Der „falsche“ Angeklagte
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Der „falsche“ Angeklagte
Der „falsche“ Angeklagte Von Vors. Richter am BGH a.D. Prof. Dr. Lutz Meyer-Goßner, Landau (Pfalz) I. Die Ausgangsfrage Seit jeher stellen sich für einen Richter, bei dem eine Anklage erhoben worden ist, zwei Fragen: 1. Hat der Angeklagte die Tat begangen, nämlich dieser Mensch, der in der Anklageschrift als Täter oder Teilnehmer bezeichnet wird? 2. Hat dieser Angeklagte die Tat begangen, nämlich das strafbare Geschehen, das ihm in der Anklageschrift vorgeworfen wird. Hier soll es um die erste Frage gehen, wobei sich wiederum zwei Unterfragen stellen: 1. Wurde die richtige Person angeklagt oder war eine andere Person der Täter (bzw. Teilnehmer) der Straftat? 2. Ist die richtige – d.h. die angeklagte – Person zur Hauptverhandlung erschienen? Und hierzu: Was ist die Folge, wenn eine andere als die angeklagte Person verurteilt wurde? Die StPO regelt – verständlicherweise – grundsätzlich nur das, was sein soll. Sie kann unmöglich auch Vorschriften darüber enthalten, was die Folgen sein sollen, wenn sich das Gericht oder die Verfahrensbeteiligten nicht an die Regelungen der Verfahrensordnung gehalten haben; eine Ausnahme stellt insofern der – erst als Reaktion auf die Rechtsverstöße in der Zeit des Nationalsozialismus – durch Art. 3 Nr. 51 VereinhG 1950 eingefügte § 136a StPO dar, der die Folgen verbotener Vernehmungsmethoden bestimmt. Im Übrigen würde es aber zum einen den Rahmen eines Gesetzes sprengen, wegen der unendlich großen Zahl denkmöglicher Fehler alle Fehlerfolgerungen zu regeln, zum anderen kann die Phantasie eines Gesetzgebers auch gar nicht ausreichen, um sich alle möglichen praktisch vorkommenden Verstöße gegen die StPO auszudenken und ihre Folgen zu behandeln. Über einige solche – in der StPO nicht behandelten – Verstöße soll es hier gehen. II. Freispruch auf Grund einer Täuschung Die strafprozessuale Grundfrage, ob die richtige Person angeklagt wurde, also der Angeklagte wirklich der Täter war – wenn denn das Vorliegen einer Straftat „unstreitig“ ist –, beschäftigt den Richter von Anfang an, d.h. sobald die Anklage bei ihm eingegangen ist. Wenn es fraglich erscheint, ob es tatsächlich der Angeklagte war, der die Tat begangen hat, kann ein Richter, um die Wahrheit herauszubringen, auf eigenartige Gedanken kommen: Die Süddeutsche Zeitung vom 7.8.2008 brachte zu einem solchen Fall folgenden kurzen Bericht: „Ein Richter des Münchner Amtsgerichts hat zugelassen, dass im Prozess gegen einen Drängler ein Doppelgänger auf der Anklagebank Platz genommen hat. Bei der Verhandlung erschien nicht der Angeklagte, sondern ein Bekannter, der ihm ähnlich sah. Der Richter hatte dem Double zugestimmt, nachdem der Beschuldigte vorgegeben hatte, damit die Glaubwürdigkeit des Zeugen prüfen zu wollen. Ein Jahr nach dem Vorfall auf der Autobahn ließ sich der Zeuge, ein Münchner Rechtsanwalt, von dem Doppelgänger täuschen und erkannte in ihm den Drängler. Daraufhin wurde der Sportwagenfahrer freigesprochen. Der Richter bestätigte dem Bayerischen Rundfunk den Fall, wollte sich dazu jedoch nicht näher äußern. Gleichwohl sieht er sich im Recht: Er habe den Zeugen zweimal gefragt, ob er den Drängler wiedererkenne. Zudem sei dadurch der Prozess abgekürzt worden, sagte er, denn der Angeklagte hätte nach einer Verurteilung sicher Revision eingelegt. Nach Meinung des Staatsanwalts hat der Kläger mit dem Prozess immerhin etwas erreicht: Er habe dem Angeklagten ,einige Scherereien’ bereitet. Als ,ungewöhnlich’ bezeichnete die Sprecherin des Münchner Amtsgerichts den Fall. Der Rollentausch sei vor Gericht keine gängige Praxis. Zu der Verhandlung war es gekommen, weil ein Münchner Rechtsanwalt dem Sportwagenfahrer vorgeworfen hatte, ihn 2007 auf der Autobahn zwischen Garmisch und München von der Fahrbahn gedrängt zu haben. Er sei beinahe mit der Leitplanke kollidiert, gab er als Zeuge an. Kurz darauf begegneten sich die Autofahrer in einem Stau wieder, dabei zeigte der Drängler angeblich noch den Mittelfinger. Der Rechtsanwalt erstattete Anzeige. Fünf Monate nach dem Vorfall identifizierte er den Sportwagenfahrer unter acht vorgelegten Fotografien mit ähnlich aussehenden Männern. Die Voraussetzung für einen Prozess war somit erfüllt.“ Diese Vorgehensweise des Gerichts wirft eine Reihe von Fragen auf. Aber zunächst einmal: Man darf – wie sich zeigen wird – froh sein, dass eine solche Vorgehensweise des Gerichts „keine gängige Praxis“ beim Amtsgericht München, sondern „ungewöhnlich“ war, wie die Sprecherin des Gerichts erklärt hat1. Merkwürdig ist auch die Stellungnahme des Staatsanwalts, der offenbar von einem zu Unrecht ergangenen Freispruch ausgeht, indem er es begrüßt, dass der Angeklagte „einige Scherereien“ hatte; einem Unschuldigen dürften aber doch keine „Scherereien“ gemacht werden. Warum hat der Staatsanwalt gegen das Urteil kein Rechtsmittel eingelegt? Wieso sollte dies aussichtslos sein, nur weil der Anzeigeerstatter als Zeuge vor Gericht auf einen „Trick“ hereingefallen war? Die Frage ist also, ob ein Rechtsmittel gegen dieses Urteil Erfolg versprochen hätte. Dem sei hier nachgegangen: 1. Nach der Schilderung der Süddeutschen Zeitung hatte nicht der Angeklagte, sondern sein „Doppelgänger“ auf der Anklagebank Platz genommen. Der Angeklagte war anscheinend überhaupt nicht im Sitzungssaal anwesend. Damit konnte gegen ihn auch nicht verhandelt werden; denn gemäß § 230 Abs. 1 StPO findet gegen einen ausgebliebenen Angeklagten keine Hauptverhandlung statt. Das gilt unabhängig davon, ob der Richter mit der Abwesenheit des Angeklagten einverstanden ist oder nicht; denn § 230 Abs. 1 StPO ist eine 1 Heribert Prantl bezeichnete in einem in derselben Ausgabe der Süddeutschen Zeitung (S. 4) abgedruckten Kommentar „Vorladung genügt“ dies als eine „seltsame Zeugeneinvernahme“ und mutmaßte, der Richter hätte wohl „zu viel ins Nachmittags-TV, aber zu wenig in die Strafprozessordnung geschaut“. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 519 Lutz Meyer-Goßner _____________________________________________________________________________________ zwingende Vorschrift (sofern das Gesetz nicht Ausnahmen, wie z.B. nach §§ 231 Abs. 2, 232, 233, 411 Abs. 2 S. 1 StPO, die hier nicht vorliegen, zulässt)2. Damit durfte gegen den „Doppelgänger“ als vermeintlichen Angeklagten nicht verhandelt werden. Der Teil der Verhandlung bis zu dem Zeitpunkt, als der Angeklagte im Sitzungssaal erschien und das Verfahren gegen ihn mit einem offenbar rasch nach einem – auf allseitigen Antrag? – ergangenen Freispruch beendet wurde, war also unzulässig. Das bedeutet, dass schon aus diesem Grund das in Abwesenheit des „wahren“ Angeklagten erzielte Verhandlungsergebnis nicht verwertet werden durfte. Der Freispruch, der ersichtlich nur auf der als unzureichend erachteten, den Angeklagten als hinreichend entlastend gewerteten Zeugenaussage beruhte, hatte damit keine prozessual verwertbare Grundlage. Aber noch ein weiterer Gesichtspunkt stand der Verwertung der Aussage dieses Zeugen für das Urteil entgegen: Der Zeuge wurde bei seiner Vernehmung getäuscht, indem ihm vorgespiegelt wurde, der auf der Anklagebank sitzende „Doppelgänger“ sei der wahre Angeklagte. Der Zeuge ist auf diese Täuschung hereingefallen. Seine den Angeklagten im Ergebnis entlastende Aussage wurde somit durch eine Täuschung herbeigeführt. Solche durch eine Täuschung herbeigeführten Zeugenaussagen sind jedoch unverwertbar: Gemäß § 69 Abs. 3 StPO gilt die Vorschrift des § 136a StPO für die Vernehmung des Zeugen entsprechend. Nach § 136a Abs. 1 S. 1 StPO darf die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung der vernommenen Person nicht durch Täuschung beeinträchtigt werden. Wird sie das, so ist die durch Täuschung erlangte Aussage nicht verwertbar, nach § 136a Abs. 3 S. 2 StPO auch dann nicht, wenn der Vernommene der Verwertung zustimmt (wobei anzunehmen ist, dass der Zeuge, wenn er dazu befragt worden wäre, der Verwertung nicht zugestimmt hätte). Da die Aussage des Zeugen somit sowohl wegen Verstoßes gegen § 230 Abs. 1 StPO als auch wegen Verletzung der §§ 69 Abs. 3, 136a Abs. 1 StPO unverwertbar war, hätte eine vom Staatsanwalt eingelegte (Sprung-)Revision (§§ 333, 335 Abs. 1 StPO) mit zwei entsprechenden Verfahrensrügen Erfolg gehabt und zur Aufhebung des freisprechenden Urteils geführt. 2. War aber die Idee des Amtsrichters, den „Doppelgänger“ auftreten zu lassen, so schlecht? Hätte auch eine prozessual einwandfreie Methode bestanden, den Zeugen die Frage beantworten zu lassen, ob der Angeklagte wirklich der Täter der verkehrswidrigen Taten – entweder einer Ordnungswidrigkeit nach der StVO oder sogar einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Straftat nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 3 Nr. 1 oder Nr. 2 StGB – sowie einer Beleidigung nach § 185 StGB war? Nun, die StPO sieht in § 58 Abs. 2 durchaus eine Gegenüberstellung von Zeugen mit dem Beschuldigten vor, allerdings nur im Vorverfahren (Ermittlungsverfahren), nicht hingegen in der Hauptverhandlung. In der Hauptverhandlung wird der Zeuge bei seiner Vernehmung ohnehin dem Angeklagten „gegenübergestellt“. Auch in der Hauptverhandlung 2 Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar, 52. Aufl. 2009, § 230 Rn. 1. lässt sich aber die Angeklagtenrolle gegenüber einem Zeugen zunächst verbergen, indem eine Gegenüberstellung in der Art durchgeführt wird, dass entweder der Angeklagte im Zuhörerraum zwischen anderen herbeigeholten, ihm – wenigstens etwas – ähnlich sehenden Personen (z.B. alles Brillen- und/oder Bartträger etwa gleichen Alters) Platz nimmt oder eine Reihe von Personen neben ihn auf die Anklagebank gesetzt wird und der Zeuge dann gebeten wird, den Täter unter diesen Personen zu identifizieren. Ob diese „Identifizierungsgegenüberstellung“ auf § 58 Abs. 2 StPO zu stützen ist, ist allerdings umstritten. Der BGH hat dies bejaht.3 Andere wollen die Rechtspflicht für den Zeugen, bei einer solchen Gegenüberstellung mitzuwirken, aus § 81b StPO herleiten.4 Die wohl h.M. hält sie für eine körperliche Untersuchung nach § 81a StPO;5 gegen diese Auffassungen hat sich jedoch mit Recht Welp6 ausgesprochen. Die Frage, worauf die Rechtspflicht zur Duldung der Identitätsgegenüberstellung in der Hauptverhandlung rechtlich zu stützen ist, kann hier aber offen bleiben, da über das Ergebnis der Zulässigkeit der Gegenüberstellung Einigkeit besteht. Damit werden Einwände gegen ein solches „Wiedererkennungsexperiment“ nicht erhoben.7 Die hier aufgezeigte Möglichkeit der Wahlgegenüberstellung zur Identifizierung aus einer Gruppe von mehreren Personen ist allerdings nur die zweitbeste Möglichkeit. Noch besser ist es, eine sequentielle (oder sukzessive) Gegenüberstellung vorzunehmen;8 das bedeutet, dass dem Zeugen nacheinander eine Reihe von Personen gegenübergestellt wird, aus denen er den Täter identifizieren soll. Im konkreten Fall würden dem Zeugen also außer dem Angeklagten mehrere Personen nacheinander vorgestellt werden, aus denen er den Täter bestimmen soll. Selbstverständlich ist, dass der Angeklagte – ohne dass er als solcher kenntlich gemacht wird – bei allen einzelnen Gegenüberstellungen anwesend ist. Der Beweiswert einer solchen Identifizierungsgegenüberstellung in der Hauptverhandlung ist jedoch gering: Selbst wenn der Zeuge den Angeklagten als Täter wiedererkennt, kann und wird regelmäßig das Wiedererkennen durch das im Ermittlungsverfahren erfolgte vorangegangene Wiedererken- 3 BGHSt 34, 39, 49; BGH, Urt. v. 20.7.1970 – 1 StR 653/70; vgl dazu Meyer-Goßner (Fn. 2), § 58 Rn. 9. 4 Rogall, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, 44. Lieferung, Stand: August 2005, § 58 Rn. 35; Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, § 33 Rn. 17; Schlüchter, Das Strafverfahren, 2. Aufl. 1983, Rn. 185. 5 Ignor/Bertheau, in: Erb/Esser/Franke/Graalmann-Scheerer/ Hilger/Ignor (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 2, 26. Aufl. 2008, § 58 Rn. 12; Odenthal, Die Gegenüberstellung im Strafverfahren, 3. Aufl. 1992, S. 57 ff; ders., NStZ 1985, 434 m.w.N. 6 Welp, JR 1994, 37, der aber auch die Anwendbarkeit von § 58 Abs. 2 StPO verneint und damit eine Gesetzeslücke annimmt. 7 Ignor/Bertheau (Fn. 5), § 58 Rn. 21 m.N. in Fn. 96. 8 Meyer-Goßner (Fn. 2), § 58 Rn. 12a. _____________________________________________________________________________________ ZIS 10/2009 520 Der „falsche“ Angeklagte _____________________________________________________________________________________ nen beeinflusst sein.9 Hat andererseits der Zeuge den Angeklagten nicht als Täter identifiziert, so kann dies – muss aber nicht unbedingt – gegen die Zuverlässigkeit der früheren Identifizierung10 und damit gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen sprechen. Im hier behandelten Fall war dies jedenfalls keineswegs zwingend: Zum einen sah der Bekannte des Angeklagten diesem ähnlich; zum anderen hatte der Zeuge den Angeklagten fünf Monate nach der Tat unter acht vorgelegten Fotografien mit ähnlich aussehenden Männern identifiziert. Dass er in der Hauptverhandlung den ähnlich aussehenden, als Angeklagter auftretenden Bekannten des Angeklagten als Täter bezeichnet hatte, musste keineswegs zwangsläufig zum (wie dargelegt: prozessual unzulässigen) Freispruch des Angeklagten führen. Eine ganz andere Frage war es, ob bei der hier offenbar vorliegenden Konstellation „Aussage gegen Aussage“ den Angaben des Zeugen – allerdings eines Rechtsanwalts – gegenüber denen des angeklagten Sportwagenfahrers ohne weitere Beweisanzeichen der Vorzug hätte gegeben werden dürfen11. Wie auch immer: Das Vorgehen des Amtsgerichts mit Täuschung des Zeugen ist als prozessrechtswidrig zu beanstanden, brachte bei richtiger Betrachtungsweise auch kaum brauchbare Ergebnisse und wäre jedenfalls auch auf legalem Weg erreichbar gewesen. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des freigesprochenen Angeklagten ist aber nicht möglich, weil keiner der Wiederaufnahmegründe des § 362 StPO gegeben ist; auch Nr. 3 des § 362 StPO kommt nicht in Betracht, weil der Richter sich jedenfalls nicht einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten schuldig gemacht hatte. III. Verurteilung eines „falschen“ Angeklagten Der geschilderte Fall dürfte – hoffentlich – einmalig gewesen sein. Eine andere Konstellation eines „falschen“ Angeklagten beschäftigt Rechtsprechung und Schrifttum hingegen schon seit Jahrzehnten. Es geht um den Fall, dass versehentlich ein anderer als der Angeklagte in der Hauptverhandlung für diesen auftritt oder als Angeklagter behandelt wird (zu diesen beiden Fällen näher unten) oder dass ein Angeklagter einen anderen – aus welchen Gründen auch immer (z.B. Angst vor Verhaftung oder schlicht Angst oder keine Lust, sich einer Hauptverhandlung zu unterziehen, oder Zeitmangel aus beruflichen Gründen, unentgeltlich oder gegen eine Belohnung) – zur Hauptverhandlung schickt und dieser bei der Präsenzfeststellung zu Beginn der Hauptverhandlung (§ 243 Abs. 1 StPO) wahrheitswidrig bestätigt, er sei der Angeklagte. Er wird sodann in allen diesen Fällen nach durchgeführter Hauptverhandlung, bei der die Personenverwechslung unerkannt bleibt, als die angeklagte Person verurteilt (oder freigesprochen). Es stellt sich die Frage, ob das so ergangene Urteil Wirkung entfalten kann. Es gibt vier Denkmöglichkeiten: 9 Meyer-Goßner (Fn. 2), § 58 Rn. 13 mit zahlreichen Nachw. aus der Rechtsprechung des BGH und der OLGe. 10 Ignor/Bertheau (Fn. 5), § 58 Rn. 21 m.w.N. in Fn. 95. 11 Vgl. dazu Meyer-Goßner (Fn. 2), § 261 Rn. 11a. 1. Das Urteil wirkt gegen beide, also den „richtigen“ und den „falschen“ Angeklagten; 2. es wirkt weder gegen den einen noch gegen den anderen; 3. es wirkt nur gegenüber dem erschienenen „falschen“ Angeklagten; 4. es wirkt nur gegenüber dem nicht erschienenen „richtigen“ Angeklagten. 1. Die erste Möglichkeit wird – soweit ersichtlich – richtigerweise von niemandem vertreten; denn es kann und darf nur einen und nicht alternativ zwei Alleintäter einer angeklagten Straftat geben. Aber sonst findet jede der übrigen drei Möglichkeiten Anhänger in der Literatur.12 Noch immer als h.M. wird die Auffassung bezeichnet, das Urteil sei völlig unwirksam, es könne weder gegenüber dem wirklich Gemeinten (nicht erschienenen Angeklagten) noch gegenüber dem (nicht angeklagten) Erschienenen Wirkung entfalten; es handele sich somit um ein nichtiges Urteil, das schlechthin unbeachtlich sei. In der Kommentarliteratur wird diese Ansicht etwa von Gmel13 vertreten, wobei das Ergebnis aber nur behauptet, nicht weiter begründet wird. Im KMR fand sich diese Meinung sowohl in der Kommentierung von Paulus14 als auch in der Einleitung von Sax15; der neue Bearbeiter Eschelbach16 hat sie allerdings aufgegeben und sich der Ansicht angeschlossen, dass das Urteil gegen den wirklich Gemeinten wirksam sei. Auch Gollwitzer17 hat an der überkommenen Auffassung festgehalten und ausgeführt, das Urteil müsse auf Rechtsmittel des „wirklich Angeklagten“ zwar aufgehoben werden, „unerlässlich“ sei die Anfechtung aber nicht, weil das Urteil weder gegen den Einen noch gegen den Anderen Wirkung haben könne; auch hier wird dieses Behauptung nicht begründet, sondern nur mit Literaturnachweisen18 belegt.19 Eine Begründung für dieses Ergebnis hat hingegen Schlüchter gegeben.20 Sie meinte, der Verstoß gegen den Anklagegrundsatz – also „die Verletzung grundlegender rechtsstaatlicher Prinzipien“ – wiege so schwer, dass von der 12 Gute Zusammenstellung bei Rössner, 30 Probleme aus dem Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2007, S. 102 ff. 13 Gmel, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2008, § 230 Rn. 7 unter Übernahme der Kommentierungen von Treier – dort in der 4. Aufl. und von Tolksdorf in der 5. Aufl. 14 Bis zur 45. Ergänzungslieferung. 15 Rn. 13 bis zur 38. Ergänzungslieferung. 16 Eschelbach, in: von Heintschel-Heinegg/Stöckel (Hrsg.), KMR, Kommentar zur Strafprozeßordnung, 46. Lieferung, Stand: April 2007, § 230 Rn. 22. 17 Gollwitzer, in: Rieß (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 4, 25. Aufl. 1997, § 230 Rn. 11. 18 A.a.O. in Fn. 34. 19 Außer den bereits Erwähnten in Karlsruher Kommentar und KMR noch Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, § 55 I.; Roxin (Fn. 4), § 50 Rn. 30; Schlüchter, in: Rudolphi u.a. (Fn. 4), § 230 Rn. 32. 20 Schlüchter (Fn. 19). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 521 Lutz Meyer-Goßner _____________________________________________________________________________________ Nichtigkeit des Urteils ausgegangen werden müsse. Das betrifft aber nur den nicht angeklagten Erschienenen, während gegenüber dem wirklich Gemeinten der Anklagegrundsatz nicht verletzt worden ist. Auch in einigen Lehrbüchern wird heute noch diese Meinung vertreten. So wird die Personenverwechslung bei Beulke21 als Fall eines nichtigen Urteils angeführt (allerdings mit der Klammerbemerkung „str.“). Roxin22 führt aus, das Urteil sei unwirksam, weil es hinsichtlich des „falschen“ Angeklagten an Anklage und Eröffnungsbeschluss fehle, hinsichtlich des „richtigen“ Angeklagten aber an „jeder personalen Beziehung“ zwischen dem Gericht und dem Angeklagten23. Dass ein solches Fehlen Nichtigkeit des Urteils zur Folge haben muss, ist aber nicht zwingend; denn: Ist dies ein so schwerer Verstoß, dass ihm diese Wirkung beigemessen werden muss? Es ist zwar eine Gesetzesverletzung – nämlich Nichtbeachtung des § 230 Abs. 1 StPO; aber solche Verstöße kommen auch sonst vor, wenn nämlich in fehlerhafter Weise ohne den Angeklagten verhandelt wurde, weil unrichtig die Voraussetzungen einer Verhandlungsmöglichkeit ohne ihn (z.B. nach §§ 231, 232, 233, 329, 411 StPO) bejaht wurde. Aber die Auffassung, das Urteil könne gegen keinen von beiden wirken, es sei überhaupt schlechthin unwirksam, steht und fällt mit der Annahme, dass es überhaupt nichtige – also schlechthin unbeachtliche – Urteile geben könne. Es ist erstaunlich, dass diese Auffassung auch heute immer noch vertreten wird, wobei es sich dabei zumeist um eine Art „prozessuales Geisterschiff“ handelt, das im Meer der strafprozessualen Erwägungen geheimnisvoll auftaucht, ohne aber in der Regel in die Wirklichkeit einzudringen. Auch der BGH hat leider diese „Rechtsfigur“ – wie üblich ohne sie im konkreten Fall anzuwenden – in früheren Entscheidungen bemüht: So ist in BGHSt 29, 351 (353) ausgeführt, dass wegen der „der Gesamtordnung des Strafverfahrensrechts zuwiderlaufenden Folgen“ (nämlich totale Unbeachtlichkeit einer auch rechtskräftigen Entscheidung) die Anerkennung der Gültigkeit einer Entscheidung „allenfalls“ zu versagen wäre, wenn sie wegen des „Ausmaßes und des Gewichts der Fehlerhaftigkeit für die Rechtsgemeinschaft geradezu unerträglich wäre“; mit ersichtlich noch leichtem Erstaunen stellt das Urteil dann aber fest, dass Sarstedt, JR 1955, 351 (352), sogar zu dem Ergebnis komme, dass es nichtige oder unbeachtliche Gerichtsentscheidungen nicht gebe. Diese Ansicht hat sich inzwischen aber weithin durchgesetzt24; auch der BGH scheint sich nun von der früheren Meinung distanzieren zu wollen25. Es erscheint nämlich schlechthin ausgeschlossen, 21 Beulke, Strafprozessrecht, 10. Aufl. 2008, Rn. 507. Roxin (Fn. 4). 23 Unter Bezugnahme auf Peters (Fn. 19). 24 Meyer-Goßner (Fn. 2), Einl. Rn. 105a m.w.N. 25 Im Beschluss vom 19.2.2009 – 3 StR 439/08 – heißt es: „Zwar hält es die wohl noch herrschende Meinung grundsätzlich für möglich, dass eine gerichtliche Entscheidung an derart schwerwiegenden Mängeln leidet, dass sie nicht nur rechtlich fehlerhaft, sondern nichtig und damit unwirksam und unbeachtlich ist. Aber auch nach dieser Auffassung kann dies nur in seltenen Ausnahmefällen [...] in Betracht kommen 22 einem Urteil, das in einem ordnungsgemäßen Verfahren, in dem lediglich prozessuale oder materiell-rechtliche Fehler begangen wurden, erlassen wurde, die rechtliche Anerkennung zu verweigern. Die Phantasiefälle, dass etwa ein Gerichtswachtmeister ein Urteil erlässt oder in einem Urteil auf verbotene Leibesstrafen erkannt worden ist, kommen in einem Rechtsstaat nicht vor; sie können daher außer Betracht bleiben. So hat es der BGH in einer neueren Entscheidung auch immerhin offen gelassen, ob der Auffassung, es gebe nichtige Urteile, noch gefolgt werden könne; er hat aber zugleich aufgezählt, was alles dagegen spricht:26 „Das rechtsstaatliche Gebot der Rechtssicherheit, das den Eintritt der Rechtskraft nach Ausschöpfung der formalisierten Rechtsbehelfe der Strafprozessordnung (einschließlich § 458 StPO) fordert; die Funktion des Wiederaufnahmeverfahrens zur Beseitigung von (denkbaren) Fehlentscheidungen; die mögliche Beeinträchtigung der Schutzfunktion des Grundsatzes ne bis in idem; der Schutz der Verfassungsbeschwerde und das Fehlen praktikabler Abgrenzungskriterien.“ Wenn man dies alles bedenkt, muss man die Unbeachtlichkeit von Strafurteilen ausschließen. Man stelle sich auch einmal vor, wie sich eine solche angenommene Urteilsnichtigkeit in der Praxis auswirken würde: Der Angeklagte könnte den Richter aufsuchen oder Berufung gegen das Urteil einlegen und dabei mitteilen, dass ein anderer als er in der Hauptverhandlung als Angeklagter aufgetreten ist. Ihm müsste dann gesagt werden, er brauche sich keine Gedanken zu machen, das Urteil sei nichtig und unbeachtlich, das Urteil werde abgelegt (oder in den Papierkorb geworfen). Soll sich ein Angeklagter damit zufrieden geben? Lässt sich ausschließen, dass sich Urteilsabschriften an anderer Stelle befinden? Lassen sich nicht Verwertungen des Urteils bei Gesamtstrafbeschlüssen usw. befürchten? Nicht die Entscheidung als solche wäre für die Allgemeinheit „unerträglich“, sondern eine solche angenommene Nichtigkeit würde zu „unerträglichen“ formfreien Verhandlungen und möglicherweise weiteren unrichtigen Ergebnissen führen. Aber es ist ohnehin eine prozessual überholte und für einen Rechtsstaat nicht hinnehmbare Erwägung, ein prozessual ordnungsgemäßes – wenn auch mit Fehlern behaftetes – Verfahren könne „von selbst“, d.h. ohne eine ordnungsgemäße richterliche Entscheidung ihre Wirksamkeit verlieren. Dies ist allerdings jahrzehntelang auch für den Fall des Todes des Angeklagten während eines laufenden Strafverfahrens behauptet worden, indem gesagt wurde, das Verfahren ende dadurch „von selbst“. Dies hatte der BGH noch in seiner Entscheidung BGHSt 34, 148 so gesehen; erst durch BGHSt 45, 108 hat der BGH von dieser verfehlten Sichtweise Abstand genommen und erklärt, dass auch in diesem Falle ein Einstel- [...]“. Ein solcher Ausnahmefall lag hier nach Auffassung des Senats schon deswegen nicht vor, weil es sich nur um eine fehlerhafte Zwischenentscheidung (Verweisung vom AG an das LG) gehandelt hatte. 26 BGHSt 45, 58 (61). _____________________________________________________________________________________ ZIS 10/2009 522 Der „falsche“ Angeklagte _____________________________________________________________________________________ lungsbeschluss erforderlich sei. Diese Ansicht hat sich inzwischen nahezu allgemein durchgesetzt.27 Eine Unwirksamkeit des Urteils kommt daher nicht in Betracht; von dieser immer noch weit verbreiteten Ansicht gilt es Abschied zu nehmen. Immerhin hat die Rechtsprechung – soweit ersichtlich – in einem solchen hier erörterten Fall auch nicht die Unwirksamkeit der Entscheidung angenommen, wie noch dargelegt werden wird. Es ist daher nun die Frage zu klären, ob das Urteil gegen den erschienenen Nicht-Angeklagten oder gegen den nicht erschienenen Angeklagten wirkt. 2. Betrachten wir zunächst die Ansicht, das Urteil wirke (nur) gegen die erschienene Person. Dies ist allerdings eine absolute Mindermeinung. Sie wird – soweit ersichtlich – nur von Loos28 und in einer Anmerkung zur Entscheidung des LG Lüneburg (dazu unter 3.) von Grobler29 vertreten. Loos meint, es „ist wohl trotz falscher Bezeichnung im Urteil und fehlender Prozessvoraussetzungen (zugelassene Anklage) der Erschienene als abgeurteilt anzusehen“. Das überzeugt nicht: Das Gericht wollte gegen den Angeklagten verhandeln und es hat im Urteil – wie sich aus dem Urteilstenor ergibt – den Angeklagten abgeurteilt; daran ändert es doch nichts, dass sich ein anderer als der Angeklagte ausgegeben hat. Gegen den, dem Gericht namentlich unbekannten, Erschienenen sollte kein Urteil ergehen und ist kein Urteil ergangen. Die Situation ist der einer Aburteilung eines nicht erschienenen Angeklagten vergleichbar; es kann nicht unterschiedlich danach gewertet werden, ob überhaupt niemand, oder – für das Gericht unerkannt – eine andere Person erschienen war. Es ist demnach auch unrichtig, wenn Grobler sein Ergebnis damit begründet, die Kognitionspflicht des Gerichts in der Hauptverhandlung betreffe den tatsächlich Erschienenen. Das Gegenteil ist richtig: Nach Anklage und Eröffnungsbeschluss kann und will sich das Gericht nur mit dem Angeklagten und mit keiner anderen Person befassen. Demnach kann auch nur dieser abgeurteilt werden und wird (siehe Urteil) auch nur dieser abgeurteilt. Damit erweist sich auch diese Ansicht als unzutreffend und es verbleibt bei der letzten Möglichkeit: Das Urteil betrifft den (richtigen) Angeklagten, nicht die für ihn erschienene Person. 3. Diese Auffassung hat sich auch im neueren Schrifttum und in der – bekannt gewordenen – Rechtsprechung durchgesetzt: a) Sie wird in der Kommentarliteratur von Kühne30 vertreten, der die Ausführungen dazu von Rieß31 wörtlich über27 Vgl. Kühl, in: Eser (Hrsg.), Strafverfahrensrecht in Theorie und Praxis, Festschrift für Lutz Meyer-Goßner zum 65. Geburtstag, 2001, S. 715. 28 Loos, in: Wassermann (Hrsg.), Alternativkommentare, Kommentar zur Strafprozeßordnung, Bd. 2, Teilbd. 2, 1993, Anhang zu § 264 Rn. 26. 29 Grobler, MDR 1949, 768. 30 Kühne, in: Erb/Esser/Franke/Graalmann-Scheerer/Hilger/ Ignor (Fn. 5), Bd. 1, 26. Aufl., Einl. Abschn. K Rn. 122. 31 Rieß, in: Löwe/Rosenberg (Fn. 17), Bd. 1, Einl. Abschn. J Rn. 133. nommen hat; hier wird darauf hingewiesen, dass sich der Fall nicht so wesentlich von demjenigen, in dem aus anderen Gründen unzulässigerweise in Abwesenheit des Angeklagten verhandelt wurde, unterscheide, dass demgegenüber eine andere Rechtsfolge (scil. Nichtigkeit) angenommen werden müsse. Ich vertrete32 im Kommentar33 schon seit der 40. Auflage die Ansicht, dass das Urteil gegen den Gemeinten wirke. Auch in Lehrbüchern hat diese Ansicht Zustimmung gefunden: So führt Gössel34 aus, das Urteil wirke gegen den in Rubrum und Formel Bezeichneten und sei durch diesen anfechtbar. Schroeder35 erklärt, hier sei „ein Urteil in Abwesenheit des Angeklagten erfolgt, das dieser [...] mit Rechtsmitteln angreifen müsse“. b) Aus der veröffentlichten Rechtsprechung ist erstmals der Beschluss des LG Lüneburg vom 23.6.1949 bekannt geworden.36 Dort ging es um folgenden Fall (den man entsprechend dem bekannten Fall Rose/Rosahl37 als Fall Waller/Walther bezeichnen könnte): Das Amtsgericht verhandelte am 3.11.1947 gegen Hans Waller und verurteilte ihn zu einer Gefängnisstrafe; das Urteil wurde ihm zugestellt und er erklärte, dass er es annehme. Vom Gericht und allen Verfahrensbeteiligten unerkannt, war jedoch am 3.11.1947 statt des Angeklagten Hans Waller der „gleichfalls im Gerichtsgebäude einsitzende“ Hans Walther vorgeführt worden, der ersichtlich auf den Irrtum nicht aufmerksam gemacht hatte! Am 5.11.1947 wurde Waller wegen einer anderen Tat erneut verurteilt. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wurde aus beiden Strafen durch Beschluss eine Gesamtstrafe gebildet. Auch dieser Beschluss wurde rechtskräftig. Nachträglich beantragte die Staatsanwaltschaft den Gesamtstrafenbeschluss aufzuheben und Urteil und Protokoll „zu berichtigen“. Das Amtsgericht lehnte die Aufhebung des Gesamtstrafenbeschlusses ab; gegen diesen Beschluss legte die Staatsanwaltschaft sofortige Beschwerde ein, die das LG Lüneburg in seiner hier besprochenen Entscheidung verworfen hat. Das LG Lüneburg hat zur Begründung ausgeführt, dass das Urteil gegen Waller und nicht gegen Walther wirke, „denn dessen Tat ist nach dem Willen des Richters und des Staatsanwalts gar nicht Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen“. Das Urteil sei auch nicht nichtig, da die mangelnde Prozessvoraussetzung der Anwesenheit des Angeklagten lediglich die Anfechtbarkeit des Urteils herbeiführen könne nicht aber dessen Nichtigkeit. Weil das Urteil rechtskräftig geworden sei, sei auch der Gesamtstrafenbeschluss zu Recht erlassen worden. Es müsse lediglich das Hauptverhandlungsprotokoll insoweit berichtigt werden, „als es Vorgänge und Erklärungen beurkundet, die 32 Anders noch Meyer in der 39. Aufl., der ebenfalls von Unwirksamkeit des Urteils ausging. 33 Meyer-Goßner (Fn. 2), § 230 Rn. 27. 34 Gössel, Strafverfahrensrecht, 1977, § 33 E. I. b) 3. 35 Schroeder, Strafprozessrecht, 4. Aufl. 2007, Rn. 331. 36 LG Lüneburg MDR 1949, 767. 37 Dazu Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 56. Aufl. 2009, § 16 Rn. 5. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 523 Lutz Meyer-Goßner _____________________________________________________________________________________ mit der Tatsache der Nichtanwesenheit des Angeklagten Waller in der Hauptverhandlung in Widerspruch stehen“. AGRat Dr. Grobler hat in seiner Anmerkung38 das Urteil kritisiert. Er meint, verurteilt sei „doch nur derjenige, der wirklich vor Gericht gestanden hat“. Aber gerade das Gegenteil ist richtig; denn das Gericht wollte doch nicht irgendjemand, der vor ihm erschienen ist, verurteilen, sondern den angeklagten Täter. Grobler ist der Ansicht, dies liefe auf eine „Kontumazierung von Waller hinaus, also auf die Verurteilung eines Abwesenden. Auch das ist nicht zutreffend, denn das Gericht wollte keinen Abwesenden verurteilen, sondern hat sich nur in der Person des Anwesenden geirrt. Grobler erkennt allerdings auch, dass hier „kein Schein- oder Nichturteil“ vorliegt, meint aber, gegen Walther müsse eine neue Hauptverhandlung durchgeführt werden, in der das Verfahren eingestellt würde; dann könne gegen Waller neu verhandelt werden. Dazu ist zu sagen: Wenn gegen Walther ohne Anklage und Eröffnungsbeschluss ein Urteil ergangen wäre, müsste das Verfahren in der Tat – so jedenfalls die zutreffende Rechtsprechung des BGH39 – eingestellt werden;40 gegen Waller hätte aber auch ohne eine solche Einstellung sofort neu verhandelt werden können, weil das gegen ihn anhängige Verfahren nach dieser Ansicht ja noch nicht erledigt wäre. Aber auf dies alles kommt es nicht an, weil das Verfahren tatsächlich gegen Waller geführt und rechtskräftig beendet wurde; gegen Walther ist kein Verfahren durchgeführt worden, er ist von dem ergangenen Urteil nicht betroffen, sodass hinsichtlich seiner Person auch nichts unternommen werden muss. Das LG Lüneburg hat daher den Gesamtstrafenbeschluss zu Recht nicht beanstandet. Waller hätte gegen das Urteil Rechtsmittel einlegen müssen; wegen Verstoßes gegen § 230 Abs. 1 StPO hätte dies zur Urteilsaufhebung und sowohl bei (Sprung-)Revision als auch – nach damaliger Rechtslage (§ 328 Abs. 2 S. 1 a.F. StPO)41 – bei Berufung zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht geführt.42 Ob Wal38 Grobler, MDR 1949, 768. BGHSt 27, 115 (117); 46, 130 (135, 136) gegen die frühere teilweise andere Auffassung der OLGe: Zwar ist dann gar kein Verfahren gegen den Angeklagten anhängig, aber das ohne Anklage und Eröffnungsbeschluss durchgeführte gerichtliche Verfahren muss der Klarheit halber durch ausdrückliche Einstellung beendet werden. 40 Was allerdings auch 1947 schon durch Beschluss außerhalb der Hauptverhandlung möglich gewesen wäre; denn damals galt schon die 1942 als § 206 in die StPO eingefügte Vorschrift, die durch das VereinhG in § 206a umnummeriert wurde. 41 § 328 Abs. 2 S. 1 StPO lautete bis zur Aufhebung durch Art. 1 Nr. 25 StVÄG 1987 wie folgt: „Leidet das Urteil an einem Mangel, der die Revision wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren begründen würde, so kann das Berufungsgericht unter Aufhebung des Urteils die Sache, wenn die Umstände des Falles es fordern, zur Entscheidung an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverweisen.“ 42 Nach heutiger Rechtslage müsste das Landgericht nach § 328 Abs. 1 StPO in der Sache selbst erkennen, weil eine 39 ler – ebenso wie die Staatsanwaltschaft (vgl. § 365 StPO) – die Wiederaufnahme des Verfahrens zu seinen Gunsten nach § 359 Nr. 5 StPO erreichen könnte, ist fraglich: Zwar ist es eine „neue Tatsache“, dass nicht er, sondern Walther an der Verhandlung teilgenommen hatte; hinzukommen muss allerdings, dass diese neue Tatsache geeignet sein muss, die Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung zu begründen; das wäre regelmäßig nur der Fall, wenn Waller die Tat glaubhaft bestreitet, was wiederum unwahrscheinlich ist, da er gegen das Urteil ja kein Rechtsmittel eingelegt hatte. Grobler meint am Schluss seiner Ausführungen, es sei „vom menschlichen und vom fachlichen Standpunkt aus zu bedauern, dass ein solchermaßen fehlerhaftes Urteil ergehen konnte“. Man fragt sich in der Tat, warum weder Waller noch Walther den Irrtum aufgeklärt haben. Sollten sie nach 12 Jahren Nazi-Diktatur noch so „staatsgläubig“ gewesen sein, dass beide nicht wagten, gegen ein Gericht anzugehen? Das erscheint doch wenig wahrscheinlich. Man kann nur spekulieren: Fand Waller das gegenüber Walther verhängte Urteil so milde, dass er keine neue Verhandlung riskieren wollte? Lag Walther eine weitaus schwerere Straftat zur Last, so dass er laienmäßig hoffte, seine Strafsache sei mit der milden Strafe erledigt? Es wird sich nicht mehr klären lassen. Jedenfalls hat das LG Lüneburg richtig entschieden, indem es Wirksamkeit des Urteils gegen den nicht-erschienenen Angeklagten Waller bejaht und gegen den erschienenen Nicht-Angeklagten Walther verneint hat. c) In derselben Weise hat auch das OLG Bamberg in einer kürzlich ergangenen Entscheidung43 in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren judiziert: „Hält der Tatrichter irrtümlich eine andere Person für den Betroffenen und verurteilt diese unter dessen Personalien, entfaltet das Urteil gegenüber dieser an sich unbeteiligten Person keine Wirkung. Gegenüber dem wahren Betroffenen ist es wirksam und mit dem jeweiligen Rechtsmittel anfechtbar.“ Auch hier ging es um einen reichlich skurrilen Fall: In der auf Grund Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid anberaumten Hauptverhandlung setzte sich statt des Betroffenen dessen Ehefrau neben den Dolmetscher auf die Anklagebank, während der Betroffene im Zuhörerraum Platz nahm. Wegen des scheinbar weiblichen Vornamens ging der Amtsrichter davon aus, dass es sich bei dem Betroffenen um eine Frau handele und verurteilte sie, die an Stelle ihres Ehemannes auf Fragen geantwortet und Angaben zur Sache gemacht hatte. Auch der Betroffene hatte sich allerdings an der Hauptverhandlung beteiligt. Zurückverweisung nach § 328 Abs. 2 StPO nur noch zulässig ist bei Unzuständigkeit des Erstgerichts und – nach der Rechtsprechung in entsprechender Anwendung der Vorschrift – in den Fällen, in denen das Amtsgericht keine Entscheidung in der Sache getroffen hatte (vgl. Meyer-Goßner [Fn. 2], § 328 Rn. 4); auch schwere Verfahrensfehler des Amtsgerichts berechtigen nicht mehr zur Zurückverweisung. 43 OLG Bamberg NStZ 2007, 292. _____________________________________________________________________________________ ZIS 10/2009 524 Der „falsche“ Angeklagte _____________________________________________________________________________________ Der von der Staatsanwaltschaft zu Gunsten des Betroffenen gestellte – zulässige – Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde blieb ohne Erfolg. Das OLG Bamberg legte zunächst dar, dass das Urteil nur gegen den Betroffenen und nicht gegen seine Frau wirke. Es ließ sodann dahingestellt, ob die Staatsanwaltschaft überhaupt die Verletzung rechtlichen Gehörs rügen könne oder ob dieses nicht nur durch den Verletzten selbst möglich sei. Es verwarf den Antrag aber, weil die Staatsanwaltschaft – entgegen dem entsprechend anwendbaren § 344 Abs. 2 S. 2 StPO – nicht mitgeteilt hatte, was im Falle der Anhörung des Betroffenen geltend gemacht worden wäre. Im Übrigen lagen auch sonst die Voraussetzungen des § 80 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 OWiG nicht vor. IV. Verurteilung unter falschem Namen Abschließend sei nur noch kurz der Fall erwähnt, dass der „richtige“ Angeklagte erschienen ist, er jedoch unter einem falschen Namen verurteilt wird. Dieser Fall ist problemlos: Das Urteil ist gegen den Angeklagten wirksam, denn das Gericht hat gegen den „gewollten“ Angeklagten verhandelt und er war tatsächlich auch anwesend; angeklagte und verurteilte Person sind also identisch. Dass der Angeklagte unter einem falschen Namen verurteilt wurde, ändert an der Wirksamkeit des Urteils nichts.44 Hier wird lediglich nach Erkennen des Irrtums das Urteilsrubrum berichtigt. 44 Allgemeine Meinung, vgl. nur Gmel (Fn. 13), 6. Aufl. 2008, § 230 Rn. 7 mit Nachw. aus der Rechtsprechung. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 525