Weder blind noch taub - Graswurzelrevolution

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Weder blind noch taub - Graswurzelrevolution
GWR 364
Dezember 2011
dezember 2011/364 graswurzelrevolution
1
www.graswurzel.net
40. Jahrgang Preis: 3,- Þ (D)
4,- Þ (A); 4,80 CHF (Schweiz)
D 4025 E
ISSN 0344/2683
GWR-Vertrieb: Birkenhecker Str. 11
D-53947 Nettersheim
GWR-Koordinationsredaktion:
Breul 43, D-48143 Münster
für eine gewaltfreie,
herrschaftslose gesellschaft
dress is not a yes“
Weder blind noch taub „A
Antisexismus. Slutwalks erobern weltweit die Straßen
Ein Kommentar zum Neonaziterror in Deutschland
2010 besang die Naziband „Die braunen Stadtmusikanten“ in einem
Lied die Mörder, die bundesweit an Dönerbuden Menschen mit
Migrationshintergrund erschossen hatten, und stilisierte sie zu
faschistischen Helden.
„Neunmal hat er es jetzt schon
getan. Die Soko Bosporus, sie
schlägt Alarm. Die Ermittler
stehen unter Strom. Eine blutige Spur und keiner stoppt das
Phantom. Sie drehen durch,
weil man ihn nicht findet. Er
kommt, er tötet und er verschwindet. Spannender als jeder Thriller, sie jagen den Döner-Killer [ ...] Bei allen Kebabs herrschen Angst und
Schrecken. Der Döner bleibt im
Halse stecken, denn er kommt
gerne spontan zu Besuch, am
Dönerstand, denn neun sind
nicht genug.“
Das Lied wurde auf CD publiziert. Offensichtlich wusste die
faschistische Szene, dass Neonazis die TäterInnen waren.
Den staatlichen Behörden von
Verfassungsschutz, Polizei und
Staatsanwaltschaft war dieses
Lied nicht unbekannt.
Das Problem ist nicht, dass die
Strafverfolgungsbehörden zu
wenig wussten, sondern dass
sie sehenden Auges von ernsthaften Ermittlungen abgesehen
haben. Insofern haben auch die
Forderungen nach noch mehr
Polizeistaat, neuen Datenbanken, der weiteren Auflösung der
Grenzen zwischen Verfassungsschutz und Polizei usw.,
die wieder mal gestellt werden,
nichts mit den Morden zu tun.
Im Gegenteil, sie würden Straf-
verfolgungsbehörden und polizeistaatliche Strukturen stärken, die gerade Teil des Problems und nicht der Lösung
sind.
Laut SPIEGEL vom 21.11.2011
wurden seit 1990 mehr als 140
Menschen durch Neonazis in
Deutschland ermordet.
Ab und an wird darüber berichtet, real passiert aber von Seiten des Staates und der „bürgerlichen Mitte“ kaum etwas.
Im Gegenteil, die in der Bundesregierung zuständige Ministerin Kristina Schröder sieht das
Problem vor allem im „Linksextremismus“ und in der „Deutschenfeindlichkeit“.
In weiten Teilen der deutschen
Nomenklatura, der Mittelschicht und erst Recht in den
Reihen der UniformträgerInnen
der verschiedenen Dienste und
des Militärs herrscht die offene Akzeptanz und Unterstützung rassistischer und sozialrassistischer Ideologien vor.
Die Verfolgungsbehörden wissen genau zwischen linker und
rechter Gewalt zu differenzieren.
Während linksradikale Gewalt,
die sich gegen Personen und
Institutionen der Herrschaft
richtet und damit eben auch gegen die Repressionsorgane, mit
viel Aufwand verfolgt wird,
bringen die Neonazis ja „nur
Leute um“, deren Leben im
Denken vieler Beschäftigter
dieser Dienste nur nachgeordneten Wert besitzt.
Wer gegen MigrantInnen hetzt
und die Opfer kapitalistischer
Ausbeutung als „Sozialschmarotzer“ diffamiert und sich dann
mit Betroffenheitsmiene darüber wundert, dass Nazis diesen
Worten Taten folgen lassen, ist
niemand, von dem Menschen
Schutz und Gerechtigkeit erwarten können.
Noch dazu, wo auch aus der
Polizeiarbeit viele Fälle direkter
rassistischer und sozialrassistischer Gewalt bekannt sind, sei
es, dass ein verhafteter Migrant
bei Magenspülungen ertränkt
wird oder Obdachlose „Verletzungen erleiden“, u.a.
Die Biedermänner und -frauen
stehen verdeckt hinter den
BrandstifterInnen.
Eine antirassistische und soziale Gesellschaft wird gegen
diese Kräfte und gegen Neonazis von der Basis aus durchgesetzt werden müssen.
Eine Ausweitung der Polizeibefugnisse führt nur zur Verfolgung gewaltfrei agierender
AntiFa-Gruppen, wie das Beispiel Jena zeigt.
Blockaden und andere konsequente, gewaltfreie Aktionen
sind dabei die Mittel, die wirken, denn auch mit „gut gemeinter“ Gewalt werden letztendlich Hierarchien und autoritäre Strukturen gestützt und
damit auch die Neonazis gestärkt.
Dju
Seite 5
Slutwalk am 29. Oktober 2011
Verloren im griechischtürkischen Grenzgebiet
Das Gebiet am Evros-Fluss, entlang der griechischtürkischen Grenze, ist ein tragischer Ort, wo
zahlreiche Flüchtlinge verschwinden, von denen
einige tot aufgefunden werden. Verwandte und
Freunde der Verschwundenen suchen in Haftlagern, Krankenhäusern und Friedhöfen nach
ihnen. Sie kommen von weit her, um Antworten
auf ihre Fragen zu finden. In den letzten beiden
Jahren wurden die meisten Tode durch Ertrinken
oder Unterkühlung verursacht. Eine kleinere Anzahl
an Todesfällen geht auf Auto- und Zugunfälle
zurück. 70 Flüchtlinge und MigrantInnen starben
nach Angaben des Gerichtsmediziners der Provinz
Libertäre Jugendzeitschriften. Eine historische Einordnung der utopia
Seite 10-11
utopia Nr. 21. Die letzte Ausgabe ?
Inhalt: Wer gehört zum Regenbogen?; Bleibt tapfer; Danke!; Tausche Obstkorb gegen Sicherheit; Ist
Merkel links?; Ein Erbe der Apartheid; Zeitungmachen für Dummies; Mit dem Rücken zum Feld; Schlagkraft erhöht; Elfenbeinküste; Umweltschutz von unten; Zapatismus-Comic; Occupy - und dann?
Seite 21-28
Thrakien im Jahr 2010 in der Region. 46 von ihnen
konnten nicht identifiziert werden. Allein in den
ersten acht Monaten des Jahres 2011 starben 57
Menschen in diesem Grenzabschnitt.
Der GWR-Artikel der Ethnologin Salinia Stroux
stellt einen Teil der Ergebnisse des PRO
ASYL Monitoring Projektes im griechischen
Grenzgebiet zur Türkei dar und ist in Zusammenarbeit mit dem Infomobil des Netzwerkes Welcome
to Europe erstellt worden. Das Infomobil ist ein
antirassistisches Grassroots-Projekt des mobilen
Informationsaustausches mit, für und über
Flüchtlinge und MigrantInnen.
Seite 3
Aus dem Inhalt
Anarchafeminismus
... gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei
Seite 2
Libertäre Transgender
Der Krieg
Erfrischend selbstironisch
Foto: Bernd Drücke
Projektanarchismus
... vor dem Aus?
Seite 4
Griechisches Chaos
... und das Demokratieverständnis der „Demokraten“
Seite 6
Bolivien
Von TIPNIS in die Krise?
Seite 7
Leben und Werk von Lucía Sánchez Saornil
Seite 8 f.
Rein ins Leben!
Seite 11
Kotau vor Staat und Krieg
Schreibtischtäter: Zeit-Redakteur Bernd Ulrich
Seite 14 ff.
„Sarrazindebatte“
Ein Interview mit
Sebastian Friedrich
Seite 17