrich und Auslassungspunkte, zeigen Defekte auf der Satz- und Textebene an. Die einfachen [-reduplizierten] Füller, Bindestrich und Apostroph, zeigen Defekte innerhalb eines Wortes an. Die nicht-vertikalen Füller, Gedankenstrich und Bindestrich, signalisieren reversible Defekte, die im unmittelbar benachbarten Text behoben werden. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 69 Die vertikalen Füller, Auslassungspunkte und Apostroph, zeigen im Text nicht behebbare / irreversible Defekte, zu denen insbesondere Auslassungen gehören. Zusammenfassung – Füller – Funktion und Formmerkmale in Klammern Defekt im benachbarten Defekt innerhalb eines Defekt auf der Satz- oder Text Wortes [-redupliziert] Textebene [+redupliziert] BINDESTRICH / DIVIS GEDANKENSTRICH auf- und abschreitende behoben/reversibel See-Elefanten im heiliEr hatte das Geld – gestohlen [-vertikal] gen Bezirk nicht behoben/irreversibel APOSTROPH AUSLASSUNGSPUNKTE heil’gen Er hatte das Geld … [+vertikal] Auslassungspunkte Formmerkmale: [+LEER], [+REDUPLIZIERT], [+VERTIKAL]. Funktion: Anzeiger defekter bzw. vom Default abweichender Satz- und Texteigenschaften oberhalb der Wortebene, die im unmittelbaren Kontext nicht repariert werden (z. B. Abbruch, Auslassung). Zum Vergleich: Duden-Rechtschreibung (2006) K 17 : Drei Auslassungspunkte zeigen an, dass in einem Wort, Satz oder Text Teile ausgelassen worden sind. Verd...! Der Horcher an der Wand ... Die Erhebung fand in den nachfolgend genannten Städten ... zum ersten Mal statt. Hinweis: im ersten Beispiel liegt eine Ein-Wort-Äußerung vor, allerdings könnte man argumentieren, dass ein Defekt unterhalb der Wortebene vorliegt. Gedankenstrich Formmerkmale: [+LEER], [+REDUPLIZIERT], [–VERTIKAL]. Funktion: Anzeiger defekter bzw. vom Default abweichender Satz- und Texteigenschaften oberhalb der Wortebene, z. B. Abbruch, Themenwechsel, Sprecherwechsel. Der Defekt wird im unmittelbaren Kontext behoben (z. B. Abbruch und Wiederaufnahme, neues Thema, neuer Sprecher). Der Gedankenstrich kann parallel zum Divis beschrieben werden mit dem Unterschied, dass nicht Wort-, sondern Satz- und Texteigenschaften betroffen sind. a) „Trenn-Gedankenstrich“: Er hatte das Geld – gestohlen. b) „Binde-Gedankenstrich“: Bist du sicher? – Ganz sicher! c) „Ergänzungs-Gedankenstrich“: Du bist ein –! Der Ergänzungs-Gedankenstrich ist in Bezug auf die Opposition Reversibilität vs. Irreversibilität inkonsistent. Vergleich Auslassungspunkte vs. Gedankenstrich: Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 70 Die Erhebung fand in den nachfolgend genannten Städten ... zum ersten Mal statt. Die Erhebung fand in den nachfolgend genannten Städten – zum ersten Mal statt. Zum Vergleich – der Gedankenstrich in Duden-Rechtschreibung „Der Gedankenstrich wird häufig dort verwendet, wo man in der gesprochenen Sprache eine deutliche Pause macht. Oft könnten in solchen Fällen auch andere Satzzeichen wie Kommas oder Klammern gesetzt werden.“ Der einfache Gedankenstrich K 43: Ein Gedankenstrich kündigt etwas Folgendes, oft etwas Unerwartetes an. (Gelegentlich kann an dieser Stelle auch ein Doppelpunkt oder ein Komma stehen.) Plötzlich – ein gellender Aufschrei! Auch möglich: Plötzlich: ein gellender Aufschrei! Plötzlich, ein gellender Aufschrei! Du kannst das Auto haben – und zwar geschenkt! Auch möglich: Du kannst das Auto haben, und zwar geschenkt! In manchen Texten kennzeichnet der Gedankenstrich auch (statt Auslassungspunkten) das Verschweigen eines Gedankenabschlusses. „Sei still, du –!“, schrie er ihn wütend an. K 44: Zwischen Sätzen kann der Gedankenstrich den Wechsel des Themas oder des Sprechers anzeigen. Wir sprachen in der letzten Sitzung über die Frage der Neustrukturierung unserer Abteilung. – Ist übrigens heute schon die Post gekommen? „Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?“ – „Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?“ Der doppelte (paarige) Gedankenstrich K 45: Mit Gedankenstrichen kann man Zusätze oder Nachträge deutlich vom übrigen Text abgrenzen. (Meist können an den entsprechenden Stellen auch Kommas stehen; Klammern wären oft ebenso möglich.) Dieses Bild – es ist das letzte und bekannteste der Künstlerin – wurde vor einigen Jahren nach Amerika verkauft. Auch möglich: Dieses Bild, es ist das letzte und bekannteste der Künstlerin, wurde ... Dieses Bild (es ist das letzte und bekannteste der Künstlerin) wurde ... Weitere Funktionen in Berger (1982): Bei kettenartig aneinandergereihten Stichwörtern: Weitere Stilmittel: Anrede – Verallgemeinerung – Adjektiv Bei Gegenüberstellungen: bald hier – bald dort Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 71 Zum Unterschied zwischen Komma und Gedankenstrich (vgl. Primus 2008): Der Gedankenstrich als Augenzeichen (okulomotorische Funktion): der grammatische Prozessor bekommt keinerlei Anweisungen. Die NP-Struktur wird mithin nicht zerstört: dieser – für – meine – weitere – Untersuchung – sehr – wichtigen – Stelle Das Komma als Strukturierungszeichen: Der grammatische Prozessor bekommt die Anweisung, syntaktisch nicht-subordinativ zu verknüpfen. Da dies bei der vorgegebenen Wortkette syntaktisch nicht möglich ist, wird die NP-Struktur zerstört: dieser, für, meine, weitere, Untersuchung, sehr, wichtigen, Stelle Ein scheinbar paradoxer Befund: Der zweite Gedankenstrich wird immer gesetzt, das zweite Komma wird bei NP-internen Herausstellungen eher gemieden: an dieser – für meine weitere Untersuchung sehr wichtigen – Stelle an dieser, für meine weitere Untersuchung sehr wichtigen(,) Stelle These Primus (2008): an der syntaktisch engen Verknüpfungsstelle zwischen Adjektivphrasen-Kopf (wichtigen) und NP-Kopf (Stelle, s. Kongruenz als Zeichen der Subordination trotz Herausstellung), stört das grammatische Komma, nicht aber der nichtgrammatische Gedankenstrich. Literatur: Berger, Dieter. 1982. Komma, Punkt und alle anderen Satzzeichen. 2. Aufl. Mannheim: Dudenverlag. ●Bredel, Ursula / Primus, Beatrice. 2007. Komma et Co: Zwiegespräch zwischen Grammatik und Performanz. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 26, 81-131. ●Bredel, Ursula. 2008. Die Interpunktion des Deutschen. Ein kompositionelles System zur Online-Steuerung des Lesens. Tübingen: Niemeyer. ●Bredel, Ursula. 2009. Das Interpunktionssystem des Deutschen. In: Linke, Angelika / Feilke, Helmuth (Hgg.). Oberfläche und Performanz. Tübingen: Niemeyer, 117-135. Duden. 2006. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim et al.: Dudenverlag. Primus, Beatrice . 2008. Diese – etwas vernachlässigte – Herausstellung. In: Deutsche Sprache 2008 (1), 3- 26. Interpunktion im Ansatz von Bredel – Klitika (Punkt, Semikolon, Fragezeichen, Ausrufezeichen, Komma) Interpunktionszeichen Filler <- … – ’> Form: [+LEER]: kein Grundlinienkontakt Funktion: Klitika <. , ; : ! ? ( ) „“> Form: [-LEER]: mit Grundlinienkontakt Funktion: Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 okulomotorische Zeichen Anzeiger defekter Einheiten Rekodieren 72 Subvokalisationszeichen: Anzeiger sprachlicher, nicht-defekter Strukturen Dekodieren Klitika <. , ; :> Form: [-vertikal] Funktion: grammatisch < ! ? ( ) „“> Form: [+vertikal] Funktion: kommunikativer Rollenwechsel Klitika mit vertikalem Aufbauelement signalisieren einen kommunikativen Rollenwechsel. Die normale Rollenverteilung in der schriftlichen Kommunikation ist die zwischen einem anonymen Autor und einem anonymen Adressaten (= normale Interaktionsrollen). Der Adressat ist ein Nicht-Wissender, der vom Autor Informationen bekommt (= normale epistemische Rollen). Die Klitika mit vertikalem Aufbauelement zeigen an, wenn sich an dieser normalen Rollenverteilung etwas ändert: Form: [-redupliziert]. Funktion: Veränderung der epistemischen Rollen Fragezeichen: Der Adressat bekommt keine Information, sondern soll eine Information geben. Der Autor ist ein Nicht-Wissender, der Adressat ein Wissender. Ausrufezeichen: Der Adressat soll die Information zusätzlich bewerten. Er übernimmt die Rolle des Bewertenden. Form: [+redupliziert]. Funktion: Veränderung der Interaktionsrollen Anführungszeichen: Das Geschriebene ist keine Autorrede, sondern Figurenrede. Klammern: Das Geschriebene ist eine Erläuterung außerhalb des Trägertextes. Autor und Adressat befinden sich außerhalb des Trägertextes in einer zusätzlichen ‚entre nous‘Interaktion. Klitika, deren Aufbauelement [-vertikal] ist, weisen auf die grammatische Sprachverarbeitung hin (vgl. Bredel / Primus 2007) Punkt: die grammatische Sprachverarbeitung wird abgeschlossen. Der Mensch denkt. Gott lenkt. Doppelpunkt: die grammatische Sprachverarbeitung wird abgeschlossen (Punkt auf der Grundlinie, Majuskel kann folgen); ein Element der Vorgängereinheit wird aufgegriffen und weitergeführt (reduplizierter Punkt). Der Mensch denkt: Gott lenkt. Komma: die grammatische Sprachverarbeitung läuft weiter (satzinterne Verknüpfung), ist aber nicht subordinativ oder muss eine Satzgrenze überwinden. Prof. Dr. Beatrice Primus – Vorlesung „Das Schriftsystem des Deutschen“ – SoSe 2009 73 Der Mensch denkt, Gott lenkt. Mensch, denk an Gott. Semikolon: die grammatische Sprachverarbeitung läuft weiter, ist aber nicht subordinativ (Komma auf der Grundlinie); die nicht-subordinativ verknüpften Teile sind in sich abgeschlossen, keine Subordinationsreste (Punkt als Aufbauelement). Also keine Herausstellung, sondern Satzkoordination ohne Koordinationstilgung. Der Mensch denkt; Gott lenkt. *Gott denkt; lenkt. Zusammenfassung (Bredel 2009): [±VERTIKAL] (Instruktionstyp) [±REDUPLIZIERT] (Domäne) [+REDUPLIZIERT] [–REDUPLIZIERT] Sprachsystem Text Satz Wort <:> [-VERTIKAL] Verkettung <–> <„“> <( )> [+VERTIKAL] Rollenwechsel <.> <,> <;> <…> Literatur wie in der vorigen Vorlesung <-> <?> <!> <’> [±LEER] (Kodiermodus) [-LEER] Dekodieren [+LEER] Rekodieren [-LEER] Dekodieren +[LEER] Rekodieren