Nicht nur das Elite-Sperma kann denken

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Nicht nur das Elite-Sperma kann denken
Nicht nur das Elite-Sperma kann denken
Schön, dass die Mutter ihre freiberufliche Arbeit reduzieren konnte, um ihrem
Jungen beizustehen, wenn er in der Mathematikprüfung eine ganze Note Abzug
erhielt, weil er vergessen hatte, zwischen
zwei (richtigen) Rechnungen einen sauberen Strich zu ziehen. Er hat die Probezeit
dann trotzdem bestanden. Erfahren hat er
dies in einer dramatischen und tränenreichen Schulstunde, in der die Lehrer ihren
13-jährigen Schutzbefohlenen mitteilten,
wer bleiben darf und wen sie nach den Ferien nicht mehr sehen wollen. Auf die
Frage eines Schülers, wo er dann in die
Schule gehen soll, antwortete der Lehrer:
«Das ist nicht mein Problem.»
So wird die Chance auf höhere
Bildung systematisch verbaut:
Der Historiker Philipp Sarasin
beklagt die planwirtschaftliche
Eliteförderung in der Zürcher
Bildungspolitik.
V0n Philipp Sarasin*
or wenigen Tagen konnte man in
dieser Zeitung lesen, dass die
Zürcher Bildungsdirektion die
Gymnasien angewiesen hat, bei
den Aufnahmeprüfungen den Notendurchschnitt für den Deutsch-Aufsatz
auf höchstens 3,8 festzulegen: auf «ungenügend». Warum? Es sollten, so sagen
die Bildungspolitiker, nicht mehr als 20
Prozent eines Schüler-Jahrgangs die
Matura erhalten, weil sonst angeblich das
«Gefüge» von Gymnasium, Sekundarschule und Realschule «durcheinandergerate», das Niveau in der Sek-A sinke,
und das im Gymi sowieso. Weil aber nicht
nur bürgerliche Bildungspolitiker auf
diese Weise ans Gymnasium denken, sondern gleichzeitig guten Sozialdemokraten die Sekundarschüler am Herzen liegen, scheint der bildungspolitische
Kompromiss unerschütterlich: Gott oder
die Regierung bewahre, dass mehr als
ein Fünftel die Chance auf eine höhere Bildung erhält.
Man fragt sich, was hier eigentlich geschieht. Als Erstes kam mir bei der Lektüre
dieser Meldung eine Situation aus meinem
Seminar in den Sinn, in dem wir das
Thema «Rassenhygiene um 1900» behandelten, und zwar anhand eines Textes des
«Vaters» der deutschen Rassenhygiene,
Alfred Ploetz, der nicht ganz zufällig in Zürich beim Psychiater und Eugeniker August Forel studiert hatte. Ploetz beschreibt
in seinem Buch von 1895, wie der «Kampf
ums Dasein» schon im «Vaginalschlauch»
beginne, wenn die besten Spermien in einem Wettrennen darum ringen, wer die
Eizelle befruchten darf. In der Diskussion
sagte ein Student, das erinnere ihn an seinen Klassenlehrer in einem Zürcher Gymnasium, der sie vor den Maturaprüfungen
mit den Worten beruhigt habe: «Keine
Sorge, ihr schafft das schon, schliesslich
stammt ihr von Elite-Sperma ab!»
Nein – ich unterstelle nicht, dass auch
nur eine nennenswerte Minderheit von
Bildungspolitikern oder Lehrern so biologistisch denkt. Aber es ist in Zürich immerhin möglich, einen solchen Satz zu
äussern, und auch wenn man sich nicht auf
«gutes» Sperma beziehen möchte, so
scheint doch die Regel zu gelten, dass diejenigen, die das Gymnasium mit der Matura in der Hand wieder verlassen, zu einer Elite gehören sollen, die nur dann Elite
bleiben kann, wenn man sie künstlich klein
hält. Der Zürichberg ist schliesslich auch
nicht gross.
Was geschieht hier? An der Universität
Zürich ist es uns Professoren offiziell ver-
V
as geschieht hier? Welche Vorstellungen von «Elite» und gesellschaftlicher Hierarchie
werden hier in blanker Härte
und nonchalantem Zynismus an unseren
Kindern durchgesetzt? Welche Vorstellungen hat wer vom sogenannten «Volk»,
das offenbar eine planwirtschaftlich festgelegte 80-Prozent-Mehrheit von NichtMaturanden sein soll – in einem Land, in
dem immer wieder der «Forschungsplatz
Schweiz» und der «Rohstoff Bildung» beschworen werden?
Es liegt mir fern, etwas Schlechtes über
das duale System der Berufsbildung zu sagen, und es ist tatsächlich so, dass im Bereich von Diplommittelschulen und mit
der Fachmaturität viele Ausbildungs- und
Berufschancen etwa im Sozialbereich, in
kaufmännischen oder technischen Berufen bestehen. Da ist die Schweiz im internationalen Vergleich sehr gut positioniert.
Aber reicht das? Vielleicht ist gerade das
gute Angebot im Bereich der Berufsbildung und der Fachhochschulen die Falle,
in die unsere Bildungspolitik tappt: die
Falle der Bescheidenheit.
Ein Aufenthalt meines Sohnes im Kinderspital hat mir einen kleinen Berufskosmos enthüllt, der vielleicht nicht untypisch ist (ich vereinfache nur leicht): Das
Putzpersonal kommt aus Serbien, die
Pflegerinnen kommen aus Südeuropa, die
Krankenschwestern aus der Schweiz und
Deutschland – und die Ärzte aus Deutschland und vielen anderen EU-Ländern.
Ich habe den Eindruck, dass das kein Zufall ist. Bekanntlich stammen etwa an der
Uni Zürich geschätzte 50 Prozent der Professorinnen und Professoren aus dem Ausland – die meisten wiederum aus Deutschland –, und viele Topkader der Wirtschaft
gingen nicht in Zürich ins Gymi (und in
Thun in die Offiziersschule), sondern studierten in Berlin, Oxford oder Yale. Man
weiss zudem, dass die Industrie unter
einem eklatanten Mangel an Ingenieuren
und anderen Spezialisten leidet.
Nun, ich finde es an sich schön, wenn
Finnen, Inder und Vietnamesen zu uns
kommen, um unsere Computer zu programmieren oder unsere Kinder zu kurieren. Ich selbst arbeite mit so vielen Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland
W
BILD PETER MARLOW/ MAGNUM
Junge Männer, die sicher auch auf dem Zürichberg beliebt sind: Studenten der englischen Elite-Universität Eton.
boten, bei den Aufnahmeprüfungen für
neue Studiengänge im Voraus eine Obergrenze für Zulassungen festzulegen und
die Bewertungen nach dieser Grenze auszurichten. Wer sich in unseren Prüfungen
qualifiziert, muss in den Studiengang aufgenommen werden. Doch die an der Universität untersagte Form der Limitierung
von Bildungschancen ist offizielle Leitlinie
für den Zugang zu den Zürcher Gymnasien. Man will, dass die meisten Schüler
sich nicht für eine höhere Bildung qualifizieren können, selbst wenn sie dazu befähigt wären. Die Intelligenz-Forschung hat
nachgewiesen, dass der IQ im internationalen Durchschnitt stetig ansteigt, und
wer Kinder hat, weiss, dass nicht zuletzt
ein historisch einzigartiges Medienangebot unseren Kindern schon früh Bildungsinhalte (und auch manches andere) er-
schliesst. Die Kids werden schlauer, gewitzter, sind gebildeter, können sich geschickter ausdrücken, wissen früh schon
mit Hochdeutsch und Englisch umzugehen und sind mediengewandt. Aber das
soll ihnen nichts nützen, weil dieser Zustrom von immer mehr jungen Menschen
zu den mit einer guten Ausbildung verknüpften gesellschaftlichen Positionen
viele konservative Geister auf der Rechten
wie der Linken offenbar verunsichert.
aher verbündet sich die unverhohlene Elitebildung mit der anrührenden Sorge ums «Handwerk» und dem Lob auf die
«Ehrlichkeit» von «richtiger» Arbeit. Daher auch geht der elitäre Bildungsdünkel
Hand in Hand mit der leider nur gut gemeinten Idee, dass die, sagen wir, zusätzli-
D
chen 5 oder 10 Prozent, die das Gymi auch
schaffen könnten, doch lieber ihren Kameraden in der Sekundarschule helfen sollen,
sich nicht so alleine zu fühlen – statt dass
man dort kräftig investiert, Schulklassen
verkleinert und die Lehrer besser bezahlt.
Aber das ist eine andere Geschichte.
Die Formung einer Elite jedenfalls ist
ohne Härte nicht zu haben. Ich denke dabei an einen weiss Gott cleveren und überaus fleissigen 13-jährigen Buben aus dem
Bekanntenkreis, der von seiner beruflich
hochqualifizierten Mutter richtiggehend
gecoacht werden musste bei der schwierigen Probezeit im Gymnasium – nach bestandener Aufnahmeprüfung, notabene –,
zu deren Beginn den Kindern von ihren
Lehrern gesagt wurde: «In einem halben
Jahr machts hier mehr Spass, wenn ein
Drittel von euch nicht mehr da ist.»
Fortsetzung Seite 38