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GERHARD
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DIE GEGENWART DER TOTEN
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Ein bemerkenswertes Phänomen in der europäischen Geschichtswissenschaft des letzten Jahrzehnts ist die in Frankreich entfaltete 'Histoire
de la mort', die umfassende Erforschung der Einstellungen und Haltungen der Menschen gegenüber dem Tod und deren Wandel im Lauf der
Jahrhunderte bis zur Gegenwart '. Es liegen dazu inzwischen eine Reihe
von Einzelstudien und Monographien der Historiker Ph. Ariks, P.
Chaunu, F. Lebmn und M. Vovelle vorZ, denen sich die Arbeit des
Literaturhistorikers R. Favre anfügen läßt3. Durch seine Methoden wie
durch seine Ergebnisse bemerkenswert ist auch das 1975176 veröffentlichte zweibändige Werk über die Pest in der europäischen Geschichte
von J.-N. Biraben4. Die große Bedeutung, die das Thema des Todes in
der Geschichtswissenschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
erhält, ist ein in vieler Hinsicht interessantes kulturgeschichtliches Phänomen5. Im wesentlichen handelt es sich dabei allerdings um eine
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' Eine hervorragende Einfuhmng in die derzeit erörterten Fragestellungenund Kontroversen bietet Michel Vovelle, 'Les attitudes devant la mort: problimes de methode,
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approches et lecfures differentes', Annnles E.s.c., 31 (1976), 120-132. Vgl. ferner Jean
Meyer, 'Pierre Chounu, La mort a Paris (XVI', XVII', XVIII' siscles)', Revue historique,
263 (1980). pp. 403416.
Francois Lebmn, Les hßmmes er lo mort en Anjououx 17' er 1% sidcles, Civilisations et
Societes, 25 (Paris-La Haye, 1971): Michel Vovelle, Piere boroque er diehrisrianiwtion en
Provence ou XVIII' siekle (Paris, 1973); Den., Mourir autrefois (Pans, 1974); Philippe
Arik, Essois s w I'histoire de la morr en Occident du moyen öge o nos jows (Pans, 1975);
Ders., L'homme devont In mort (Pans, 1977); Pierre Chaunu, Lo mort 2 Paris. XVI', XVII'
er XVIIP sidcles (Paris, 1978). Zum Thema ferner die Beiträge des Sammelbandes Lo
morr m moyen öge, F'ublications de la Societi Savante d'Alsace et des Regions de I'Est.
Collection 'Recherches et d o m e n t s ' , 25 (Strasbourg, 1977). Während der Dmcklegung
erschienen: Jacques Chiffoleau, Ln co~+~plobilitd
de I'oudeki. Les hommes, 10 mort et lo
religion dans 10 rigion d'Avignon a Iofin du moyen öge ( v m 132ü-vers 14801, Collection
de I'kcole Francaise de Rome, 47 (Roma, 1980); Jacques Le Goff, Lo noissonce du
Purgoroire (Paris, 1981).
Rabert Favre, Lo morr d m lo littdratwe er 10 ,,emde .fimcaises
au si<cle des Iwniires
.
miditerraniern, 2 Bde., Civilisations et Societb, 35/36 (Paris-La Haye. 1975176).
Vovelle, 'Les attituda devant la mort', p. 132; ~ h a u n u Lo
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bp. 3 s .
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'spezifisch' französische Forschungsrichtung6, die deutlich von charakteristische~~
Verfahren der neueren französischen Sozialgeschichtschreibung geprägt ist7 und von der für sie so typischen Verknüpfung der
Beobachtung 'realer' Gegebenheiten bei gleichzeitiger Erfassung der
Denkformen, unter denen diese begriffen werden. Eine der Grundannahmen auch der 'Histoire de la mort' ist die Bedeutsamkeit dessen was G.
Duby genannt hat 'la part de l'imaginaire dans l'~volutiondes societes
humaines".
Ein Aspekt, der untrennbar mit der 'Geschichte des Todes' verbunden ist, bisher aber nicht gesondert ins Blickfeld gerückt wurde, ist die
'Geschichte der Toten', das heißt: die Geschichte der Einstellungen der
Lebenden zu den Toten, die iiicht weniger einem ständigen Wandel
unterworfen sind. Gewiß ist Für das soziale Verhalten von Menschen ihre
Einstellung zum Tod bedeutsam: 'wie die Menschen sich zum Tode
einstellen, bestimmt ihre Haltung gegenüber dem Lehen". Aber ebenso
oder vielleicht noch viel mehr gilt Entsprechendes für die Eiiistellung und
das soziale Verhalten von Individuen und sozialen Gruppen gegenüber
den Toten, mit denen sie zu Lebzeiten in Bekanntschaft, Freundschaft,
Verwandtschaft verbunden waren. Aufschlußreich ist, welche Beziehungen Individuen und Gruppen zwischen sich und den Toten bestehen
lassen, welchen sozialen Status sie den Toten zuerkennen.
Das Zurücktreten der 'Geschichte der Toten' hinter der 'Geschichte
des Todes' überrascht nicht, da in diesem Sachverhalt charakteristische
Einstellungen der Gegenwart zum Vorschein kommen. Einerseits nämlich ist 'wahrscheinlich keine Menschheit je dem Tode gegenüber so
" So Ernrnanuei Le Roy Laduric. 'Chaunu. iebrun. Vovelle: la nouvelle histoire de la
I ((Paris. 1973). pp. 393-403 (P. 402) AIS ein
mort'. in Dcrs.. LP i<,rriioire I'l.hhiori<~r~,
Beitrag von deutscher Scite rum Thema kann gcnanni wcrdei~dic von Rudolf Lenz
inaugurierte interdiszipliriäre Erforschung der irühneuzeitlichcn Leichenprediglen : R.
olr Qiiell~~
hisiorircii<>rM'i.rsoiich~li<,,. Bd. I (Köin-Wien.
Lenz. cd.. Lci</i~>ipr<,dixieii
1975); Bd. 2 (Marburg. 1979).
Die Verfahren der 'Histoire sCiielle' haben vor allem M. Vovelle und P. Chaunu bei
der Ausweitung von Testamenten angewendet. Vgl. Pierre Chaunu. 'U" nouveau champ
pour I'histoiie skricile: le quantitatif au troisicme niveau'. in M i 1 ~ ~ ~ g o
ei. s I./vironr,cur r k
Fcrnond Braudel. 2 (Toulouse. 1973). pp. 105.125 (pp. i I Iss.) sowic Ders.. Hi.:loire. rcience
sociale (Paris. 1974). pp. 384ss.
' Georges Duby. 'Histoire sociaie et idCoiogies des sociCtCs'. in Jacques Le Goff - Pierrc
Noia. eds., Fair<~d~~I%i.~ioire.
I (Paris. 1974). pp. 147-1<.8(p. 168). Vgl. dazu Louis-Vincenl
Thomas. A,iil?ropologi~~
</C10 i>iori (Paris. 1976). pp. 4 9 4 s
Qberhard Friedrich Bruck. 'Die Stiftungen für die Toten in Recht. Religion und
politischem Denkcn der Römcr'. in Ders., <;her römisches R<,c/?iim Rolimc,,i der Kuliurgescliichie (Berlin-Götlingen-Heidelberg,1954). pp. 46-100 (p. 47).
DIE
<jli<;l-YWAK'I[>ER T O l t i X
21
ratlos gewesen wie die heutige"', andererseits gibt es in der Geschichte
wahrscheinlich sonst keine Gesellschaften, denen die Toten so fern sind
wie den europäischen Gesellschaften der Moderne". Der von einem
Historiker unlängst umschriebene Sachverhalt, da8 'keine Klasse der
heutigen Gesellschaft so rücksichtslos' unterdrückt werde, wie die TotenL2,ließe sich im Grunde noch präziser bezeichnen mit der Feststellung, daß die Toten in der modernen Gesellschaft nicht einmal mehr eine
unterdrückte Klasse sind; sie sind nämlich, im radikalen Sinne, nichts
mehr.
Nach Auffassung des modernen Rechts endet die Person mit dem
Tode; es endet die Rechtsfähigkeit des Menschen. durch die er Subjekt
von Rechtsverhältnissen, also Inhaber von Rechten und Adressat von
Pflichten war, es enden seine Handlungsfahigkeit, seine Vermögensfähigkeit, seine personenrechtlichen Verhältnisse". Die Rechtspersönlichkeit
'erlischt'. Was von der Person bleibt, so meinte ein Soziologe, 'ist ein
Ding, die Leiche'I4. Außer ihr 'bleibt' nur das Andenken bei den
Nachlebenden. Deshalb sind nur die Leiche und das Andenken des Toten
noch Gegenstand rechtlicher Normen: die Leiche ist es im öffentlichen
Recht unter dem Gesichtspunkt der Sicherung der Lebenden vor gesundheitlichen Gefahren und strafrechtlich im Sinn eines Schutzes gegen
pietätloses VerhaltenL? Auch das Andenken wird vor Verunglimpfungen geschützt 'C Ansonsten aber gilt : 'das Rechtssubjekt ist gewesen'.
'der Tote ist aus unserem Kreise ausgeschieden. Er ist nicht mehr Subjekt
' O Cail Friedrich von Weizsäckei. 'Der Tod'. in Ansgar Paus. ed.. Gro>:ci:fahning Tod
(Frankfuit a. M., 1978). pp. 319-338 (p. 320).
" Zum Begriff der 'Moderne' als Bezeichiiung für den Zeitraum. dcr mit der
Epochenschwelle etwa 1750 bis 1850 bcginnl : Rcinhart Koselleck. ed.. Studie>?:u»i ßcxinn
der nioderncn Weii. Industrielle Welt. 20 (Stuttgart. 1977): I1 U . Gumbiecht. Ail.
'Modern. Modernität. Modcrnc'. in 0 . Brunner - W. Conre - R. Koselleck. eds..
Gesehichiliche Grundhegrqfe. 4 (Stuttgart. 1978). pp. 93-131
Arno Borst. Mönche an7 Bodcnsee 610-1525 (Sigmaiingen. 1978). p. 17. Dazu auch
Jean Ziegler. Die Lehoideir und der Tod (Darmsladt-Ncuwied, 1977). pp. 37ss. und Arno
Borst, 'Zwei rnirtelalterliche Sterbefalle', Merkur. 34 (1980). 1081-1098 (pp. 1096~s.).
'' Ernst Wolt Allzmeiner Teii der bürgerlichen Rechir. 3. Aufl. (Köln-Bonn-BerlinMünchen. 1976). p. 151s.: Kar1 Laienz. Aiigcmei>zcr Teiider deuiicher~hür~crliclze>iRcchis.
4. Aufl. (München. 1977). pp. 30ss und 73s.
" Werner Fuchs. iod~ieii~ild~~r
in r l c ~>no&wi<v,
Gcc<~li.~</~u/i
(Frankfilrt a. M . . 1973).
P. 71.
'I Hans-Wolfgang Strätz, Zivilrcchrliche Arpekie der Recl~r.~rirllu~ig
de\ Toten unrer
besonderer Berücksichiigu>ig d o Tron.xp/oniniioiien, Göries-Gesellschaft zui Pflege der
Wissenschaft. Veröffentlichungen der Sektion für Rechrs- und Staatswissenschaft. Neue
Folge, 7 (Paderborn. 1971) p. 5s.; allgemein Jürgen Gaedke, Hondhuch der Friedhqfir- irtrd
ßesiairutgsrechis, 4 . Aufl (Köln-Berlin-Bonn-München. 1977).
Heinrich Hubmann, Dos Perrönlichkeirsrechi, 2. Aufl. (Köln-Graz. 1967). P. 344.
"
von Beziehungen der menschlichen Ge~ellschaft"~,auch wenn die zii
Lebzeiten getätigten Rechtshandlungen fortwirken'".
In diesem Punkt unterscheiden sich moderne Auffassungen über den
Status der Toten grundsätzlich von älteren Auffassungen. die in der
europäischen Geschichte begegnen. Dort ist der Status des Toteii nicht
bestimmt vom subjektiven 'Andenken'. das im Belieben der Lebenden
steht_ sondern er ist gewissermaßen eine objektive Gegebenheit: die
Toten sind Personen im rechtlichen Sinn, sie sind RecliLssubjekte und
also auch Subjekte von Beziehungen der menschlichen Gesellschaft. Mit
anderen Worten: sie sind unter den Lebenden gegenwärtig.
Der Wandel der eiiien Auffassung zur anderen wird historisch
aufschlußreich bezeugt in einem literarischen Text aus dem Jahr 1809. Es
handelt sich um Goethes rätselvollen Roman Die Wal~lvo.wandisc11afterl.
in dem die Bereiche Tod, Begräbnis, Kirchhof und vor allem die
Beziehungen zwischen Lebenden und Toten immer wieder thematisiert
und dabei die Auffassungen vom bloßen 'Andenken' an die Toten und
von deren 'Gegenwart' charakterisiert und einander gegenübergestellt
werden".
Gleich zu Beginn. im zweiten Kapitel des ersten Teils. wird erzählt,
d a ß Charlotte - eine der Hauptpersoiien, Grundherrin eines Dorfes den dörflichen Kirchhof umgestaltet hatte, wobei sie 'für das Gefühl
gesorgt habe'z0:
Mit möglichster Schonung der alten Denkmäler hatte sie alles so zu
vergleichen und zu ordnen gewußt, daß es ein angenehmer Raum erschien.
auf dem das Auee und die Einbildungskraft gerne verweilten.
Sämtliche Grabmäler waren von ihrer Stelle gerückt und hatten, 'den
Jahren nach' aufgerichtet, 'an der Mauer, a n dem Sockel der Kirche Platz
gefunden', der dadurch 'vermannigfaltigt und geziert' wurde.
Der übrige Raum war geebnet. Außer einem breiten Wege, der zur Kirche
und an derselben vorbei zu dem jenseitigen Pförtchen führte, war das
übrige alles mit verschiedenen Arten Klee besäer, der auf das schönste
grünte und blühte. Nach einer gewissen Ordnung sollten vom Ende heran
" Hans Schreuer. 'Das Recht der Totcn'. Zeiischrjfi ftir
i~crgicichcndeRechisii-irreii-
33 (1916). 333432 und chd. 34 (1916). 1-208 (hier p. 333 und 334s).
Srrätr. Ziribecbilicke Aspckie. p. 13.
'9 Goeihes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 6. ed. Bcnno V . Wicse und Eiich Trunz. 4.
Aun. (1960). Daß die genannten Motive bei der Deutunz des Romans bisher zu wenig
bcachtct wurdcn. hat bereits Adolr Hüppi. Ktliisi i~iidKtdr
Crohsiüiicii (Oltcn. 1968).
p. 352 ~cstg~stcill:
dcssen Inicrpretalion scrzl jedoch anderc Akzcnlc und läßr m. E.
wesentliche Momente der Darstellung außer acht. Über konkretc Anlässe zur Bcschäfrigune mit Fragen der Friedhofsgestaltung bei Goeihe ebd. pp. 3 8 6 s
scbqfi.
A . a. 0 . p. 254.
die neuen Gräber bestellt. doch dcr Platz jederzeit wieder verglichen und
ebenfalls besäet werden. Niemand konnte leugnen, da8 diese Anstalt beirn
sonn- und festtägigen Kirchgang eine heitere und würdige Aiisicht
gewährte. Sogar der betagte und an alten Gewohnheiten haftende Geistliche, der anfanglich mit der Einrichtung nicht sonderlich zufrieden gewcsen. hatte nunmehr seine Freude daran. wenn er unter den alten Lindeil.
gleich Philemon. mit seiner Baucis vor der Hintertüre ruhend, statt der
holprigen Grabstättcri einen schöncn. bunten Tcppich vor sich sah. dcr
noch überdies seinein Haushalt zugute kommen sollte. indcm Charlotte
die Niitziing diescs Fleckes der Pfarre zusichern lasscii".
Diese Maßnahmen fanden indessen bei anderen Mitgliedern der Gemeind e keinen Beifall, weil man dadurch
die Bezeichnung der Stelle. wo ihre Vorfahren ruhten, aufgehoben und das
Andenken dadurch gleichsam ausgelöscht; denn die wohlerhaltenen Monumente zeigen zwar an. wer begraben sei. aber nicht. wo er begraben sei,
und auf das Wo komme es eigentlich an, wie viele behaupteten".
Eine benachbarte Familie. deren bisher durch eine Stiftung gesicherte
Grabstätte aufgehoben worden war, entsandte einen jungen Juristen mit
dem Auftrag, die Stiftung zu widerrufen. Es kommt zu einem bedeutsamen Gespräch (Zweiter Teil, Erstes K a p i ~ e l ) ~in~ dem
,
jedoch keine
Einigung gelingt, ja gar nicht gelingen kann, nicht nur, weil die Argumente und Vorstellungen der betroffenen Familie jenen Charlottes völlig
entgegengesetzt sind, sondern vor allem, weil beide Seiten auf völlig
verschiedenen Ebenen a r g ~ m e n t i e r e n ~ ~ .
Der junge Rechtsgelehrte versucht zu erläutern, warum die Familie
durch d a s 'Vergleichen', d.h. das Einebnen ihrer Grabstätte 'auf eine
Weise verletzt' wurde, 'wofür gar kein Ersatz zu denken ist'. Denn durch
ihre Umgestaltung des Kirchhofs hat Charlotte der Familie die Möglichkeit genommen, die Beziehungen zu ihren Toten aufrechtzuerhalten. die
darin bestanden, 'ihren Geliebten einTotenopfer zu bringen', 'Fremde und
Mißwollende auch von der Seite (ihrer) geliebten Ruhenden abzuweisen
A . a. 0. p. 361 (dieser Text aus Kap. I1 I ) .
A . a. 0. p. 361.
A. a. 0 . pp. 361s
" Die (fast) nüchterne Gegcnübcisiellung bcidei Auffassungen. dcr älteren rechtlichsozialen und dm 'modernen', trennt Goethes Darstellung fundamental von der Erörterung
des Themas bei R. de Chateaubriand. Le G&ie du civi.siiaiiis»ie(1802). 1V 2. Kap. 1-9
((Euvms compl6tes. 2. Paris. 1859. pp. 398~s.).
Chateaubriands Gcdanken bilden ein leidcnschaftlichcs Plädoyer gegen die Veränderungcn dcr Einsteliung zu den Toten seit dci Mitte
des 18. Jh. (s. dazu unten Abschnitt V1) und den entsprcchendcn Vorgängen während der
Revoluiion (ugl. ba. Kap. 6. pp. 4025s. mit Anm. I auf p. 404): deshalb erscheint das
Thema der Toten und der Begräbnisstätten bei Chateaubriand in 'romantischer', d. h.
historisch gebiochencr Reflexion (bcs. Kap. 7 und 8. pp. 404~s.).
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"
und zu entfernen' sowie in der 'tröstlichen Hoffnung, dereinst unmittelbar neben ihnen zu ruhen', d.h. über den Tod hinaus eine Familie zu sein.
D a ß ein nicht wiedergutzumachender Rechtsbruch vorliegt, ergibt sich
unmittelbar aus der Bedeutung von Denkmal und Grabplatz: denn
...diescr Stcin ist es nicht. der uns anzieht. sondern das darunter Enthaltene, das daneben der Erde Vertraute. Es ist nicht sowohl vom Andenken
die Rede als voii dcr Person selbst, nicht von der Erinnerung. sondern
von der Gegenwart. Ein geliebtes Abgeschiedenes umarme ich weit eher
und innigcr im Grabhügel als im Denkmal. denn dieses ist für sich
eigentlich nur wenig: aber tim dasselbe her sollen sich wie um einen
Markstein Gatten. Verwandte, Freunde selbst nach ihrem Hinscheiden
noch versammeln ....
Diese Äußerung stellt 'Andenken' und 'Erinnerung' in einen kontradiktorischen Gegensatz zu dem Toten und seiner 'Person selbst', zu dem
Toten und seiner 'Gegenwart', die mit dem Platz seines Grabes verbunden ist, und es handelt sich dabei, wie festgehalten werden sollte, nicht
etwa um theologische Argumente, sondern um die Verteidigung eines
rechtlichen Sachverhalts. Aber gerade diese rechtlichen Gegebenheiten
und die mit ihnen verbundenen sozialen Normen sind für Charlotte
völlig bedeutungsloszs. Nur deshalb kann sie sich unbefangen zu
jeglicher Entschädigung bereit erklären, ohne sich aber durch einen
solchen 'Rechtshandel', wie sie sagt, 'beunruhigen' zu lassen. Die Motive
ihres Handelns wurzeln nämlich in ganz anderen Bereichen.
Mit der Einebnung der Grabstätten hatte Charlotte, um dies noch
einmal zu zitieren, 'für das Gefühl gesorgt'; sie wollte einen 'angenehmen
Raum' schaffen, 'auf dem das Auge und die Einbildungskraft gerne
venveilten'. Es geht ihr also zunächst einmal um eine neue Gestalt des
Kirchhofs nach ästhetischen Prinzipien ('statt der holprigen Grabstätten
ein schöner; bunter Teppich'). Das Ästhetische ist zugleich mit dem Sinn
für die Erhaltung alter Monumente und für deren historisch-antiquarische Ordnung verknüpft. Hinzu tritt das Bedürfnis nach 'Ordnung'
überhaupt und nach Rationalität, dem auch die jetzt mögliche wirtschaftliche Nutzung des Kirchhofs entgegenkommt. Aber das 'Vergleil 5 Man muß hinzurügen: siesind für Charlotte zu diesem Zeitpunkt der Handlung noch
bedeutungslos.Denn Charlotte revidiert itnausgcsproche~iihren Standpunkt, sobald es sich
um ihre eigcncn Verstorbenen (Ottilie. Eduard) handelt. Im Blick aufdcren Begräbnisstätte
macht sie am Schluß des Romans 'für Kirche und Schule, für den Geistlichen und den
Schullehrer ansehnliche Stiftungen' (Goeibes Werke. Bd. 6,p. 490). Vorbereitet wird diesc
Wandlung durch die Argumente, die 'man' - wahrscheinlich Charlottc - Eduard
vorzustellen wagte. als er sich der Bestattung Ottilies widersctrtc. Es heißt dort: 'daß
Ottilie. in jcnei Kapelle beigesetzt. noch immer unter den Lebendigen bleiben und einer
freundlichen. stillen Wohnung nicht entbehren würde' (p. 485).
DIE <;E<;FNWART
DEI< S O F E N
25
chen', das Einebnen der Grabstätten ist schließlich auch Ausdruck
politisch-sozialer Überzeugungen, die Charlotte den juristischen Gesichtspunkten entgegenstellt, indem sie ein politisches 'Gefühl' ausspricht:
D a s reine Gefühl einer endlichen allgemeinen Gleichheit. wenicstens nach
d e m Tode, scheint m i r beruhigender als dieses eigensinnige, s t a r r e Fortsetzen unserer Persönlichkeiten. Anhänclichkeiten und Lebensverhältnisse.
Dieses 'reine Gefühl einer endlichen allgemeinen Gleichheit' ist im
Einebnen der Gräber praktisch geworden. Was in der Emphase dieses
Gefühls als 'eigensinniges, starres Fortsetzen unserer Persönlichkeiten,
Anhänglichkeiten und Lebensverhältnisse' erscheint, ist im Lichte älterer
rechtlich-sozialer Auffassungen die Anwesenheit, die Gegenwart der
Toten als Personen unter den Lebenden26.
Die Gegenüberstellung von 'Erinnerung' und 'Gegenwart' weist auf
einen tiefgehenden Bedeutungswandel des Begriffs 'Erinnerung', 'Memoria'. Im älteren Sinne hat Memoria nicht nur die Bedeutung von
'Vergegenwärtigen' im bloß kognitiven oder emotionellen Sinn, sondern
umfaßt Formen sozialen und rechtlichen Handelns", durch welche die
Gegenwart der erinnerten Toten konstituiert wird.
Dieser umfassende Sinn von Memoria wird auch deutlich in einem
Text, der am Beginn der Neuzeit, 1516, veröffentlicht wurde und in dem
man 'eines der großen und ursprünglichen Zeugnisse' gesehen hat, 'in
denen der neuzeitliche Geist zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Erscheinung tritt'": die Uropia des Thomas Morus. Im zweiten Buch dieser
Schrift behandelt Morus die Religiosität der Utopier und erläutert dabei
ihre Auffassungen von den Toten. Fröhlich und voll guter Hoffnung zu
sterben gelte bei ihnen als erstrebenswert, und die so Verstorbenen
würden ohne Trauern und Schmerz verbrannt, auf ihrem Grabplatz
Denkmäler errichtet. Nach der Heimkehr vom Begräbnis sprächen die
Lebenden vom Charakter des Toten und seinen Taten. In dieser MeGerade gegen diese 'Gegenwart', sei sie durch Grabstätten oder von Bildnissen
evoziert. hat Charlotrc 'eine Art von Abneigong; denn sie scheinen mir immer einen stillen
Vorwuifzu machen; sie deuten auf etwas Entferntes, Abgeschiedenes und erinnern mich.
wie schwer es sei, die Gegenwart recht ZU ehren' (p. 365).
" Es genüge hier der Hinweis auf die eindrucksvollen Belege aus der heidnischen und
der christlichen Spätantike bei Bo Reicke, Diakonie, Fespeude ilndZelos in Verhindu>zgmil
der olrchririlichen Agnpcnfeier, Uppsala Universiiets Arsskrift. 5 (Uppsala-Wiesbaden,
1951). pp. 2 5 7 s
Thomas Nipperdey, 'Die Utopia des Thomas Morus und der Beginn der Neuzeit', in
Ders., Rqformnrion, Revoluiion, Uropie, Kleine Vandenhoeck-Reihe, 1408 (Göttingen.
1975). pp. 113-146 (P. 113).
moria, so fährt der Text fort, sehen die Utopier einen Ansporn für die
Lebenden, zugleich aber auch eine Verehrung ( c u l i ~ r s )für die Toten.
Denn sie stellen sich vor, die Toten seien bei den Gesprächen über sie
(wenn auch unsichtbar für das stumpfe Auge der Lebenden) gegenwärtig.
M o r r u o s ergo ~ r r r s a r inrer
i
uiuenres credun„ dicrorr~nz/ac~orui?zqur
specratores, eoquz res ageerzdasJidznrius aggrediuilrco.. ralibus uelui.fie~ipraesidihus, er a b ii7l7or1esro .secrero deierrer eos, crediia maioruin p r u e s e r ? ~ i a ~ ~ .
Memoria der Toten bedeutet deren Gegenwart. Deshalb sind die Toten
in der utopischen Gesellschaft Subjekte von Beziehungen in dieser
Gesellschaft. Anders gesazt: die utopische Gesellschaft des Thomas
Morus umfaßt Lebende und Tote.
Den soeben zitierten Texten aus dem beginnenden 19. und dem
beginnenden 16. Jahrhundert, aus der Zeit der Epochenschwellen zur
Moderne und zur Neuzeit, sollen zwei Texte des 1 I . und des ausgehenden
8. Jahrhunderts an die Seite gestellt werden.
In der Wirren des Investiturstreits, um 1090, schrieb ein Angehöriger
des Klosters Iburg die 'Vita' des Klostergründers, des Bischofs Benno
von Osnabrück". Benno war 1088 gestorben; seine letzten Lebensjahre
hatte er fast ganz im Kreis der Iburger Mönche verbracht. Wegen ihrer
Realistik in der Personenschilderung galt die Benno-Vita schon immer
als ein außergewöhnliches Exempel ihrer Gattung3'. Nach Auffassung
des Verfassers sollte sie eine Erinnerungsschrift sein, aber nicht für
Außenstehende, sondern für die Mitglieder der Mönchsgemeinschaft von
Iburg, zur Lektüre und zum Vorlesen, wohl in Form einer recitario a d
n?ei?sam oder im Kapitel am Todestag des Bischofs, dem 27. Juli. Leben
und Wirken des Klostergründers wollte der Verfasser denen bekannt
machen, die an diesem Ort zu seiner Zeit lebten oder künftig hier leben
~ ü r d e n ' ~Er
. beginnt sein Werk mit dem seit Herodot klassischen
Motiv: die Erinnerung (memoria) an große Taten soll nicht erlöschen.
"
Uropio. ed. E. Suriz - J.H. Hexter, Tiie Con,plere Works "/Si. Tl~oiiiar.More. 4 (Uew
Haven-London. 1965) pp. 222sa.. das Zitat auf p. 224.
" Viia Bcn>,onir 11. episcopi U.snahrir~emir,ed. H . Bresslau. MGH SSierGeim. (1902).
VgI. Wilhelm Wattenbach - Robert Holtzmann - Franz-Josef Schmale. Deuirciilandr
Gesehichisyuellenim Miiielalier. 2 (Damstadt, 1967). p. 578s. Zum Verfasser Kurt-Ulrich
Jäschke, 'Studien zu Quellen und Geschichte des Osnabrückei Zehnstreits unter Heinrich
IV:. Ar</?ii./irr Diploi>raiik. 9.10 (1963164). 112-283 und ebd. 1 I.12 (1965;66). 280-402.
pp. 358ss.
)'Praefatio, a.a.0. p. 1s.
"
Schon oft sei es wegen der Nachlässigkeit der Menschen dahin gekommen, sagt er, d a ß man der Memoria wahrhaft Würdiges mit Stillschweigen überging, d a ß die Memoria an hervorragende Taten den Späteren
nicht überliefert worden sei. Die im Kloster Iburg lebenden Mönche
sollten dies vermeiden. Aber von dieser historiographischen, literarischen
Form der Memoria leitet der Verfasser sogleich über zu einer anderen
Form des Erinnerns, die ihm wichtiger ist.
Mir geht es vor allem um eines. so fährt er fort, da8 unserem Gründer und
dem Erbauer unseres Klosters hier an diesem Ort unablässig durch Gebet
geholfen werde: er soll sich nicht vor Gott beklagen müssen, daß ihm
erhoffte Hilfe von uns verweigert werde. Oft nämlich. wenn er in
vertrauter Gnrerhaltung mit uns zusammen war, pflegte er scherzend zu
bemerken: er dürfe doch nach seinem Tod von unseren Gaben, die wir
ihm schuldig seien. jeden Tag eine kleine Mahlzeit erwarten, so nämlich,
da8 seine Seele durch Gebet genährt werde. Denn behindert durch
zahllose weltliche Angelegenheiten in dieser unserer höchst unruhigen
Zeit. hoffte er. daß, was er selbst in? Dienst vor Goti zuwenig tat, an seiner
Stelle von der hicr versammelten Gemeinschaft i n Billigkeit wiedergutgcmacht w ü ~ d e ' ~ .
Daher mögen alle, s o schließt die Vorrede der Vita, die Barmherzigkeit
Gottes für das Heil des Bischofs bestürmen, je mehr sie erkennen, welche
Hilfe und welchen Nutzen sie im Materiellen wie im Spirituellen a n
diesem Ort genießen, an dem sie durch des Gründers Tatkraft und
Umsicht gemeinsam leben können.
~
I n einer für das frühere Mittelalter vielleicht einzigartigen W e i ~ e 'hat
der Verfasser der Benno-Vita den Bereich des Phänomens Memoria in
seinen verschiedenen Dimensionen abgeschritten. D a s klassische Motiv
der historiographischen Memoria wird angesprochen, aber sogleich
überhöht in dem Gedanken des Erinnerns durch Gebet, also durch die
liturgische Memoria". Und von dieser liturgischen Memoria werden in
dem knappenTextganzwesentliche Elementeentfaltet :die Verpflichtung
zum Gebet als G a b e für den Gründer, dessen Stiftung das Leben der
monastischen Gruppe in materieller wie geistiger Hinsicht fortwährend
ermöglicht und dessen G r a b sich in der Obhiit der Mönche befindet; die
stellvertretende Bitte für den, der sich zu sehr in Dinge dieser Welt
verstrickt hat; die Verknüpfung der Memoria mit dem Gedanken des
Mahles, das Lebende und Tote vereinigt.
" Derselbe Gedankc abermals irn Schlußkapitei C. 29. p. 40.
" Vgl. dazu R.W. Soiitliern. Saitii A,ix~/nimid 1,i.r Bioqmphrr
(Camhridsc, 1966).
n 324.
.~
Der Ausdruck 'litursische Mernoria' bezeichnet irn folsenden alle gottcsdicnstlichen
'I
Formen von Memoria.
Es ist keineswegs ein Zufall, daß das Phänomen der liturgischen
Memoria gerade im Prolog zu dieser Vita s o differenziert erläutert wird.
Denn die Betonung der liturgischen Memoria steht in einem ganz engen
Zusammenhang mit dem s o viel gerühmten 'Realismus' des Verfassers
dieser Biographie, der sich - wie er sagt - von aller Schönfarberei und
von unberechtigter Lobhudelei fernhalten wollte: 11oiz eum (SC. Benno)
verb;.~ sanct$care coiztendimus, quod utirzam aciihu~ipse .fecisset, so
äußert er sich in zunächst befremdlicher Kritik an dem, um dessen
Memoria 25 ihm geht3". Gerade weil ihm die Sicherung der liturgischen
Memoria für den Gründer des Klosters wichtig war, hatte er Anlaß,
weniger rühmliche, ja sogar abstoßende Züge im Charakter des Toten
keineswegs zu verschweigen3', 'damit von denen, die es lesen, gerade um
der Dinge willen, in denen es ihm an Vollkommenheit fehlte. um so
eifriger gebetet werde'38.
Dieser Text gibt Einblick in ein von den beiden Polen der historischen
und der liturgischen Memoria aus bestimmtes Feld sozialer Auffassungen und Verhaltensweisen. Grundlegend für sie ist der Gedanke fortdauernder sozialer Beziehungen zwischen dem toten Gründer des Klosters Iburg und den dort lebenden Mönchen. Der Gedanke der Fürbitte,
des Gebets für den Toten ist hierin eingebettet. Diese Feststellung über
das gegenseitige Verhältnis von Memoria und Fürbitte ist auch in
genetischer Betrachtung richtig; denn die Vorstellung einer Verbindung
der Lebenden mit den Toten ist im Christentum historisch älter als der
Gedanke der Fürbitte für sie3'.
Die historischen und liturgischen Momente der mittelalterlichen Memoria treten auch in einer anderen Vita zutage, die ebenso wie die BennoVita wegen ihrer realistischen Darstellung gerühmt wird, die Vita des 779
verstorbenen Abtes S t u m i von Fulda40. Schon früh galt Sturmi in
Fulda nicht nur als erster Abt des Klosters, sondern geradezu als dessen
' V i i a Beiir,onis. C. 8. p. 10.
"'Vrl.
. C. 7 und 8. p. 9s.: Kritik a n Fehlern bci der Gründung des Klosters in C. 19ss..
pp. 2 5 s
C. 8. p. 9s. Deiselbc Gedanke begegnet in autobiographischer Wendung bei
Thietmai von Mcisebuig und erweist sich als ein rentialcs Motiv in dessen Chronik:
Helmut Lippelt. Tl8icimnr von Mercehurp. Reicbshirchof irnd Chroniri. Mitteldeutsche
Forschungen. 72 (Köln-Wien, 1973). p. 200.
'9 Rupeit Berger. Dir Wendirny "ofierre pro" in der römirehcn Liturgie, Liturgiewissenschaiiliche Quellen und Forschungen. 41 (Münster/Westf. 1965). p. 231s.
Die Viin S t s r n ~ ide,s Eigil vo,i Fuldo. ed. Pius Engelbert. Veiöfientlichungen der
Historischen Kommission für Hessen und Waldeck, 29 (Marburg, 1968). pp. 131ss. Zum
Quellenwcrt ebd. pp. 75ss.
I I I E CE<;EN\\'AK?
DER 'TOTE\:
29
Gründer4'. Seine Biographie, verfaßt von Eigil, einem Verwandten
Sturmis, der 818 Abt des Klosters wurde, will und kann deshalb die
Lebensgeschichte Sturmis und zugleich die Anfange des Klosters schildern4*. Auch dieser Text ist ein Zeugnis der 'Biographie', nicht der
' H a g i ~ g r a p h i e ' Dies
~ ~ . ist wichtig im Hinblick auf das Schlußkapitel. Es
zeigt den Konvent am Sterbebett Sturmis; die Mönche bitten ihn, nach
seinem Tod ihrpatronus zu sein und ihnen seine rneinoria zu gewähren?
Man möchte dies einfachhin als Zeugnis einer kultischen Verehrung des
Abtes werten, doch ginge man damit fehl, da die ersten Zeugnisse einer
kultischen (Heiligen-) Verehrung Sturmis erst im 12. Jahrhundert begegnen4? In den Jahrhunderten davor hat die Memoria des toten Abtes für
seine Mönche, von der die Schilderung der Sterbeszene berichtet, ihre
Entsprechung in den zahlreichen Bekundungen der Memoria der fuldischen Mönche für Sturmi: schon um 800 ist das alljährlich am Todestag
zu haltende Gebet für den Abt bezeugt, und Eigii ließ es später in
zusätzlichen Begehungen intensivieren und hat schließlich auch die
Lesung der Sturmi-Vita bei Tisch an diesem Tag angeordnet4%
Die beiden mittelalterlichen Texte zeigen, daß im Mittelalter Memoria
nicht das bloße Andenken meinte, sondern soziales Handeln bedeutete,
das Lebende und Tote als Rechtssubjekte miteinander verband. Die
Gegenwart der Toten wurde bewirkt durch Gaben des Gebets für sie.
Diese sind als Gegengaben zu verstehen für die vielfaltigen geistigen und
materiellen Gaben, die monastische Gruppen ihren Gründern und
Stiftern verdankten und durch die sie Tag für Tag materiell und spirituell
in ihrer Existenz gehalten wurden4'. In diesen Beziehungen zwischen
" Otto Geihard Oexlc, 'Die Überlieferung der fuldischen Totenannaien'. in Kail
Schmid, ed., Die KIorrer~emeinich<iTi
von Fuldn im fiüiiern, Milielnlicr. 2.2. Münsrersche
Mittelalter-Schriften. 8.2.2 (München, 1978). pp. 447-804 (p. 483).
ViißSiurmi, C. I , a.a.0. p. 131 : ...ui iniiia ei viinm soncii ae voiernridi obbnrir Siur»ii
iihi cxponerem ci primordio ntonasierii soncii Saii~rrioris.q w d <ih co fundoiuni oiqire
eoiürirurum eri ... co,~.~oihere»i.
'' D i e betonte mit Recht Engelbeit, Viio Slurmi. pp. 345. und l 1 Iss.
'' Viia Srurmic. 26, p. 162s. Frühe Zeugnisse für die Hilfebitte an Lebende unmittelbar
r.
vor ihrem Tod nennt Hippolyte Delehaye, Les orirines du cuiie der m o r ~ ~ r Subsidia
hagiographica. 20, 2. Aufl. (Bruxelles, 1933). p. 110.
Engelbert. Viia Siurmi. pp. I I Iss.
Otto Gerhaid Oexle, 'Memorialübeilieferung und Gebetsgedächtnis in Fulda vom 8.
bis zum 11. Jahrhundert'. in Kar1 Schmid, ed., Die Klosiergenzeinccizqfi von Fuitio in?
früheren Miiieiolier. I . Münstenchc Mittelalter-Schriften. 8.1 (München, 1978). pp. 136177 (p. 141 und 146s).
4' Über 'Gebet als Gabe' Otto Gerhard Oenle. 'Memoria und Memoiialüberlieferun;
im früheren Mittelalter'. Früi~milielalroliciicStudien. 10 (1976). 70-95 (pp. 87ss). Übcr
die Beziehungen zwischen Heiligen und den von ihnen gegründeten monastischen Kom-
"
"
Lebenden und Toten sind religiöse, soziale' rechtliche und wirtschaftliche
Momente eng verbunden.
Auffallig war in den beiden zitierten Texten ferner. wie eng sich
Elemente, die man dem Totenkult zuschreiben möchte. verbunden sind
mit solchen. die auf Heiligenkult zu deuten scheinen. Die Analogien
zwischen beiden Bereichen gehen offenbar tiefer, als die übliche Unterscheidung zwischen den beiden Bereichen zunächst vermuten Iäßt.
Offenbar stehen die beiden Bereiche nicht, wie oft angenommen wird, in
antagonistischem Gegensatz zueinander48. Man weiß, daß die Heiligen
im Mittelalter als Rechtssubjekte mit Rechtsfähigkeit und Handlungsfihigkeit galten49. Heilige wurden auch als 'geschäftsfähig' angesehen:
eine Kirche. ein Klosier mit Zubehör an Personen, Mobilien und
Immobilien, eine Personengruppe galten als Eigentum des betreffenden
Heiligen. Begriffe wie ~no~za~icriu~n
Sai7cri ßoilifatii. nliliiiu Sarlcti P<~fri,
l~omiizesSailcri Germani, fa~nilia Sar~ciiEmmerami und dergleichen
begegnen in der mittelalterlichen Überlieferung unendlich oft. Patrone
galten aber nicht nur als die wirklichen Eigentümer und deshalb auch als
Adressaten von Schenkungen, sondern sie wurden ihrerseits auch als
Verpflichtete gedacht, die im Extremfall sogar als 'deliktfahig' angesehen
wurden. Der Heiligenverehrung entsprach deshalb die rituell nicht
weniger geregelte Heiligendemütigung und HeiligenbestrafungS0. Die
Ähnlichkeit in der Rechtsstellung zwischen dem Heiligen und jedem
beliebigen Toten im Mittelalter hat im übrigen ebenfalls ihren historischgenetischen Grund, die Tatsache nämlich, daß Heiligenkult und Totenkult aus ein und derselben Wurzel gewachsen sind: eben aus der
Memoria Lebender für Tote"
muniiätcn jetzt grundsätzlich Lutz V. P a d b c ~ .H c i l i p ioiri Fomili?. Siiidicjri zur Bedcii1unq ,fo-i>in'ie,i,qehi,,>de~$cr
A,?p<,ki<, iii d m V i i o , <ks Voiir,,tdie>i- itiid S c / ~ ü i ~ ~ r k r ~ii,>i
~i.~cr
Willihrord. Bo,~;foii~,.~
uiid Liirdgcr (Diss. phil. Münster!Wcstf. 1980). bes. pp. 1 2 4 s
" W a z o aiich untcii p. 4 8 % Vgl. die Fcststciliing voii ß;iildoi,in de Gaiffici (in dcr
Diskussion zu dem unten Aiim. 77 zitierten Vortrag in Spoieto. a.a.0. p. 189): 'Nous
aimons bien ... compartimentcr Ics genres: nous parlons dhagiogiaphic. d'historiographie:
je me deniande parfois si cela ne cache pas au fond des problernes iin peu flous'. Dazu
ferner auch die Hinweist von Franiigck Graus, 'Hagiographische Schriften als Quellen dcr
"prolariei>" Geschichte'. A t i i </CI (oiiqwrio l i i i < ~ n i r i r i o ~ iini rii~i i~i o i,i ri<<r,.~ioii~
i k i Yl)n
A,i,iii-crrario d c l l n f o ~ i ~ l o i idcll'
o ~ ~Iriiit>ro
~~
Siorico liaiio,,o ilHH3-1973). I ( R ~ 19761,
~ ~ ,
pp. 375-396.
'' Vgl. Otto von Gierke. Dar deurrche Ge>,o-iicnsc/t~fi.~reciir.
2 : Gwchichie de.7 deuischen
K"rpcr.schqfisbejir#,i (1873, Nachdruck Giaz, 1954). pp. 527ss.
Darüber anschaulich Patiick Geaiy. 'L'hiimiliation des saints'. Annolcc E. S. C.. 34
(1979). 2742.
" Dazu Delehaye, Ler orijiifies dir culie der n,nrrjrs. pp. 24ss.; F. van dcr Meer.
Aujiurinlcr der Seelsorger (Köln, 1951). pp. 5775s und 586ss.: Bernhard Kötting, Der
Die sozialen Beziehungen zwischen Lebenden und einem Toten fanden
natürlich nur in den wenigsten Fällen in der Aufzeichnung einer Vita
ihren Ausdruck. Die Mehrzahl der Toten. deren Memoria von Lebenden
begangen wurde, waren 'nur' dem Namen nach bekannt. Diese Namen
wurden aufgezeiclinet und die so entstandenen Namenlisten bildeten das
schriftliche Substrat der Memoria. Die Namen hervorragender Stifter
und G ~ n d e r s i n diiidiesen Aufzeichnungeneingebettet indie Nennungen
der Namen Tausender, von deneii aunerdiesem Namen eben nichts weiter
bekannt ist. Aber auch wenn der Neugierde des Historikers hier Grenzen
gesetzt sind, so muß gleichwohl festgestellt werden, daß im Sinn mittelalterlicher Sozialauffassungen die Aufzeichnung des Namens als das
Entscheidende galt. In der Nennung seines Namens wird der Tote als
Person evoziert: 'das Aussprechen des Namens schafft Gegenwart des
Genannten'". Der Liturgiewissenschaftler R. Berger hat diesen - dem
Juristen indessen nicht weniger vertrautens3 - Sachverhalt in der
Formulierung 'Gegenwart durch Namensnennung' treffend auf den
Begriff gebracht 54.
Die Namensnennung im Rahmen liturgischer Memoria hat im Mittelalter verschiedene Formen der Memorialüberlieferung hervorgebracht.
die zum Teil aus älteren Formen liturgisch bedingter Namenaufzeichnung erwachsen sindss. AUS den Diptychen entstanden die Lihri Men?oriales, in denen die Namen Lebender und Toter (diese ohne Todesdatum) aufgezeichnet sind; aus den älteren Kalendarien und Martyrologien
entstanden die Nekrologien, welche die Namen ausschließlich von Toten
,fiü/icl~ri,~ilic/~c
Reliquienkuli rinddie Eesin<iung i m Kirchen~ehüude.Arbeitsgemeinschaft für
Forschung des Landes Noidrhein-Westfalen. Geistes\vissenschaften. Heft 123 (KölnOpladen. 1965). pp. 7ss.
I' Berger. Die Wcvidi<rt~
""(firre pro''. p. 233.
Heinrich Mitteis. 'Das Recht als Waffe des Individuums'. in Ders.. Die Rechiridee in
d m Ge,~~/~icltic(Weimar.
1957). pp. 514-523 (p. 518): '...die Nennungdes Namens wird dcr
körperlichen Anwesenheit gleich geachtet...'.
Berge?, Dic Woidirop " q f i r r c pro". p. 228. Dazu Oexle. 'Memaiia'. pp. 7 9 s Bei
Bergci p. 231 in diesem Zusammenhang die treffende Fesrstellung (s. ohen Abschnitf I):
'Gedächtnis will nicht Erinnerung schaffen. sondern Gegenwart'.
IS Zum Folgenden: Kar1 Schmid - Joachim Wollasch. 'Die Gemcinschafr dcr Lebenden
und Verstorbenen in Zeugnissen des Mittelaiicrs'. Friiizmi~ieiirlicrlichcSrudien. I (1967).
365-405: Dies.. Socicio,~ei /bnrer,iiio,$. Bcgründi«?g ei,,c.s ko»snenrirrio, Qucllenii.erkes zur
Erfijrsdii»i~der Pcr,~o>,<,n
uiid Pcrronengruppc~ndes Mirielolicrr (Bcrlin-New York. 1975):
Kar1 Schmid, 'Gedenk- und Torenbüchei als Qucllcn'. in Miiirlalierlich~Tesiiil>erlieferungcn und ilzre kriiisd,e A@farheNsn~.Beitrüge der Monunzenro Germoniae Ifi.5iorica zuni 31.
Deuischm Hisrorikcriag Montzheim 1976 (München. 1976). pp. 76-85: Oexle. 'Memoria'.
r/ocio>ie~iis
,i<cr-olo,qiyricr /ra,i~oi,~.
I (Paris.
pp. 70ss.: Jcan-Loup Lemaitrc. R!i><,rioire
1980). PP. 55s.
"
in kalendarischer Ordnung nach dein Todestag enthalten. Eine wieder
andere Form zeigen die Totenannalen. welche die Namen Verstorbener
annalistisch, also nach dem Todesjahr ordnen; das älteste bekannte
Beispiel mittelalterlicher Totenannalen kennen wir aus dem Kloster
Fulda - Abt Sturmi hat diese kurz vor seinem Tod begründets6.
Die Erforschung der mittelalterlichen Memorialüberlieferung monastischer und geistlicher Gemeinschaften, der Libri Memoriales, der
Nekrologien, der Totenannalen, wurde in den letzten Jahren entscheidend vorangetriebens7, und es wird sich immer deutlicher zeigen, daß
Zweifel an dem sozialgeschichtlichen Ertrag dieser Forschungen und die
einschränkende Bewertung der Memorialüberlieferurig als Zeugnis bloß
für 'bestimmte liturgische Praktiken'58 nicht aufrechtzuerhalten sind.
Die Memorialüberlieferung ist Zeugnis eines Denkens, das viele Phänomene im Bereich von Religion, Recht, Wirtschaft und geistiger Kultur
umgreift und diese zum Ausdruck bringt. In dem folgenden Abschnitt
soll dies an der bereits angedeuteten gegenseitigen Bedingtheit historischer und liturgischer Memoria ausführlicher erörtert werdens9.
Die Auffassung von der Gegenwart der Toten bestimmt im übrigen
nicht nur die liturgische Memoria, sondern sie ist im Mittelalter und
darüber hinaus Ferment in verschiedensten Bereichen des Alltagslebens
und der intellektuellen Reflexion. Im Bereich theologischen Denkens hat
die Vorstellung von der sozialen Verbundenheit Lebender und Toter seit
~~~
dem 5. Jahrhundert im Gedanken der C o m m u n i o S a t ~ c t o r u nvielfälti-
Dazu Oexle. 'Memorialüberlieferung und Gebetsgcdächtnis in Fulda' und Ders..
'Die Überlieferung der fuldischen Totenannalen'.
I' Dazu vor allem die oben Anm. 55 genannten Beiträge von K. Schmid und J.
Wollasch.
Hartmut HoKmann in Rhrini.~cheViei-lcijahrsblürler, 38 (1974). p. 485.
5 9 Dazu unten Abschnitt 111. - Die Bedeutung der Vorstellungen der Lebenden von
den Toten und besonders der Annahme von der Fortdauer dcr Persönlichkeit des Toten
für die Interpretation archäologischer Befunde unterstrich Patrick J. Geary, 'Zur Problematik der Interpretation archäologischer Quellen für die Gcistes- und Religionsgeschichte'. Arci~ncoiqgicaAusirinca. 64 (1980). 1 1 1-1 18: zu diesem Thema grundsätzlich auch Heiko Steuer. 'Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteieuropa', in
H. Jankuhn-R. Wenskus. eds.. Grscliichisil-isse~~sciio/i
und Arc/?Üolo~ie.Vorträge und
Forschungen. 22 (Sigmaringen, 1979). 595-633.
Stephen Benko, Tlie .Meoning of Sancrorrrrn Communio. Studies in Historical
Theology. 3 (Landon. 1964), pp. 98ss und 109~s.Ursprünglich bedeutete 'Communio
Sanctorum' die Teilhabe an heiligen Dingen (Taufe, Eucharistie), vgl. Werner Eleri,
Abcndmohl und Kirchengemeinschufi in der d i e n Kirche houpisächlick des Ostern (Berlin.
1954). pp. 5ss. und W. Popkes. Art. 'Gemcinschaft', Reallexikon fGr Antike und Ci~ri.~ren!um, 9 (1976). 1100-1 145 (col 1142s).
I I I E <jli(iliNWART DER T 0 1 E\.
33
gen Ausdruck gefundenh'. Das Nachdenken über die Aufenthaltsorte
der Toten und die Art ihrer Beziehungen zu den Lebenden ist seit den
Anfangen des Christentums ein Bestandteil des theologisch-dogmatischen Denkens und wurde im Lauf des Mittelalters immer mehr entfaltet6'. Für die ethischen Auffassungen des Mittelalters ist bedeutsam, daß
dem neutestamentlichen eschatologischen Katalog der sechs 'Werke der
Barmherzigkeit' bei Mt. 25.34 ff unter dem EiufluD von Tob. 1.17 f.
schon bei Laktanz und Augustinus als siebtes Werk das Begräbnis der
Toten angefügt wird, so daß vor allem seit dem 12. Jahrhui~dertsich
schließlich das Septenar der Opera pieraris durchsetzt". Umgekehrt
kommt in der Verweigerung des Begräbnisses als einer sozialen Leistung
Lebender für einen Toten drastisch zum Ausdruck' daß eine Person aus
einer Gruppe oder gar aus der Gesellschaft ausgeschlossen ist oder
ausgeschlossen werden soll"4. Auch unabhängig von Religion und
Liturgie ist die Vorstellung vom Toten als Rechtssubjekt im mittelalterlichen Recht grundlegend verankert. Tote können als Kläger und Beklagte
in Erscheinung treten6=; Tote können auch bestraft werden, sie sind
d e l i k ~ f ä h i g ~Im
~ . Vermögensrecht erscheint die Vorstellung vom Toten
'' Das Thcologoumenon 'Communio sanctorum' wurdc von der Vorstcliung der
'Gegenwart der Toten' vielfach stimulieri: diese ist aber zum cincn älter als jenes (s. dazu
unten Abschnitt 1V) und sie enthält zum andcren griindlcgende soziale Einsicllungeii und
Haltungen, dic in der Ncureit auch dann noch begegnen. wenn von 'Communio sanctoiiim'
nicht mehr die Rede ist (s. oben Abschnitt I).
Dazu für die frühe Zeit Joseph A. Fischer. Siu<iie>,;uni ToiIe.s~~dii>ike>,
in der Al!?,,
Kirclic I (München, 1954). pp. 226ss.: Alfred Stuiber. R<./ri~cvi,mii,ir<,rin,. Theophaneia.
I I (Bonn. 1957): Joseph Ntcdika. L<:i.oc<iiioii<ii. i'au-del2 da^,.^ 10 pri@rcpoiir ier rrioris.
Recherches afiicaines de thcologie. 2 (Louvain-Paris. 1971). Für die spätere Zeit vgl. Petei
Dinzelbacher. 'Klassen und Hierarchien im Jenseits', in So:inle Or</nu>,ge>iirii Se/h,sir<~i.rÜnd>iirderMir1riaii~~r.r.
I. Misccllaneö Mcdiaevalia. 12. I (Berlin-Nciv Yoik. 1979). pp. 2040. Grundlegend jetzt Le Goff. lri nais.~nt,c<,riir Piirgriioirc (wie Anni 2).
" Darüber M - H . Vicaiie. 'La place des ceuvies de mis6ricoidc dans ia psstoiale en
Pays d'oc'. in Assirio~iceer chorii:. Cahiers de Fanjesua. 13 (Toulouse, 1978). pp. 21-44
(DU. 23s). Vel. auch die Fertsielluneen von Hermann Nehlsen. 'Dei Grabfrevel in den
"
schafttn in Göttineen. ~hiioloxisch-historische
Klasse. ~ r i t Folee.
c
Ni. 113 iGörtineen.
"
1978). pp. 107-168 (P. 131s).
"'Zahlreiche Hinweise bei Hüppi, Kwrsi. pp. 655s. Normgebend wirkte U. a. Teituilian.
De nioioioiriri. C. 14 (CSEL 20. p. 46): Licei conuiirere a<rneiii>iici.~.co>n»,ori tioii iicei:
ferner Leo 1.. ep. 167. Inquis. 8 (Migne PL 54. coi. 1205s.).
"IHeinrich Brunner. 'Die Klage mit dem toten Mann und die Klage mit der toten
Hand'. Zeirsehri/i Jir Rediisgeschicitre 31. Gernronisiischc Ahicilung (1910). 235-252:
Schreuer, 'Das Recht der Toten'. pp. 1 5 4 s
Schreuer. 'Das Recht der Toten'. p. 154s. U. ö.: Paul Fischer. Sirq/r>i u,iii.sicherndr
.MuJ~ioii»ioi pg<m T O ~ i»i
P ~<>r,)i(ilii.rc/ie,~
~ ( n i~l<,i(r.scit<vi
l
R<,<hi(Diss. jiir Honr,. 1936).
pp. 265s. und 415s.
als Eigentümer, Gläubiger oder Schuldner"', worin abermals die Analozie zwischen Totenkult und Heiligenkult sichtbar wird.
"
Schließlich ist darauf hinzuweisen, d a ß Memoria nicht nur in Klöstern
und Stiften, nicht nur für Mönche und Kleriker ein zentraler Bestandteil
des Alltagslebens ist. Sie ist es auch in den wesentlich von Laien
gebildeten sozialen Gruppen, sowohl in den 'gewordenen'. das heißt
durch Verwandtschaft begründeten, als auch in den 'gemachten', das
heißt durch eigenen Willensentschliiß des Individuums begründeten
Gruppen. Auch hier ist Totenmemoria konstitutiv. Die Kommemoration
der Toten ist eine elementare Form. in der sich die Selbstvergewisserung
einer sozialen Gruppe vollzieht; denn Totenmemoria zeigt die Dauer
dieser Gruppe in der Zeit und wird deshalbzum Ursprung für das Wissen
von der eigenen Geschichte. Deshalb ist für adlige oder königliche
Geschlechter Memoria ein konstitutives Moment. Der Begriff des 'Geschlechts' ist geradezu so definiert, daß es durch das Wissen der
Bindunsen zwischen Lebenden und Toten entstehte8. Historiographie
und Liturgie sind dabei nicht zu trennen6'.
Ähnliches gilt auch für soziale Gruppen, deren Mitglieder nicht zu den
geistigen und politischen Führungsschichten gehören. für jene Gruppen,
deren Mitglieder Bauern, Handwerker, Kaufleute waren. In deren Familien und Venvandtengrnppen ebenso wie in den freien Einungen, den
Gilden, in denen sich Menschen dieser Schichten untereinander verbanden7'' gab es Totenmemoria, und sie umfaßte nicht nur den kirchlichen
Totengottesdienst und das kirchliche Begräbnis' sondern auch die Toten-
"'Hans Schicuei. Art. 'Totenrecht'. in J . Hoops. ed.. Rerillciikn>i </W fier>iiniiirche,i
Alieriii»i.siiu>~~I~~.
4 (Straßburg, 1918'19). pp. 339-342 (p. 341).
'Wrundlegcnd dazu Kai1 Schmid. 'Zur Pioblcmaiik von Fainilie. Sippe und Gcschlecht. Haus und Dynastie beim mittelalterlichen Adel'. %ei,sci,rffi,füi- die Grrcbiciiie dei
Oherriwims. I05 (1957). 1-62. Zahlreiche Hinweise ziim Pcisonenrecht der Toten im
Mittclaltcr in Familie, 'Sippe'. Haus usw. gab Schmuei. 'Das Recht der Toteii'. pp. Iss.
Vgl. darüber am Beispiel der wcliischen Hausübeilieferiing den unten Anm. 136
genannten Beitrag.
'' Übci Memoria in den Gilden vgl. Otto Gerhaid Ocnle. .Die mittelalterlichen Gilden:
ihrc Selbstdeutung und ihr Beitrag zur Formung sozialer Stiukturen'. in So:ioic Ord>ie>,q>,i
in? Selh.~ii~er.~iänhii.r
der Adiiielalicrr. I . Miscellanea Medisevalia. 12.1 (Bcilin-Ncw York.
1979). pp. 203.226. p. 213s und Ders.. 'Liturgische Memoria rind historische Erinnerung.
Zur Frage nach dem GruppenbewuBtsein und dem Wissen der eiscncn Geschichte in
r i ~ f iHa11ck
r.
(1982. im Druck). Die Bedeuden mittelaltcrlicheri Gilden'. in F ~ ~ . s i . s c ~ ~Kar1
tung und die Diniensionen der Toienmemoiia in einer Iändiichen Pfarrei des Spätmitrelalters macht exemplarisch sichtbar Leopold Genicot. Uiic so irr<^ mol coii>,ue dc r c i . < w i ~ ~
poroi.v.~iou.v: Ir,.? re,$ic,.T o h i i ~ ~ o i rL'c,.v',,npl<>
~~,~.
</C FFT~ZPI.
Centic Bclgc d'Histoirc Rurale!
Bel@ichCentiun> voor Lsndciijkc Gescliicdcnis. Piihl. Nr. 60 (Louvein-la-Ncuue. 1980).
"'
DIE CE<;ESW,4RT DER 'iO71:\;
35
wache und das Totenmahl in Gilde und Familie7'. Auch bei Totenwache
und Totenmahl ist grundlegend die Auffassung von der Gegenwart des
T~ten'~.
Die schriftlichen Zeugnisse der Memoria erschöpfen sich nicht in
Memorialüberlieferung im engeren Sinn, zu der man Libri Memoriales,
Nekrologien und Totenannalen zählen kann. Einmal ist dies daran zu
erkennen, daß Texte, die sich auf die Memoria beziehen, eigentlich in
allen Überlieferungsbereichenvorkommen : 'iiider Historiographie ebenso wie in der Hagiographie, in Urkunden, Briefen' Rechtsüberlieferungen, Konzilsakten, Consuetudines, Dichtungen, im lateinischen wie im
volkssprachigen Schrifttum, ja sogar im Bereich der Sachzeug~iisse"~.
Der Sachverhalt wird zum anderen darin sichtbar, daß zahlreiche
'Quellen', die nach Auffassung der traditionellen 'Quellenkunde' ganz
verschiedenen Quellentypen, Gattungen und Gattungsformen angehören, unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion im Rahmen der Memoria zusammengerückt werden müssen. Durch solche Überlegungen,
die im folgenden als eine Art Exkurs in den Gedankengang dieser
Untersuchungen eingeschoben werden, sollen die herkömmlichen gattungs- und formgeschichtlichen Einteilungen keineswegs ersetzt, wohl
aber ergänzt werden. Gattungsgeschichtliche und funktionsgeschichtliche Analyse sind komplementär. Dies soll mit einigen Hinweisen verdeutlicht werden, die neuere Forschungsergebnisse zusammenfassen,
aber auch auf noch wenig bearbeitete Fragen aufmerksam machen wollen.
1. Auf die Bedeutung der Memoria für die Entstehung und Verbreitung von Gattungsformen der biographischen und der hagiographischen
Literatur konnte am Beispiel der Vitae Bennos von Osnabrück und
"
Materialreich: Nikolaus Kyll. Tod, Grob. Bepräbiisplar;. Toie>!feier.Zur Ge.~cbichre
ihre.7 Brouchlums im Trioer uinde und in Li<.xonhurpunier hcso>rdercrBerücksichliglorg des
Vi~iioriomho~idbuches
des Repino von Priini (i- 915). Rheinisches Archiv, 81 (Bonn. 1972):
Petei Löffler, Studien iunl ToIe>ihr.iuchrum, Forschungen zur Volkskunde. 47
(Münster/Weslf. 1975); Jacques Chiffoleau. 'Chariri ct assisrance en Avignon et dans le
Comtar Venaissin (fin XIII' - fin XIV')', in Assi.rla>,ceEI (harir4 (wie oben Anm. 63). pp.
59-85 (pp. 7lss.) und ßers.. Ln co~nprahiiilide I'oiz-dcii (wie Anm. 2). pp. 1 7 9 s Zum
Totenmahl in den irühmittclaltcilichen Gilden : 0110 Gerhard Ocxle. 'Gildcn als soziale
Gruppen in der Karolingcrzeit', in H. Jankuhn-W. Janssen-R. Schmidt-WiegandH. Tiefenbach. eds., Dor Handwerk in vor- und fiühqcrchichriiciicr Zen. I . Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil-hist. Klasse. Dritte Folge.
Nr. 122(Göttingen. 1981). 284-354, bes. pp. 311s~.
Darüber unten Abschnirr IV.
7 3 Schmid, 'Gedenk- und Torenbücher'. p. 77.
,'
36
«.C; OESLE
Stunnis von Fulda bereits hingewiesen werdeni4. An umfassenden
Untersuchungen des Problems fehlt es. Zwar hat man im Blick auf die
Vitae der Karolingerzeit festgestellt, daß explizite Hinweise auf Memoria
darin selten sind75,doch konnte andererseits B. de Gaiffier allein für den
flandrisch-niederlothringischen Raum des 11. Jahrhunderts eine Fülle
von Beispielen für die liturgische Funktion von Vitae nachweisen7'.
Es dürfte unbestreitbar sein. daß sehr viele biographische und hagiooraphische Texte des Mittelalters nicht einfach einem Bedürfnis nach
historischer Erkenntnis und Unterweisung entsprangen, sondern daß sie
in einem viel umfassenderen Sinn in das soziale und geistige Leben
monastischer und geistlicher Gemeinschaften eingebettet waren, weil sie
bestimmt waren für die Lesung beim Gottesdienst und beim monastischen Offizium' im Kapitel, beim gemeinsamen Mahl und sogar bei der
gemeinsamen Arbeit der Mönche7'. Die Unterscheidung zwischen hagiographischen und historiographisch-biographischen Aufzeichnungen
spielte dabei gewiß eine viel geringere Rolle, als der moderne Historiker
zunächst annehmen möchte.
Im Kloster S. Denis hat im 9. Jahrhundert Abt Hilduin die Verehrung
des im Kloster beigesetzten Königs Dagohert (1.) gefördert und zugleich
zu eben diesem Zweck auch die sogenannten Gesra Dagoberii aufschrei-
-'S. obcii p. 2 6 s s Ähnlich wie die Viio Bcnnosaiich diceiwa z u r selbcn Zcii. um 1100.
ierfaßte Vii<r des Abtcs Richard von S. Vanne (MGH SS I I . p. 281. C . I).
Einen
funkiionsgeschichtlichenAnsatz für die biographische und hagiographischc Literatur des
I . bis 6. Jahrhundcitr hat neuerdings Maiiin Heinzclmann erarbeitet: 'Xeuc Aspekte der
biographischen und hagiogiaphischen Literatur in der lateinischen Wcit (1.-6. Jahrhundert)'. Francin. 1 (1973). 27-44 und Deis., B i . s i . R o J h . 1 in Gollien, Beihefte der
l~rri~zci~.
5 (München. 1976). pp. 225s. Heinzclmann ;ikzcnruieitc vor allem dic profane
i,i<.,noria in der /<iu<%r~io
/io~<.hris. Anschauliche Beispiclc für den Zusammenhang von
Graboit. Totenkult iind Aufzeichnung von Vitcn crortert v. Padberg. H<,ilig<,utid
h i i l i p (wie Anm. 47). bes. pp. 140~s..150s~.und 154ss.
'i Wolfgang Brüggemann. ti>,rcrsuclrun,qoiiiir Vifac-LNerniur der. Koi-01iizger;eN (Diss.
phil. Münster. 1957. Masch.). p. 143s.
" Baudouiri de Gaifiicr. 'L'hagiographc et soii public au XIe siicle'. in Dcrs.. &iudc.s
ci-iii<p<,.rd%apiowi-<ip/ii<,
<,J </'imiinlogie. Stihsidia lhagiogapliica. 43 (Bruxclles. 1967).
p p 475.507. pp. 4i9ss.
" Dazu vor allem de Gaifiiei. 'L'hagiographe ct so" public': außerdem Friedrich Ohly.
'Zum Dichtungsschluß Tz,nuion. dornitie. »iircrerc ilohir'. Dcuische Vicrieljahr,s.cci>rifi.47
(19731, 26-68 (pp. 898s.): Guy Philippart, Ler 16zendIer.~/nii>ir er riuire.7 tnrint~rcriis
hugioprophiquer, Typologie des souices du rnoyen agc occidental. 24/28 (Turnhout. 1977).
pp. I i2ss. VgI. auch Baudouin de Gaiffier, 'Hagiographie ei hisiorio~raphie'.Ln siorio~rojio a/iotuedievo/~~.I . Scttimane di Studio dcl Centro italiano di studi sull' alto rnediocvo,
17.1 (Spoleto. 1970). pp. 139-166.
ben La~sen'~.Als ein Mönch des Klosters Stenay gegen Ende des 11.
Jahrhunderts die Vita des Klostergründers, des Königs Dagobert (11.)
schrieb, tat er dies quia nequaquam alicubi scripri iianciscunrur er a
memoria vivenrium n~odoIiominuniperiirus recesserui?!.Ei.igua railruminodo, quae a veracibzrs audivi resiibu~,conahor lirieri,~comprel~endi.ur triiica
ilabeai ,f,.arernirasheato,fainulans marr.priparum quid ad leh.eiidum iii eius
die ~ollempni'~.
Irn 12. Jahrhundert verfaßte Abt Suger von S. Denis die
Vita des soeben verstorbenen und in S. Denis beigesetzten Königs
Ludwig VI. und bezeichnete in seinem Prolog als Motiv die Memoria in
ihren liturgischen wie ihren historischen Aspektenso; Suger gab die
Weisung, am Todestag des Königs bestimmte Kapitel aus dieser Vita
beim Chorgebet den Mönchen vorzulesen8'. Die Nichterwähnung der
liturgischen Memoria im Einzelfall ist im übrigen keineswegs ein Argument gegen die Verwendung einer Vita in der Totenmemoria. Zur
Vorsicht in diesem Punkt mahnt folgendes Beispiel: in seiner Gedächtnisschrift (Epitapkium) für Kaiserin Adelheid hat Abt Odilo von Cluny
um 1000 in der Vorrede die historische Meinoria. in dem Widmungsbrief
an Abt Andreas von S. Salvatore bei Pavia, einer Gründung Adelheids.
dagegen die liturgische Memoria akzentuierts2.
Memoria als Funktion für die Aufzeichnucg von Vitae erscheint noch
in einem anderen Zusammenhang, der bisher wenig beachtet wurde: der
Aufzeichnung sogenannter Rotuli. Seit dem 8. Jahrhundert ist nachweisbar, daß der Tod eines Abtes oder Mönchs durch Rundschreiben
mitgeteilt wurde, die man nach ihrer äußeren Form als Rotuli bezeichne'%es10 Do,q?herri. MGH SSrerMerov. 2. pp. 399-425. Dazu Laurcnt Theis. 'Dagoheit.
Saint-Denis et la royaute francaise au moycn 2gc'. in Bcrnaid Guenee. ed.. Le »,Ciicr
d'hi.siorien ou inwen ige, Poblications de la Soibonne. Serie .'Erudesn. 13 (Paris. 1977). pp.
19-30. Vgl. Karl-Heinrich Krüger. KÖiiigs~ruhkirc1,cnder Frmike>i. A>ipeiirichrcn irird
Lan~oborden bis zur Miiie der 8. Jahrhunderir. Münstcrsche Miitelaiter-Schriften. 4
(München. 1971). pp. 17lss.
7 9 Vira Dogoherii. MGH SSierMerov. 2. p. 512. Zur Mcmorienfeiei ebd. C. 15. p. 521
Vgl. Krüger. Königrgrubkirche,i. pp. l90ss.
Super. Vie de Louis V1 le Groi. ed. Hcnri Waquci. Le.7 clu.r.siqu~.rdc I'Airioirc d p
Fratrce ou nro.e>, i g e . 11, 2. Aufl. (Paris, 1964). p. 4.
0110 von Sirnson. Diegoiis<he Koihedralr (Damstadi. 1968). p. 109.
'' Herber1 Paulhart. ed., Die Leh~nrhe~clireihu~zg
der Kai.serin Adelljeid von Aht Odilo
von Clun).. Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Ergänzungsband 20, Heft 2 (Graz-Köln. 1962), Vorrede p. 28: Mulroru»~cierzim horrorum riinc
accideniium aiqur vinufum pmi Deum oucirir dir? ce/chri,~qurme>,ioric Adoll~eiiloc.siirir
impoairir. Quam cuni meniorir succedeniium scripric conwnendore .sora~inius....: Widmungsbrief p. 27: Epiiaphimz don~inenmire Adeleiäe.. . uesrrefr<i~ert?iiari
curnri rranrmiriere, rniumfore diiudiconr, ui opud vos e i u ~conii~ii<a
rccolnrirr mo>ioria. cuiu? indiarrio niquc
prudenria vesrri monaiierii a fundonieniis crei,eruni edffieio cuiuque susrcnro»~»~i
iorpa
conrinunrim munificenrio.
te. durch einen Boten von Kloster zu Kloster tragen und zuletzt an ihren
Ausgangspunkt zurückgelangen ließ". Es wurde darauf hingewiesen,
daß diese zunächst ganz schlicht stilisierten Rotuli schon im 9. Jahrhundert in ihrem Lob des Toten, aber auch in den biographischen Mitteilungen über ihn ausführlicher werdens4. Im I I. Jahrhundert enthalten sie
dann vielfach bereits knappe Biographiens5. Aber es muß Rotuli dieses
Umfangs schon früher gegeben Iiabeii. L. Träiibe hat nämlich gezeigt,
daß die V~rriAdalhards. des Abtes von Corbie und Corvey (gest. 826),
durch Paschasius Radbertus vermutlich aus einem Ror~,lir.rumgearbeitet
wurde, den Paschasius zuvor wohl selbst verfaßt hattes6.
2. Auch im Bereich der früh- und hochmittelalterlichen Klostergeschichtschreibung, die in den letzten Jahren sehr kontrovers beurteilt
wurde, hat die von der Memoria ausgehende fiinktionsgeschichtliche
Betrachtung eine Klärung gebracht. H. Patze hat die monastischen
Klosterchroniken seit dem 11. Jahrhundert vor allem als Folge eines
veränderten Geschichtsverständnisses erläutert. er hat deren Verfassern
'eine wissenschaftliche Absicht' unterstellt und ihre Werke aus einem
damals neuen Bedürfnis nach 'wissenschaftlich inspirierter, ordnender
Klarheit'. nach einer 'besseren quellenmäßigen Fundierung des Geschichtsbildes' erklärt, wobei die Geschichte der Stifter vom Werden des
gestifteten Klosters nicht zu trennen gewesen sei und deshalb vielfach die
Klostergeschichte zur 'Dynastengeschichte' sich ausgewachsen habes7.
Demgegenüber hat J. Kastner in seiner Abhandlung über Frül!fornze>z
monasti.scher I~zsriiurioi~sge.~chichisschreihuizg
zu zeigen versucht, d a ß
diese neuen Formen der Historiographie nicht 'das Resultat bewußter,
kritischer Reflexion' sind, sondern allein aus der 'Tendenz zur historioDazu Adalheri Ehncr. Die kl~rioliritr??
Gi~hrrs-Vcrhrii'lrrunxoz hi.~;z,ni Ai-pongr d a
kaioiinjiischen Zriiniiers (Regensburg-New Yoik-Cincinnati. 1890). pp. 77ss Reiches
aii XVF riicie (Paris. 1866). Zum
Material bei LCopold Delisle, Roulc,oii.~0c.s morls dii /X''
Stand der Forschung ugi. Leon Kein. 'Sur les rauleaux des rnorts'. Schiveizer Bciirüqe ;ur
n!ipo,icit,eri Ccichkhit,. I? (1956). 139.147: Jcan Diifour. 'Lea iouleaux et encycliques
mortuaires dc Catalo;ne (1008-1 102)'. Cnhicrl ric Cii:iiisoiio,~M6diiiuic. 20 (1977). 13-48.
*' Ebner. Gchcir-l'crhri;rier.u>?pen.p. 78s.
VgI die bei Dufoui. 'Lcs iouleaur'. crörteiten Beispiele; dazu bcs. p. 17. Ansätze
dazu bereits im Roliilu.~des Abtes Rudolf von C. Riquici (gcrt. 866): Haiiulf. Cilronique III.
9. ed. F. Lot (Paris. 1894). p. 116s. = Delisle. Rouieoiiu. p 3s. Nr. 3. Vgl. auch aus dem 10.
Jh. den Roiirim für den Mönch Gauzbeit von S. Martial. ebd. p. Rss. Nr. 7.
Ludwig Traube. 0 Roniu iiohi1i.s. Aus den Abhandlungen der k . bayer. Akademie der
Wiss.. 1. Cl.. XIX. Bd., 2. Abt. (München. 1891). pp. 14ff. ihm folgte Man Maniiius.
Gerchich!e der ioiri8ii.~</?en
Liierarur drr ~Milreiaiicr.~.
I (191 1. Nachdruck München. 1959).
p. 408s.
" Hans Patze, 'Adel und Stifterchronik'. Bl?iiier fiir deuirche Landcrye.schich<e. 100
(1964). 8-81 und 101 (1965). 67-128: die Ziiate p. 25 und 31.
"
graphischen Aufweichung' rein juristischer Aufzeichnungen. nämlich der
Traditions- und Kopialbücher erwachsen seiensx. Mit seiner Betonung
der rechtlichen Aspekte betrat Kastner also durchaus das Feld funktionsgeschichtlicher Aspektes9 und erinnerte deshalb zu Recht an einen
analogen Vorgang: die Entstehung der Annalen aus den komputistischeii
O s t e r t a f e l ~ ~Nach
~ . Kastiiers Auffassung wurden Namen und Dateii
juristischer Aufzeichnu~geu'in ein Bezugssystem eingereiht. das notwendig historische Dimensionen annimmt'. bis schließlich 'der juristische
Kern und Zweck des Ganzen in den Hintergrund' tritt9'. Kastner hat
dabei erkannt, da8 der Begriff 'memoria' ein 'Angelpunkt' der von ihm
behandelten Texte ist; aber er interpretierte diesen Begriff ausschließlich
'in Bezug zur juristischen Absicht der Quellen', im Sinne des Schutzes der
Rechtstitel vor dem Vergessen, dem 'Besitz- und Rechts~erlust~~'.
Die
Kontroverse zwischen Patze und Kastner ist nun aber inzwischen iii
einem neuen Ansatz aufgehoben worden, der zugleich ebenfalls den
Begriff der Memoria zum Angelpunkt macht, aber in ganz anderer
Weise, als dies bei Kastner der Fall ist. P. Johanek hat nämlich jüngst
daraufaufmerksam gemachtg3,daß sowohl historiographische wiejuristische Ziele solcher Aufzeichnungen im Bereich der liturgischen Memoria
denkbar sind. Anhand einer auch kodikologischen Analyse bayerischer
Traditionsbücher des 11. und 12. Jahrhunderts ergab sich nämlich
schlüssig, wie die 'Memoria-Funktion' verschiedene Elemente des Denk e n ~zugleich stimuliert, wie sie sich zugleich in der Ausarbeitung von
historiographischen ('Fundationsbericht', 'Stifterchronik') wie von
rechtssichernden Texten ('Traditionsbuch') manifestiert. Deshalb finden
sich, wie Johanek an seinem Material feststellte. Traditionsuotizen im
Zusammenhang mit nekrologischen Aufzeichnungen' tritt gelegentlich
sogar das Traditionsbuch 'in die Funktion eines Nekrologs oder eines
Jöig Kastner. Hi.~ioriae/rr>idoiio>,umniona,sierioru»i. Fiüi>ror»icn »,oiio.sis,isciier Irisliii<iio,~.~ges~i~icli,.~scI~reih~
ini d4ii,clrilier. Münchcnci Beiträge zur Mcdiävistik und Rcnaissancc-Forschung. 18 (München. 1974): die Zitate p. 78s.
" Solche Aspekic jetzt stärker auch bei Hans Pailc. 'Klosiergründung und Klosterchianik'. ßi?iiierfir <ieiir,sciieLnirdc.s~c.~cliicliic.
1 13 (1977). 89.121. jedoch ohne Bczug auf
die kontiovcrscn Theseii Kastncis.
" O Kastner. Hi.siorim. D. 78.
Ebd. p. 78s.
'I2 Ebd. p. 8lss. in: Anschlußzin Heinrich Fichtenau. Aretiga. Mitleilungcn des liistituts
TuiÖsrerieichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband. 18(Graz-Köln. 1957). p. 131s~.
9 V ~ i eJohanek.
r
'Zur rechtlichen Funktion von Traditionsnotir. Traditionsbuch und
früher Siegelurkunde'. in Rcchi irnd Schrifi in, Mirielnlier. Vorträge und Forschungen. 23
(Sigmaringen. 1977). pp. 131-162. bcs. pp. 1475s.
Memorialbuchs' ein, ja, 'jedes Traditionsbuch konnte in diesem Sinne
zum Liber Vitae werden"". Deshalb begegnen in diesen Büchern auch
genealogische Aufzeichnungen, welche die Stifter-Memoria stützen, und
zwar nicht nur in Form von Namenaufzeichnungen, sondern auch in
Form bildlicher Darstellungen. 'Umfassende Stifter- und TradentenM e m ~ r i a ' ~ ~ aalsn das
n Motiv bezeichnet werden, das diese Aufzeichnungen bewirkte und sie deshalb, wie Johanek abschließend mit Recht
bemerkt, in eine 'sakrale Sphäre' rücktegh.
Grundlage aller dieser Aufzeichnungen ist also der Gedanke, daß
soziale Beziehungen zwischen den Mönchen und ihren Stiftern, zwischen
Lebenden und Toten bestehen. Bemerkenswerterweise ist gleichzeitig
mit P. Johanek, aber unabhängig von ihm und von englischem Material
ausgehend, J.-Ph. Genet zu ähnlichen Ergebnissen gelangt9'. Den Ertrag
funktionsgeschichtlicher Analysen, die von der Memoria ausgehen, hat
schließlich jüngst E. Freise an einem besonders eindrucksvollen Beispiel
demonstriert; er zeigte, daß die so viel diskutierte annalistisch-chronikalische Geschichtschreibung des Klosters Fulda im früheren Mittelalter
nur in ganz begrenztem Umfang diesem Kloster überhaupt zugeschrieben werden kann, während die originären Leistungen der fuldischen
Mönche auf dem Gebiet der Historia in den 'Vitae' und den 'Gesta' ihrer
Äbte zu sehen sind, die - ebenso wie die charakteristische fuldische
Form des annalistischen Totengedächtnisses - aus dem Bereich der
Memoria erwachsen sindn8. Schließlich sei erinnert an die treffenden
Einsichten H. Lippelts über die 'Memorial-Struktur' der Chronik des
Bischofs Thietmar von M e r ~ e b u r g ~ ~ .
3. Eine verbreitete Gattungsform mittelalterlicher Überlieferung sind
die Sukzessionslisten geistlicher, monastischer und weltlicher Amtsträger, also Bischofs:, Abts- und Königslisten. Bei ihrer Aufzeichnung und
Tradierung spielt bekanntlich das Amt, die Herrschaft und deren
Kontinuität und Legitimität eine große Rolle. Aber auch hier ist
wiederum die Intention des liturgischen Gedenkens vielfach mit im Spiel.
Die älteste römische Bischofsliste, Vorbild aller späteren ßischofskata-
Ebd. P. 149 und 152
150.
9"bd.
p. 152.
07 Jcan-Philippe Genet. 'Cariulaires. iegisrres ci histoire: i'enemple anglais', in Le
On
'' Ebd. o.
n i i i i o d'lrisioricn au ntoicn
95-138.
. äse
.. (wie oben Anm. 78)., oo.
~~
'' Eckhard Frcise. Dir Atifunzc d<,r G c . ~ c l ~ i c l i r . . l i hitnu Klosrer Fuldo (Diss. phil.
Münstcr/WestT. 1979).
" Lippeit. Thier»inr von Mer.wburr. pp. 1 9 3 s
DIE C F G E U W A R l ' DER TOTEN
41
loge des Okzidents, könnte im Zusammenhang mit der Kommemoration
der römischen Bischöfe in der Liturgie entstanden sein, worauf E.
Caspar und Th. Klauser aufmerksam gemacht habenLoo. Noch im
Mittelalter ist der Zusammenhang zwischen Liturgie und der Aufzeichnung und Rezitierung von Bischofslisten in vielen Fällen nachweisbar'O1. Auch hier fehlt freilich eine umfassende und methodisch gesicherte Untersuchung. Zwar hat jüngst J. Dubois festgestellt: 'Les listes
episcopales n'ont jamais eu uu usage liturgique"02. Diese apodiktische
Behauptung ist jedoch keineswegs durch eine auch nur annähernd
vollständige Durchsicht des Materials gesichert'''. Zur Widerlegung
dieser pauschalen These genügt der bloße Hinweis auf die Texte und
Listen etwa im Liber. P o n i i f i c a l i s des Bischofs Gundekar 11. von Eichstätt
(gest. 1075)Io4 oder auf die Mainzer Bischofsliste im sogenannten
'Diptychon' des Klosters Fulda aus dem 9. Jahrhundert'05.
Während die mittelalterlichen Bischofslisten immerhin bereits seit
langem Gegenstand historischer Untersuchungen sind, kann dies von
Abtslisten nicht gesagt werden: im Fall der Abtslisten müßten überhaupt
erst einmal die Überlieferungen zusammengetragen und die Kontexte, in
denen Abtslisten begegnen, erhellt werden, um dann schließlich aus
sonstigen Quellen zu ermitteln, worin Anlässe zur Aufzeichnung solcher
' O o Erich Caspar. Dicüirerieiötnirdc Bir<ii"/~iirie. Scliriftcn der Königsbcrger Gclehrten Gesellschaft. GeistEswiss. K1.. Jahrgang 2.4 (Bcrlin. 1926). p. 471 mit Anm. I: Theodoi
Klauser. 'Die Anlänge der römischen Bischofsliste', in Ders.. Ge,$a»,rneiie Arheiien :W
Lirurgiegerchich~e.Kirche~~gerchichrc
undclrrisiiiehe>iArclrüoiopie. Jahrbuch für Antike und
Christentum. Ergänzungsband 3 (Münstcr!Westf, 1974). pp. 121-138 (p. 136).
'O'
DazudieZusammenstellung von Andrt Wilmait. Art. 'Delisle (LCopold)'. Dioioiinairr d'Arciz<;oiogieCliririoitie cl
Liiur~qk.4 (1920). col. 515-561 (col. 522s): rcrnei
Michel Andricu, Ler Oriii>i<,.rRomani du iraui mo~.en6ge. I. Spicilcgium Sacium Lavaniense. Etudes ct documcnts I 1 (Nachdruck Louvain. 1963, pp. 144~s.:Jean Vczin. 'Une
nouvellc lectuie de la listc de noms copitc su dos de I'ivoirc Barbeiini'. Buiieliri
Arch6ologique du Conti16 des Troroxour Hi.ciorique.$ cl Scieniifiques. ,Vou,,eiic SFrie 7. Annee
1971 (Paris. 1973). 19-53 (p. -36).
'" Jacques Dubois. 'La composition des anciennes iistes tpiscopales'. Buiicrirj de io
Socidt6 Naiionaledcs Anriquaires de Frnnce (196% 74-104 (hier pp. 78-80); das Zitat p. 80.
Ebenso Ders.. 'Les listej Cpiscopales ttmoins de I'oiganisation eccl&siastique er de la
transmission des traditions'. Revue d'Hisioire dc i'Lgii.~edc Frnnce. 62 (1976). 9-23 (p. 9).
'Os Es sei hingewiesen auf die sehr verengten Kategorien. unter denen Dubois das
Material erörtert. Wenn seine Annahme: 'liturgisch = was im Kanon verlesen wird'
zuträfe, dann wären sämtliche Lihri Memorinie,~dcs Mittelalters Bücher ohne lituicischen
Charakter. obwohl sie doch während der Liturgie aufdem Altar lagen. Dubois'diesbezügliche Ausführungen über den Reimser Brauch ('La composition', p. 78s.) sind zudcm
anfechtbar. weil das wichtigste Zeugnis für das 9. Jh. (Flodoard. Hisroria Remen.~is
ecclesiae 111, 13. MGH SS 13, p. 499) übersehen ist.
' 0 4 MGH SS 7, pp. 242s.
los
Die Klos~cr~en,~inrchnfi
von F~dda,I (wie oben Anm. 46). p. 215 (AF) mit Abb. 6.
Abtslisten gesehen werden dürfenloh.Einen aufschlußreichen Einblick in
dieser Richtung gewährt der berühmte Ritus der Einsetzung des Abtes in
der Regula Mugisrri aus dem Beginn des 6. Jahrhunderts. In einer
umfangreichen Folge sakraler und rechtlicher Handlungen, die der
Diözesanbischof leitet, wird der aus einer Designation seines Amtsvorgängers hervorgegangene neue Abt in sein Amt eingeführt. Die erste in
der Reihe konstitutiver Rechtshandlungen ist diese: der Bischof schreibt
in der Kirche mit eigener Hand den Namen des designierten neuen Abtes
unter den seines Vorgängers in das Diptychon. Ist der alte Abt zu diesem
Zeitpunkt jedoch schon verstorben, sein Name aus der Liste der Lebenden gestrichen und in die Totenliste eingetragen. dann soll der Namedes
neuen Abtes an die erste Stelle des Diptychons geschrieben werden. Auf
diesen Nameneintrag ins Diptychon folgt dann unmittelbar der Gottesdienst, in dem der neue Abt die Gabendarbringung zu vollziehen hat;
sein Name wird während der Feier verlesenL0'. Treffend hat jüngst K.S.
Frank dieses Diptychon als 'liturgische Gedächtnistafel' bezei~hnet"'~;
es enthält als solche offenbar verschiedene Gattungsformen von Listenaufieichnungen: eine Lebendenliste mit dem jeweiligen Abt an der
Spitze, aber auch eine Totenliste und, wohl an deren Spitze und in diese
integriert, eine Liste der verstorbenen Äbte.
Ähnliche Riten im Rahmen der Abtweille hat es vermutlich in vielen
Klöstern gegeben, auch wenn wir sie im einzelnen nicht nachweisen
können. Bemerkenswert ist jedenfalls, daß solche Konstellationen von
monastischen Lebendenlisten, Totenlisten und Abtslisten, wie sie die
Regula Mugi.irri vermuten läßt, in den Libri Memoriules des früheren
'O"
Eine eiste. sehr Iückenhaftc Zusammenstellung des Materials findet sich in:
Rcpei-iorinm ,fon!ii«>,hiriorioc niedii aeri, 3 (Roma. 1970). pp. 157s~.s. V. 'Calalogi'.
Joachim Wollasch, Mö>,chiro,i de.7 ~Miireiiiliers;ivischen Kirche ioid Weil. Münstersche
Mittelalrei-Schriften. 7 (München. 1973). p. 9 machte auf den interessanten Sachveih~lt
aufmerksam, da0 'in vielen Klöstern cinc Äbrcliste nicht aufgezeichnet worden ist' und wies
hin aufden 'Weseniunterschicd'ziuischen einer bischöflichen Sukrssiansreihe und 'der für
dar, Recht der Kirche unvergleichlich geringer gravierenden Äbtefolge in einem Kloster'.
Neben dicscm kirchenrechtlichen Aspekt ist indessen auch der sozialrcschichtlichc zu
bedenken, d a 5 -- angesichts der z . B. von der Benedikt-Regel dem Abt gegebenen
überragenden Stellunr im Klostcr - die Bedeutung einer Abtslistc für eine monasiische
Gruppe nicht gering gewesen sein kann. Auf die Nähe zwischen Bischofslistc und Abtslistc
hat bereits hingewiesen Wilhelm Levison. 'Zu den Gesia abbatum Fontanellensium', in
Ders.. Aus rhei,*ii.chcr und frö,ikirclier Frül,ieii (Düsseldoif. 1948). pp. 530-550 (p. 540).
'O'
Re~irloMapisrri. C. 93. 6-10, cd. Adalbeit dc Vogük, 2. Sources chreiiennes, 106
(Paris. 1964). p. 424.
' O e K.S. Frank, 'Die Bestellung d a Abics nach dcr Magisterregel'. Jahrhuchfür Aniike
iind Chrisio?rrr>n.21 (1978). 102-1 18 (pp. I IOss.).
Mittelalters anzutreffen sind'OO. Daneben finden sich Abtslisten in den
Büchern für das Kapitel~ffizinm"~
uiid in Nekrologien"'. Alle Exemplare der Fuldaer Toteiiaiinaler. begannen, soweit die erhaltene Überlieferung bezeugt, mit einer AbtslisteLL'.Im Kloster Ebersberg umfaßte ein
der Klosterchronik und dem Traditionsbuch in der zweiten Hälfte
des 11. Jahrhunderts angefügtes Faszikel nacheinander eine Papstliste,
ein Kalendar und Nekrolog, eine Skizze mit der Genealogie der Karolinger, eine Königsliste von Pippin bis zu König Heinrich IV., eine Liste mit
den Namen der Ebersberger Stifter und eine Abtsliste bis zum Ende des
11. Jahrhuiiderts"? Wie fremd modernem Denken jene Vorstellungen
sind, von denen her solche Listen zu einem Ganzen zusammengefügt
wurden, demonstriert das editorische Schicksal dieser Aufzeichnungen"4: die modernen Editionen zerstörten den Zusammetihaiig, er wird
nicht einmal mehr in editorischen Vorbemerkungen auch nur angedeutet.
' 0 ° So enthält pag. 82 des Lihcr Mernorinlii dcr Rcichenau U. a. eine Konventsliste des
Klosicis Maursmünster mit Abi Bcncdikt (von Aniane) an der Spitze. dazu eine Toteniisie.
deren Anfang durch sechs Nanien verstorbener Äbte des Klosters gebildet wird: Paiilus
Pipcr. ed.. Lihri Co>!/?o,o,iiiniui,i So:artciiGnlli. Augici~ri.~.
Fohurioiri,~(Briiin. 8884). p. 246.
Dazu Oito Gerhard Oexle. So;ioI$crcl~ic/iilic/i~~
Foircherigen :i< ,aci.siiic/,o~Ge,>iein.sch"fien
in? il-~~.~!fri~rki,~<*~~~iEi~~flu~h~~r~~i(/(Habilitalionsschiift
Münstei:WcsiC.. 1973. Masch.). pp.
675s. Dieser Abschnitt befindct sich nicht untci dcn bishci gedruckten Tcilcn dieser Schrift.
vgl. Ders.. For,schin~fer,:U »iona.~ii.sc/~i.ti$,,,<I goi.vlichen Gcn~ciiiccliqfienin, i~-c.s(/%ilki.sc/ioi
Bereicli. Münstersche Mittelsltcr-Schrifren, 31 (München. 1978) Torenlistcn mit einer
Abisliste am Beginn und cinei gleichzeitig aufgeschriebenen Lebendenliste aus dcn
Klösrern lndcn und Lobhes(9. Jh.)ciiiliälr dci Liber ivlemorialis uoii Remircmonr aiiffal. 8v
und IOr: Eduard Hla>iiischka - Kai1 Schmid - Geid Tellcnbach. eds.. Libcr M~~~i,oiiaii.s
von
Roniro>io>,i,MGH Libri Memoriales I (Dublin-Zürich. 1970). p. 13s. Nr. I und p. 16s. Nr.
I : dazu ebd. p. 181s. Die Bcispielc lassen sich vermchicn.
''U So Cod. Sangall. 915 mit dcm äitcsten St. Galler Abtkaralog ( I I . Jh.). aufgeschiiebcn im Zusammenhang mit Verbrüdciungsverträgen. vgl. Gcrold Meyci von Knonau. 'Die
:irr ~ n i ~ r / i i > i d i . ~G~~sc/iic/~ic.
ci~~~,,
ältesten Veizcichnissedcr Ahlc von Si. Gallen'. MNi<,ilui~e,.,i
Neue F o l p , I . Heft (Si. Gallen. 1869). 125-138 und MGH SS 13. p. 326. Zuletzt Johanne
Autenrieih, 'Dei Codex Sangalicnsis 915'. in Fe.sisrhr(fifiii-0110Hcrding (Stultgart. 1977).
42-55.
" ' Als Beispiel seien genannt die (noch nichi edieiien) Abtslisten von S. Gemain-desPr&: (1) B. N. lat. 13.745 (Usuard-Nekrolog). fol. 89"-90". nachträglich aufdem Rand (I?.
Jh.): (2) B. N. lat. 13.882 (Nekrolog 12./13. Jh.), fol. 55". nachträglich in drei Kolumnen
(12. Jh.); (3) B. N. ial. 12.833 (Nckiolog). fol. 17r-17" (14. J h . ) Allediese Listen wurden
nach der Anlage jewcils weitergeführt.
Vol. Die Klosieoo,ei>isc/?a/i von fuidn, I (wie Anm. 46). D. 214s.: dazu Oenle.
'Totenannalcn', p. 482s.
''.' Dazu die Bemerkungen von Johanek. 'Zur rechtlichen Funktion'. pp. l47ss. mit dcr
Abb. I .
'I'
Papstlisie. genealogische Skizze und Königsliste wurden nicht ediert: die NekrologEinträge finden sich in MGH Necrol. 3. pp. 77-78, die Namen der Stifter und der Äbte in
MGH SS 20. D. 15.
44
O C i OEXLE
Das Ehersberger Beispiel zeigt, daß auch Königslisten im Zusammenhang liturgischer Memoria aufgeschrieben wurden. Man wird dies nicht
verallgemeinern könnenx5. doch sei hingewiesen auf Einzelbeispiele,
etwa das sogenannte 'Diptychon' mit den Namen merowingischer und
karolingischer Herrscher und Hausmeier im Liber Memorialis von
Remiremont, hier im Anschluß an ein Meßformular und zugleich mit
diesem eingeschrieheii ' I 6 . und die schon mehrfach zitierte MemorialÜberlieferung des Klosters Fiilda. die mehrere Königslisten enthält "'.
4. In großer formaler Nähe zu Aufzeichungen von Sukzessionslisten
steht jener Typus mittelalterlicher Historiographie, den man herkömmlicherweise mit dem Begriff Gesra bezeichnet"*: die Ge.sta episcoporum
und Geira abbarunz. Im Bereich der Aufzeichnungen über Äbte eines
Klosters lassen sich zwischen einer bloßen Liste und ausführlichen
'Gesta' alle Zwischenstufen feststellenf19. Berühmt sind die 'Gesta
abhatum' des Klosters S. Wandrille aus der Mitte des 9. Jahrhunderts;
W. Levison hat sie als die 'älteste Klostergeschichte des Abendlandes'
gewürdigt und ihre Entstehung mit dem 'gesteigerten geschichtlichen
Sinn der Karolingerzeit' erklärtl'O. Ergeben sich hier Analogien zu der
oben erörterten Debatte über die Bedingungen der Entstehung von
'Klosterchroniken' seit dem 11. Jahrhundert?l2I Eine genaue Untersuchung einzelner Beispiele könnte auch im Fall der 'Gesta abhatum' auf
bisher übersehene Memoria-Funktionen aufmerksam machen"? Für
die der reinen Ahtsliste noch sehr nahestehendenLz3"Gesta abbatum' des
Klosters Fulda ist die Nähe zum Bereich der Memoria bereits enviesen '14.
Vgl. dazu die umsichtige. grundlegende Untersuchung dci langobardischen Königslisten durch Mrchthiid Sandinanii. Sn~<iien
zii l ~ ~ i i ~ « h o i - ~ l i . r c l i - i , < iHarndici-vci-eidi,~c!~~~~~
iii.s,$pii(Diss. pliil. Münster Wcstf.. 1'979).
Fol. 3". vgl. Hlawiischka - Schmid - Tellenbach. Liher .Mo>,oi-iolis.p. 4 und dazu
ebd. p. XVIlI.
"' Die Kloriwgo>ieitarh"fi von F,,ido. I ((wie Anm. 45). p. 215 (AF) und 210 (AG):
dazu Fia~iz-JosefJakobi. 'Zu den Amistiä~erlislen i n der Übeilicfcrun~dci Fuldaer
Tatenannalen'. in Die Klo,~icrg'~,i~eiri>üehqfi
i,on Fuicio. 2.2 (wie Anm. 40). pp. 505-525.
vas
gl. R.C. van Caenegem - F.L. Ganshof, Kurze Qiielleiikir~de<lerWesrn<ropöi.scl?e??
I f i i i e i n i i m (Görtingen. 1964). pp. 289s.: Herbert Grundmann. Gc.schichi«chieibe>~irn
iMirrriair~~r.
Kleine Vandcnhoeck-Reihe. 209!210. 2. Aufl. (Göltingen. 1969). pp. 38ss.
Levison. 'Gesta abhatum'. p. 533.
"O
Ebd. p. 531 und 532. Vgl. F. Lohiei - J . Laporte. eds. Gesrn sancioruni palruni
Fonro~irlie>ir~
coeuohii (Rouen-Paris. 1936).
"' S. obcn p. -38s~.
Vgl. dazu auch die Bemerkungen von Levison, ' G a l a abhatum'. p. 540 mir Anm. I
Levison, 'Gesta abbaium'. p. 531.
"'Die Klo,~rolq~niei~i.~cl~o/r
ro>zFuldii. I (wie Anm. 45). p. 212s.
"'
"'
l>lfi <i11CiiiN\\2AKT DER 10TI:S
45
Bekanntlich folgen die 'Gesta abbatum' aus S. Wandrille dem Vorbild
~,
Wirkung sich auch an der
des römischen 'Liber P ~ n t i f i c a l i s ' ' ~dessen
Entstehung von 'Gesta episcoporum' seit dem 8. und 9. Jahrhundert
ablesen läßt. Deutlicher vielleicht als die selteneren 'Gesta abbatum'
zeigen die 'Gesta episcoporum' des Frühmittelalters den hier angenommenen Zusammenhang liturgischer Memoria und historischer Aufzeichnung. Es sei hingewiesen auf die 'Gesta' der Bischöfe von Metz, von
V e ~ d u n ' ~von
~ , Le Mans; diese und andere Beispiele hat neuerdings M.
Sot behandelt, der den Zusammenhang herausarbeitete, indem er zugleich auf die Analogien zwischen bischöflicher Sukzession und genealogischer Abfolge bei königlichen und adligen Geschlechtern im Denken
frühmittelalterlicher Autoren hinwies: 'les Gesra comme les genealogies
sont lies a une commemoration, a un culte en faveur des morts. et a des
sepultures souvent reunies en ma~solees"~'. In der Tat ist höchst
bemerkenswert, wie im 9. Jahrhundert an vielen Kathedralorten die
Bemühungen um die Erstellung einer Bischofsliste Hand in Hand gehen
mit der Aufzeichnung von 'Gesta episcoporum', und wie beide Bestrebungen begleitet und gefördert werden durch die Suche nach den
Gräbern früher Bischöfe und dem Bestreben, deren Gebeine in großen
Grablegen neu beizusetzen und für den Kult zugänglich zu m a ~ h e n " ~ .
Die 'Gesta episcoporum' erfüllen also, wie M. Sot treffend festgestellt
hat, 'une fonction de celebration: ils constituent le memorial de la
saintete &pis~opale"'~.Grabort und 'Gesta', bauliche und narrative
Memoria ergänzen einander: 'l'un et I'autre unifient la memoire de la
succession episcopaleet I ' i l l ~ s t r e n t ' ' ~Dieselben
~.
Phänomene zeigen sich
Lcvison. 'Gesta abbatum'. p. 540.
Der Verfasser der Gc,xia epi.scoporu,>,von Veidun ( I I . Jh.) bezeichnete als Ziel scinen
Werks. er habe die Tatcn der Bischöfe von Verdun aufgeschiicbcn. iii roriini »ionoriri sit
,iobi.~cirinoercnin. yuorion ,ioi>ii,in iii co<,io ci.<.<iiitlaracicniii/ir<~r
e3.v .sci.ii>iii ( M G H SC 4.
p. 37). Zum 'Buch dcs Lehens' in der Liturgie Leo Koep. Drir hii,itiiii.~c/icB t d i iti A,ilik<,
eird Ci~ri.~i<,,iium.
Theophancia. 8 (Bonn. 1952). pp. I Ijss.
"' Michel Sor. 'Historiographie Cpiscopaic et modile familial en Occident au [X'
siicle'. Armalrr E. S. C.. 33 (1978). 433-449 (das Zitat p. 439). Zilni Folgenden auch
Ders.. Ge.~inepi,~coponi»i.grrla nhhoti,»,. Typologie des sourccs dii moycn i g e occidental.
37 (Turnhout. 1981).
Dies hat herausgeaibeiiet Michel Sol. 'Organisation de I'espace el historiographic
ipiscopale dans quelqucs citCs de la Gaule caiolingienne', in Lc ,>zbiicr d'hiiiurim ni<rnoyo,
äge (wie Anm. 78). pp. 31-43: "$1. Dens., 'Historiographie Cpiscopale'. p. 438s. Ferner die
Hinweise bei Dubois. 'La composition des anciennes iistes ipiscopaics', pp. 955s. Ubcr
entsprechende Maßnahmen in Le Mans und Sens: Deis.. 'Les listes Cpiscopales'. p. 21s.
"9
Sol. 'Or@nisation de I'espace'. p. 40.
Ebd. p. 43.
'iS
""
46
o C;. O E X L E
aber auch in Familien und Verwandtengruppen des 8. und 9. Jahrhunderts, etwa bei den sogenannten 'Liudgeriden', wo man die Abfassung
von 'Vitae' berühmter Verwandter und gleichzeitig die Anlage von
Familiengrablegeu beobachten kann '" .
5. Es wird also deutlich, daß die Memoria als soziale Handlung im
mittelalterlicheil Verständnis sich nicht nur in schriftlichen Aufzeichnungen ausdrückt, sondern selbstverständlich die Gestaltung von Bauten
und Monumenten zur Folge hatte. Dies zu betonen ist angebracht, weil
zum Beispiel die Zeugnisse der Memorialüberlieferung im engeren Sinn
(Libri Memoriales, Nekrologien, Totenannalen U.a. m.) heute in Bibliotheken und Archiven aufbewahrt werden, wodurch der ursprüngliche
Gebrauch dieser Aufzeichnungen bei ihrer Auswertung leicht vergessen
wird. Die liturgische Funktion solcher Namenaufzeichnungen wird dort
am unmittelbarsten sichtbar, wo nicht Buch und Pergament, sondern der
Stein der Träger der Aufzeichnung ist, dort, wo die Namen im Kirchenraum selbst aufgezeichnet wurden. Ein frühes Beispiel aus dem nordalpinen Gebiet sind die spätantiken Graffiti und Nameneintragungen auf
den Schrankenmauern der Südbasilika in Trier (4.15. Jahrhundert)"'.
Berühmt ist das Nekrolog in der Apsiswand der Kathedrale von Parenzo
(Istrien), mit Nameneinträgen des 6. bis 9. Jahrhunderts. Erwähnt sei
ferner der Liber Memorialis auf einer Altarplatte aus Minerve (dep.
Herault), ebenfalls mit Namen des 6. bis 9. Jahrhunderts, sowie das
Marmorkalendarvon Neapel mit nekrologischen Einträgen neapolitanischer Bischöfe bis ins 9. Jahrhundert ' 3 3 . Eine Altarplatte mit Nameneinträgen des ausgehenden 10. und des 11. Jahrhunderts, in Form von
Einritzungen und Tintenaufschriften, wurde 1976 in Reichenau-Nieder-
"' Darüber Lutz V. Padbeig, Zur Bedcuiung von Vrri~.andrseimjiii>,/rÜh~niiielolierIichen
Heiiigenuiien, Vortrag, gehalten beim Internen Colloquium des Sonderforschungsbereichs
I in Münster am 8. Januar 1977: für die freundlich gewährte Einsicht in dieses Ms. habe ich
dem Verfasser herrlich zu danken. Jetzt umfassend Ders.. Heilige und Fa~?zilic(wie
Anm. 47). Zu den 'Liudgeriden' Ksri Schmid, 'Die 'Liudgeriden'. Erscheinung und
Problematik einer AdelsPamilie'. in Feslschri/(Jiir Heinr Löivc (Köln-Wicn, 1978). pp. 71I01 (hier bes. p. 85s. und 88s.).
'" H.Cüppers, 'Dom und Domfreiheit in spätrömischer und frühmittclalterlicher
Zeit'. in Führer :ir vor- uiid /rÜhpecrbicii~lieii<.>i
D<.>ikmöl<,rri12.1: Ti-icm (Mainz. 1977).
pp. 104-114 (P. 109s).
Oenle, 'Memoria'. p. 74s. Envähnt seien auch die jüngst entdeckten Nameneintragungen im Michaels-Heiligtum des Monte Gargano, vor allem aus der langobardischen
Zeit ( 7 / 8 Jh.). über Namenaufieichnungen in erhaltenen Diptychen zuletzt Vezin,
'L'ivoire Barberini'. pp. 3 2 s .
"'
Zell gefunden'34. Von hier aus mag der Blick zurückgehen zu den
Nameneintragungen auf frühchristlichen Agapentischen'".
Die in der Namensnennung bewirkte Gegenwart der Toten wird
vielfach durch eine bildliche Darstellung der Genannten noch verdeutlicht. Bilddarstellungen dieser Art können als 'Memorialbilder' bezeichnet werden'3h. Es ist damit nicht ein bestimmter Bildinhalt gemeint,
nicht ein bestimmter ikonographischer Typus, sondern eine Bildfunktion: die Verwendung eines Bildes im Rahmen der Memoria. Überliefert
sind solche Bilder in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen und
ikonographischen Formen. Stifterbilder, also Darstellutigen adliger oder
königlicher Verwandtengruppen oder Geschlechter, begegnen zum Beispiel in Libri Memoriales. aber auch in Traditionscodices 1 3 ' und darüber
hinaus, außerhalb von Büchern, in Malerei, Glasmalerei und Plastik des
Kirchenraums. aber auch an anderen Orten einer Klosteranlage. in
Kapitelsaal und Kreuzgang. Von den zahlreichen Bildtypen sei hier nur
die genealogische Darstellung mit Memoria-Funktion erwähnt, in der
wiederum unterschiedliche Bildideen und -motive verwendet sein können, zum Beispiel das Motiv der aufsteigenden genealogischen Reihe in
der Gestalt des B a u m e ~ ' ~ ~ .
Schließlich ist darauf hinzuweisen. d a ß die Erstellung baulicher Memorien immer eine wesentliche Erscheinungsform der Memoria war. Im
Zusammenhang mit der Verehrung der Märtyrer an ihren Gräbern trat
sie schon in der Frühzeit des Christentums in E r s c h e i ~ u n g ' ~Die
~ . oben
erwähnten Bemühungen von Bischöfen der Karolingerzeit um die Grä-
"'Woifrang Erdrnann - Kar1 Sciirnid - Johanne Autenricih - Dieicr Geuenich - Heinz
Rooscn-Runse, 'Zur heschriftetcn Altarplatte aus Sr. Peiei und Paui. Reichenau-Xiedcrzell'. Freibi<rgw Diöie,son-Ai-cliii,.98 (1978). 555-565.
'" Henii Lecleicq. Art. 'Agapc'. Dic~ionnoiredArcli!o/ogieClirtiioi>iecl de Lilur,qie, I
(1924). col. 775-848 (col. 823s).
'""her erMcrnorialhildei' vorläufig Otto Gerhaid Ocxle. 'Welfische und staufische
HausÜberlieferung in der Handschrift Fiiida D I I aus Weingarten'. in Von der Kloricrhiblioihck zur La>id<~.?hihlioihck.
B<,iirir<,;ion ;ir<~iliir>i<i<7-1jiil?ri~~~i~
Br.srehe,i der H~~.ssi.~<ii~~,~
Lri,zd<~.~hihiioih<Xk
F~rldn.cd. .4itur Brall (Stiiti;art. 1978). pp. 203-231 (hier p. 218s.) und
demnächst ausführlich Ders.. 'Memoria und Memorialhild'. in K . Schrnid-J. Wollasch.
eds. M<~,»ori<i.ß<.r,aer<iii</zilidieZ < ~ ~ l i i . ~ i i<I?.?
- < ~Iilirr~i.silt~ii
rl
G<,i/<,,zhe,isin? M i ~ r r l n l l ~ ~ r
(1 982. im Druck).
'" S. ohcii p. 40.
Oexlc. 'Welfische und staufische Hausüherlieferung'. pp. 221ss. und Ders..
'Memaria und Mernoiialhild'. Abschnitt V.
Is9
Köiting. ReIiquie>ikuli. pp. 1 3 s : J.B. Ward-Peikins. 'Mernoria. Maityr's Tomh
2nd Maiiyr's Chuich'. Akten des VII. I~~~erna~ion<iIoi
K o ~ ~ ~ r c s . ~ e irbri.~iiiche
..f>ir
Arcl~üiiologie. Siudi di Antichith Ciisiiana. 27 (Ciiti dcl Vaticano-Berlin. 1969). pp. 3-24. Vgl. untcn
Abschnitt IV.
"J
ber ihrer Amtsvorgänger deuten auf denselben Sachverhalt14". Es ist
ferner an die Königsgrablegen des früheren Mittelalters zu e r i n ~ ~ e r n ' ~ ' ,
sowie an die zahlreichen Grablegen adeliger Geschlechter, die im Hochmittelalter den Herrschaftssitzen, den Burgen zugeordnet waren und ein
konstitutives Element adeliger Herrschaft d a r ~ t e l l e n ' ~Treffend
5
hat G.
Duby unlängst die Zuordnung von Burg und Grablege in dem begrifflichen Parallelismiis 'risidence des vivants' / 'risidence des morts', Sitz der
LebendenISitz der Toten ausgedrückt '43.
Für die Beurteilung der mittelalterlichen Memoria ist entscheidend,
daß sie in ihren wesentlichen Momenten bis in die Antike, die heidnische
wie die christliche, zurückreicht.
Im Zentrum des heidnisch-antiken Totenkultes steht die Totenspeisung, vor allem in der Form des toten mahl^'^'. Der Tote wird dabei als
Handelnder gedacht und er wird von der Familie, den Verwandten, den
Freunden, die an seinem Grab Totenmahl halten, als wirklicher Teilnehmer an dem gemeinsamen Mahl erlebt, für den Speisen, Geräte und
Mobiliar bereitgestellt werden müssen. Diese Vorbereitungen 'sind für
ihn das Zeichen, sich zum erwünschten Mahle zu nahen; ja sie zitieren
und lokalisieren ihn, ... Fortan gilt für die volkstümliche Vorstellung der
Satz: da, wo der Stuhl oder das Bett für den Toten aufgestellt ist, da ist er
selbst"45. Aus dem Gedanken der Gegenwart des Toten beim TotenS. obcn p. 45.
Krüger. K+nif.sgrahkirchem. bes. pp. 446 ss.
'"' Schmid. 'Zur Problematik von Familie, Sippe und Geschlecht'. bcs. pp. 44ss.
Allgemein Ursula Lewald. 'Burg. Kloster. Stift'. in Die Burpoi im ~i~ieuischen
Sprochroum, 1.
Vorträge und Forschungen. 19.1 (Sigmaringen. 1976). pp. 155-180.
I*' Georges Duby. Diskussionsbeitrag. in Gcoiges Duby - Jacques Lc Goff. eds,
Faniille ri pareriiP dnnr I'Occide~i~
rn4diivo1, Collection de I'Ecole Fran~aisede Rome. 30
(Roma. 1977). p. 58.
"'Darüber vor allcm Theodor Klausei. Die Crirhedr<iiti, Toier,ki<lider izeidnirchen i o r d
chri.si/ichen A~>iiikr.Liturgiewissenschaftliche Qucllcn und Forschungen, 21. 2. Aufl.
(Münstci/Westf.. 1971). bes. pp. 4 3 s und 1 2 3 s . sowie Ders., 'Das altchristliche Totenmahl nach dem heutigen Stande der Forschung'. in Den.. Gesoni»zcIie Arheiien (wie oben
Anm. 100). pp. 114-120. Fcrnei und insbesondere zur heidnischen Antike: Erwin Rohde.
P.~ychc.19/10. Aufl. (Tübingen. 1925). pp. 228~s.:Ebcrhard Friedrich Biuck. Toio,irilund
Seelperäi in, griechirchen Rechi. Münchener Beiträge zur Papyrusforschung und antiken
Rechtsgeschichte, 9 (München. 1926). pp. 279~s.:Franz Cumont. Lux perpeim (Paris.
1949). pp. 295s.: Rhea N . Thönges-Stringaiis. 'Das griechische Totenmahl', Mirieilrrngen
</C.$ D~ci<isd,en
Archüolo~ir~hen
I>nrirui.~.
Aih<.nisclie Ahicilunp. 80 (1965). 1-99. pp. 62ss.
Klauser, Co!hedra. p. 55. Der Brauch des Totcnmahls widerlegt die Deutung des
antiken Totenkults als apotropäischcm Abwehrzauber bei Aries. E.ssasaü. p. 25 und Dems.,
O''
"'
"'
mahl ergibt sich der in moderner Sicht befremdliche Sachverhalt, daß mit
dem Essen und Trinken am Grab als ein zweites Element das Singen und
Tanzen eng verknüpft war'4h; auch das Singen und Tanzen am Grab ist
Ausdruck dessen, daß die Lebenden den Toten in ihre Gesellschaft
einbeziehen, ihn an ihrem Leben teilhaben lassen I"'.
In seiner Schrift De resrimor7io ani~nae.entsranden um 200, weist
Tertullian auf das heidnische Totenmahl hin. bei dem die Toten 'gleichsam gegenwärtig sind und mit zu Tische sitzen"48. utn den Heiden zu
verdeutlichen, daß ihnen der Glaube an ein Fortleben nach dem Tode im
Grunde bereits völlig vertraut ist. Der Gedanke dieser Gegenwart der
Toten unter den Lebenden war Tertullian offenbar ganz selbstverständlich. In der Tat wurde das Totenmahl als ein 'neutral-paganes""'
soziales Phänomen in allen seinen Elementen vom frühen Christentum
ü b e r n ~ r n m e n ' ~wobei
~ , vielleicht auch jüdische Vorbilder mitgewirkt
L'honime dcvoni 10 mon. p. 37s. Pie Deutung des aniikcn Totenmahls als Ausdruck der
Totenfurcht tindet sich außerdem bei Cumanr, a.a.0. p. 40. Arnold Vaii Gcnnep. .U<t<inurl
d<,,folklorefmncois conio>,poroin. 1.2 (Paris. 1946). p. 778 deutcte das Totcnmahl als 'un
rite d'ttape qui ritablit des relations entrc lcs vivants pai I'enclusion (!)du mori': ebenso
wieder Chiffoleau. 'Charitt et assistance en Avignoii'. p. 71s. Die soziale Fiinktion des
Torcnmahls in der hcidriischen und christlichcn Ai~tikeals Ausdruck der 'soci;ihiiite'.
der Stabilität und Einheit sazialcr Giuppcii. wurde ncucrdings mit Recht abcrm;ils
stark hcrvoigeliobcn von Paul-Albcrt Fivriei. 'A propos du repas furierairc: cuite ct
saciabilite'. Cahicrr Arcli~ologiqu~~.~.
26 (1977). 29-45 (bcs. pp. -375s. und 435s.) Zum
Problem der Deutung des Totcnmahles vgl. auch untcn Abschnitt V.
""azu
Johannes Quasten, Murik ioid Gerntig in rlo, Kz<lie,.,ider hcid~iischoiAnrike w d
clirisrliche,i Frül>;eii. Liturgiqeschichtliche Quellen und Forschungen. 25 (Münster:Wesif..
1930), pp. 204ss.: Cail Andresen. 'Altchristliche Kritik an>Tanz - cin Ausschnitt aus dcm
Kampf der Alten Kirche gcgen heidnische Sittc'. in Heinzgüntei Frohnes - - Uiue W.
Knarr. eds.. Kirchetigesrliic1,ic01.7 Mi.ssi«>irgei.cI~ici,ie.I . Die Al,e Kirclic (München. 1974).
pp. 344-376 (pp. 359s~).
I*'
Dazu treffend Kurt Ranke. Indogcrmri~ii.~c/te
Torenrcrehrirtzg. I. F? Communications. 140 (Helsinki. 1951). p. 286. 294. 297.
Terlullian. De !eriin,o,?io o>?i»i<re.
C. 4 (CSEL 20. p. 139): . . i n co?iuiiiio eorutn (Sc.
morruomm) quasi pr<ic,~e>iribl«
er conrccumbeniibio sorrern suo»i c.~probr<ir<,
noii l>o.r.si.s.
dcber adir1oriprop;er. quos loeiiiir tliuir. Die engen Bindungen zwischen Totcn und Lebenden
sind also nicht crst eine Folgc der christlichcn Lehre. wie AriCs. L,'liomz»i<~devoni 10
mori, p 38 annimmt: die von ihm behauptete 'trCs grande diErencc entre I'attitlide
pdiennc el la nauvclle attitude chretiennc i I'Egard des morts' gibt es in dicscr Hinsicht
nicht. Vgl. dazu oben Anm. 145 sowie auch die Übcileguiigen und Hinweise von Pctcr
Stockmeier, 'Hei-rscherfrömmigkcit und Totenkult. Ko~isisntins Apostelkirchc und
Antiochos' Hicrothesion'. in Fc.rIschrifi f i r B<,rnhardKöiring. Jahrbuch für Antike und
Christentum. Ergänzungsband. 8 (MünstcijWesti.. 1980). 105-113.
" 9 S~uibei.Rcfrigeriuni inroim. p. 16.
Klauser, Co,hedra. pp. 123ss. und 132s~.mit Hinweis aufdie mögliche Rechtfertigung durch Tob. 4, 18 und eine Fassung von Röm. 12, 13: Pers.. 'Das altchiistlichc
Totenmahl', bes. p. 119s.: ferner Reicke, Diakonie, pp. IOlss.: Stuiber. Refryeriiim iriier-in?.
pp. 120ss. Offen ist. ob diese Übernahme von Anfang an legeben war. oder ob sie nach
haben'51. Auch unter Christen wurde der Tote zum Mahl 'förmlich
eingeladen und zitiert"5? Seit der ersten Häifte des 3. Jahrhunderts.
vielleicht schon früher, wurde das Totenmahl am Grab durch ein
voraufgehendes eucharistisches Mahl ergänzt oder durch ein solches
ganz ersetzt I s 3
An den Gräbern der Märtyrer hat man ebenfalls Totenmähler gehaltenLS4.und auch hier ist die Vorstellung wirksam, daß der Märtyrer
'irgendwie in seinem Grabe gegenwärtig ist und von hier aus wirksam
werden kann'I5". Problematisch wurden diese Mähler offenbar erst von
dem Moment an, als 'im Zusammenhang mit der steigenden Bewertung
des Märtyrers' das Mahl an seiiiein Grab 'ciiieii iii der Gescliiclite
des Totenmahles neuartigen Siiiii erliä!~"'". die Märtyrer also
gewissermaßen aus der Schar der übrigen Toten herauswachsen. Mit
diesem Vorgang hängt es zusammen, daß seit dem Ende des 4. Jahrhunderts, also zu einem verhältnismäßig späten Zeitpunkt erst15', eine
entschiedene Polemik gegen das Totenmahl als Form des Toten- und des
Heiligenkults einsctzt ' ". Als ein Beispiel dafür soll Ambrosiiis erwähnt
werden, der in Mailand Mahlzeiten an den Gräbern der Heiligen verbot,
11euI1a occario se i i z g ~ l r g i r u i ~ d ia r e r u r ebrio~i.?.er quiaU!!;
yuasipareizralia
s u p ~ r s r i t i o r z geniiliirin
i
esser~r.~inzil!irizu'~". Seinem Beispiei folgte Augucinei Phase der Distanzieiung erst in der Mitte des 2. Jh. erfolgt;. vgl. Köiiing.
Reliquienkuli. p. 8 mit Anni 5. Dabei ist jedoch auch die Möglichkeii einer jüdischen
Kontinuität des Toienmahls zu bedenken. auf dje Reicke hinwies ( s . Anm. 151).
"' Dies bctonie Reicke. Di<ikotiie. pp. 103~s..I I Iss.. 117s.
'I' Klausei. Cniliedro. p. 135s. mii Hinweis auf Grabinschriften. die den Gedanken der
Gegenwart dcs Toten ausdrücken.
Fianz Jasef Dölger. ichi/~~.s.
2. Der heilige Fi.~c/iiti den uriiikoi Reiigio,ie>i an0 in?
Clirisi~>,iuni.Te,vihritid (Münster;Westf.. $922). pp. 555~s.:Kötting. Reliquienki<li. p. 13:
Klausei. (ail~erlr.<i.p. 140.
'I' Reicke. Dioko,,ic. pp. 131~s.:Richaid Krautheimer. 'Mensa-Cocmcterium-Mi$rlyrium'. Cahicr.~nrc/iL:ologiq,i<,.s, 1 1 (1960), 15-40: Kötting. Reliqui<~nkuli.p. I?. Zu den
Toienmählcrn am Grab der Apostel in Rom: Klauser. Coihcdro. pp. 152~s.und 205s. sowie
Ders.. 'Dcr Ursprung des Festes Petri Stuhlfeier arn 22. Februar'. in Ders.. G~~.sr.o»,»i<,Iie
Arhcii<w,(wie Anm. 100). pp. 97-1 13.
"I Thcodor Klauser. 'Chrisiiicher Mäiiyreikult. heidnischer ticroenkult und spätjüdische Heiligenverehiung. Neue Einsichren und Probleme', iii Deis.. Gc.~nm»,elieArh<.ii<mi
(wie Anm. 100). pp. 221-229 (p. 222 und 225). Zugleich wird der Märtyrer natürlich auch
als Fürsprecher beim Thron Gortes stehend gedacht.
"' Klauser. C(i!hedrn. p. 135 Anm. 134. vgl. p. 141
' I ' Man vergleiche damit die positive Sich1 der Totcnmähler mit dem Märtyrer noch
bei Cyprian und Euscb: Reicke. Di<iko,~ie.p. 133s.
I S SVgI. Zeno von Verona. iinei. I. 15 C . 6 (Migne PL 1 1 . col. 366): Gaudcntius von
Brescia. Sermo 4 (Migne PL 20, col. 870s.): Pauliniis von Nola: Quasten. Murik u,id
Geson~.p. 245 mit Anm. 39.
15'
Ambiosius. De Heiin el jejunio 17.62 (CSEL 32.2. pp. 448~s.);Augusiinus.
Cniif<~.~.~ioii~.~
VI. 2 (CSLL 333. pp. I l4ss.). das Zitat irn T t r t hici p. 115.
"'
stinus, der - noch als Priester - 395 in Hippo Regius das nächtliche
Fest am Grab des Ortsheiligen. des früheren Bischofs Leonrius, durch
eine liturgisch geordnete und vom Bischof beaufsichtigte Feier ersetzte
und ähnliche Maßnahmen schon früher dem Bischof Aurelius von
Karthago für die Feiern am Grab des heiligen Cyprian empfohlen
hatte'"'. In Hippo Regius freilich gab es Schwierigkeiten. da die
Gemeinde nicht begreifen konnte, d a ß nunmehr verboten sein solle, was
bisher üblich und erlaubt gewesen war'"'. Von ~iuii an blieb die
Einstellung der Gemeindeleitung, der Amtsträger im Blick auf die
Totenmähler, das Essen und Trinken, das Tanzen und Singen am Grab
negativ: dergleichen galt hitifort als Ausdruck heidnischer Gesiiiniing'62.
In den frühmittelalterlichen Stellungnahmen zur Totenmemoria lind
zum Totenmahl in Familie und Freundeskreis wird dieser Traditioiisstrom kirchlicher Verbote alsbald aufgenommen und weitergeführt '".
Es ist zu fragen, wie dies beurteilt werden muß. ßezieheii sich diese
frühmittelalterlichen Verbote etwa auf ncue Phinomcne heidnischen.
das lieißt also: germanischen Totenkults? Oder handelt es sich im
wesentlichen um Diffamierungen von Sozialformen laikaler Gruppen
und Schichten aus der Sicht und den Einstellungen kirchlicher Amtsträger, die sich dieser Tradition bedienen? Wie im Abschnitt V dieser
Untersuchung zu erläutern sein wird, sind diese Fragen für die Beurtei-
'"" Auguriinus. ep. 29 und cp. 22 (CSEL .XI. pp. 1 l 4 s s und 54ss.). Wzirerc Tcxie bci
Klausei. Cniiicdrii. p. 133s Dazu van der Meer. /liig~«ii,z~«..pp. 601s~.und 5 9 7 s sowie
Andicscn. 'Kritik an? Tanz'. n. 363s.
'" Ep. 29.8 (CSEL 34.1. p. 119).
'" Mit dieiei Wendung- -eeecn
- die Totenmähler um 400 hänet zosammen. d a 8 im 5. JIi.
in Rom die Toicngedächtnisfeicr für Peirus ("Carhedia S. Peiri") unterdrückt wurde:
Klauser. Caiiledra. p. 175 und 206.
'" Vyl. zum Beispiel folgende Tradiiionsiinien: ( I ) Regisiri cccicriilc Corrhu~i,roirir
<,,~c<,rpia.
C. 60(CCL 149. p. 196s.). 5. Jh. = Burchaid von Worms. D e v . X. 36 = Ivo von
Charrres. Decr. XI. 61: (2) Leo I , ep. 167. lnquir. 19 IMisnc P L 54, col. 1209) =
Benedictus Levita. Knpiii<ioricnsonin~l~~~~g
1. 126 und 1. 133 ( M G H Leges 2.2. p. 52s.) =
Burchard. Decr. X. 37 = luo. Decr. XI. 62: (3) Mariin von Braga (gescsi. 580).
Krr~~nne.ssam»~iir~zg,
C. 69. ed. Claudc W. Bsrlow (New Haren. 1950). p. 140 = Burchard.
Dccr. X. 38 = Ivo. D e o XI. 63: (4) 'Admoniiio synodalis' des 9. Jh. ( = sog. 'Homilia
Leonis IV.') C. 71. ed. Robcit Amiel. in Mcdi<i<,wiSiutli<~.v.26 (1964). p. 62: (5) PS:
Bonifaiius. Scr»,o VI. I (Mignc PL 89. col. 855) = Tenr dcr sog. 'Karolinginchen
Mustcrpredigi'. vgl. Dietcr Harmeninr. Siqerrriiio (Bcrlin. 1979). p. 160: (6) Hinkmar von
Reims, Kapitular von 852. C . L4 (Migne PL 125, col. 116) = Regino von Piüm. Dc
«;,iodoiihus cnir.xis 1. 216 = Burchard. De<r 11. 161 = lvo. D<air.VI. 252 = Gidtian. Decr.
C. 7 D.XLIV. - Zur Kontinuiiät des Cathcdra-Festes (mit Torcnmahl) im Februar:
Klauser. Cuiiicdrri. p. 174s.
.
~~
lung des Totenkults im Mittelalter entscheidend. Hier bleibt zunächst
festzuhalten, daß - trotz aller Verbote -- im Mittelalter das Totenmahl
ein wesentlicher Bestandteil der Totenmemoria laikaler Gruppen, der
Verwandtengruppen wie der freien Einungen und Gilden bleibt'64.
Sogar im monastischen Bereich ist der Zusammenhang zwischen Totenmemoria und Mahl nicht aufgehoben worden, wie die caritas, das
Erinneruugsmahl der Mönche bei der Feier eines Anniversars zeigt.
Dieses Mahl ist eine Gegengabe für die Gabe des monastischen Gebets
und wurde bei der Stiftung der Memoria mit begründet'65.
Die Polemik der griechischen Kirchenväter gegen das Totenmahl war
im Gegensatz zu den oben erwähnten Stellungnahmen westlicher Bischöfe und Theologen sehr viel gemilderter'"". Möglicherweise ist dies die
Ursache für die erstaunliche Kontinuität des Totenmahls im Bereich des
östlichen Christentums von der Antike nicht nur bis zum Ende des
Mittelalters, sondern bis zur Gegenwart l h 7 .
Aber nicht nur das Totenmahl an sich muß in die Überlegungen zur
Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter im Bereich des Totenkults
einbezogen werden. Typisch für das antike Totenmahl unter Heiden wie
unter Christen war die enge Beziehung zwischen dem Essen mit dem
Toten und der Speisung von Armen168. Ein Fresko in der Katakombe
des Petrus und Marcellinus in Rom zeigt. ' wie Arme, die Hände bittend
erhoben, mit Säcken versehen zum Totenmahl k ~ m m e n " ~ ' .Die Armen
wurden als Teilnehmer zum Totenmahl geladen oder nach dem Mahl mit
Lebensmitteln oder Geld beschenkt, 'um den Kreis der dem Toten
,<W
Darüber Kyii. Tod. pp. 155~s.;Löfller, Toioihrnuehiui~,.pp. 247ss.: Oenle. 'Die
mitteialtcilichen Gilden', p. 213s. Dic Kontinuiiät hat bereits Klauscr. Co,liedra. p. 146
betoni.
'"' Vgi. dazu Werner Ogris. 'Die Konventuaienpfründe im rnitteialterlichen Kloster'.
Ör~errciihi.~clze.sArchiv ,er Kir<l?enrccl,i. I3 (1962). 104.142 (pp. 123 ss.): Augusiinus
Thiele. Eclii~~rnoch
ioid Hini»,eror/, Forschungen zur Sozial- und Wirtschafisgeschichrc. 7
(Siuttgart, 1964). pp. 5 2 ~ s . :Beinhsrd Bischoff. 'Caritas-Licdei. in Den., Miiiel~lierliche
Sii<die>i.2 (Stuttgart. 2967). pp. 56-77: Kyll. Tod. pp. 207~s.:Manfred Baizci, U>iicr.~i<chioigen -ur Gcrclti~hirder Gre>~~/bcrii;cs
in der Poderhorticr Fcldniork, Münstersche MittelalterSchriften. 29 (München. 1977). pp. 156~s..170s. U. ö.
'<'Q~arauf machte aufmerksam Andresen. 'Kritik am Tanz'. p. 364s. Vgl. auch
Cumont. Lux pe,peiuo. p. 40s.
'"' Reichhaltiges und meist überseheries Material dazu bietet Maihias Muiko. 'Das
Giab als Tisch'. W ö r t o und Sorhoi. 2 (1910). 79-160: zahlreiche Hinweise ferner bei
Ranke. Toicriwrel~rung.pp. 185s~.
'I''
Dazu vor allem Reicke. Dirikoriie. pp. LOlss.. bes. 1 4 7 s und 167~s..der die
Vcrbindung von Mahl und Armenfürsorge treffend als Ausdruck der Festfreude deutete.
Ferner Bruck. Toi<,,iied. pp. 296ss. und Deis., Kirc/ie,,r«ier. u>idso;iril<~.vErbrech, (BcrlinGöttingcn-Heidelbeic. 1956). pp. 365s.
'"" Klauser, Cnihc<lr<i.p. 140 Anm. 150.
Verpflichteten zur Befestigung und Ausbreitung seiner 1?7ernoria zu
e r ~ e i t e r n " ' ~ .Dieser Form der Armenspeisung stand Augustinus durchaus positiv gegenüber"', ja er hat sie gefördert, um damit das Toten~ . gleichen Zeit etwa mahnten die
mahl selbst z ~ r ü c k z u d r ä n g e n ' ~Zur
syrischen 'Apostolischen Konstitutionen' zur Mäßigung beim Totenmahl und bestimmten, daß aus dem Besitz des Toten zur Erinnerung an
ihn den Armen gegeben werden ~ 0 1 1 ~ ' ~ .
Die Tendenz, die Totenmähler zugunsten der Armenspende einzuschränken, ist in kirchenrechtlichen Bestimmungen aus dem Mittelalter
immer wieder nachweisbar
In jedem Fall aber bleiben Totenmemoria
und Armenspeisung eng verbunden"', was große sozialgeschichtliche
Konsequenzen hatte, da die Memoria zum Beispiel die Klöster zu immer
größeren sozialen Leistungen zwang. Dies konnte so weit gehen, daß
schließlich die Subsistenz vieler Klöster in Frage gestellt wurde; 'die
Toten begannen, in Gestalt der Armen die Lebenden auszuzehren"'".
Auch in den Gilden begegnet die wechselseitige Bedingtheit von Totenmahl und Spende'". Man kann generell für die Sozialgeschichte der
Antike, des Mittelalters und weitgehend auch der Neuzeit feststellen, daß
diese wechselseitige Bedingtheit ein wesentliches Moment des Alltagslebens ist: das Mahl mit dem Toten und das Opfer für ihn in Form der
Armenspende sind konstitutive Momente der T ~ t e n m e m o r i a ' ~ ' .
Während im Totenmahl und in der damit verbundenen Armenspende
Kontinuität sichtbar wird zwischen heidnischer und christlicher Antike
und dem Mittelalter, so wird an einem anderen Phänomen des TotenEbd. p. 139.
Aueustinus. De civiioic~Dei VIII. 27 (CSEL 401. D. 405s.): Coiife.v,~io>icrVI. 2
(CSEL 33rp. 115).
:b,
Ep. 22.6 ('SEL 14.1. p . 58s.).
"' Didnsrolin m Co>rsri,iiiio~,~,~
opo.~iolorun,Vlll. 42.5 und VIII. 44.ed. F. X. Fuiik. I
(Padcrboin. 1905), p. 554i556.
"'KyII, Tod, P. I 575. und 203s.
"' Dazu Kvll. Tod. .DD.
. 2Olss. und Joachim Wollasch. 'Gemeinschaftsbcwußtsein lind
soziale Leistung im Mitteialter'. Friihrniiielolrer/ichc Sflidicn. 9 (1975). 268-286.
Woilasch. 'Gemeinschaftsbewußtsein', pp. 276~s..das Zitat p. 282. Analoges gilt z.
B. auch für den spätmittelalterlichen Adcl und dessen Vermögen. w r a u f i m Anschiuß an
R. Bo~itruchehingcwicscn hat Jacques Heers. I. 'Occide~iioiir XII"' <,I Xi'" .si@<l?.r.A.~p?ci.s
~ennorniqurr(1 S O C ~ ~ I L XNouvelle
.
Clio. 23. 3. Aufl. (Paris. 1970). p. 107s.
"' Ocxie. 'Die mittelalterlichen Gilden'. p. 213s~.Ein Beispiel dafür bieten die Statuten
der Kaufmannsgilde von Valenciennes aus dem I I . Jh.. cd. H. Cafiiaux. .t44»ioires dc 10
Sooeri ;\;orionolc tle.~ics~,iiiq<iair<.i.
</C, Fra,i<<,.
38 (1877). pp. 26ss 8 3s.
Hanns Koren. DieSpende(Gra2-Wien-Köln. 1954). p. 156: Ranke. Toienverci~runp.
p. 224s.: Kyll, Tod. p. 201. Über die dahinterstehenden grundlegenden sozialen Haltungen
"$1. Paul Veyne. LP Pni,i ci le Cirqiic (Paris. 1976) uiid AriCs. L%o,ni>ieilh?o>iija moi-1.
pp. 187ss.
"O
"'
kults deutlich, wie das Christentum gegenüber der heidnischen Antike
neue Elemente geschaffen hat. Sie treten in einer Weise in Erscheinung,
welche die soziale Beziehung zwischen Lebende11 und Toten unmittelbar
betrifft. Bestattung und Grab sind nach griechischer wie römischer
Auffassung Privatsache: es gilt nur die Regel, d a ß die Beisetzung oder
Verbrennuns eines Toten innerhalb der Stadt nicht zulässig warli9;
noch die christlichen Kaiser bis zu Theodosius (381) haben dieses Verbot
erneuert 18'. Der Grabort entstammte jeweils dem Eigentum einer Fami; weniger Bemittelten konnten durch
lie oder V e r w a n d t e n g r ~ p p e ' ~ 'die
Beitritt zu einem der zahllosen Begräbiiisvereine (colle~iafimeraricia)
vorsorgen18'. Ursprüiiglich waren auch in den christlichen Gemeinden
die Begriäbnisplätze Privatbesitz einzelner. Aber nach christlicher Auffassung betraf der Tod des einzelnen Christen und sein Begräbnis Uie
gesamte Gemeinde'? So lassen sich seit dem 3. Jahrhundert Gemeindefriedhöfe und Gemeindegrüfte nachweisenL84.Diese Cömeterien hatten
also eine ganz andere soziale Bedeutsamkeit, was in der Folge auch in
den Totenfeiern an den Gräbern der Märtyrer zum Ausdruck kam, die
die ganze Gemeinde vereinigten. Staatliche Verbote. die im 3. Jahrhundert den Christen ihre Versammlungen auf den Cömeterien untersagten,
änderten daran nichts185. Vielmehr entstanden. vor allem nach dem
Ende der VerfolgungenLsh. Memorialhauten, alsbald aber auch die
"' Zirölfiqfelge.seir X. I : Cicero. De lcgihu.~11. 23. 58. ed. Konrat Zicglei (Heidelbeig.
1950). p. 81.
I g 0 Code.~TIieorloriant<iVllll. 17. 6. ed. Th. Mnmmscn. 1.2 (Berlin. 1862). p. 465.
Natürlich gab es Ausnahmen: besonders zahlreich sind sie in der griechischen Wcll
('Heroengräbcr'). Der erste in dcr Siadt Rom beifesctzte Kaiser war Trajan : Kötting.
Reliqoioikiiii. p. i I
'"I
Als Eigentümer des Grabes galt dci Tote: Fcrnand De Visscher. L e </roii d e . ~
ioniheaz,.~r-o>noi,ii.(Milano. 1963). pp. 55ss. und allgemein Okko Behiends, 'Grabraub und
Grabficvei im römischen Rechi'. iii Ztmi Grobfiere1 (wie Anm. 63). pp. 85-106.
In'
Vgl. Francesco M. de Roheiris. Sioriri delle corpo>-ozio>ii
c dcl r<,gi,?ieu.s.vocioriro ncl
inovi<loror,io>,o.2 (Bari. 1971). pp. 5ss.
'" Als Beispiel wirkte Apg. 8.2. Vgl. Ludwig Ruland. Die GercbiLiiir der kiich/iclt~~,i
Lci<hen/izirr (Regensburg. 1901). pp. 325s. Das Begräbnis auch der Armen als Konsequenz
der Brüderlichkeit und deshalb als Aufgabe der ganzen Gcmeinde betonten Aristides.
Apologie XV. 8. vgl. I I . ed. J. Geffcken. Zi~~cigriccl~irchc
Apologcio, (Leipzig-Berlin. 1907).
p. 24s.. und Tertullisn. Apoiogciicuni C. 39.6 (CSEL 69. p. 92). Allgemein J . Kollwitz in:
Art. 'Bcstattung'. Rc<i/l~~xiko>~liir
A,,iikc und Chri.siei>is>ii,2 0954). col. 208ss.: Winfried
Jung. Sinoi ioid Kirche in, kircliiicben Frir<llioTr~rer~n
(Diss. jui. Göttingen. 1966). pp. 6ss.:
Hüppi. Kumi. pp. 21ss und 47ss.
J . Kollwitz. A n . 'Coemeieiiurn'. in Rcoilesiku>t Tür Amike ioid Cl,risioiii!ni. 3
(1957). col. 231-235 (col 231s.) Vgl. Fcrnand De Visscher, 'Le rhgime juridique des plus
anciens cimctiCra chiiiienr i Rome'. A,io/ccia Bo/lo,irlir>no. 69 (1951). 39-54.
'*' KoII~itz.Art. 'Coemelerium'. cal. 234: Kötting. Reliyuienkul~.p. 13.
'8Q~sebius. De marr. Polocs~.. Jüngere Fassung. XI. 28. ed. G. Baidy. Sources
chriiiennes. 55 (Paris. 1967). p. 167.
großen Cömeterialbasiliken. Mit dem 4. Jahrhundert erlangten die
Bestattungsplätze der christlichcn Gemeinden einen iiffeiitlichen Status,
erreichten die Kirchen im Begrähniswesen eine Monopolstellung, die
staatliche oder städtische Mitwirkung von vornherein ausschloßL". An
die Stelle des religiös iiidiffcreiitcn röinischen Grabrcclits war das
religiös exklusive der Christen getretenlRs.
Aus der Zeit um 315 stammt das älteste bisher bekannte Beispiel fiir
die Verbindung von Märtyrergrab. Kultraum und Grab des StiftersLS9.
Infolge des Wunsches vieler Christen, in der Nähe der Märtyrer beigesetzt zu werden'"', wurden die großen Cömeterialbasiliken bald selbst
zu großen Cömeterien, deren Boden mit Gräbern ganz bedeckt war19'.
Bei den Memorien der Märtyrer begraben zu werden nütze dem Toten
darin, ur con7rnaidans euni eriani n i a r r ~ i . u i npatrocinio o f i e c r ~ r rpro illo
supplicario17i.r ougeaiirr, so hat Augustinus dieses Bedürfnis vieler Gemeindemitglieder begründet und gebilligt'"'. Seit der Mitte des 4.
Jahrhunderts schon begann man, aus unterschiedlichen Gründen, mit
der Translation von Märtyrergebeinen in städtische Kirchen: und vom
Ende des 4. Jahrhunderts und aus dem 5. Jahrhundert kennen wir die
ersten Beispiele für Beisetzungen 'ad sai7cros' in städtischen Kirchen; die
Bischöfe sind dabei offenbar vorangegangen'93. Im 6. Jahrhundert
schließlich hatte der Brauch, in innerstädtischen Kirchen Gräber anzulegen, allgemeine Verbreitung gefunden, wie wir aus entsprechenden
kirchlichen Verboten wisse~i'~".Gleichzeitig ging man. beeinflußt oder
mit beeinflußt durch äußere Umstände, mehr und mehr dazu über, die
Toten überhaupt innerhalb der Stadtmauern beiz~setzen'~'.Der justinianische 'Codex' schärfte zwar noch einmal das Verbot des Begräbnisses in der Kirche ein, aber er untersagte nicht mehr das Begräbnis
innerhalb der S t a d t m a ~ e r n ' Andererseits
~~.
wurden die Cömeterialbasi-
'''
Jung. Sia<ii ir~idKirche. p. 9s.
Th. Mommsen. 'Ziirn römischen Grabrecht'. Zciirrhrili jiir Reciiispcrchichie.
Roi~ranisi.A h r , 16 (1895). 203-220 (p. 218). Mangebend dafür wai das jüdische Vorbild.
Kötting. Rcliquicnksli. p. 14: Hiippi. Xirnri. p. 54s.
Dcleliaye. Lcs oi-i,oi~i<,.s
dt< CUIIP < j < , ~, ~ O I . I ? ~p.. 131~s.:Kötring. R<iiiqi,i<~nki,/i.
pp. 245s.
''' Kollwitr. Arr. 'Cocmeieriurn'. col. 234.
'91
De cura pro »ioriuir gerendii. XVIII. 22 (CSEL 41. p. 659).
I'"
Kötting. Reliquieiikuli. pp. l5ss. und 2Xss.
'*' Dagegen richicren sich in der zweiten Hälfte des 6. Jh. die Vcrboic der Synoden von
Braga 563 (vollständige Entfernung dcr Gräber aus dem Kiichenraum) und Auxerie
5611605 (keine Begräbnisse in Baptisterien).
19'
Kallwitz, A r 1 'Coerneterium'. col. 233s.
I'<'
Codci Iirr<;>riß>,ic;
I 2.2. Corpmjuiis civilir. 2. ed. P. Krüger (Bcrlin. 1906). p. 12.
""
""
liken in den suhirrhia ebenfalls Zentren von Siedlungen der Lebenden und
bildeten hinfort ein wichtiges Moment in der städtischen Topographie19'.
Der antike Gedanke von der Gegenwart der Toten unter den Lehenden hat durch diesen Wandel in der Wahl der Grahorte eine üherzeugende Eindringlichkeit erlangt: er ist räumlich anschaulich geworden. Um
900 begegnen die ersten Anordnungen, welche die Beisetzung der Toten
bei einer Kirche gebietenm8. Die Bestattung im Kirchengebäude ist im
Mittelalter etwas Alltägliches, obwohl das ganze Mittelalter hindurch
immer wieder zugleich auch die alten Verbote und Einschränkungen des
Brauchs wiederholt wurden'". Coemererium, quod dicirur morruor-um
dornliroriu~z.esr EccIe.~iaegremium.so hat im 12. Jahrhundert Honorius
Augustodunensis diese Entwicklung znsammengefaßt und zugleich spirituell gedeutet 2"o.
Durch diesen grundlegenden Wandel wurde der Kirchhof mehr und
"' VgI Jean Hubeil. 'Evolution
dc la topogiaphie et dc i.aspcct des vilies de Gaule du
V' ail X' sieclc'. in /J, ciiiN !i<,ll'nlio »z<,dioe,:o.Settimanc di Studio del Ccnlio italiano di
studi sull' alto medioevo. 6 (Spolero. 1959). pp. 529-558 (pp. 542s.): Franr Petii, 'Die
Anfinge des miuclalierlichen Städte\vnens in den Nicdeilanden iind dem angrenzenden
Frankreich'. in Siurliei, ;ii d o ? Atifingcri des cirropöischen S,"dieiverens. Vorträge und
Forschiingen. 4.4. Aufl. (Sigmaiinsen. 1975). pp. 227-295 (pp. 236ss.j: Cailrichard Brühl.
Pal<iiiii»i wd Ciriinr. Sirdie,? :irr Pro{on,opoRrophie päianrikcr Civirriicr vom 3. hi.? ;un? 13.
Joiirhteideri. 1 (Köln-Wien. 1975).
1 V 9 ~ Konzil
s
von Tiibui 895 (C. 15. Mansi 18. coi. 140) gebot dic Beisetzung aprrd
eccleriani. uhi rede.$ e.71 ei>irc«pi oder bei einem Kloster oder Stift (wegen der Gebetshilfe)
oder bei der Pfarrkirche. verwies aber zur Begründurig der Anordnung aufdic Not der Zcit:
vgl. Hüppi. Krinri, p. 63. Dieser Kanon erscheint kurz danach bei Regino von Prüm. Lihri
dtro de ~~ioiliiiihur
c<iic;ir I. 128 led. F.G.A. Wassenchleben. Leipzig, 1840, p. 81) in dei
prägnanten Fassung: U!. ri possii ficri. ,>iorrui non nlihi sepeIio,riirr procier nd ectleriani.
'" Vsi. Kötiing. Reiiyuic~~kirli.
pp. 3 2 s . ; überdie Gesetzgebung seit der Karolinperzeit
Emile Lesne. Hirioire de 10 proprigil eecl~;sias!iqireen Fiancc. 3. Mkmoiies ct Travaux
puhlies par des piofesseurs des Facultks catholiques de Lille. 44 (Lilie. 1936), pp. 123~s.:
Kyll. Tod. pp. I O?ss.
' 0 ° Honorius Augustodunensis. Geninra nninrnc 1. 147 (Migne PL 172. col. 590). Ph.
Arics (Esrais. pp. 41ss.. 53s.: LBonirncdevatti 10 mon. pp. 20lrs.) hat dieThese aufgestellt.
daß wegen der Beisetzung der Toten auf dem Kirchhof und im Kirchengebäude seit dem 5 .
und bis zum I I./12. Jh. der Grabolatz eieicheültie eewoidcn sei: diese 'Anonvmirät' der
sich der neue Brauch der Beisetzune bei oder in der Kirche als Steirerune der Bedeutune
.I<>cln2r.ln.n i;r>bp ~ i i r.::.i.cn
,
I S . > T ,:hiitei!
.
Zrie, Ti:s,c<.dian J ili ~ c r i . ! ~.m Iruhcren
\Ii~'ii,.tci lie I -,ir.nn>cn>.,iii ni:li: :.>ll~,lti: . > x r piu,. h j l iridl~.tc..oii,iirn \isl-ichr Jic
Aufzeichnune und das Festhalten iedej einzelnen Namens von konstitutiver Bcdeutunz
.für
sie war: dic Lihri Me~rrorialcr und die Nekrologien des früheren Mittelalters enthalten
jeweils Tausende von Namen. die oft immer wieder neu kopiert und tradiert wurden. M a n
achtete also genau auf die Individualität jedes einzelnen Toren.
mehr auch zu einem Kernhezirk der städtischen und der ländlichen Siedl ~ n g e n ~Seine
~ ' . Bedeutunz im Alltagsleben lind im Recht kann kaum
überschätzt werden2"" Der Kirchhof muß eingehegt sein2''. Er ist mit
Asylrecht ausgestattet, er ist Ort für Versammlungen, für den Abschluß
von Geschäften und für die Beurkundung von Rechtshandlungen, er ist
Gerichtsort, er ist in vielen Fällen auch der befestigte, wehrhafte
Mittelpunkt der Siedlung. Der Kirchhof als ein Platz, wo die Leute
spielen, singen und tanzen, ist Gegenstand einer über Jahrhunderte hin
anhaltenden kirchlichen Reglementier~ng*"~.
Treffend stellte Ph. Aries
dazu fest : 'la coexistence au mime endroit, dans le cimetiirc mediivai.
des inhumations et. i la fois, des reunions publiques. des foires ou des
commerces, des danses et des jeux mal fames, indiquait qu'on ne
marquait pas aux morts le respect que nous croyons leur devoir
aujourd'hui: on vivait avec eux dans une familiarite qui nous parait
aujourd'hui presque i n d e ~ e n t e ' ~ ' ~ .
Die enge Verbindung zwischen der Siedlung der Lebenden und jener
der Toten seit der Spätantike kann geradezu als Indikator für die Kraft
der darin zum Ausdruck kommenden Auffassung von der Gegenwart der
Toten gelten. Im umgekehrten Sinne ist es dann zu deuten, wenn viele
Jahrhunderte später die 'Kirchhöfe' durch außerhalb der Siedlungen
angelegte 'Friedhöfe' ersetzt werden, ein Vorgang. der sich vor allem
seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts rasch und irreversibel
vollzogen hat 2 0 6 .
'O'
Die Integration der Totenstätten in die monastischen und geistlichen Siedlungen
zeigen der St. Galler Klosierplan (9. Jh.) und der Plan von Canterhury ( I 2 Jh.). vgl. Irsne.
Hirioire. pp. 1 2 9 s
"' Karl Siegfried Bader, Do.7 miriclalrerliche Dorf 01s Friedem- und Rcc1,ishereich
(Weimar, 1957). pp. 96s. und 125~s.;K.-C. Kramei, Art. 'Friedhof. Holond~önohuch:irr
dcuisclicn Red,isgcrd8iclirc. 1 (1971). col. 1297.1298: Kyli. Tod. pp. 89ss. Zum Asylrecht
pp. 89ss Fcincr Chiffoleau. La ro,~,piohilii6d? IUudes Friedhofs auch Hüppi. Kur~.~i,
dcli (wie Anm. 2). pp. 1 5 4 s
l o 3 Kyll, Tod. pp. 81ss.
'O"
Zahlreiche Beispiele bei Jeannc Ferre. La rii, r<alijiiru~e
donr I<,.$ciunpagn<,.fpparisiennes ((1622.1695) (Paris. 1962). p. 332s.; Hüppi. Kunsi. p. 130s.: Kyll. Tod. pp. 955s.:
Lebrun, Les 18ommes e, la morr en Atvou, p. 478; Gabriel Le Bras. L'6gli.w ei le i.ilio,ge
(Paris, 1976), pp. 70ss.
'Os
Philippe Aries. 'Contiibution h I'ttude du culte des morts 3 I'epoque conternporaine', in Ders., Essnis. pp. 143-156. p. 147. Vgl. Dens., L%o>nmedevoni In rnori. p p 6855.
Dazu unten Abschiiitr V. Zur geschichrlichen Bedingrheit der Terminologie
'KirchhoT,'Friedhof vgl. Hüppi. Kt,>iii. pp. 8 4 s und Aries. L%oniiii<~
<l<,rniir10 ,>ioii.
pp. 58ss.
In den bisher vorgetragenen Überlegungen wurde die Auffassung von
der Gegenwart der Toten chronologisch zurückschreitend zunächst von
neuzeitlichen Texten her erschlossen, im Blick auf die Formen der
Memoria in monastischen, geistlichen und laikalen Gruppen während
des Mittelalters verdeutlicht und schließlich auch als Grundlage für
Grabbrauch und Totenmahl in der Antike nachgewiesen. Diese Sichtweise steht im Widerspruch zu anderen Deutungen des mittelalterlichen
'Totenbrauchtums '.
In seinem 1972 erschieneiie~iBuch über Tod, Grub, Bcgrüb~iisplaiz.
Torrn/cier hat N. Kyll den Totenkult des Mittelalters und der Neuzeit im
Trierer Land und in Luxemburg untersucht und dabei auch auf die
Vorstellungen von den Toten geachtet. Kyll zog eine scharfe Trennung
zwischen traditionellen volkstümlichen, 'außerkirchlichen Brauchformen' und den 'kirchlichen Formen', zu denen er auch die monastischen
stellte. Dem Gegensatz der Formen entspreche ein inhaltlicher: er drücke
sich aus als Gegensatz zwischen germanisch-heidnischem und christlichem Toteiibrauchtum, und zwar dahingehend, da0 der christliche
Totenkult vom Gedanken der Fürbitte für die Verstorbenen getragen
gewesen sei, das 'bodenständige Brauchtum' germanischer Provenienz
dagegen wesentlich apotropäischen Charakter gehabt habe, das heißt
vom Gedanken der Abwehr des Toten bestimmt gewesen sei und den
Schutz der Lebenden vor ihm bezweckt habe. Nach germanisch-mittelalterlicher Auffassung lebe der Tote in irgendeiner Form weiter, er gelte als
böse und gefahrlich, Furcht vor dem Toten sei deshalb das dominierende
Moment des 'volkstümlichen Totenkults'. Dieser sehe im Toten vor
allem den 'Lebenden Leichnam'. 'Das Brauchtum um die ... aufgebahrte
Leiche wird vom Gedanken der Gefährlichkeit des Toten beherrscht und
führt zu Sicherheits- und Abwehrmaßnahmen', die dem 'volkseigeneii
Glauben an den 'Lebenden Leichiiam'entspringen' "'.Auch die im Haus
gehaltene 'familiäre Totenfeier' sei im Mittelalter wesentlich vom
Glauben an den 'Lebenden Leichnam' und von der Furcht vor diesem
beherrscht gewesen2''.
Diese Auffassung, in der viele seit Jahrzehnten vorgetragene Forschungsthesen zusammengefaßt sind, soll im folgenden analysiert werden
im Hinblick auf: (1) die Lehre vom 'Lebenden Leichnam' und von der
lo7
'Os
Kyll, Tod. p. 30. Vgl. p. 31 und 37.
Ebd. p. 170s. und 199.
Dominanz der Furcht vor dem Toten: (2) die These einer germanischen
Kontinuität dabei: (3) die Lehre eines kontradiktorischen Gegensatzes
zwischen 'volkstümlichem' und 'kirchlichem' Totenkult. Im Anschluß
daran können dann (4) die Bedingungen für die Entstehung der Lehre
vom 'Lebenden Leichnam' erörtert werden.
1. Der Vorstellung vom 'Lebenden Leichnam' sind wir in unseren
Erörterungen über die Auffassung von der Gegenwart der Toten anhand
neuzeitlicher, mittelalterlicher und antiker Texte bisher nicht begegnet209. Dies ist kein Zufall. Die Vorstellung vom Toten als einem
gekhrlichen, dämonischen 'Lebenden Leichnam' erschließt sich nämlich
nicht so sehr aus der Analyse geschichtlicher Zeugnisse, sondern vielmehr und in erster Linie aus begriffsgeschichtlichen und forschungsgeschichtlichen Analysen. Auf diesen Sachverhalt hat vor einiger Zeit G.
Wiegelmann aufmerksam gemacht und bemerkt: 'Die Geschichte des
Begriffs "lebender Leichnam" bietet ein lehrreiches Beispiel, wie neue
Prägungen ... nicht nur klären, sondern auch neuen Irrtum stiften
können'"'. Der Begriff ist noch sehr jung. E r entstand in den Auseinandersetzungen mit den 'Animismus'-Theorien des englischen Kulturanthropologeii E.B. Tylor(1871) und des deutschen Philosophen W. Wundt
(1905/09)"', denen bald nach der Jahrhundertwende, vor allem in
Deutschland, von Prähistorikern, Rechtshistorikerri, Ethnologen, Vö1kcrkundlern und Germanisten irn Zeichen dieses Begriffs 'präaiiimistische' Theorien entgegengesetzt wurden, die den Körper des Toten und
die Furcht vor diesem in den Mittelpunkt rückten2". Der Begriff
'Lebender Leichnam' wurde damals so schnell rezipiert und verbreitet,
d a ß er schon um 1930 'beinahe zum Schlagwort geworden' war"? Seine
endgültige Prägung geht wohl auf den Rechtshistoriker H. Schreuer
der 1916 seine verdienstvollen umfassenden Untersuchungen
über die Vorstellungen vom Toten als Rechtssubjekt im Mittelalter in
"' Vgl. dazu auch die Fesisiellungen von Ksrl Heinrich Krüger. 'Grabraub in
erzählenden Quellen des frühen Miirclaiteis'. in Zutit Grnhfi-evei(wie Anm. 63). pp. 169-187
(P. 186s.).
" O
Güntei Wicgeimann. 'Dei "lebende Lcichnam" im Voiksbiauch'. Zeiischrif, jiii
Volkskunde. 62 (1966). 161-183 (das Ziiat p. 161).
"' Vgl. W.E. Mühlmann. Art. 'Animismus'. in Di? R~ligio>iin Ge.rc/iicliie und
G e ~ o i i i a r l I.. 3. Aufl (1957). col. 389-391.
Zur F~rschungsgeschichte vgl. Geiger. Art. 'Leiche'. in Hoithi.tjrrcrhue/i der
~IeuuchenAher~lnuhoü.5 (1932/33), col. 1024-1060. hier col. 1025~s.:Wiegelmann. 'Dcr
"lebende Leichnam"'. pp. 161s~.Zur Entstehung des Begriffs 'Präanimismus' vgl. Ranke.
fiie>tvcrehiung, p. 20 Anm. I
So die Feststellung von Gcigei, Art. 'Lciche', col. 1025. Sachliche Vorbehalte gegen
die 'präanimisrischen' Theorien äußerte schon Ranke, Toim>,erehru?ig.p p 20ss.
"'
diesem damals höchst aktuellen Begriff zusammenfaßte. Kennzeichnend
für die Forschungsdiskussion über 'Animismus' und 'Präanimismus' ist,
daß sich nicht die rechtshistorisch präzisen Beobachtungen und die
einschränkende Verwendung des Begriffs bei Schreuer215durchsetzten,
sondern vielmehr die ungenauen, generalisierenden Annahmen des Germanisten H. Naumann"? auf den sich auch N. Kyll beruft2". Allein
schon dieser Sachverhalt gibt der kritischen Frage G. Wiegelmanns die
Berechtigung, was an diesem 'literarischen Schwerpunkt' denn nun
eigentlich 'der Wirklichkeit e n t ~ p r a c h ' ~ 'zumal
~,
die Entstehung des
Begriffs 'Lebender Leichnam' und sein erstaunlicher Erfolg im wesentlichen ein typisch deutsches Phänomen war. G. Wiegelmanns Hinweis auf
die Verkettung der präanimistischen Thesen mit der 'Gemanenmode des
frühen 20. Jahrhunderts' benennt deshalb einen bemerkenswerten Umstand219.Allein schon von daher ist die wissenschaftliche Tragfähigkeit
des Begriffs 'Lebender Leichnam' fragwürdig.
2. Niemand wird leugnen, daß es im Mittelalter apotropäische
Maßnahmen gegen die Möglichkeit einer Wiederkehr von Toten gegeben
hat *" und da8 das Motiv des zurückkehrenden und deshalb fnrchterregenden Toten zum Beispiel in der nordischen Literatur des Mittelalters
begegnet221.O b dafür der Begriff 'Lebender Leichnam' zutreffend ist,
blieb indessen selbst innerhalb 'präanimistischer' Debatten kontroNiemand wird bestreiten, daß die Furcht vor dem Toten stets ein
Element des Totenkultes ist. Fraglich ist hingegen. ob sie das dominierende Element des Totenkultes ist. Folgt man N. Kyll, so wäre 'die Frage,
o b die Furcht vor dem Toten ein Urelement der Leichenbräuche oder
erst späteren Ursprungs ist, ohne Bedeutung"*< Diese Annahme geht
indessen über die schon 1951 von K. Ranke getroffene Feststellung
"' Schieuei. 'Das
Recht der Toten'. p. 352. Vgl. Geiger. Air. 'Leiche', col. 1027.
Schreuer. 'Das Recht dcr Toten', p. 2 Anm. I
"<' Hans Naumann. 'Primitiver Totcnglaube'. in Ders.. Primiiii,e Gonei,«kqfirka/iirr
(Jena. 1921). pp. 18-60: einc forschungsgeschichrliche Sclbsrdcuiiingebd. p. 22 Anm. I . Zur
Beurteilung bereits treffend Gcigei. Art. 'Leiche'. col. 1027 und neuerdings Wiegelniann.
'Dei "lebende Leichnam"'. p. 162s.
"' Kyll. Tod, p. 30.
"* Wiegelmann. 'Der "lebende Leichnam"'. p. 164.
"" Ebd. p. 164.
"' Vgl. Fischer. Sli.q(en. pp. 49ff.
"' Hans-Joachim Klare. 'Die Toten in der altnordischen Literatur'. Acro ohilolo~ica
Scnndinavico. 8 (1933i34). 1-56.
Entzeeenzeseizle
Auffassunzen darüber bei: Schreuer. 'Das Recht der Toten'. D. 2s.
.. .
Anm. I : Naumann. 'Primitiver Totenglaube': Klare, 'Die Toten': Geiger. Art. 'Tore (der)'.
fiotidiiörierhucii des d<,t>irche,iAherg/auhe,rr. 8 (1936137). col. 1019-1034 (col. 1024s).
Kyll. Tod. p. 30.
""
"'
hinweg, daß die Frage 'Furcht vor dem Toten oder Sympathie für ihn'
von 'größter Bedeutung' seix4. Ranke hat diese Frage in seinen
umfassenden Untersuchungen über die indogermanische Totenverehrung dahingehend beantwortet, daß der Ehrung des Toten und dem
Gedanken der Verbundenheit mit ihm im europäischen Bereich, bei
Griechen, Römern, Germanen und Slawen eine ungleich größere und
bedeutendere Rolle zukomme als der Furcht vor den
'das
starke Hereinragen der Totenwelt in die Verhältnisse der Lebenden ... ist
nur möglich, wenn die Beziehungen zu den Verstorbenen keine ahwehrenden, gespannten oder auch nur gleichgültigen, sondern vertraute, d. h.
nicht gemütliche, sondern auf Sitte und Gesetz aufgebaute waren'**'. Es
geht hier also nicht um Gefühle, sondern um rechtliche Bindungen. Mit
der Feststellung Rankes ist aber zugleich die Frage nach einer spezifisch
germanischen Kontinuität apotropäischer Totenfurcht und Totenabwehr im 'volkstümlichen' Totenkult des Mittelalters negativ beantwortet. In den Totenmählern, wie sie im Mittelalter, bei den Griechen. den
Römern, den frühen Christen begegnen, äußert sich eine freundschaftliche Verbundenheit mit dem Totenn2. Dies entspricht im übrigen dem
Sinn des gemeinsamen Essens und Trinkens, das grundsätzlich und stets
Verbundenheit und Versöhnung bedeutet und
3. Grundlage auch der mittelalterlichen Auffassung vom Recht der
Toten ist nach H. SchreuerZz9der 'schlicht monistische' Gedanke des
'Lebenden Leichnams', aus dem sich durch 'fortschreitende Abspaltung',
durch 'Spiritualisierung', die Seelen-Vorstellung entwickelt habe. Es ist
deshalb nur konsequent, wenn Schreuer gerade diese 'Spiritualisierung'
verantwortlich machte für das allmähliche 'Entschwinden des Verstorbenen aus dem Rechtsverkehr', für das Verblassen der Auffassung vom
Ranke, Toien,,erehrung. p. 371.
Ranke, Toiorverehrurig. p. 371s.: vgl. bereits Rohde, P.r?chc. p. 249. Feiner Karl
Fiölich. 'Germanisches Totenrecht und Tatenbrauchlum im Spie;el neucrer Forschung'.
Hesrische Blüricr/ür Volkskutide. 43 (1952). 41-63, bcs. p. 56s.
'>"anke,
Tolcnrerchrung. p. 372.
"' Ranke, Torcnverebrung, pp. 185~s..bes. 189s.. 201. 270: das gemeinsame Mahl
verbindet 'den Toten und die Hinterbliebenen zu lebendiger Einheit und Freundschaft'.
Vgl. auch Günter Wiegelmann-G~rtrudFrauenknecht. 'Das Totcnmahl'. in Arlm dcjr
deurscheu Volkskunde. Neue Folge. Eriüuerungcn. I (Maiburg. 195964). p. 393 $ I ; Löffler.
Tore>throuchrum.p. 247s. Zu den Deutungen der Totenmahls im apotiopäischcn Sinn "$1.
oben Anm. 145.
(Tübingn. 1958).
Vgl. Hans von Hentig, Voui tirii>rzu,:: </er H<~,ik<~rr»iiih/;cii
pp. 2 6 4 s : K-S. Kramer. Art. 'Mahl und Trilnh'. f~ri>,ilir<irr<~r/i>tc/?
zur </eui.v<hct,R ~ r h i g~,.~chi</ii<~.
17. Lief. (1978). col. 154.156.
nq Vgl. Schreuer. 'Das Recht der Toten'. pp. 4255s. und die Zusammenfassung seiner
Thesen in dem A n . 'Totenrecht' (wie oben Anm. 67): hiciaus die folgenden Zitate im Text.
Toten als Person. Verantwortlich ist nach Schreuers Auffassung vor
allem das Christentum. insbesondere die mittelalterliche 'Kirche'. dieden
Totenkult und die Auffassung von der Rechtspersöiilichkeit des Toten für
den Heiligen mit Zähigkeit verteidigt. jedoch 'für die übrigen Sterblichen
zerstört' habeu0.
Nun haben aber zahlreiche neuere Forschungen über die liturgische
Totenmemoria in Klöstern und Stiften gezeigt2", da5 auch diese
Memoria die Auffassung von dem Toten als Rechtssubjekt zur Grundlage hat. Freilich kann N. Kyll zur Begründung seiner Annahme eines
Kontrasts zwischen 'volkstümlicher' Abwehr des bösen Toten uiid
'kirchlicher' Fürbitte für den Toten auf die kirchlichen Verbote hinweisen, die sich im Mittelalter üher Jahrhunderte hinweg gegen carmina
diaholica super morruos, also gegen 'teuflische Gesänge' bei der Totenwache, gegen Tänze (salrariones).Scherze (ioca),lautes Gelächter (cacl~ini~r),
gegen Essen und Trinken (hihere. nzanducare) in Gegenwart des Toten
richtetenz3'; dergleichen wird in diesen Verboten stets als teuflisch und
heidnisch bezeichnet. Ähnliche Verbote betreffen die Totenfeier im Kreis
der Verwandten und die sacrificia nlorruoru~noder ohlarioiies adsepulcra
nlorruorunl. das heißt die T ~ t e n m ä h l e rDie
~ ~ These,
~.
hier handle es sich
wirklich um germanische Bräuche apotropäischen Charakters kann zwar
den Wortlaut zur Begründung anführen, sie Iä5t jedoch ganz außer acht,
da5 dieser Wortlaut in einerspätantik-christlichen Tradition von Verboten steht. die seit dem 8. Jahrhundert wieder aufgegriffen und zitiert
wird'". Diese Texte deuten also zunächst einmal auf eine Kontinuität
von M e i n ~ n g e n *etwa
~ ~ üher das Totenmahl, und nicht zuerst auf die
soziale Wirklichkeit mittelalterlicher Totenmähler selbst236.Eine Inter-
'" SSchreuer. 'Das Rccht der Toteii'.
p. 429.
Vgl. die oben Anm. 55 genannten Arbeiten von K. Schmid iind J . Wollasch.
"' Kyll. Tod. pp. 305s.
"' Diese Begriffe in Papstbriefen des 8. Jh.: Die Briefe d m bciliycn Bo,iifniiu.~uiid
Lnllur. ed. Michael Tangi. MGH Epp. seiectae I (Berlin. 1955). p. 69, 71, 100. 174. Nrn.
43s.. 56. 80; bei Regino. De.sjiiodn/ih~« coi«ir 1. 398 (ed. Wasserschieben. p. 180s.) und bei
Burchaid von Worms. 'Coriecior' (Dccr. XIX. Migne PL 140. col. Y(*). Zur Interprctation: Kyll. Tod, pp. 17iss. und cbenso Werncr Danckeit. tinelirlirhc Leure(Bern-München,
1963). pp. Slss.: Hoiger Hornann. Der I ~ ~ < l i c tsupcr.~iiiionuni
~/u~
ri pogoiiiaru,>i und
rer,iu~~dir
Denkmülo (Diss. phil Göttingen, 1965). pp. 245s. Methodisch umsichtiger
habcn das Problem behandelt Wilheim Boudriot. Die oli~ornonisclie Religion in der
anulichcn kircbliclierz Liieroiirrde.~Ahoz<iiandec v o m 5 hii 11. Johrhiinder!. Untersuchungen
zur allgemeinen Religionsgeschichte. 2 (Bonii, 1928). pp. 50s. und Hamening. Stlpenlirio
(wie Anm. 163). pp. 160ss.. vgl. 197s.
"'Vgl. die Nachweise oben p. 50s. niit Anrn 163.
''I
Dazu neuerdings dic Unteisuchung von Hamening. Si,pcrsriiio.
"'Auf einen analogen Sachverhalt in der Geschichte der miitelalteilichen Gilden und
ihrer Beurteilunp von sciten kiichlichcr Autoren weist hin Oerle. 'Die mirtelaiteilichen
"'
des 17. Jahrhunderts das 'Leben' des 'toten' Körpers zunehmend Gegenstand gelehrter medizinischer Traktate wirdz4%Vor allem seit dem 18.
Jahrhundert hat dieses Thema die Menschen immer mehr beschäftigt
und zwar in der Gestalt des Entsetzen einflößenden lebenden Toten und
der Gestalt des durch menschliche Machinationen belebten Leichn a m ~ Nekrophilie
~ ~ ~ . ist ein erst seit dem 18. Jahrhundert häutiger
~ . Furcht, lebendig begraben zu werden,
werdendes P h ä n ~ m e n ' ~Die
beginnt seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, vor allem aber seit
der Mitte des 18. Jahrhunderts in Testamenten eine Rolle zu spielen und
wird eine der großen Obsessionen des ausgehenden 18. und noch des 19.
J a h r h u n d e r t ~ ' ~An
~ . die Stelle der Vertrautheit mit dem Toten ist die
Befremdung getreten, die sich in einer auf die Leiche bezogenen dialektischen Verbindung von Abscheu und Faszination Ausdruck verschafft dies ist ein ausschließlich neuzeitliches, ein modernes P h ä n ~ m e n * ~ In
'.
der modernen juristischen Terminologie meint der Begriff des 'Toten'
nur noch die Leiche248.Das moderne Friedhofs- und Bestattungsrecht
wird 'maßgebend' nur noch von dem gesundheitspolizeilichen Gesichtspunkt bestimmt. 'die lebenden Menschen vor dem im Zersetzungsprozeß
befindlichen Leichnam zu schützen, diesen also auf eine Art und Weise
zu beseitigen, daß die in ihm liegende latente Gefahr nicht zum Ausbruch
kommen kann'249.
Die wissenschaftlichen Lehren vom 'Lebenden Leichnam' können als
ein Teil dieses grundlegenden Mentalitätswandels aufgefaßt werdenZ50.
Anders gesagt: die Kontroverse zwischen 'animistischen' und 'präanimistischen' (d. h. auf den 'Lebenden Leichnam' bezogenen) Theorien ist
Ausdruck modernen DenkensZS1,dessen Distinktionen sich von mittel-
"' Aiits. Llomn>ede,wi>,iio mori, pp. 3 4 7 s
"* Ebd. pp. 363ss. und 382s.
"' Ebd. pp. 3 6 7 s und 38Sss.
Ariis. L'izomme derarir io mori, pp. 3 8 9 s ; Chaunu. La nrori 6 Paris, pp. 4 3 7 s :
Favre. Lo nzori. pp. 3 6 5 s Ein Symptom ist der Bau von Leichenhäusern, der seit dem 18.
Jh. propagiert wird: dazu aiich Hans-Kort Bochlke. 'Üher das AuRommcn der Leichcnhäusei'. in Wie iiic Alien rioi Tod y<~i>il<i<,t.
W<i>iriiir>ig<,tid ~ r S<ai>irik,aikrtin<r
.
1750.1850,
Kasseler Studien zur Sepulkralkultur. I (Mainz. 1979). pp. 135-146.
"' Aiiis. L'honime dewnr 10 niori, pp. 369 und 385ss.
"' Strätz. Ziviirechiiiche A.~pekie.p. 7.
"'Gacdke. Handbuch. p. 9: vgl. ebd. p. 18: 'Friedhöfe ... dicnen der Bestattung
menschlicher Leichen und damit der Abwehr von Gefahren. welche der öffentlichen
Ordnung andernfalls in gesundheitlicher. sittlicher und religiöser Beziehung drohen
würden'.
'" Auf den Zusammenhang dieser Lehre mit dem Vampirisrnus-Thema hat bereits
hingewiesen Wiegelmann. 'Der "lebende Leichnam"', p. 164s.
Vpl. dazu bereits dic Bemerkungen von Walter F. Otto. Die Monen oder Von den
U"[orrncn des Toie>,giouho?s(Berlin, 1923). pp. 3 8 s
'"<'
alterlichen oder antiken Texten her gar nicht ergeben. Da diese Erkeiintnis von der historischen Gewordenheit und Bedingtheit der Theorie vom
'Lebenden Leichnam' nicht allgemein bewußt ist, sind auch heute noch
Fiktionen möglich wie diese, daß es in Europa eine 'historische Entwicklung' gebe 'von der Leiche (!) als handlungsfähigem Agens zur Leiche als
Ding'252.
Mit diesen Beobachtungen ist abermals der Mentalitätswandel des 18.
Jahrhunderts in den Blick gekommen, in dem sich die Auffassungen von
den Toten und deren Status tiefgreifend veränderten. Abschließend
seien deshalb in Kürze die vielfältigen Faktoren und Vorgänge erörtert,
in denen das allmähliche Verblassen der Vorstellung von der Gegenwart
der Toten zum Ausdruck kommt.
Das Verblassen der Auffassung von der Gegenwart der Toten ist nicht
Ergebnis eines plötzlichen Wandels, sondern eines langen WrindlungsProzesses, in dem die unterschiedlichsten Faktoren und Gegebenheiten
einwirkten. Die Heterogenität dieser einzelnen Momente ist dabei besonders bemerkenswert. Der lange dauernde Prozeß hat freilich seine
entscheidende Phase im 18. Jahrhundert erreicht, was in Goethes Walilverwandtscliaf~entreffend dokumentiert ist.
Die großen Mortalitätskrisen des Spätmittelalters, vor allem die
Pestepidemien des 14. J a h r h ~ n d e r t s *haben
~ ~ das Denken über den Tod
und die Toten im Okzident tiefgreifend verändert? ES ist bekannt, daß
die Menschen des 14. Jahrhunderts als eine besonders erschreckende
Folge der Pest das Erlöschen aller Verpflichtungen gegenüber dem
Mitmenschen, auch gegenüber den nächsten Verwandten feststellten2ss.
SO Fuchs. Toderhiidcr. p. 148.
Biraben, Les hornme.~r.1 lo pesic. Ein neuer Forschungsbericht
von deutscher Seite: Neithard Bulst. 'Der Schwarze Tod'. Sneculuni. 30 (1979). 45-67.
l"
Zusammenfassend zuletzt Ruggieio Rornano - Alberto Tenenti. Die Gru>idIe~un~
d o modernen Weh. Fischer Weltgeschichte. 12 (Frankfuit a. M.. 1967). pp. I 16ss.: Werner
Goez. 'Die Einstellung zum Tode im Mittelalter'. in Der Grcnzhereich zu-irclicn k h e n i i ~ d
Tod(Göttingen, 1976). pp. I 11-1 53 (pp. 138ss. mit Hinweis auf die durch die Pesrepidemien
seit dem 14. Jh. vcranlaßtcn oder mir bedingten neuen Phänomene. 'Totentanz' und 'Ars
rnoriendi7. Vgl. auch AriCs. L%onime dei,ont 10 nrorl. pp. 112~s..dcr allerdings (pp. 125~s.)
den Zusammenhang mit den Mortalitätskrisen des 14. Jh. teiliveisc in Frage steilt. Anders
wiederum Chaunu, Lu mori U Poris, pp. 1 7 6 s
' s 5 Vgl. Goez. 'Die Einsieliung zum Tode'. p. 138s.: Bulst. 'Der Schwarze Tod', p. 57s.
mir zahlreichen Nachweisen.
252
"' Grundlegend jetzt
nicht auf der von den medizinischen Autori:äten damals vertretenen
Theorie der 'verpesteten' Luft, sondern auf dem vom Erfahrungswissen
des Alltags bestätigten praktischen Prinzip der Absonderung der Kranken, der Sterbenden, der Toten aus dem Kreis der
Für die
Pesttoten legte man schon 1348 und danach im Lauf des 14. und 15.
Jahrhunderts noch oft in vielen Städten neue Friedhöfe außerhalb der
Mauern an, weil der Platz nicht ausreichte oder aus Hygienegründen'"'.
Auch in Tournai ordnete die Obrigkeit 1348 die Anlage zweier neuer
Friedhöfe außerhaih der Stadt an. doch erhob sich dagegen heftiger
Widerstand der Einwohner, die vom Begräbnis der Ihren auf den
Pfarrkirchhöfen nicht lassen wolltenz6'. Die Behandlung der Toten wie
Dinge, die Trennung der Toten von den Lebenden, zu denen sie
gehörten'6', sind Folgen der Pestkrisen des Spätmittelalters. die spätere
endgültige Entwicklungen bereits sichtbar werden lassen.
Neben der Mortalität gehört die von der Pestfurcht ausgelöste Mobilität zu den charakteristischen Erscheinungen der spätmittelalterlichen
Krisenzeit 2 6 3 . Die Flucht vieler Menschen aus ihrem Heimatort gefahrdete die Memoria, die sie ihren Toten schuldeten, oder machte diese
unmöglich. Mortalität und Mobilität sind deshalb Ursachen dafür. daß
die Sorge um die eigene Totenmemoria im Spätmittelalter einen immer
größeren Raum im Denken der Menschen einnimmtx4. Deshalb wird
im Zeichen der Pestepidemien nicht nur die Zahl der Testamente
signifikant größer2'" sondern es wird auch die Sorge der Menschen um
das rechte Begräbnis und die Eiiihaltung der Memoria ein bedeutsamer
Gegenstand testamentarischer Regelungen: nicht das kleinste Detail
""
Biiabcn. I2.s horii»x.r er ia pe.$ie. 2. pp. 1 6 7 s
Le.7 l?o>?,m<,.s
eei 10 pci,e. 2. pp. Ihirs. Zahlieichc Einreiheispiele bci
Karl Lechncr. Das pro* Sierho, itt Dcair~it/o!~d
iin <I<*,Jcihi-oi 1.748 his 1351 (Innsbruck.
1884). pp. hhss.: Hüppi. Xieui. pp. 7 8 s ~ Piiilip
:
Zicplcr. 7 . 1 ~Wric/<D<,o,h ( 0 . 0 .I<lil).
pp. l56ss.: Harald Cl;iiii(. 'Fricdliöl'c in Xüriihcrg'. in, l l i ? <li<,liicli <lvii ~or>d,r~~I~il<k~!
(wie
Anrii. 246). pp. 171-172.
'b'
Alfred Coville. 'Eciits coniempoiains sur la peste de 1348 i 1350'. in Hirioirc
lii14rnire de la Fiance. 37 (Paris. 1938). pp. 325-390, p. 385 (Giiles i i Muisis). Ein ähnlicher
Fall aus dem 17. Jh. hei Hüppi. Kunst. p. 206.
''2
Dic schon im Hochmitielalicr begegiiendcn Anldgcn von 'Eici>den'- uiid Lcprosenfricdhöfcn abseits (Hüppi. Ku!,rr. pp. 78ss.) gehöreii deshalb nicht in denscibcn
Zusammenhang.
'" Vgl. Birabeii. Le.7 hommer ei in pe.sie. I . pp. .;IOss. und 2. pp. l60ss.
I"" Vg:. dazu den Beitrag von lacqiies Cliiffalcau in dicscni Rand iind Dcis.. Lu
iotnpiuhiliri <I? i'ou-dein (wie Anm. 2).
'<"
Ahasver von Brandt. ~Miiiciolieriich~
Bürger-iesio»z<,t?ic.Siizungsbericiiic dcr Heidelbergei Akademie der Wiss., Phil.-hisi. Kiassc. Jahrgang 1973. 3. Ab11 (Hcidelhcrg.
1973). pp. 13ss.
'" Dazu Biiöheii.
erscheint überflüssig2"'. Außerdem Iäßt sich ein gesteigertes Verlangen
nach einem Begräbnis im Kirchengebäude beobachten 267. Die 'Elendengilden', deren wichtigster Zweck die Fürsorge für Fremde im Leben und
nach dem Tod war. und die seit Beginn des 14. Jahrhunderts 'fast
gleichzeitig an den verschiedensten Ecken Deutschlands a~ftauchen"~',
sind ebenfalls als unmittelbare Reaktion auf Mortalität und Mobilität im
Spätmittelalter zu bewerten.
Die Sorge um die Totenmemoria, die in Stiftungen wie in dcr
Mitgliedschaft in Bruderschaften zum Ausdruck kommt, ist ein höchst
charakteristisches Element der Sozialgeschichte des 14. und 15. Jahrhunderts; dies ist längst bekannt"? Aber erst die neuere intensive Erforschung der Krisen des Spätmittelalters hat den Blick für die Zusammenhänge zwischen Mortalitätskrisen, Religiosität und bestimmten Formen
des Sozialverhaltens im Alltag dieser Zeit geschärft 2 7 0 . Bekanntlich sind
es gerade diese Erscheinungsformen des Sozialverhaltens und der Religiosität: die Totenmemoria, die Stiftungen, die Bruderschaften, die dann
am Beginn des 16. Jahrhunderts von Seiten der Reformatoren einer
scharfen Kritik unterzogen wurden2". Die Deutung der spätmittelalter-
'""
Maiic-ThiiCse Lorcin. 'Trois inaiiiCres d'entcriemcni d Lyon dc 1300 2 1500'. R e w e
hii~oriqt~e.
261 (1979). 3-15, hcs. p. 6 und 15.
'"'Michel Moilat. 'Notes sur la moitaliri i Paris au temps de la Pestc Noiic d'apies lcs
comptes de i'ceuvrc de Saint-Germaiii-I'Auxerrois'. L e »>oi.et, <gc. 69 (1963). 505.827;
Bulst. 'Dcr Schwarze Tod'. p. 63.
' e 9 ~ i ü b e idie (allerdings unbefriedigcndc) Monographie von Einst V . Moeiiei. Die
Uende>rhrüdcr.rch(~/i<,t?
(Leipzig. 1906). das Zitat hier p. 173. Neuerdings Richard Lauiner,
'Die "Elenden-Bruderschafi" zu Trier im 15. und 16. Jahrhundert‘. Johrhsri~.für>ic.sideuir<ii<Ilii~~le.~ge.schiilii~.
4 (1978). 221-237.
'"' VgI. die klasiischc Darstellung von Willy Andieas. Dci<irch/<iridvor d o Re/<ir»,oiion. 5. A u f l (Stuttgait. 1948). pp. 1475s.: feinci Fiancis Rapp. l.'&/ise ei 10 vie rriiyi<mi;e
epi Occide>i,U /<ifi,, dir tnovol üge. Nouvelle Clio. 25 (Paris. 1971). pp. 128s.. 152~s..3 0 3 s
Grundlegend für die 'Bruderschahen' des Mittelalters ist jetzl G.G. Meersseman. Ordo
f~r«er>,iio~i.%.
3 Bdc.. ltalia Cacra. 24-26 (Roma. 1977): ugi. A. Vauchez - R. Manselli. 'Ordo
fiaiernitatir', Ril.i.wi di Siorio ~I~lIil
C'/ii<,,~o
in /,o/io. 32 (1978). 186-202.
"" Anrcgungsreich dazu Feidinand Scibt. 'Die Krise der Frömmigkeit - - die Frömmigkeit aus der Krise. Zur Religiosität des späteren Mittelalters'. in 500 Jahre Ru.se>~hro,i;
(Köln. 1975). pp. 11-29 Vgl. auch Heiko A. Oberman. 'The Shape of Lale Medieval
Thought : the Biithpangs of the Moderii Eid'. in Charlcs Trinkaus - - Heiko A. Oberman,
eds.. Tiie Pur.~i<i!qf H<ilinc.ss in h , c Mcdicval o>ir/ Ro,<ii.~.so>?cc
Religion. Studies in
Medieval arid Reformation Tliought. 10 (Lcidcn. 1974). p p 3-25 und Francis Rapp.
'La iiforrne religicuse er la midiiation de la moir 6 la iin d c moyen Zgc'. in La niori oe
nioyo, üyr (wie Anm. 2). 53-66.
> 7 a Allgemein Jean Delumeau. 'Les rCfomateurs cr la superstition'.
in Acter dii
Coiioyirc'L'iiiiiirai<lcColi~ni.e i ratz io>ip,~'(Paiis,
1974). pp. 4514287. Zur Auffassung von
den Toten: Bcrnard Vogler. 'La ICgislation sur Ici sCpultures dans I'AIlemagne piotcsiönte
au XVI' siecle'. Rcvitr d1isioii.e niodwne o co>ii~rnporai!w.22 (1975). 191-232. Zur
lichen Totenmemoria, der Stiftungen und der Bruderschaften und die
Frage nach ihrer Bedeutung für die Reformation sind deshalb nach wie
vor ein zentraler Gegenstand der Refonnationsgeschichtsschrcibu~~'~~.
In zwei frühen Schriften Martin Luthers aus dem Jahr 1519 wird
deutlich, wie sich in der Konsequenz theologisch-religiöser Reflexionen
die Auffassung von den Toten verändert. In dem Sermor, von der
ßereituirg zum Sierheri stellt Luther die Verbindung des Sterbenden mit
seinem Erlöser in den Vordergrund; die 'Werke', das heißt die sozialen
Handlungen der Hilfe für den Sterbenden und den Toten treten zurück 2 7 3 . Komplementär dazu sind die Thesen des Serinoii von dein lrocllwürdigen Sakraineizi des heiligen Leichilan~sC l ~ r ~ sund
i i voir rlei? Bruderschafteii aus demselben Jahr2'". der unter Verwendung alter amtskirchlicher Argumentationen 2 i V i e Bruderschaften wegen ihres 'heidnischen,
ja säuischen Wesens' verurteilt und damit einen Pfeiler der Totenmemoria
im Alltagsleben jener Zeit in Frage stellt. In diesen Zusammenhang gehört auch Luthers Äußerung über die Kirchhöfe in den Städten in seiner
Schrift Oh inan vor dem S/erheriflieheir in@? von 1527, eine Antwort auf
die entsprechende Anfrage des Reformators J . Heß während einer Pestepidemie in Breslau. Luther erinnert an die Auffassung der Ärzte seiner
Zeit, wonach 'aus den grehern dunst odder dampff gehe. der die lufft
verrücke', die - treffe sie zu - Grund genug sei, die Kirchhöfe aus der
Stadt hinaus zu verlegen. Dies sei aber auch geboten durch das Beispiel
der Juden und der Heiden und es sei nicht nur ein Gebot der Not,
sondern vielmehr auch der 'andacht und ehrbarkeit'; denn 'ein begrebnis
solt ja billich ein feiner stiller Ort sein, der abgesondert were von allen
örten, darauff man mit andacht gehen und stehen kündte', während
Wertung der Vorgänge vgl. Picrre Chaunu. 'L'histoire serielle. Bilan et perspectives'. Renic
/,is,oriqur, 243 (1970). 297-320. p. 320.
Dazu Joseph Lori-. Die Re/ormaiion in Dcuisch!nnd. 1. 4. Aufl. (Fieihuig-BasclWien. 1962). pp. 9 6 s : Jcan Delumcau. Noicronce ei afiir»ia,io>,dc !o Relbrme. Nouvelle
Clio, 30 (Paris. 1965). pp. 48ss und 2 7 2 s : Rapp, ~ ' ~ , i iei. 10
~ cvie rciisieu.%e,pp. l5Sss..
315sr.. 3 4 7 s Zu den neuerdings wieder sehr lebhaften Debatten über die spätmittelalteiliche sog. 'Volksfrömmigkeit' vgl. Bernd Moeller. Frömmigkeit in Deutschland um 1500.
Archiv f?r Re/orma~ion.~~escliici~ie.
56 (1965). 5-31 und jüngst dic methodisch weiterführenden Beitiäge von Hansgeoo Molitor. 'Frömmigkeit in Spätmittelalter und früher Neuzeit
als historisch-methodisches Problem'. Fcriqabefir Erizri Waller Zeerlen. Reformarionsgcschichtliche Studien und Texte. Supplementband 2 (MünsleriWstf.. 1976). 1-20, und von
Alphonse Dnpront. 'La religion populaire dans I'histoiie de I'Europc occidentale'. Revup
d'Hirioire de l ' E ~ l i , de
~ c France. M (1978). 185-202.
"' Luiherr Werke, Weimarci Ausgabe. 2 (1884). pp. 685-697. Dazu treffend Gocz. 'Die
Einstellung zum Tode'. p. 144s.
"'Luiherr WUIerke.Weimarer Ausgabe. 2 (1884). pp. 742-758.
Oexle. 'Die mittelalterlichen Gilden', p. 212s.
"'
'''
Beziehungen zwischen Lebcndcn und Toten. für die Gegeiiwart der
Toten. an deren Stelle jetzt freilich das Vergessen zu treten drolic'"'. Es
ist dcrselbe Gedanke, den Morus Jahre zuvor in seiner Ufiiopin als
charakteristisch für die Lebensformen der Utopier beschrieben hattezR'
und dei: zur selben Zeit der jüngere Holbeiti. an? Hof Heinrichs Vlfl.
tätig. in Bilderii ausgedrückt hat '".
Bei der Bewertung der geistigen Auseinandersetzungen des heginnenden 16. Jahrhunderts über die Totenmemoria sollte man nicht vergessen,
daß hier vielfach ältere Auffassungen zusammengefaßt und pointiert
vorgetragen wurden. Die Ablehnung der Totenmemoria hat bei 'häretischen' Gruppen im ganzen Mittelalter eine bedeutsame Rolle gespielt,
zumindest behaupteten dies ihre 'orthodoxen' Gegner2V Kritik an
bestimmten Formen der Totenmemoria wurde im Spätmittelalter aber
auch bei 'orthodoxen' Autoren laut, vor allem im Zusammenhang von
Kritik an den Bruderschaftenzs6. Luthers Polemik gegen das 'heidnische, ja säuische Wesen' der Bruderschaften bedient sich, wie erwähiit.
eines sehr alten Motivs kirchlicher Kritik an den Gilden und Bruderschaften. Es erscheint abermals im Zeichen der geg.enreforrnatorischen
Erneuerung der Kirche287und wird dann im 18. Jahrhundert voii seiten
des 'aufgeklärten' Episkopats erneut vorgetrageiiZ8'. In seinem Kampf
gegen die Beisetzung im Kirchengebäude seit dem 16. Jahrhundert
konnte der Episkopat unmittelbar an die spätantike und mittelalterliche
kirchliche Gesetzgebung anknüpfen2". Das stufenweise Erlöschen älte-
"'A.a.0. p. 288. 3345s.. bcs. 138s.: vgl. Maic'hadour p. 139. 262~s..b c i 273s.
'" Vgl. ohcn Abschnitt 1.
"" Vgl. z. B. die Darstelluns Heinrichs V11 und Heinrichs V l l l in der National
Poitiail Gallery London. Trapp - Schulte Heibrüggen. 'Tii? K i n g i ChodSoi.nrii'. p. 48s.
Ni. 71. Allgemein zu solchen Bildern Philippe AriCs. Geicliichie der K;>,dliei, (MünchenWicn. 1975). pp. 101s. und479si. und Ocxle. 'Mcmoria uiid Memorialhild'(ii.ie A n n i 136).
Abschniitc V und VI.
Vgl. den Bericht dci Annalen von Klosterrath übci die Lütticher Häretiker von
1135. MGH SS 16, p. 71 1 : den Bericht des Petius Venciahilis über Petei von Bruis.
abgedruckt in Iames Feains. ed., K e ~ i c r iold Ko;crhekämp/ir~if in? Hoch>,iiiieiairei.
Historische Texic. Mittelalter. 8 (Göttingen. 1968). p. 20; die Polcmik des Alanus von Lilie.
Co~zirah a o ~ i i c o i1. 72 und 11. 12s. (Migne PL 210. col. 373s. und 388~s.).
18" Si die Beispiele bci Kyll. Tod. pp. I57ss Über die Kritik an dcn Biudenchaftcn
Gabricl Le Bras. hiider de roeiologie reiigieuse. 2 (Paris. 1956). pp. 420ss. und 456ss.
'*' Allgemein dazu Jean Delumcau. Le cßilioiicis>nc enrrc Lsr1,cr ei Volinii-c. Nouveile
Clio. 30his (Paris. 1971). pp. 27.3~~.
lind Dcis.. 'Les itforriiateiirs et la sopersiitio<.
pp. 4 7 8 s
Zahlreiche Hinweise dazu hei Maurice Agulhon. P@niie>,isei Fi-<i>tcs-.Ma~o~is
dc
i'ancioine Provence (Paris. 1968). pp. 120ss. und 1 2 4 s
Philipp Hofmcistm. 'Das Gotteshaus als Bcgräbnisstätte'. A r c l i i ~ f i i rkniholircher
Kircl>e>,reiiil. l i 1 (1931 ). 450487: AriCs. L'lzonin~edcmnr 10 »?ort. pp. 5 4 s
rer Auffassungen im 18. Jahrhundert, ablesbar am Rückgang der Sorge
um das eigene Begräbnis und die eigene Memoria, am Rückgang der
Bedeutung der religiösen Gilden und Bruderschaften, an der Rückläufigkeit der mit der Memoria verbundenen Armenfürsorge hat neuerdings
M. Vovelle in seinem Buch über Piere baroque ei d4chrisiianisarion en
P r o v e i ~ c eau XVlll' .si;cle in der Auswertung von Testamenten sehr
eenau beohachten können2''. Ein Netz jahrhundertealter Solidarität 29'
hat sich damals unwiderruflich aufgelöst.
Mit Recht hat man darauf hingewiesen, daß solche Vorgänge nicht so
sehr unter dem Stichwort einer 'Säkularisierung' oder 'Entchristlichung'
('dechristianisation') behandelt werden sollten'92. Es handelt sich viel~ ~ , Auflösung bestimmter sozialer
mehr um eine ' d e s o ~ i a l i s a t i o n ' ~eine
Bindungen, ein Vorgang, der die soziale Sphäre grundsätzlich, also
jenseits weltanschaulicher, religiöser oder gar nur konfessioneller Kontroversen bestimmte und veränderte und der - merkwürdig genug von führenden Vertretern der christlichen Konfessionen. auch vom
Episkopat der römischen Kirche, befördert wurde.
Den gravierendsten Ausdruck fand diese 'desocialisation' darin, daß
vor allem seit dem Ende des 17. Jahrhunderts die Sitte des Begräbnisses
in der Kirche mehr und mehr angefochten wurde und schließlich auch
die Kirchhöfe ans den Siedlungen entfernt wurden, der 'Friedhof' an
die Stelle des 'Kirchhofs' trat. 'La desocialisation du deces ... se traduit..
par un divorce, qui dissocie le village des vivants d'avec le village des
morts', 'le peuple des vivants rompt avec le peuple des morts et avec
celui des ~ a i n t s ' " ~ .
Vor allem im Hinblick auf das 18. Jahrhundert hat die französische
Forschung den Vorgang in vielen Einzelheiten erhellt, während die
frühen. in das 17. und das 16. Jahrhundert zurückreichenden Zeugnisse
dieses grundsätzlichen Wandels noch wenig bekannt sind 2 9 5 . F. Lebrun
hat gezeigt, wie im Anjou schon seit dem Ende des 17. Jahrhunderts die
-
'" Vovellc. PihP hriroqire: vcl. auch Agulhon. P4>,iicnis:Delurneau. Le carholicisme
enire Lzoher c i Vohairc. p. 316s.
19' Jean Delumeau. 'Au sujet de l a dkchris!ianisation', Revue d'1,icroire »todernc ei
coiiimporiii>ie.22 (19751. 52-60 (p. 55).
'"'Dazu Dclumeau. ' A u sujct de la d&chrislianisa!ion'. und Vovelle. 'Les artiiudes
devani la rnoi:'. p. 123 und 128.
'" Vgl. Chaunu. 'Un noureau champ'. bcs. pp. 118~s..und dazu Le Roy Ladurie,
'Chaunu. Lebrun. Vavellc'. p. 394s. und 401. sowie Vovelle. 'Les artitudes devant la moit'.
p. 128.
Le Roy Ladurie. 'Chaunu. Lebmn. Vovdle'. p. 396s.
'"* Zahlreiche Hiriwcise hci Hüppi. Kiiirrr. pp. 8lss.: AriAs. L7>iioixi>zedevo>>iin ~nori.
pp. 313s~.
DIE <ill<;E\iWART DEll TOTES
73
Praxis der Beisetzung im Kirchengebäude mit theologischen und moralischen, aber auch mit gesundheitspolizeilichen Argumenten bekämpft
wurde'96. Bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat die Zahl
der Bestattungen in der Kirche stark abgenommen und war seit 1750 auf
einen kleinen Personenkreis (Pfarrer, Grundherr) beschränkt'". Seit
Ende des 17. und Beginn des 18. Jahrhunderts begann die kirchliche
Obrigkeit auch mehr und mehr, sich um die Ordnung auf den Kirchhöfen
zu kGmmern, die deshalb in der Folge zu ausgegrenzten Bereichen
werden, aus denen sich das Alltagsleben entfernt hat. Für das Anjou der
Mitte des 18. Jahrhunderts hat Lehrun festgestellt: 'le champ des morts
clos et hien tenu qui, un siecle plus tot, etait I'exception, est devenu La
regle'298.
Die kleinen Veränderungen im Alltagsleben gingen also den großen
öffentlichen Debatten des 18. Jahrhunderts voraus. die schließlich seit
den 1760er Jahren in Frankreich in eine prohibitive Gesetzgebung
einmündeten299.Die Reflexionen über den vermuteten Zusammenhang
zwischen Leichenvenvesung und Pestepidemien waren seit dem 16.
Jahrhundert ein ständiges Thema der Mediziner gewesen3oo. Im Jahre
1737 hatte das Pariser Parlament eine Enquete über die Kirchhöfe der
Hauptstadt veranlaßt, deren Ergebnisse 1738 veröffentlicht wurden; hier
wie in zahlreichen medizinischen Stellungnahmen der gleichen Zeit steht
wiederum das Problem der Hygiene im Vordergrund. 1763 und abermals
1765 wurde die Schließung der Kirchhöfe verfügt und das Begräbnis im
Kirchenraum eingeschränkt; neue Friedhöfe außerhalb der Stadt seien
Lehrun.
P. 339.
&.Y
hommer er 10 rnorr erz AT+.
p. 475s. Andere Beispiele bci Hüppi. Ku>i,sr.
"' Lebrun. Les hotnmes er 10 morr en A!!iou. p. 482. Vgl. Arier. 'Contribution i l'ktudc
du culte des morts', pp. 1 4 5 s Zur Deutung von Aries aber treffend Lebiun a.a.0. p. 480
Anm. I I I .
'" Lebrun. Lfr honzrne.7 er lo morr en Anjou. p. 479. mit der Feststellung: 'li semble que
les reformateurs catholiqucs du 17" sieclc n'aient vu qu'indicence et iirespect dans des
habitudes qui. pour etre parfois inconvenantes. n'en erprimaieni pas moins de f a ~ o n
concrete une familiaritk quotidienne avec la rnorl. une piofonde fidiliti A Ibgard des
disparus associes ainsi etroitement i la vic des vivants. et au total u n certain sens religieux.
En forcant peu a peu ces gens simples A iampre avec des habitudes siculaires sous pritexte
de leur inculquer unc notion du sacrk. austere, abstraite et dipouillie, ces reforrnaieurs ont
peut-etre manqui compiitement leur but et pikpark au contraire Ies dCsaffections
ult&rieuies'(p.4 7 9 f Zu diesem Thema auch Ferte, Lo rie religieure. p. 104s. und Le Bras.
L'gglisc er Ic village. pp. 7 1 s
19'
Darüber Madeieine Foisil, 'Les attitudes devant la moit au XVIII"si&cie:skpultures
et suppressions de sCpultures dans Ic cimetikre parisien des Sainrs-lnnocents'. Revue
hirrorique, 251 (1974), 303-330, pp. 3 1 6 s ; Aries, L%o>nmedei,onr In nzorr. pp. 4 7 2 s :
Chaunu. ia morr G. Paris. pp. 4 3 2 s
Arie$, L%o>nmedei,oni In nzori. pp. 4 7 0 s
einzurichten: in diesen dürften Epitaphien nicht mehr auf den Gräbern
errichtet, sondern nur noch an der Umfassungsmauer angebracht werden3O'. Zahlreiche Gutachten von Ärzten wiesen damals darauf hin. daß
verwesende Leichen die Luft verderben und dadurch die Ausbreitung
von Epidemien gefördert werdeN0".Mit den Schlagwörtern 'proprete'
und 'sante' hatte schon seit 1743 der Abbi Poree die Schließung der
Kirchhöfe als ein Gebot des Fortschritts und der Kultur g e f ~ r d e r t " ~ .
Daßdie traditionelle medizinische Miasma-Theorie. deren Unhaltbarkeit
durch die Jahrhunderte anhaltenden Pestepidemien eigentlich ebenso
erwiesen war wie durch die von ganz andcren Vorstellungen ausgehenden
erfolgreichen Maßnahmen gegen die Pest und deren endgültige Widerlegung durch die neue Epidemiologie damals kurz bevorstand, noch
einmal bemüht wurde, zeigt mit aller Deutlichkeit, daß diesen Debatten
nicht neue zwingende Erkenntnisse über den Tod zugrundelagen, sondern daß sich die Einstellungen gegenüber den Toten irreversibel verändert hatten. Die Denkschrift der Pariser Pfarrgeistlichkeit gegen die
Bestimmungen von 1763 und 1765 macht dies ganz deutlich304. Gleichwohl war es vor allem der Episkopat, der in Frankreich die neuen
Denkweisen propagierte: die Bischöfe waren es' die im Juli 1775 für ganz
Frankreich das Verbot der Beisetzung im Kirchengebäude und die
Entfernung der Kirchhöfe vor allem aus den städtischen Siedlungen
forderten und damit den Anlaß gaben für die entsprechende Deklaration
Ludwigs XVI. vom März des folgenden JahresJ0'. Sogar im Denken des
Episkopats war die Vorstellung von der Gegenwart der Toten und ihrer
sozialen Beziehung zu den Lebenden, anschaulich geworden in der
Verbindung von Pfarrei und Kirchhof, völlig verdrängt durch gesundheitspolizeiliche Erwägungen. Wohl an keinem anderen Sachverhalt
könnte deutlicher gemacht werden, wie radikal die Vorstellung vom
Toten als Person substituiert wurde durch die neue Vorstellung vom
Hüppi. Kumi. p. 339.
Foisii. 'Les attitudes devani la mart'. D. 319s.: AriCs. L%o»itiierlevonr 10 ,iiori, DD.
..
4 7 4 s : Favre. Lu nrori. pp. 2445s. und 25lss. Aufschiußrcich in dieser Hinsicht ist der
Vergleich zwischen dem Art. 'CimetiCre (Jurispr.)' und dem Art. 'CimetiPre (MCdecine)' in
der Encyclop~die(NouvcllcEdition. Geneve 1778. Bd. 8. pp. 91-95): aufder einen Seite eine
nüchterne Bestandsaufnahme der rechtlichen Gegebenheiten. auf dcr anderen cin ernphatischer Plädoyer für 'Humanität' und 'Glück der Gesellschaft'. die durch die - mit der
Miasma-Theorie begündcte
Verlegung der Friedhöfe ~eförderiwüidsn.
'O'
Foisil. 'Les attitudes devant la moit'. p. 320s.; Favre, Lu mori. pp. 2525s.
"'Foisii. 'Les atiituds devani la mort-. p. 322s.: vgl. Lebrun. Les hom»te.s e, 10 tnori C,I
Anjou. p. 480s.
'Or Lebrun. Lc.? homtirer ei io mori e>iA ~ j o i r .p. 480s.; Foisil, 'Les attitudes devant la
mori'. p. 327: Favre. Lu mori. p. 255.
'01
)Oi
Toten als Leiche. deren Anwesenheit als störend, ja als gefährlich gilt
und die deshalb entfernt werden muß306. Die vielfach laut werdenden,
insgesamt aber doch geringen Widerstände gegen die neuen Gesetze und
gegen die darin vorgebrachten Argumente3"' zeigen im übrigen, daß
auch die Widerstrebenden oft im Bann der neuen Vorstellungen standen3"'.
Auch in anderen Ländern vollzog sich dieser Wandel, wohl nicht ohne
Beeinflussung durch die Vorgänge in Frankreich, seit den sechziger und
siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts sehr rasch. Eingehende Untersuchungen stehen allerdings noch ausMq.In Österreich wurde bereits 1751
die Beisetzung in den Kirchen verboten; 1772 hat Joseph 11. abermals.
'aus allermildester Fürsorge für den allgemeinen Gesundheitszustand'.
das Begräbnis in Pfarrkirchen eingeschränkt und durch gesundheitspolizeiliche Auflagen erschwert; ein Hofdekret befahl schließlich 1784 die
Schließung aller Kirchhöfe innerhalb der Ortschaften und ordnete neue
Anlagen außerhalh an' außerdem wurde die Errichtung von Grabdenkmälern auf dem Grab verboten - Monumente wurden nur an der
Friedbofsmauer zugelassen"". Bereits 1775 war das Asylrecht der
Kirchhöfe aufgehoben worden. In Preußen geschieht dies 1785311.Das
preußische Allgemeine Landrecht bestimmt 1794: 'In den Kirchen und in
bewohnten Gegenden der Städte sollen keine Leichen beerdigt werRegelunzen gab es in vielen anderen deutschen
d e ~ ~ ' ~ Ähnliche
'*.
Territorien313. Zum ersten Mal in seiner Geschichte erscheint der
"" Darii trrffei~dLcbril~i.Lcr hoi,iiiic,.r C I /C ~tiori~1 .liijorl. p. 481s.: vgl. ohcn Ahschliiti V .
"'' Hüppi, Kzi~iiiri.p. -341s.: Arik. L'l?o»ene d?i-atir la mort. pp. 479s. Sehr anschaulich zu diesem Thema die Fallstudie von Alain Lottin. 'Lcs rnorts chassLs de la cirC.
"Lumihes et PrkjugCs": les "Cmcures" n Liile (1779) er i Csmbiai (1786). lori du
rransfeil des cimetieres'. R p r i i ~du Nord. 60 (1978). 73-103.
'Os
Hüppi, Kumt. p. 341s.. 348: Lebrun. Ler hornme.~ci In »iorr o Anjou. p. 486.
'Oo Zahlreiche Hinweise bei Hüppi. Kumi. pp. 344ss.. bes. über die Schweiz. pp. 346ss.
Eine prägnante Formuliemng der neuen Auffassungen stammt von dem Basler Bürger E.
Burckhardi-lselin: 'Böhnen SicdenToien dcn Weg außen der Stadi. so verpflichten Sie die
Lebenden durch gesundere Luft. und die Philosophie gewinnt wiedcr einen Schritt über das
Vorurteil. Es sei mein Nachbar in der Erde. wer cr wiolle. vor Gott sind wir alle gleich.
Epitapliieri. Ehiensäitleii in Kiicligängcn sind Schwiichlicitcn!' (zit bei Hüppi a.a.0.
p. 347).
"O
Fritz Hawelka, Siudieri iuin iirierreiciiircben Frie<li,q/sreci,i, Wiencr Staatswisscnschaitliche Studien. 6 1 (Wien-Lcipzig. 1904). p. I2 Anm. 1: die ßcstimmungen von 1772
und 1784 sind abgedruckt in Wic die Alro, den Todgrhildei (wie Anm. 246). p. 232s.
"' 1% die A l ~ c ndeki Todgehn'dci. p. 234: Hüppi. Kumt. p. 96.
' I 2 Der Text bei H e m a n n Schütze. ed., Friedliofi- und Bestnirii~~grrcd~i
(Köln-Berlin.
1958). p. 118.
'I3
VgI. Kyll, Tod. p. 105s.; Edmund Gassner. 'Der Alte Friedhof in Bonn'. in Wiedie
Alten den Todgg~hildei,pp. 159-166 (p. 160).
Friedhof damit ganz und gar als ein Gegenstand des öffentlichen, d. h.
des staatlichen und des kommunalen RechtsH4.
Die aus den Siedlungen verbannten Friedhöfe werden dann aber, in
Frankreich noch vor der Revolution, wie Ph. Ariis gezeigt hat, Gegenstand auch ganz anderer Überlegungen, die sich auf die Gestaltung der
neuen Friedhöfe beziehen und in denen sich politisch-soziale Vorstellungen von einer idealen Ordnung der Gesellschaft spiegeln; ebenso zeigt
sich jetzt auch das Bemühen, den Friedhof als einen Garten und als eine
.
in Deutschland wurden am Ende
ideale Landschaft zu f ~ r m e n " ~Auch
des 18. Jahrhunderts die Monumente der Kirchhöfe Gegenstand denkmalpflegeri~cherSorge~'~.
wurde überhaupt die Gestaltungdes Friedhofs
ein Element kameralistischer Bemühungen um 'Lande~ordnung'~". In
wachsendem Maß hat seitdem der Friedhof neue Funktionen erhalten:
er wurde zum öffentlichen Park3I8. Friedhof und Totenkult wurden
damit zugleich auch Objekte einer neuen Sensibilität, einer 'romantischen' ZuwendungZL9.
Die neue Deutung des Friedhofs als eines dem 'Andenken' der Toten
gewidmeten Orts. der zugleich ästhetische. iiistorisch-antiquarische und
ökonomische Reflexionen auf sich zieht3>"-dies alles wird in Goethes
W a h l v e r ~ v a d t c h a e nprägnant vorgestellt und es wird zugleich der
Kontrast zum Gedanken von der 'Gegenwart' der Toten verdeutlicht.
An die Stelle des Toten als Person, als Rechtssubjekt und Subjekt von
Beziehungen der menschlichen Gesellschaft ist nun die Leiche getreten,
'das Ding', wie man sagt, das übriggeblieben ist 3'L. Zugleich aber ist die
Leiche doch kein 'Ding' wie andere Dinge. Die Rechtslage des Leich-
'" Jung. Srooi u>idKir<I,e.pp. 12ss. Übcr erste Ansätze in dieser Richtung als Folgeder
Reformation ebd. p. 10s. und Gaedke. Hnndhuch. pp. 5sr.
"' Aries. Lirommi ~ l e v a ~lot ~~norr.pp. 493~s.:vgl. CM.pp. 4 9 9 s und 509ss. eine
Analyse der Denkschriften, die in cinem 'Concours' des Institut dc Fiance 1801 eingereicht
wurden, und des Dekrets vom 12. Juni 1804.
'I6
So in dci Denkmalschutzveroidnung von Hessen-Kassel vom 29. Doember 1780.
V:!. Wie die Alren de,, Torlpehildci, p. 265 N r . 201
'" Ein frühes Beispiel von I807 wird erörtert in W-iedie Alren den Tod~ehildci.p. 239s.
'IS
Dazu Hüppi. Kiuix. pp. 38% Vgl. auch die Debatten des 19. Jh.: AriPs,
'Coniiibution i l'ftude du culrc des morts', pp. l5Oss.
VgI. oben Anm. 24 Übcr Chateaubriand. Dcr Eintritt des Friedhofs in die Poesie
beginnt in England mit der 'Elegie' von Thomas Gray (1749), dazu Hüppi. Kun.~i. p. 326
und Aiits. L'hoi>imedc~,onilo mori. pp. 517s~.
'" S. obcn Abschnitt ILZur ökonomischen Nutzung: zwar ist bereits aufdem St. Galler
Klosterplan des 9. Jh. der klösierliche Friedhof mir Obstbäumen bepflanzt: es darf aber
nicht übersehen weiden. daß der Baum hicr auch spirituelle Bcdcutungcn hatte (Paradiesthcma). vgl. Hüppi. Kumt. pp. 107~s..141~s.
''' So Fuchs. Tode.~bilder.p. 71
DIE <iECiENW2ART [>ER TOI'EN
77
nams bleibt juristisch umstritten, was ein geschichtlich bedingter Sachverhalt ist. Denn in den modernen Auffassungen von der Leiche wirken
offenkundig die alteren Vorstellungen vom Toten in Spuren weiter: die
Leiche gilt nämlich als 'herrenlos', sie gehört niemand, jedenfalls kann sie
'nicht Objekt dinglicher Rechte, insbesondere des Eigentums, sein"'2.
Auch die Grabkunst des 19. und 20. Jahrhunderts, vor allem in den
Ländern des südlichen und des westlichen Europa, manifestiert noch
immer die zumindest latente Vitalität jener Vorstellungen von der
Gegenwart der Toten323.
'I1 n'y a... qu'une science des hommes dans le temps et qui sans cesse a
besoin d'unir 13&tudedes morts a celle des vivants', so äußerte sich M.
Bloch über das Verhältnis von Geschichte und G e g e n ~ a r t ' ~Seine
~.
Feststellung kann auch verstanden werden als Hinweis auf die Bedeutung
einer 'Geschichte der Toten' für die Sozialgeschichte des europäischen
Okzidents.
Universität Hannover
"' Gaedkc, Handbuch. p. 114 mit dem Zusatz: 'Ein Skelett ist kein Leichnam mehr'
und 'Aschenreite gehören zu den Sachen im Sinne des $ 90 BGB'. Vgl. auch Strätz.
Zivilrechtliehe Aspekte, pp. Ilss., bes. p. 14. Die These von der Rcchtssubjektivität der
ieiche konnte als extreme Position noch neuerdings vertreten weiden. Strätz. p. l2ss.
'2%ierru die eindrucksvolle Sammlung von Beispielen bei Michaei Ruetz. !Vekropoli.~.
100 Phorogrophien 1968-1976. A ~ s t e / i r r n g . ~ k o t o (Berlin.
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1977): Dcis.. Nekropoli.~(München, 1978).
"'Marc Bloch. Apoloyic poui. l'l?i.sioire08, »ißti<,r <i%i.r!ori<+,.7. Ailfl. (Paris. 1971).
P. 50.