Sitz der Weisheit Marianisches Jahrbuch
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Sitz der Weisheit Marianisches Jahrbuch
Veröffentlichungen des Internationalen Mariologischen Arbeitskreises Kevelaer Sitz der Weisheit Marianisches Jahrbuch Jg. 12 (2008) Band 1 Herausgeber German Rovira – Gerhard B. Winkler Schriftleitung Klaus Meise Redaktion Monika Born Sitz der Weisheit Mariologisches-Marianisches Jahrbuch, 12 (2008) Bd. 1 Herausgeber Dr. German Rovira und Prof. Dr. Gerhard B. Winkler O.Cist. Schriftleitung: Klaus Meise Redaktion: Dr. Monika Born Eine Veröffentlichung des Internationalen Mariologischen Arbeitskreises Kevelaer e.V. (IMAK) 1. Auflage 2008 ISBN: © fe-medienverlags GmbH Hauptstr. 22, 88353 Kisslegg Titelbild: In Josefs Werkstatt – Entnommen aus dem Buch: Christa Meves, Ein neues Vaterbild: Zwei Frauen unserer Zeit entdecken Josef von Nazaret, Christiana-Verlag, Stein am Rhein 1989. Titelbild: In Josefs Werkstatt Entnommen aus dem Buch: Christa Meves, Ein neues Vaterbild: Zwei Frauen unserer Zeit entdecken Josef von Nazaret, Christiana-Verlag, Stein am Rhein 1989. Die Original-Kachelbilder über das Leben des hl. Josef von der spanischen Künstlerin Palmira Laguéns aus Saragossa befinden sich in: Santuario des Torreciudad (Huesca), Spanien. INHALT EDITORIAL................................................................................................ 7 VOM WELTJUGENDTAG 2008 IN SYDNEY Papst Benedikt XVI. Ausschnitt aus einer Predigt am 19. Juli 2008 in Sydney ....................................................................... 9 Papst Benedikt XVI. Ansprache zum Angelus am 20. Juli 2008 in Sydney ............................................................................ 10 ARTIKEL German Rovira Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria ......................13 Marthe-Marie Dortel-Claudot Pax Christi – Werden, Wesen und Wirken ....................................................35 BEITRÄGE ZUR IMAK-TAGUNG APRIL 2008 German Rovira Die Heilige Familie als Vorbild der christlichen Familie ..............................43 6 Stefan Samerski Die Heilige Familie – Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen ............................................ 69 Peter von Steinitz Die Heilige Familie und die christliche Familie ............................................ 87 Christa Meves Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute ........................... 97 Jürgen Liminski Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage – Politische und öffentliche Beobachtungen .................................................. 117 BESPRECHUNGEN ...................................................................................... 137 EDITORIAL Liebe Leserinnen und Leser, mit diesem 2. Heft von Sitz der Weisheit (Marianisches Jahrbuch) übernehme ich die Schriftleitung des Marianischen Jahrbuches. Die Redaktion erfolgt durch Dr. Monika Born. Die Schriftleitung des Mariologischen Jahrbuches Sedes Sapientiae verbleibt bei Dr. Günther Maria Michel. Ich wiederhole an dieser Stelle noch einmal den geltenden Erscheinungsmodus: Wie bisher erscheint das nun so genannte Mariologische-Marianische Jahrbuch zweimal im Jahr. Einer der Bände trägt den Titel: „Sedes Sapientiae – Mariologisches Jahrbuch“. Der andere Band trägt den Titel: „Sitz der Weisheit – Marianisches Jahrbuch“. Über die verschiedene Zielsetzung der beiden Bände haben wir Sie in dem Band vom 11. Jahrgang Nr. 1/2007 informiert. Die Nummerierung gibt jeweils an, um welchen Band es sich handelt (Mariologisches Jahrbuch oder Marianisches Jahrbuch), um welchen Jahrgang der Zeitschrift (z. Zt. 12. Jg.), um welches Kalenderjahr (z. Zt. 2008) und um welchen Band des Jahrganges/des Kalenderjahres es sich handelt (um den ersten Band oder den zweiten Band (Band 1 oder Band 2). Daraus ergibt sich für den vorliegenden Band folgende Nummer: Sitz der Weisheit – Marianisches Jahrbuch – Jg. 12 (2008) Band 1 Der Band Sitz der Weisheit enthält regelmäßig die Beiträge zur jeweils letzten IMAK-Tagung. Darüber hinaus auch weitere Artikel und Beiträge zu marianischen Themen. In diesem Band sind die fünf Referate der IMAK-Tagung 2008 enthalten. Das Thema der Tagung hieß: Die Heilige Familie und die christliche Familie. Die Referenten gingen das Thema von je verschiedenen Perspektiven an: Dr. German Rovira und Msgr. Dr. Peter von Steinitz führten aus, dass und wie die christliche Familie Vorbild und Maß in der Heiligen Familie findet. Prof. Dr. Stefan Samerski sprach über Die Heilige Familie – Kunstund kirchenhistorische Beobachtungen. Christa Meves referierte – engagiert wie immer – anhand von Bildern der Künstlerin Palmira Laguéns aus Saragossa über: Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute. Hier wurde sehr deutlich, dass falsche Erziehungsmaßnahmen aus einem verkehrten Menschenbild resultieren. Jürgen Liminski 8 sprach abschließend über Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage – Politische und öffentliche Beobachtungen, in der er die falschen politischen Weichenstellungen anprangerte. Zwei Artikel ergänzen die Berichterstattung von der Tagung. 1. Eine Abhandlung von Dr. German Rovira, die sich mit der Evolution auseinandersetzt und zeigt, wieso in Maria die Vollendung des Schöpfungsplanes Gottes verwirklicht ist. 2. Wegen des 60. Jubiläums der Pax-Christi-Bewegung bringen wir in diesem Band auch die Rede von Marthe-Marie Dortel-Claudot mit dem Thema: Pax Christi. Werden, Wesen und Wirken. Diese Rede wurde vor 60 Jahren in KEVELAER gehalten. Schließlich wollten wir auch an dem aktuellen „Großereignis“ des Weltjugendtages nicht vorüber gehen, ohne wenigstens zwei kleine Ausschnitte von Reden unseres Papstes Benedikt XVI. wiederzugeben, die die Bedeutung der Gottesmutter hervorheben. Der erste Ausschnitt stammt aus seiner Predigt bei der Heilige Messe und Weihe des neuen Altars mit den australischen Bischöfen, Seminaristen, Novizen und Novizinnen in der St. Mary’s Cathedral in Sydney am 19. Juli 2008. Der zweite Ausschnitt ist die Ansprache Benedikts XVI. zum Angelus am 20. Juli 2008 in Sydney. Beide Texte entsprechen der Veröffentlichung in Die Tagespost vom 22. Juli 2008. Die Übersetzungen sind von Claudia Reimüller bzw. Armin Schwibach. Klaus Meise VOM WELTJUGENDTAG 2008 Heilige Messe und Weihe des neuen Altars mit den australischen Bischöfen, Seminaristen, Novizen und Novizinnen in der St. Mary’s Cathedral in Sydney am 19. Juli 2008 „Maria, die Hilfe der Christen, bitten“ Die größten Schätze, die Ihr mit anderen jungen Menschen teilt – Euren Idealismus, Eure Hochherzigkeit, Eure Zeit und Energie – sind die wirklichen Opfer, die Ihr auf den Altar des Herrn legt. Mögt Ihr stets dieses wunderbare Charisma schätzen, das Gott Euch zu seiner Ehre und für den Aufbau der Kirche geschenkt hat! Liebe Freunde, lasst mich diese Überlegungen abschließen, indem ich Eure Aufmerksamkeit auf das große bunte Glasfenster im Altarraum dieser Kathedrale lenke. Dort ist Unsere Liebe Frau, die Königin des Himmels, voller Majestät auf dem Thron neben ihrem göttlichen Sohn dargestellt. Der Künstler hat Maria als die neue Eva dargestellt, die Christus, dem neuen Adam, einen Apfel reicht. Diese Geste symbolisiert die von ihr bewirkte Umkehrung des Ungehorsams unserer ersten Eltern, die reiche Frucht, die Gott in ihrem eigenen Leben hervorgebracht hat und die ersten Früchte der erlösten und verherrlichten Menschheit, der sie in die Herrlichkeit des Himmels vorausgegangen ist. Lasst uns Maria, die Hilfe der Christen, bitten, die Kirche in Australien in Treue zu dieser Gnade zu erhalten, durch die der gekreuzigte Herr selbst jetzt die ganze Schöpfung und jedes menschliche Herz „zu sich zieht“ (vgl. Joh 12, 32). Möge die Kraft des Heiligen Geistes die Gläubigen dieses Landes in Wahrheit heiligen und reiche Frucht der Heiligkeit und Gerechtigkeit für die Erlösung der Welt hervorbringen. Möge sie die ganze Menschheit in die Fülle des Lebens um jenen Altar führen, wo wir in der Herrlichkeit der himmlischen Liturgie dazu aufgerufen sind, auf ewig Gottes Lobpreis zu singen. Amen. DT vom 22.07.2008 – Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Reimüller Benedikt XVI. 10 Der Angelus des Heiligen Vaters am 20. Juli 2008 in Sydney Liebe junge Freunde! Wir werden jetzt gemeinsam das schöne Gebet des „Engel des Herrn“ beten. Dabei denken wir über Maria nach, eine junge Frau im Gespräch mit dem Engel, der sie im Namen Gottes zu einer besonderen Hingabe ihrer selbst, ihres Lebens, ihrer Zukunft als Frau und Mutter einlädt. Wir können uns vorstellen, wie sich Maria in diesem Augenblick gefühlt haben muss: ganz bang, völlig überwältigt von der Zukunftsperspektive, die ihr eröffnet wurde. Der Engel verstand ihre Angst, und sofort versuchte er, sie zu beruhigen: „Fürchte dich nicht, Maria! Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten“ (Lk 1,30,35). Der Geist war es, der ihr die Kraft und den Mut gab, auf den Ruf des Herrn zu antworten. Der Geist half ihr, das große Geheimnis zu erfassen, das durch sie verwirklicht werden sollte. Der Geist umgab sie mit seiner Liebe und befähigte sie, den Sohn Gottes in ihrem Schoß zu empfangen. Diese Szene bildet vielleicht den zentralen Moment in der Geschichte der Beziehung Gottes mit seinem Volk. Im Alten Testament hatte sich Gott zum Teil und schrittweise offenbart, wie wir alle dies in unseren persönlichen Beziehungen tun. Es brauchte Zeit, damit das auserwählte Volk seine Beziehung zu Gott vertiefte. Der Bund mit Israel war wie eine Zeit der Liebeswerbung, ein langes Verlöbnis. Dann kam der endgültige Moment, der Moment der Ehe, die Verwirklichung eines neuen und ewigen Bundes. In jenem Augenblick repräsentierte Maria vor dem Herrn die gesamte Menschheit. In der Botschaft des Engels war es Gott, der der Menschheit gegenüber einen Heiratsantrag vorbrachte. Und in unserem Namen gab Maria das Jawort. In den Märchen hören die Geschichten hier auf, und „von da an lebten alle glücklich und zufrieden“. Im wirklichen Leben ist es nicht so leicht. Mit vielen Schwierigkeiten musste Maria sich messen, als die Folgen dieses „Ja“, das sie dem Herrn gegeben hatte, auf sie zukamen. Simeon sagte voraus, dass ihr ein Schwert das Herz durchbohren werde. Als Jesus zwölf Jahre alt war, erlebte sie die schlimmsten Alpträume, die Vom Weltjugendtag 2008 in Sydney 11 Eltern durchmachen können, als sie drei Tage lang mit dem Verlust ihres Sohnes fertig werden musste. Und nach dem öffentlichen Leben Jesu hat sie die Agonie erlitten, bei seiner Kreuzigung und seinem Tod zugegen zu sein. Durch die verschiedenen Prüfungen hindurch blieb sie – unterstützt vom Geist der Stärke – ihrem Versprechen immer treu. Und dafür wurde sie mit der Herrlichkeit des Himmels belohnt. Liebe Jugendliche, auch wir müssen dem Jawort treu bleiben, mit dem wir die Freundschaft angenommen haben, die uns von Seiten des Herrn angeboten wurde. Wir wissen, dass er uns nie verlassen wird. Wir wissen, dass er uns immer mit den Gaben des Geistes stützen wird. Maria hat den „Antrag“ des Herrn in unserem Namen angenommen. Und jetzt wollen wir uns an sie wenden und sie bitten, uns in den Schwierigkeiten zu führen, damit wir dieser lebenswichtigen Beziehung treu bleiben, die Gott mit einem jeden von uns eingegangen ist. Maria ist unser Beispiel und unser Vorbild; sie tritt bei ihrem Sohn für uns ein, und mit mütterlicher Liebe bewahrt sie uns vor Gefahren. DT vom 22.07.2008 – Übersetzung von Armin Schwibach aus dem Englischen anhand der von Radio Vatikan veröffentlichten Auszüge der offiziellen deutschen Version ARTIKEL Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria German Rovira „Das ist es, was Gott will: eure Heiligung.“ (1 Thess 4,3) Dieser eindringliche Appell des heiligen Paulus steht in voller Übereinstimmung mit der Aufforderung Gottes im Alten Testament, wo Gott den Israeliten rät: „Erweist euch als heilig und seid heilig, weil ich heilig bin.“ (Lev 11,44) Der hl. Paulus macht in seinem Brief an die Thessalonicher diese Forderung Gottes nun verbindlich für Juden wie für Heiden, die nach der Lehre Jesu Christi leben wollen. Sie entspricht dem Rat Christi bei der Bergpredigt: „Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist.“ (Mt 5,48). Schöpfung, Erlösung, Heiligung Der Mensch, erschaffen nach dem Bild Gottes, soll nun die Vollkommenheit seines Vorbildes suchen, weil er Herrscher über die ganze Schöpfung sein soll, wie Gott es bestimmt hat: „Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land.“ (Gen 1,26) Der Mensch soll das Erschaffene nach Gottes Anordnung „bebauen und hüten“ (Gen 2,15), damit es gedeiht. Nicht willkürlich soll der Mensch handeln. So ordnete Gott den Plan der Schöpfung und gebot dem Menschen: „Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch von dem Baum der Er- 14 German Rovira kenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben.“ (Gen 2,16 f.) Gott wollte den Menschen behüten und ihm helfen; denn er wusste als sein Schöpfer vom Wissensdrang des Menschen, der ihn in Verderbnis treiben kann. Wenn er, vom Teufel verführt, etwas wissen will, schreckt er nicht vor Grausamkeit zurück und kann sogar über Leichen gehen, bis er sein Ziel erreicht hat (Gen 4,3-8). Die Nutzung der vernichtenden Kraft des Atoms oder – noch aktueller – die Versuche mit menschlichen Embryonen und das Klonen von Menschen belegen diese kriminelle Wissensgier des Menschen, abgesehen von vielen anderen, häufigeren Verbrechen. Nun, beim Menschen überwiegt oft der Wissensdrang gegenüber der Bereitschaft, den Willen Gottes zu erfüllen, und so missachteten Adam und Eva Gottes Gebot. Da „gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten …“ – Ja, was erkannten sie? – „ … dass sie nackt waren.“ (Gen 3,7). Vielleicht hat den Menschen diese Erkenntnis gerettet; denn obwohl der Mensch seinen Fehler nicht zugab, erkannte er doch, dass es für den Menschen unmöglich ist wie Gott zu sein. Gott wollte jedoch sein Werk bei den Menschen vollenden (Mt 28,20) und wirkte das Werk der Erlösung, das eins ist mit dem Werk der Schöpfung, in dem vollendeten Menschen: Jesus! Und zugleich wirkte er es in der vollendeten, reinen, bloßen Kreatur: Maria. Über das Mysterium Jesu, der wahrer Mensch, aber auch wahrer Gott ist, kann man sagen, dass er als Mensch die Absicht Gottes bei der Schöpfung erfüllte: Er tat in allem den Willen des Vaters (Joh 4,34/9,4/10,25/12,49/usw.). So führte, oder besser führt Jesus den Menschen zur Vollendung. Mit der reinen Kreatur, mit Maria, ist es Gott auch „gelungen“, den vollendeten Menschen zu schaffen, was gewissermaßen mit Adam und Eva angefangen hatte, aber wegen ihrer Sünde nicht vollendet werden konnte. Sie ist die Magd des Herrn (Lk 1,38). So hat sie auf Gott gehört: bis zum Ende. Am Fuß des Kreuzes erlebte sie mit qualvollen Schmerzen den Tod ihres Sohnes. Überdies ist sie, wie die Kirche sie nennt, Sitz der Weisheit, und die Kirche wendet viele Worte des Alten Testamentes über die „erschaffene Weisheit“ auf Maria an1. Sie ist als die Unbefleckt Empfangene 1 Über die Ewige Weisheit Gottes, die normalerweise auf das Wort Gottes angewandt wird, und die erschaffene Weisheit des Menschen und vor allem der Mutter Gottes, vgl. P. H. PAISSAC, Gott ist, in: Die Katholische Glaubenswelt – Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria 15 leiblich in den Himmel aufgenommen worden2 und herrscht dort als Königin der Engel und Mutter aller Menschen, als die zweite Eva.3 Aber wie vollendet Gott sein Werk bei uns, bei jedem einzelnen Menschen? Indem wir gehorsam den Willen Gottes erfüllen wollen, gemäß dem Gebet, das der Herr uns gelehrt hat: „Dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf der Erde.“ (Mt 6,10) So müssen wir uns nach den Vorbildern im Himmel, nach Jesus und Maria, mit dem Beistand des Heiligen Geistes, aber auch mit ihrer Hilfe, ausrichten. Dann kann Gott sein Werk in uns vollenden, das er bei der Schöpfung beabsichtigt hat: uns die ewige Anschauung seines Antlitzes ermöglichen; uns, der uns für den Himmel erschaffen hat, in die Gemeinschaft der Heiligen einführen. Das ist „sich verhalten“ als Abbild Gottes (Gen 1,26), wie wir oben zitiert haben, zu leben nach dem Wunsch Gottes. Dann ist der Mensch ein Abbild Gottes, denn Gott hat ja den Menschen als sein Abbild erschaffen. Wir Menschen haben diesen „Spiegel der Gerechtigkeit“, der wir sein sollten, zerbrochen – mit Ausnahme Marias. Diesen Spiegel hat Gott restauriert durch das Werk der Erlösung, das wir uns im Heiligen Geist aneignen können und sollen. Im ersten Punkt des KKK wird die Haltung Gottes uns gegenüber beschrieben: „Er ruft den Menschen und hilft ihm, ihn zu suchen, ihn zu erkennen und ihn mit all seinen Kräften zu lieben. Er ruft alle durch die Sünde voneinander getrennten Menschen in die Einheit seiner Familie, die Kirche. Er tut es durch seinen Sohn, den er als Erlöser und Retter gesandt hat. In ihm und durch ihn beruft er die Menschen, im Heiligen Geist seine Kinder zu werden und so sein glückliches Leben zu erben.“4 Wenn wir uns erklären wollen, warum wir in der Welt sind, können wir dies letzten Endes nur plausibel machen, wenn wir an die Liebe Gottes denken: Seine Werke und alles, was in der Welt geschieht, entspringt aus der Liebe Gottes. Ja, „Gott ist die Liebe. Die Liebe Gottes wurde unter uns dadurch offenbart, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben.“ (1 Joh 4,8 f.) 2 3 4 Wegweisung und Lehre I.: Die Quellen der Theologie – Gott und seine Schöpfung, Freiburg 1961, S. 322-387, und L. SCHEFFCZYK, Maria, Augsburg 2003. Siehe darüber G. ROVIRA, Die Aufnahme Marias in den Himmel; in: Mariologisches, August 2005, S. 1 f. Siehe JUSTIN, Dialog 100,5 und IRENÄUS, Adversus Haereticos, III,22,4. Katechismus der Katholischen Kirche (KKK), München 1993, n. 1, S. 38. 16 German Rovira Unsere Vollendung und Vollkommenheit bedeutet: Gott ähnlich zu werden, das heißt alle so zu lieben, wie Gott sie liebt; dann sind wir vollendet in der Liebe, das heißt in Gott (1 Joh 4,12/18). Sonst werden wir unser Ziel verpassen (1 Joh 3,14-17/4,20 f.). Unsere Vorbilder im Himmel sind Jesus und Maria, wie wir schon sahen. Von der Liebe Jesu zu uns, die göttlich und menschlich ist, brauchen wir nur das Wort des Johannes zu beherzigen: „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden.“ (Joh 1,9 f.) Von der Liebe Marias genügt es zu wissen, wie die Kirche sie nennt: Mutter der schönen Liebe! Aber eines müssen wir erklären, um Missverständnisse zu vermeiden: Wenn Gott nur unser Glück will, warum leiden so viele Menschen und auch wir selbst? Nun, wir Menschen haben auf die Stimme des Teufels gehört und sind unsere eigenen Wege gegangen: Wir wollten alles wissen; das Wissen schien uns „köstlich“, „voll Lust“ und „begehrenswert“, um zur Erkenntnis zu gelangen; wir wollten wie Gott sein (Gen 3,4-6) und handelten nicht nach seinem Willen. „Er war in der Welt..., aber die Welt erkannte ihn nicht.“ (Joh 1,10). Das ist der Grund unserer Misere! Heilig ist nur Gott, qados, das ist der Erhabene, der ganz anders ist als wir, und deshalb ist er für uns das Furchtbare, das Heilige! Heilig ist, was zum Einflussbereich Jahwes gehört: Engel, Tempel, Bundeslade, Zion, das Allerheiligste, das Sakrament des Altares, die Kirche! Und so fragte sich Johannes Paul II., was denn dann unsere Heiligkeit bedeute, und antwortete: „Es ist nichts anderes, als mit Freude den Willen Gottes zu erfüllen.“5 Ja, wir sollten auf das hören, was die hl. Teresa von Avila sagt: „Wenn wir uns nicht entschließen, den Tod und die Leiden mit Freude anzunehmen, werden wir niemals Gutes tun.“6 Bei der Schöpfung des Menschen, so wie sie uns das Alte Testament in Bildern darstellt, war der Plan Gottes klar skizziert und hätte uns mit aller Deutlichkeit den Modus unserer Herrschaft über die anderen Geschöpfe gezeigt. Mit drei Worten zeigt er uns, wie wir diese Herrschaft ausüben sollen: „Seid fruchtbar! Bevölkert die Erde! Unterwerft sie euch!“ (Gen 1,28). Diese Worte Gottes erinnern uns an die Werke Gottes, die wir jeder göttlichen Person zuschreiben: die Schöpfung, die Erlösung und die 5 6 JOHANNES PAUL II., Homilie am 18.1.1981. TERESA DE JESÚS, Weg zur Vollkommenheit, 11,4. Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria 17 Heiligung. Gott wollte und will noch immer mit uns diese Welt gestalten und zur Vollendung bringen. Jesus zeigt uns durch sein Beispiel, was das heißt. Er ging durch das Leben, tat Gutes und lehrte (Apg 1,1), was wir tun sollen. Und das ist es, was wir von Jesus lernen sollen: zur Osterfreude zu gelangen, indem wir durch seinen Tod am Kreuze gehen. Das ist es, was uns die Taufe lehrt und die ganze Liturgie der Kirche: sich auf Gott verlassen: „Actiones nostras quaesumus, aspirando...“ – „Komm unserem Beten und Arbeiten mit deiner Gnade zuvor und begleite es, damit alles, was wir beginnen, bei dir seinen Anfang nehme und durch dich vollendet werde.“7 „Unser Ziel soll unsere Vollkommenheit sein, nicht nach unserem Ermessen, sondern nach der Vollkommenheit in Christo.“8 So sagt es auch der KKK im Anschluss an ein Wort des II. Vatikanums: „Mit so vielen und so großen Mitteln zum Heil ausgerüstet, sind alle Christgläubigen jedweden Berufs und Standes auf ihrem jeweiligen Weg zum Herrn zu der Vollkommenheit der Heiligkeit berufen.“9 Der KKK lehrt uns weiter: „Der Weg zur Vollkommenheit führt über das Kreuz. Es gibt keine Heiligkeit ohne Entsagung und geistigen Kampf. Der geistliche Fortschritt verlangt Askese und Abtötung, die stufenweise dazu führen, im Frieden und in der Freude der Seligpreisungen zu leben.“10 „In der Nachfolge Christi und in Einheit mit ihm sind die Christen fähig, Gott nachzuahmen … und dem Weg der Liebe zu folgen.“11 Das alles tat in wunderbarer Weise die Mutter des Herrn. Das haben die Christen von Anfang an verstanden; aber das theologische Verständnis dessen, was dies konkret heißt, und das Formulieren der Vorzüge Marias hat sich erst im Laufe der Jahrhunderte entfaltet. Maria, der vollendete Mensch De Maria nunquam satis gilt als ein Axiom der Theologie, und das bedeutet, dass wir – zumindest hier auf Erden – das Geheimnis Marias nicht in seiner ganzen Tiefe verstehen und in es eindringen können: was Gott 7 8 9 10 11 Tagesgebet des Donnerstags nach Aschermittwoch. AUGUSTINUS, Kommentar zu Ps 69. KKK, n. 825; Lumen Gentium, 11. Ebd. n. 2015. Ebd. n. 1694. 18 German Rovira mit diesem Menschen, den er zu seiner Mutter gemacht hat, vorhatte und in alle Ewigkeit vorhat. Sie ist, wie die Kirchenväter des Ostens und die ganze ostkirchliche Tradition bekunden, die Panhagia, die Allheilige! Das übersetzen wir im Westen mit dem Ausdruck „Allerseligste“. Diese Bezeichnung steht nicht im Widerspruch dazu, dass man Gott „den Heiligen“ nennt. Sie bedeutet vielmehr, dass Maria vollkommen dem Bild Gottes entspricht, dass sie der vollendete Mensch ist, wie Gott ihn bei der Schöpfung wollte. Trotz der klaren Offenbarungen, die wir in der Heiligen Schrift und in der Tradition finden, und trotz der dogmatischen Erklärungen des Lehramtes können und sollen wir uns immer weiter durch Gebet und Nachdenken über die Güte Gottes in dieses grandiose Werk des „geboren aus einer Frau“ (Gal 4,4) vertiefen und es entfalten, um es besser zu verstehen und vielleicht noch klarer und genauer formulieren zu können. Es hat beinahe fünf Jahrhunderte gedauert, bis die Kirche formulieren konnte und vielleicht auch musste, um Irrtümer zu vermeiden, warum wir die Mutter Jesu auch Gottesmutter nennen sollen.12 Zuerst waren es die Doketen, welche die Fleischwerdung Gottes verächtlich machten.13 Diese Irrlehre, die schon zur Zeit der Apostel entwickelt wurde, beachtete die Würde der Mutter Jesu nicht. Sie galt ihnen nur als eine Art Kanal, durch den der Logos zu uns kam. Dann waren es die Gnostiker, die den Glauben zu einer Geheimwissenschaft nur für Eingeweihte erklären wollten und in der Mutter Jesu eine bloße Randfigur sahen, die von einzelnen Gnostikern dazu missbraucht wurde, in ihren Irrlehren eine Phantasierolle zu spielen.14 Andere machten sie zu einer außergewöhnlichen Frau, aber nur weil Gott durch sie wie über eine Treppe zu uns gekommen sei, ähnlich wie bei den Doketen, die im Grunde auch Gnostiker waren. Arius vertrat, obwohl er Priester der Kirche war, mit ausgezeichneter Redekunst gnostische Gedanken und leugnete die Gottheit Jesu, indem er den Logos als nicht wesensgleich mit dem Vater, homousios, ansah, sondern nur als wesensähnlich, homoiusios: Jesus wäre der inkarnierte Logos, jedoch nicht Gott. Damit meinte er und viele mit ihm, dass Maria lediglich 12 13 14 Siehe z. B. H. GRAEF, Maria – Eine Geschichte der Lehre und Verehrung, Freiburg 1963, Ss. 38-96. Siehe z. B. G. KOEPGEN, Die Gnosis des Christentums, Salzburg 1938, S. 200 f. z. B. G. KOEPGEN, o.z. Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria 19 die Mutter eines außergewöhnlichen Geschöpfes sei15, nicht aber die Mutter Gottes. Trotz der Klärung von Seiten der Kirche auf dem Konzil von Nizäa16 (325) dauerte es noch viele Jahrhunderte, bis alle Christen die Wahrheit der Gottesmutterschaft Marias annahmen.17 Der Grund war, wie bei Nestorius, dass viele darin eine Wiederbelebung des heidnischen Mythos von den Müttern der Götter sahen.18 Obwohl von den griechischen Christen der Ausdruck Theotokos19, Gottesgebärerin, immer gebraucht wurde, war diese Bezeichnung dem Patriarchen von Konstantinopel, Nestorius, nicht geheuer: Er zweifelte noch im 5. Jahrhundert an der Richtigkeit dieses Terminus. Deshalb sollte man nicht von Θεοτοκος sprechen, sondern nur von Χριστοτοκος, wie Nestorius den Prediger Proklus mahnte.20 So musste das Konzil von Ephesus (431) Klarheit über den Namen und die Person Jesu schaffen und damit auch darüber, dass die Mutter Christi Gottesmutter ist.21 Nestorius, der ein inniger Verehrer Marias war, vertrat die Auffassung von zwei Personen in Jesus: Jesus sei wie ein lebendiger Tempel Gottes. Nestorius wollte nicht annehmen, dass die beiden Naturen in Christus, die göttliche und die menschliche, in der Einheit der Person des Wortes Gottes existieren; dass dementsprechend alles, was an Erhabenheit und Würde von Jesus ausgesagt wird, Eigenschaften der Person sind – und diese ist Gott. In Christus ist auch die menschliche Natur, die Leidensfähigkeit und alles, was ihn als Menschen uns gleich macht. Dies alles ergab sich aus den Schwierigkeiten, das trinitarische Wesen Gottes zu erfassen. Die Kirche musste sich zur Klärung der Philosophie 15 16 17 18 19 20 21 Siehe ATHANASIUS, Vier Reden gegen die Arianer, 4. Rede, 33 und 36; und Brief an Epiktetus, 5; Kempten 1913, S. 382 f., 386 f., 509. DH 125 y 126. Berühmt ist der Satz, den man Ambrosius zuschreibt: Wohin du guckst, die Welt ist arianisch geworden. Alle germanischen Stämme, die das Christentum kannten, waren arianisch geprägt. In Spanien dachten die Westgoten noch arianisch bis ins 6. Jahrhundert, bis sie unter Recaredo zum katholischen Glauben übertraten. Siehe R. LAURENTIN, Die Jungfrau Maria; in: Katholische Glaubenswelt – Wegweisung und Lehre III.: Die Heilsökonomie, Freiburg 1961, S. 227 f. L. SCHEFFCZYK, Theotokos; in: Marienlexikon 6., St. Ottilien 1994, S. 390 f. PG 65, 680-692; auch G. ROVIRA, Das Zeichen des Allmächtigen, Würzburg 1980, S. 229-233. DS 252. 20 German Rovira bedienen und den Begriff Person herausstellen – im Unterschied zum Begriff Natur. Ein anderes Problem ergab sich aus der Jungfräulichkeit Marias, der Mutter Gottes, die nicht alle annehmen wollten. Jovinian22, Helvidius23 und viele andere leugneten die Jungfräulichkeit Marias, obwohl diese im Evangelium klar herausgestellt wird (Mt 1,23-25 und Lk 1,26-38), vor allem nach der Geburt des Heilands. Einige, wie Helvidius, taten dies vielleicht mit guter Absicht, um den Pelagianern zu widersprechen. Noch heute verstehen einige nicht diesen schönen Vorzug Marias, und dementsprechend erklären sie die Jungfräulichkeit falsch oder deuten sie in einem anderen Sinne als der Glaubenssatz, mit dem die Kirche festgelegt hat, was die Katholiken darunter zu verstehen haben.24 Die Kirche hat das Dogma im 2. Konzil von Konstantinopel erklärt, um weiteren Missverständnissen im Hinblick auf die immerwährende Jungfräulichkeit Marias entgegenzuwirken.25 Im 7. Jahrhundert bekräftigte Martin I. dieses Dogma, als er die Akten der Synode vom Lateran approbierte.26 Noch deutlicher wird die Würde Marias in den beiden marianischen Dogmen, die im 19. und 20. Jahrhundert verkündet wurden. Die Wahrheit von der unbefleckten Empfängnis Marias wurde mit dem Fest der heiligen Anna27 im Osten spätestens im 6. Jahrhundert angedeutet, aber nicht klar dargelegt. Im 10. Jahrhundert (ab 1060 belegbar) verbreitete sich diese Lehre in England, bis sie von den Normannen durch Wilhelm den Eroberer 1066 unterdrückt wurde. Danach gab es einen neuen Impuls durch Eadmer und den Erzbischof Anselm, der wahrscheinlich ein Neffe 22 23 24 25 26 27 PG 16,1121. HIERONYMUS, Contra Helvidio, PL 23. vgl. z. B. R. PESCH, Über das Wunder der Jungfrauengeburt – Ein Schlüssel zum Verstehen, Bad Tölz 2002. DH 422, 427, 437. Lateransynode, approbiert von Papst Martin I., DH 502, 503, 504. Martin I. verwarf den Monotheletismus. Da der Patriarch von Konstantinopel die Zustimmung verweigerte und exkommuniziert wurde, kam es zum Streit mit dem oströmischen Kaiser. Dieser ließ Martin I. gefangen nehmen, zum Tode verurteilen und verbannte ihn nach Begnadigung auf die Krim (653). Dort starb der Papst im Jahr 655. Er wurde heiliggesprochen. L. HEISER, Orthodoxe Theologie, in: Marienlexikon 1., St. Ottilien 1988, S. 155-157 und H. M. KÖSTERS, Der Beitrag Eadmers...., in: G. ROVIRA, Im Gewande des Heils, Essen 1980, S. 61. Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria 21 des großen Anselm war, die sich beide um die Neubelebung dieser Lehre verdient machten. Dann breitete sich das Fest der unbefleckt Empfangenen in ganz Europa aus oder es begann die Diskussion über dessen Einführung. Bekannt sind die Einwände, welche Bernhard von Clairvaux gegenüber dem Kanoniker von Lyon vorbrachte (1138). Nun, das Fest und damit die Wahrheit von der unbefleckten Empfängnis Marias war Jahrhunderte lang ein Punkt der theologischen Streitigkeiten zwischen Franziskanern und Dominikanern. Das Konzil von Basel, als es schon nicht mehr als ein allgemeines Konzil anerkannt war (1431), proklamierte, beeinflusst von den Franziskanern und angeführt von Juan de Segovia, die Wahrheit von der Unbefleckten Empfängnis in einem Dekret (1439); aber dies hatte kaum Resonanz.28 Davor – und wahrscheinlich beeinflusst von den Tendenzen in seiner Heimat wie in seinem Orden – half Duns Scotus, das zukünftige Dogma zu skizzieren29, und trug so zu dem Dekret in Basel bei. Trotzdem dauerte es bis zum 19. Jahrhundert, bis die Kirche diese Lehre endgültig zum Dogma erklärte. Ähnlich war es mit der Lehre der leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel.30 Auch an dieser Wahrheit wurde in der Tradition der Kirche immer festgehalten.31 Ein Zeugnis des allgemeinen Glaubens der Kirche an die leibliche Aufnahme Marias in den Himmel sind vor allem die mündliche Überlieferung32, die Einführung des Festes und die Behandlung des Themas in den meisten Traktaten der Dogmatik.33 Dennoch wurde erst im 20. Jahrhundert diese Wahrheit als Dogma der Kirche von Pius XII. am 1. November 1950 proklamiert. 28 29 30 31 32 33 Vgl. z. B. J. AUER, Gedanken zu den Bemühungen des Konzils von Basel..., in: G. ROVIRA, Im Gewande des Heils, o.z., S. 71-84. Sicherlich hat sich schon früher die Verehrung der Unbefleckten Empfängnis in Europa etabliert, wie schon gesagt, durch den Einfluss von EADMER VON CANTERBURY, Die Empfängnis der seligen Jungfrau, Paderborn, 1954. DS 3903. Vgl. J. IBAÑEZ/F. MENDOZA, Die Aufnahme Marias in den Himmel nach dem Zeugnis der Kirchenväter, in: G. ROVIRA, Die Sonnenbekleidete Frau, Kevelaer 1986, S. 95-139. Interessant ist hier die Tradition des leeres Grabes in Jerusalem. Siehe z. B. M. J. SCHEEBEN, Handbuch der Katholischen Dogmatik 3, Freiburg 1927, § 281, S. 570-588. 22 German Rovira Das bedeutet nicht, dass die Kirche an dieser Wahrheit gezweifelt hätte, sondern dass sie nicht immer verständlich genug formulieren konnte und Zeit brauchte, bis Gott und das Gebet heiliger Christen die Wahrheiten des Glaubens für uns klärten. Das gilt auch für Wahrheiten, die von Missverständnissen bedroht sind. Die Kirche studiert das Problem, fragt die Bischöfe und definiert nach vielen Gebeten die Lehre als Dogma, als etwas, woran nicht mehr gezweifelt werden kann und darf. Die Kirche ist der mystische Leib Christi mit den Gläubigen als Gliedern seines Leibes, aber sie ist auch die Mutter der Gläubigen. Sie hat immer auf den Beistand des Heiligen Geistes vertraut, und deshalb hat sie uns immer klarer zeigen können, wieso und warum wir der Wahrheit ihrer Lehre Vertrauen schenken können. Darauf wird nach einigen Überlegungen zu Entwicklungen in der Theologie noch näher eingegangen. Über die Entfaltung von Wahrheiten in der Theologie Im Laufe der Jahrhunderte ist eigentlich nicht der Glaube gewachsen, sondern das Verständnis der Glaubensmysterien oder das Begreifen des offenbarten Glaubens: Die Kirche vermittelt uns den Glauben durch die Schriften der Kirchenväter und heiliger Männer seit apostolischer Zeit. Wir glauben an das, was die Kirche uns lehrt; die Kirche ihrerseits verkündet uns den Glauben, den sie von den Aposteln empfangen hat; und letzten Endes wissen wir das, was die Kirche uns lehrt und die Apostel verkündet haben, aus der Tradition: Das ist das, was uns Gott durch den Heiligen Geist und seinen menschgewordenen Sohn im Laufe der Geschichte mitgeteilt hat; das, was für uns gut und heilsam ist. Selbst die Heilige Schrift ist aus der Tradition entstanden und in der Tradition begründet. Dies sind sozusagen die Handbücher, deren das Lehramt sich bedient, um die Lehre der Apostel zu verkünden, die sich nur zum Teil ausdrücklich in der Heiligen Schrift niedergeschlagen hat. Wenn das Lehramt ein Dogma verkündet, dann ist es mit Sicherheit aus dieser Überlieferung abgeleitet, und wir sind dann verpflichtet, es zu glauben. Man kann aber von einer Entfaltung des Dogmas sprechen und auch von einer Entfaltung der Wahrheit; man kann sogar von einer Entfaltung des Glaubens in dem Sinne sprechen, dass man ihn immer klarer darlegt, Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria 23 sodass er wächst: nicht in seinem Inhalt, aber doch in seinem Verständnis – ähnlich wie in der Knospe Verborgenes in der Frucht entfaltet ist.34 Dies erklärt, warum das, was seit der Zeit der Apostel schon geglaubt wurde, erst im Laufe der Jahrhunderte dogmatisch verbindlich festgelegt wurde. Dies erklärt aber auch die vielen Missverständnisse und warum von einigen oder vielen nicht genau verstanden wurde und wird, was die Kirche uns lehrt. Der Glaube ändert sich nicht, denn die Inhalte des Credo35 haben sich homogen entwickelt. Was sich ändert, ist nur das Wissen der einzelnen Gläubigen. Der Glaube ist Festhalten an dem, was Christus uns gelehrt hat (Röm 5,1 ff.)36, und Christus ist der gleiche gestern, heute und in Ewigkeit (Hebr 13,8). Was die Gläubigen, was die Theologen und für eine gewisse Zeit sogar die Kirche nicht mit aller Klarheit und Sicherheit verstanden haben, wurde uns zu einem bestimmten Zeitpunkt vom Heiligen Geist durch die Kirche gelehrt, die auch die Gemeinschaft der Heiligen ist. Das Streben des Menschen nach der Fülle der Wahrheit wurde unterstützt durch das Wirken des Heiligen Geistes in der Kirche, wie Jesus Christus uns versprochen hat (Joh 14, 26, 16,13 ff. und Mt 28,18-20). Die von Gott geschaffenen Dinge und die uns offenbarten Glaubensmysterien werden nicht von jedem Menschen klar erkannt; aber Gott bewirkt durch seinen Heiligen Geist immer größere Klarheit, wenn sich der Mensch im Gebet und im Vertrauen auf Gott in diese Mysterien vertieft. Das kann kollektiv geschehen oder, besser ausgedrückt, durch kirchliche Entfaltung einer Wahrheit bis zur Festlegung eines Dogmas. Es kann auch individuell geschehen durch Wachstum des Einzelnen in der Erkenntnis der Wahrheit. Der Glaube eines Kindes ist wahr, wenn ihm das Richtige verkündet wird; seine Vorstellungen jedoch sind lückenhaft und verschieden vom Wissen eines Erwachsenen. Dies wird deutlich z. B. bei der Entfaltung des Verständnisses der geistlichen Mutterschaft Marias und ihres Anteils am Werk der Erlösung. Wir können hier von einer Evolution oder Entwicklung des Dogmas sprechen. 34 35 36 Vgl. I. TOTZKE, Entwicklung oder Entfaltung – Zwei Möglichkeiten geistigen Wachstums, in: Der christliche Osten, LXII/2007/5, S. 251. Mit wenigen Sätzen gibt uns PIO MOA eine wunderbare Synthese des Glaubens an Gott in Contra la mentira, Barcelona 2006, S. 84 f. DS 3008, 3010 und 3031-3045; KKK, nn. 26, 142, 150, etc. Siehe auch die Enzyklika von BENEDIKT XVI., Spes Salvi, nn. 7-9, vom 30.11.07. 24 German Rovira Aber „Evolution“ ist ein missverständliches Wort, das einige Gottlose in den letzten Jahrhunderten in ihrem Sinn verändert haben. Eigentlich ist „Evolution“ ein wertneutrales Wort und bedeutet: Entwicklung, Entfaltung; philosophisch sogar das Fördern von niederen zu höheren Begriffen. Wir wissen, dass Gott der Gott des Alls, des Universums ist und dass sich nichts seinem Wissen und seiner Kenntnis entzieht. Es kann sich aber wohl eine gewisse Evolution oder Entwicklung in unserer Erkenntnis vollziehen, in dem Wissen über Gott und seine Werke, im Wissen aus dem Glauben. Trotzdem scheint es besser, nicht dieses belastete Wort Evolution oder das Wort Entwicklung37 zu gebrauchen. Wir könnten dieses Problem umgehen, indem wir von einem intelligent design sprechen; denn nur Gott weiß, wie jeder Mensch sich entwickelt und auch die Theologie. Selbst bei Irrtümern oder Häresien weiß Gott, warum er sie zulässt. Er selbst ist nicht die Ursache des Irrtums, sondern er erlaubt, dass wir unsere Wege gehen, auch wenn wir freiwillig in den Versuchungen des Teufels untergehen. Die Evolution des Begriffes Evolution – und: Evolution des Dogmas? Wir gehen von der erwähnten Voraussetzung aus: Gott weiß alles; Gott ist der Allsehende und die ewige Vorsehung. Diese Annahme ist erforderlich, wenn wir an die Schöpfung des Alls glauben: „Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. … Lernt von den Lilien, die auf dem Feld wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. … Wenn aber Gott schon das Gras so prächtig kleidet …, wieviel mehr dann euch.“ (Mt 6, 26/28/30) Das vorausgesetzt, können wir uns fragen, ob Gott nur die wichtigsten Dinge voraussieht und vorausplant, so zum Beispiel die Menschwerdung und das, was mit diesem Mysterium verbunden ist: geboren von einer Frau (Gal 4,4). Das geschah auf eine geheimnisvolle Weise, die mit dem Licht der menschlichen Vernunft allein nicht erklärbar ist. Das kann nur Gott. Aber nur das? Wenn wir glauben, müssen wir an seine Allmacht glauben: 37 Mir scheint es sehr gut, wie Totzke (siehe die in Anm. 21 zitierten Artikel) die Unterschiede darlegt. Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria 25 Aus dem Nichts alles zu schaffen, ist nur Gott möglich. Auch das ist ein Mysterium, das wir glauben müssen: dass Gott allwissend und allmächtig ist, das zu tun. Nun, und hier beginnen die Unterschiede: Ist die Welt entstanden durch „l'atome primitif“, das Uratom, und mit dessen Explosion, dem Urknall, wie Georges Lemaître sagte38? Kümmert Gott sich nicht um die „spontane“ Entwicklung oder Evolution der Zellen? Und weiter können wir fragen: Interessiert Gott sich nicht für diese Entwicklung und weiß er deswegen nicht davon? Ist diese Entwicklung für Gott unwichtig?39 Dies behaupten einige, für die Gott nur eine Hypothese ist, die Gott überflüssig machen wollen: Es geschehe das alles ganz zufällig; zumindest bei der Entwicklung einzelner Zellen handle es sich um reinen Zufall. Gibt es also keine Gesetze oder Gesetzmäßigkeiten? Abgesehen davon, dass einige Astrophysiker an der Urknall-Theorie zweifeln40, kann man sie durchaus annehmen, vorausgesetzt man glaubt, dass Gott bei jenem Feuerball und Rauchschwaden das Schaffen des Universums, so wie es geworden ist, wollte. Nun, dazu kommen viele Voraussetzungen, welche die moderne Kosmologie nicht beachtet. „Der moderne Zugang zur Kosmologie besteht in der Verwendung physikalischer Theorien, die nicht im Labor überprüft worden sind. Er beschreibt kosmische Epochen, die für die Astronomie unerreichbar sind, und hat bis jetzt keine einzige erfolgreiche Voraussage erbracht“41; oder wie der russische Kosmologe Landau wusste: „Kosmologen irren sich oft, aber sie zweifeln nie.“42 Zur Frage der Zufallsevolution: Sie fußt auf der nicht bewiesenen Selektion43, einem grausamen Prinzip, wie Darwin selbst erkannte, denn es 38 39 40 41 42 43 Vgl. E. SCHÜCKING, Probleme der moderne Kosmologie in ihrer geschichtlichen Entfaltung, in: G. BÖRNER, u.a., Vom Urknall zum komplexen Universum, München 1993, S. 9. Zu diesen Fragen siehe H. BECK, Biblische Universalität – Interdisziplinäre Theologie, Gustav-Siewerth-Akademie, Weilheim-Bierbronnen 19942. F. HOYLE, Erfordert die Astrophysik eine Alternative zum Urknall?, in: G. BÖRNER, o.z., S. 93-108. F. HOYLE, o.z., S. 96 f. Siehe E. L. SCHÜCKING, o.z., S. 41. Siehe R. JUNKER und S. SCHERER, Entstehung und Geschichte der Lebewesen, Gießen 1992, z. B. S. 27-41. 26 German Rovira lässt nur einen bösen Gott zu.44 Hinzu kommt das Prinzip der Mutation45, das man milder beurteilen kann. Beide Prinzipien sind unbewiesene Hypothesen.46 Und dann ergibt sich die Frage: Halten wir an Gott als dem Allmächtigen und Gütigen fest? Unsere Antwort: Ja! Denn Gott hat nicht das Böse erschaffen, sondern es ist der Mensch, der frei ist und den Willen seines Schöpfers verachtet. In der Voraussetzung der Selektion ist das Böse ein immer vorhandenes Element. Sind wir nicht damit dem Manichäismus nahe? Entweder hat Gott nicht vorausgesehen, wie die Welt wird, oder er hat es absichtlich nicht sehen wollen. Das wäre die eine Position. Die andere ist die Leugnung Gottes, jedenfalls wie unser Glaube ihn bekundet. Fangen wir mit der Hypothese vom Zufall an: Was verstehen die Anhänger der Evolution unter Zufall? Meinen sie etwas anderes, als was das Wort besagt? Und was stellen sie sich unter Selektion vor – das Töten oder Sterben der Schwachen?47 Die Naturwissenschaft begründet alles und hält sich nur an geprüfte Naturgesetze. Das können wir zumindest von der Chemie, Physik, Mathematik und der daraus entwickelten Informatik oder Astronomie erfahren. Aber wir müssen von manchen ihrer Theorien absehen. Wenn eine brauchbare Erklärung für ein Ereignis fehlt oder eine These noch nicht vollkommen bewiesen ist, dann gilt das nur als eine Hypothese oder Theorie, die nützlich sein kann, solange man noch nicht die wahre Lösung für ein Problem hat. Was man nur vermutet, darf man ja nicht als Wahrheit bezeichnen; und das tun auch die echten Naturwissenschaftler nicht: Was nicht bewiesen ist, wird nicht als sichere Erkenntnis aus44 45 46 47 Darwin soll in seiner Sterbestunde die Hilfe eines anglikanischen Geistlichen bekommen haben, der von seiner frommen Frau gerufen worden sei; der Geistliche habe ihn auf den inneren Widerspruch eines bösen Gottes aufmerksam gemacht; Darwin habe dem zugestimmt und soll trotzdem darauf beharrt haben, weil er das Prinzip der Selektion nicht aufgeben wollte. R. JUNKER und S. SCHERER, o.z., z. B. S. 80 f. Siehe P. BLANK, Alles Zufall? - Naive Fragen an die Evolution, Augsburg 2006, und B. VOLLMERT, Die Frage nach der Entstehung der Lebewesen in naturwissenschaftlicher Sicht – Darwin im Lichte der Makromolekularen Chemie, in: Schöpfung, Informationszentrum Berufe der Kirche , Freiburg1988. Siehe J. MONOD, Zufall und Notwendigkeit, München 1973. Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria 27 gegeben, auch dann nicht, wenn Einzelergebnisse auf die Richtigkeit einer Theorie hinzudeuten scheinen. So z. B. könnten wir uns viele Universen vorstellen, ähnlich oder verschieden unserem Universum, die uns jedoch unbekannt sind. Sie hätten dann wahrscheinlich andere Entwicklungen genommen als unser Universum, Entwicklungen, die uns wiederum unbekannt sind48. Aber so könnten wir nur spekulieren und dabei von Gott absehen. Die Biologen, die das Leben durch Evolution aus Zufall begründen wollen und diese Theorie für wahr erklären, machen aber – wie auch einige Mediziner – eine Zäsur, wenn sie partout mit menschlichen Embryonen „forschen“ wollen. Sie begründen das mit der Hoffnung auf mehr Möglichkeiten zur Heilung von z. B. bisher unheilbaren Krankheiten. So hat A. Kutschers für den Unterricht in Biologie gefordert: „Der naturwissenschaftliche Unterricht muss weltanschauungsfrei bleiben.“49 Was bedeutet für ihn Weltanschauung? Und warum bezeichnet er den Unterricht über Theorien oder Hypothesen als „naturwissenschaftlich“? Die Medizin, oder besser gesagt, einige „Mediziner“, die unbedingt mit embryonalen Stammzellen „forschen“ wollen, versprechen sich Erfolge, die aber bis heute ausgeblieben sind. Da sind ethische Einwände gegen ein solches „Forschen“ nicht unbedingt weltanschaulich bedingt, aber erforderlich. Shinya Yamanaka und Thomas Thomson haben mit ihren Forschungen bewiesen, dass die angestrebten Heilerfolge eher mit der ethisch einwandfreien Forschung an adulten Stammzellen zu erreichen sind. Wenn es übrigens wissenschaftlich bewiesen wäre, dass der menschliche Embryo tatsächlich kein Mensch ist, dann wäre es ethisch vertretbar, mit solchen Zellen zu operieren und dafür Embryos zu töten. Indessen ist dieses Forschen kriminell, wenn nicht bewiesen oder unsicher ist, dass der menschliche Embryo kein Mensch ist. Wenn aber der Beweis erbracht wurde, dass der Embryo ein menschliches Wesen ist, dann ist das Töten eines Embryos nichts anderes als das Eliminieren menschlichen Lebens. 48 49 Vgl. D. W. SCIAMA, Ist das Universum einzigartig?, in: G. BÖRNER, o.z., S. 183194. Zitiert von L. SPERLING, Zur Debatte um Schöpfungslehre und Evolution, in: Die Tagespost vom 30. 10. 2007, S. 15. 28 German Rovira Solange es um die Vermutung oder den Glauben geht, dass es sich bei einem menschlichen Embryo nicht um einen Menschen handelt, verübt man im Grunde genommen grobes Unrecht, genauso wie bei der Tötung eines Menschen – unter der Prämisse, dass es kein Mensch ist, sondern ein Monster oder dass man nicht wusste, dass es sich um einen Menschen handelte. Dann handelt man wahrhaftig „weltanschaulich“ oder besser ideologisch. So befürwortet derjenige, der an embryonalen Zellen forscht, den Tod eines Menschen, was so verbrecherisch und so traurig ist wie jede Abtreibung, auch wenn das geschieht wegen angeblicher Heilungschancen. Es handelt sich, und das muss betont werden, um die Tötung (wenigstens „theoretisch“ oder wahrscheinlich) eines Menschen, und noch dazu eines ganz unschuldigen. Und das ist vor jedem zivilisierten Gericht strafbar. Für den Gläubigen steht fest, dass es sich beim Embryo um einen Menschen handelt: Der Sohn Gottes ist bei seiner Menschwerdung uns in allem gleich geworden außer der Sünde (Phil 2,6-7)50, und Jesus ist ein Mensch von Anfang an, seit dem Augenblick, in dem Maria gesagt hat: „Ich bin die Magd des Herrn.“ (Lk 1,38)51 Dabei spielt es keine Rolle, dass lange Zeit bezweifelt wurde, ob der Embryo ein Mensch sei – vom Augenblick der Zeugung an –,mit einer menschlichen Seele beseelt. Es ist unwichtig, ob zuerst von einem vegetativen Lebensprinzip ausgegangen wurde, das sich dann entwickelt und eingliedert in ein sensitives, bis es endlich eine menschliche Gestalt bekommt. Aus der christlichen Lehre von der Person ergibt sich, dass Gott die Seele mit dem gezeugten Leib im Augenblick der Zeugung verbindet, so wie Gott in der Jungfrau Maria seine Natur mit der menschlichen Natur verbunden hat.52 Die pseudowissenschaftlichen Disziplinen sind diesbezüglich ideologisch, wie selbst Ernst Mayr, der „Altmeister der Evolutionslehre“, von den Evolutionisten behauptet: „Tatsächlich steht die Evolutionsbiologie als Wissenschaft in vielerlei Hinsicht der Geisteswissenschaft näher als den Naturwissenschaften.“53 Nun, dabei ist aber vorausgesetzt, was keineswegs 50 51 52 53 Siehe auch das 4. Hochgebet der Heiligen Messe. W. J. GIEFFERS, Immakulata-Dogma und Person-Beginn; in: Mariologisches 3, August 2006, S.7 . Ebd. Siehe L. SPERLING, o. z. Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria 29 immer der Fall ist, dass die Geisteswissenschaftler so handeln oder sprechen würden wie die Anhänger der Zufallsevolution. Die Geisteswissenschaften sind etwas anderes als die Naturwissenschaften und ihre Methoden sind nicht einfachhin als ideologisch zu bezeichnen. Die Ideologisierung wird noch grauenhafte Folgen haben, wenn man an den total ideologischen Genderismus und an „Planned Parenthood“ denkt. Die Ziele, die sie sich setzen: Organ-Transplantation, Samenbanken, Einfrieren von Sperma für Generationen, Vermischung der menschlichen Embryonen mit tierischen etc. etc., sind nicht nur gegen die Natur gerichtet, sondern sie zielen auf rassistische Lösungen und sind wahrhaftig darauf gerichtet, einen „neuen Menschen“ zu schaffen, der den Schöpfer überflüssig macht.54 Bei solchen ideologischen Rahmenbedingungen für den Biologieunterricht in der Schule hatte die hessische Ministerin Wolf recht, wenn sie verlangt: „In einem modernen Biologieunterricht sollten auch die Grenzen naturwissenschaftlich gesicherter Erkenntnis sowie theologische und philosophische Fragen nach dem Sinn des Seins und der Existenz von Welt und Menschen eine Rolle spielen.“55 Hier muss man voraussetzen, dass der Lehrer, welcher die Evolutionstheorien in seinem Unterricht behandeln will und dabei ins philosophische und theologische Gebiet eindringt, dies den Schülern vorher ankündigen und philosophische und theologische Aussagen sachlich richtig darstellen muss. Man darf die Schüler nicht einseitig ideologisch indoktrinieren und behaupten, man lehre ja nur Biologie. Die Evolutionstheorie bedient sich zwar einiger Daten aus der Naturwissenschaft, aber zum größten Teil weltanschaulicher oder ideologischer Positionen56: „… victoria cursus artis super naturam…“ (Sieg der Kunst über die Natur), wie Benedikt XVI. Francis Bacon zitiert.57 Aber zurück zu dem theologischen Prinzip: Gott weiß alles! „Die Zweckmäßigkeit und die Ordnung in der Natur bestreitet eigentlich 54 55 56 57 Vgl. I. M. THÜRKAUF, Der Weg des „neuen Menschen“ – von der biologischen Revolution zur Diktatur des Genderismus, in: Medizin und Ideologige 2/07, S. 28-35. Vgl. auch G. KUBY, Die Gender-Revolution – Relativismus in Aktion, Kisslegg 2006. Ebd. Siehe z. B. W. MIXA, Zwei Seiten der einen Wirklichkeit, in: Die Tagespost, Nr. 139, vom 20.11.2007, S. 6. BENEDIKT XVI., Spes Salvi, Enzyklika vom 30.11.2007, n. 16. 30 German Rovira niemand. ... Die Naturwissenschaften können nicht mit ihren eigenen Methoden und auf ihrem Feld die Spuren übernatürlichen göttlichen schöpferischen Eingreifens feststellen.“58 Und dieses schöpferische Eingreifen Gottes ist meines Wissens und – wenn ich nicht irre –, auch in der Sicht von Bischof Elio Esgreccia, dem vatikanischen Beauftragten für Bioethik59, und nach Auffassung von gläubigen Evolutionisten, zu fassen als intelligent design, das der gläubige Evolutionist als eine reale Hypothese annehmen kann, wenn nichts anderes bewiesen wird. Ohne diese Suppositio wäre die Evolution unrealistisch. Man hat unglücklicher Weise diese Hypothese mit dem so genannten Isolationismus verknüpft; denn „die in der Natur existierenden Ziel- oder Zweckursachen sind evident.“60 Leider werden Worte manchmal einseitig gebraucht und dementsprechend auch häufig missverstanden, z. B. das Wort Kreationismus. Eigentlich bezeichnet es die Schöpfung aus dem Nichts: dass nicht ein Big Bang am Anfang war und alles zufällig entstand, wie die Evolutionisten behaupten. Nein! Kreationismus besagt letztlich: Alles ist eine Schöpfung Gottes. Das wollen manche Kreationisten in dem engen Sinn verstehen, dass alles in sieben Tagen entstanden sei (Gen 1,1-31), wie uns die Bibel in bildhafter Sprache einfach und anschaulich vor Augen stellt. Diese Bilder wörtlich und buchstäblich zu verstehen, ist eine einseitige Interpretation. Ich persönlich halte die biblische Schöpfungsgeschichte für ein wunderbares Bild, sowohl die jahwistische Beschreibung (Gen 1,1-2,4a) wie die elohistische Erzählung (Gen 2,4b-23). Diese Bilder aber sagen uns nur: 58 59 60 RHONHEIMER, Neodarwinistische Evolutionstheorie, Intelligent Design und die Frage nach dem Schöpfer. Aus einem Schreiben an Kardinal Christoph Schönborn, «Imago Hominis» 14 (2007), S. 49. - Und ich zitiere hier ausdrücklich Prof. Rhonheimer gerade deswegen, weil er mit seiner Schrift beweisen will, dass das intelligent design eine unbrauchbare Fiktion ist. Ja, ich stimme zu, wenn es nicht die Evolution gäbe. In dem Sinne, wie gläubige Evolutionisten intelligent design verstehen, halte ich es für eine gute Hypothese. Ich richte mich nach den Worten von ERNST BORIS CHAIN (1906-1979), dem Nobelpreisträger von 1945: Der grundsätzliche Zweck eines (göttlichen) Designs oder einer Vorausplanung schaut auf den Biologen, egal wo dieser hinschaut. Die Wahrscheinlichkeit, dass etwas wie die DNA zufällig sei, ist zu gering, um eine solche Hypothese ernst zu nehmen. Siehe Kein Widerspruch, in: Die Tagespost, Nr. 46, vom 17.11.2007, S. 6. RHONHEIMER, ebd. S. 51. Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria 31 Gott hat alles erschaffen und sorgt für alles. Der eigentliche Kreationismus ist nicht mit dem Festhalten am Buchstaben des Bildes zu verwechseln. Halten wir fest: Das intelligent design ist eine Hypothese, welche die Evolutionstheorie zu retten vermag, ohne dass man an die Allmacht des Zufalls glaubt. Die Theorie, welche die Evolution im Sinne Gottes verstehen will, gebraucht dieses Wort wie auch den Begriff Selektion in anderer Bedeutung, eher so ähnlich, wie die Menschen ihn im Alltagsgebrauch verwenden. So ähnlich ist es mit dem Wort Mutation, das der Gläubige anders versteht und gebraucht als der Ungläubige – nicht nur, wenn es sich um Zellen handelt. Nun, aus diesem Grund wollen wir hier nicht von einer Evolution des Dogmas sprechen: Man könnte dann meinen, dass die Wahrheit sich im Laufe der Jahrhunderte zufällig ändert und der Mensch die Inhalte der Wahrheit selektiere oder sie sogar mutierten. Das Mysterium Marias Wie wir bereits gesehen haben, hilft uns das Beispiel der allerseligsten Jungfrau, den richtigen Weg zu gehen. In ihr vollendete Gott sein Werk (vgl. Mt 28,20). Über dieses Vollenden können wir jetzt weiter diskutieren: Was verfolgte Gott mit der Schöpfung? Vor allem scheint es sicher, dass die Schöpfung auf den Menschen zielte. Die Erschaffung der Engel, von der wir nur Andeutungen zur Verfügung haben, scheint sogar im Hinblick auf den Menschen, vor allem auf Jesus, von Gott gewollt zu sein (vgl. Hebr 1,4 ff.)61. Auf jeden Fall wissen wir vom Dienst der Engel, über ihre Existenz und ihr Wirken mehr als von ihrer Erschaffung, die Gott nicht ausführlich offenbart hat (vgl. z. B. Gen. 18/22/28; Ex 12 u. 19; Ps 2/91/96/148/; Tob 12; Jes 6; Dan 9).62 Zum Dienst der Engel: Sie dienten Jesus und auch Maria, der Mutter Gottes. So versteht man, warum der Engel Gabriel zu Maria gesandt wurde, um ihre Zustimmung einzuholen, von der die Menschwerdung Gottes abhing (Lk 1,26-38), oder warum Engel nach der Geburt Jesu bei den Hirten sangen: „Verherrlicht ist Gott in der Höhe und auf Erden ist 61 62 Vgl. A. D. SERTILLANGES, Die Schöpfung, in: Katholische Glaubenswelt I., Freiburg 1961, S. 489-501. Über die Engel vgl. P. BENOIST D’AZY, Die Engel, in: Katholische Glaubenswelt I. , S. 524-553. 32 German Rovira Friede bei den Menschen seiner Gnade.“ (Lk 2, 14); denn nur bei diesen kann die Gnade Gottes Frucht bringen. In der ganzen Heiligen Schrift sind die Engel die Vertrauten Gottes als Gesandte zu den Menschen. An vielen Stellen im Alten Testament denkt man unwillkürlich an Gott, wenn von der Erscheinung eines Engels vor einem Menschen die Rede ist. Und man sieht sogar – im Licht der Offenbarung der Dreieinigkeit – die Trinität, als drei Engel zu Abraham kommen und in der Einzahl zu ihm reden (Gen 18, 1-16). Nun, die Engel sind Begleiter des menschgewordenen Gottes (vgl. z. B. Mt 4,11; Mk 1,13; Lk 22,43) und – wie gesagt – der Menschen, besonders Marias. Seit dem Konzil von Ephesus (431) hält die Christenheit fest an der göttlichen Mutterschaft Marias, einer Lehre, an die schon die Apostel glaubten, wie auch an ihre Jungfräulichkeit, wie Ignatius von Antiochien uns bereits überliefert.63 Gleichzeitig wird Maria als unsere Fürsprecherin von den Christen angerufen, weil sie die Mutter unseres erlösenden Gottes ist.64 Auch der Glaube daran, dass Gott uns in allem gleich geworden ist und deswegen die Mutter des Herrn die neue Eva ist65, stützte den Gedanken: Maria ist in der neuen Schöpfung die Mutter der Erlösten.66 Das ist das Fundament der Anrufung Marias als unsere Fürsprecherin. Von diesem Gedanken aus entwickelte sich die Überzeugung, dass sie uns liebt und für uns sorgt wie eine Mutter. So sehen wir, wie die Entfaltung des Glaubens weiter geht: Der gläubige Mensch erkennt in Maria ein Zwischenglied, das uns mit Jesus verbindet, der Gott ist. Er nennt Maria „Mittlerin aller Gnaden“, „Miterlöserin“, „Mutter der Kirche“. Das ist noch nicht feierlich dogmatisiert, aber es ist fester Glaube der Kirche. Menschen, die dies noch nicht mit vollziehen können, sind deswegen nicht schon bösen Willens oder gar ungläubig. Die Kirche, und das sind alle Gläubigen, muss noch viel beten und im Gebet um diese Wahrheiten ringen, bis der Tag kommt, 63 64 65 66 Siehe PG 5,650/659/682, etc. Siehe das Büchlein von J. AUER, Unter deinen Schutz und Schirm – Das älteste Mariengebet der Kirche, Leutersdorf 2004. JUSTIN, PG 6,710-714; und IRENÄUS, PG 7,938/954-956/958, etc.; CYRILLUS ALEXANDRINUS, Commentarii in Lucam 2, in: S. ALVAREZ CAMPOS, Corpus Marianium Patristicum IV,1, nn. 3239-3240, Burgos 1976. B. AMBROSIUS, PL 16, 750-755; AURELIUS PRUDENTIUS, 59, 890/894-895; IULIANUS VON TOLEDO, Mariam patronuam esse hominum, in: S. ALVAREZ CAMPOS, o. z., VI, Burgos 1981, n. 7188. Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria 33 an dem das Lehramt der Kirche sie vielleicht zu verbindlichen Glaubenssätzen erklärt, die wir im Glauben annehmen sollen. PAX CHRISTI Werden, Wesen und Wirken Marthe-Marie Dortel-Claudot Zum 60. Jubiläum der PAX-CHRISTI-BEWEGUNG bringen wir an dieser Stelle den Text einer Rede von Mme. Marthe-Marie Dortel-Claudot anläßlich der ersten Internationalen Arbeitstagung der „Pax Christi" in KEVELAER Anfang April 1948 (Anmerkung des Herausgebers) Die erste Pflicht, die mir obliegt, ist angenehm: zu danken und zu grüßen! Dank sei zunächst dem lieben Gott und der allerheiligsten Jungfrau. Als PAX CHRISTI in die Welt trat, hatten wir, menschlich gesehen, alles gegen uns. An dieser Stelle, wo wir uns jetzt befinden, tobten noch vor drei Jahren die Schrecknisse des Krieges, der unheimliche Lärm der Geschütze. Wir selbst, die wir uns heute die Hand reichen, wir standen uns feindselig, verbittert und vielleicht voller Hass gegenüber, der eine das Opfer des anderen. Und nun ist die Gnade vorübergegangen. Wir sind hier brüderlich vereint unter dem Auge Gottes, unter dem Lächeln der Mutter. Am Sonntag wird ein französischer Bischof den Kindern vom Rhein zum ersten Mal das Brot des Lebens reichen. Gott bedient sich der Menschen als Werkzeuge. Daher müssen wir auch denen danken, die Gottes Werkzeuge waren und zuallererst S.°Em. Kardinal Saliège, welcher die Initiative zu PAX CHRISTI ergriffen hat und seither ihr Schutzherr ist, S.°Exz. Bischof Théas, unserm zielbewussten Leiter, dem gesamten französischen Episkopat, welches uns so hochherzig anerkannt hat, der Hierarchie in den anderen Ländern und ganz besonders S.°Em. Kardinal Griffin von Westminster. Was soll ich sagen über die Aufnahme seitens der deutschen kirchlichen Obrigkeit? Gestatten Sie mir, dass ich zunächst in Ehrfurcht die Erinnerung an zwei große Dahingeschiedene wachrufe: an S.°Em. Kardinal von Galen, der allzu plötzlich von uns hinweggenommen wurde, im Augenblick, wo er von unserer Bewegung Kenntnis erhielt, und an S.°Exz. Bischof Gröber, der als erster uns seine Zustimmung übermittelte, uns in 36 Marthe-Marie Dortel-Claudot Deutschland einführte und sich von Herzen darauf freute, den deutschen Pilgerzug nach Lourdes führen zu dürfen, nach jenem Lourdes, das er, wie er uns schrieb, nur einmal in seinem Leben, vor seiner Priesterweihe, besucht hatte. Die Wahrheit fordert von mir, dass ich hier eine Klammer aufmache, um meine Dankbarkeit jener gegenüber auszusprechen, die die ersten Verbindungen mit Erzbischof Gröber anknüpfte und so zum bescheidenen Grundstein des deutschen Zweiges von PAX CHRISTI wurde, unserer Hauptschatzmeisterin, Mlle. Putois. Unter den lebenden Mitgliedern der deutschen Bischofskonferenz in Fulda getraue ich mich kaum, Namen zu nennen; es sind ihrer zu viele, die uns ihr Wohlwollen bewiesen, die uns unterstützt und ermutigt haben, sei es S.°Em. Kardinal Frings, oder S.°Em. Kardinal von Preysing, Bischof Keller, Erzbischof Bornewasser oder Bischof van der Velden, der uns noch gestern mit so viel brüderlicher Liebe in seinem gastlichen Hause empfangen hat! Und ich würde es als schnöden Undank betrachten, schweigend über die deutschen leitenden Kräfte von PAX CHRISTI hinwegzugehen und nicht wenigstens einige von ihnen zu erwähnen: Egon Formans, welcher uns die Verdienste eines jahrelangen Martyriums bringt, Pfarrer Hinz, Pater Konstantin Fuchs, Heinrich Heinen und – last, but not least – unser Freund Joseph Probst, der alte Kampfgenosse von Marc Sangnier, der Pilger von Bierville. Und wenn ich so viele Namen noch zu nennen hätte in meiner Dankbarkeit, und zwar Namen aus den verschiedensten Gebieten, so kommt das daher, dass derselbe Geist uns alle beseelt: der Geist der PAX CHRISTI, der Geist des Christentums. Hier gibt es weder Freunde noch Feinde, weder Verbündete noch Gegner, weder Besatzung noch Besetzte, weder Franzosen noch Deutsche, Belgier oder Holländer. Hier sind wir alle Christen, Katholiken, Brüder, Glieder des geheimnisvollen Leibes Christi, alle berufen zur göttlichen Anschauung in der Ewigkeit, alle genährt aus derselben Eucharistie, alle Kinder derselben Mutter, der Jungfrau, alle Glieder derselben Kirche, unterstellt demselben Heiligen Vater, in der Gemeinschaft derselben Dogmen, desselben Glaubens, derselben Hoffnung und derselben Liebe. Und nun erwarten Sie von mir, liebe deutsche Freunde von PAX CHRISTI, dass ich Ihnen zunächst einiges über das Entstehen von PAX CHRISTI sage, um dann zu Ihnen von unserer Zukunft zu sprechen. Pax-Christ – Werden. Wesen und Wirken 37 PAX CHRISTI wurde mitten im Kriege gegründet, als in Frankreich das Gebiet noch nicht vollständig befreit war, als unsere Kriegsgefangenen und Verschleppten noch in den Lagern schmachteten. Wir waren zu Beginn nicht zahlreich: etwa 10 höchstens, alles Laien, alle entstammend aus den Reihen dessen, was wir in Frankreich mit Résistance bezeichnen, d. h. jene Franzosen, die auf einem schmerzlichen, mit den Gräbern ihrer Toten, ihrer Erschossenen bezeichneten Wege versuchten, sich aufzulehnen, nicht so sehr gegen Deutschland, als gegen den nazistischen Materialismus, jenen Irrtum, den Pius XI. verurteilt hatte, und den Kardinal Saliège als „die größte Gefahr für das Christentum seit dessen Gründung" bezeichnete. Im Verlaufe dieses unseres Kampfes gegen den Nazismus hatten wir Gelegenheit, festzustellen, welche gewaltigen Schäden diese Irrlehre in der Seele so vieler Ihrer Landsleute angerichtet hatte, und wir ahnten auch, wie viel Sie gelitten haben, deutsche Katholiken, unter der nazistischen Unterdrückung; wir wollten Ihnen in Ihrem heldenmütigen Kampfe die einzige uns zur Verfügung stehende Hilfe bringen, die auch die wirksamste ist: das Gebet. Wir hatten auch Gelegenheit, durch die Schrecknisse des Kampfes hindurch uns der Einheit unseres Katholizismus und der Katholizität der Kirche bewusst zu werden. Sahen wir nicht den französischen Marineoffizier d'Esteinne d'Arves, den ersten Hingerichteten aus der Widerstandsbewegung, einen seiner Matrosen, einen protestantischen Holländer, der gekommen war, um sein Leben für dieselbe Sache der Freiheit aufzuopfern, zu seinem Glauben bekehren; und wie dieser Konvertit getauft und in die Kirche aufgenommen wurde, einige Augenblicke, bevor die nazistischen Kugeln ihn niederstreckten, durch den deutschen Gefängnisgeistlichen, den inzwischen gestorbenen Abbé Stock, dessen Angedenken ich mich glücklich schätze, hier ehren zu dürfen, denn er war wirklich in dem vollen Sinne des Wortes die Verkörperung der Liebe Christi. Das neu ins Leben getretene Werk entfaltete sich prompt. Msgr. Théas übernahm ohne Zögern dessen Leitung, Kardinal Saliège die Schutzherrschaft. Anmeldungen von Priestern, von Ordensleuten, von Gemeinschaften, von Laien erfolgten in großer Zahl. Die Zustimmungen der Hierarchie vermehrten sich. Es kam Zuwachs von jenseits der Grenzen. Nationale Zweige bildeten sich. Aus Deutschland kam ebenfalls ein frohes Echo, und sie können heute die herrliche Entfaltung unserer Bewegung in 38 Marthe-Marie Dortel-Claudot Ihrem Lande beurteilen. Bald erhielten wir auch die für uns wertvollste Unterstützung: den Segen des Heiligen Vaters. Welches sind nun heute unsere Ziele? 1. Den katholischen Glauben in den einzelnen Völkern immer weiter zu verbreiten. Und hier möchte ich in einem Lande, in welchem unsere getrennten Brüder sehr zahlreich sind, zur Genauigkeit feststellen, dass wir eine ausgesprochen katholische Bewegung sind, aber dass wir keineswegs aus unserem Gebet unsere Brüder der anderen christlichen Konfessionen ausschließen. Wir betonen insbesondere jenes wesentliche Element der katholischen Frömmigkeit, die Marienverehrung. Unser tägliches Gebet geht durch die Hände Mariens und daher rufen wir Sie auf, in Lourdes für den Frieden zu beten. 2. Neben diesen ersten Zweck unseres Gebetes stellen wir die Vertiefung des geistigen Wohlergehens der Völker. Jeder von uns betet für die anderen Völker. Für den Frieden zu beten, ist zu leicht, da braucht jeder nur der Neigung seines eigenen Herzens zu folgen. Gibt es Menschen, die keinen Frieden wünschen? Aber für eine fremde Nation zu beten, als Ziel sich eine Nation aussuchen, von welcher uns Vorurteile, Unwissenheit und vielleicht ein geheimer Groll trennen, ist ungleich verdienstreicher, erzieherischer und aufbauend im Sinne der Liebe und des Friedens. „Beten wir füreinander", nach der schönen Devise von Therese Neumann, wir Franzosen für Euch Deutsche, Ihr Deutsche für uns Franzosen. 3. Und daraus ergibt sich ganz von selbst unsere dritte Zielsetzung: der Völkerfrieden. Und hier möchte ich betonen, dass, obschon wir äußerst eifersüchtig auf die Bewahrung unserer Unabhängigkeit und unserer Selbstständigkeit bedacht sind, wir doch für die verschiedenen Bestrebungen und für die einzelnen Friedensbewegungen, seien sie konfessioneller oder überkonfessioneller Art, zum Zwecke der gegenseitigen Fühlungnahme und Unterrichtung in unserer Zeitschrift eine neue Spalte „Säleute des Friedens" eröffnet haben, in welcher wir Darlegungen über solche Bestrebungen veröffentlichen werden. Welches sind nun die Mittel, die PAX CHRISTI zur Erreichung dieser Ziele vorschlägt? Zunächst, seinem innersten Wesen entsprechend, das Gebet. Wir sind vor allem eine geistige Bewegung. Zunächst also das persönliche Gebet in Form des täglichen marianischen Gebetes und das von unsern Anhängern verlangte tägliche Opfer. Dann aber auch das gemeinsame Gebet, durch die Veranstaltung von Einkehrtagen, von Pfarrtagen, Diözesantagungen, auch von Wallfahrten: wir haben zwei jährlich Pax-Christ – Werden. Wesen und Wirken 39 vorgesehen, die eine jedes Jahr in der Osterzeit, jeweils in einem anderen Lande, dieses Jahr in Kevelaer, im Jahre 1949 hoffen wir nach England zu gehen, um den englischen Katholiken behilflich zu sein, die alten MutterGottes-Wallfahrten, die seit Jahrhunderten ruhen, wieder aufzubauen, im Jahre 1950 wird wohl Frankreich unser Ziel sein, anschließend vielleicht die Schweiz – nachher: Fatima – Tschenstochau…Warum nicht? Die Sommerwallfahrt wird uns jedes Jahr nach Lourdes führen, mit Ausnahme der Heiligen Jahre, in welchen wir nach Rom gehen, wie z. B. 1950. Beten ist das Wesentliche. Zur Förderung unseres Gebetseifers muss jedoch unser Gedankengut verbreitet, unser Geist unter die Völker getragen werden. Dies geschieht durch Versammlungen und Tagungen. Und da möchte ich Ihnen als Beispiele aus unserem diesjährigen Tagungskalender aus Paris folgende Einzelheiten nennen: am 15. Februar Vortrag des Herrn Tolédano, dann an sechs aufeinander folgenden Donnerstagen eine Vortragsserie des Herrn de Lapradelle, am 15. April folgt die große Tagung für den geistigen Wiederaufbau in Europa unter dem Präsidium des Herrn Kardinals Saliège, zu welcher auch ihr deutscher Landsmann Romano Guardini eingeladen wurde, anschließend Veranstaltungen für die Jünger des hl. Franz, Vorträge in der italienischen Mission usw. Diese Versammlungstätigkeit kann nicht die ganze Allgemeinheit erreichen; daher haben wir unsere Zeitschrift gegründet. Wir möchten sie in möglichst vielen Sprachen verbreiten, mit ihren verschiedenen Spalten: Die Päpste und der Frieden: Widerhall zu den päpstlichen Friedensgrundsätzen – Christenheit: Nachrichten aus den einzelnen katholischen Ländern, so ähnlich wie die ersten Christengemeinden ihre Briefe austauschten – Säleute des Friedens: wovon ich soeben sprach – unser Kreuzzug: mit Nachrichten aus der Bewegung. Und dann kommt unsere Tätigkeit in der Presse. In Frankreich und in Deutschland haben große Tageszeitungen und kleine religiöse Pfarrblätter und Zeitschriften von uns gesprochen, ebenso in Kanada, in England, in den USA, in der Schweiz. Auch in Büchern wurde bereits eingehend über unsere Tätigkeit berichtet, so z. B. im „Leben des Paters de Jabrun" von Pater Bessières. Das Wertvollste jedoch, um eine Atmosphäre brüderlicher Liebe zu schaffen, so wie sie uns als Ziel vor Augen steht, bleibt das persönliche Beispiel und die Einzelwerbung. Um unsern Freunden für diese Arbeit die nötige Ausrüstung zu geben, haben wir im Laufe unserer Wallfahrten und Tagungen Arbeitskreise vorgesehen. 40 Marthe-Marie Dortel-Claudot Einer unserer Dichter schrieb: La foi qui n'agit pas est-ce une foi sincère? Ist der Glaube, der nicht handelt, ein wahrer Glaube? Dürfen wir uns der praktischen Tätigkeit entziehen? Gewiss nicht! Und darum wollen wir die Gelegenheiten zu internationalen Treffen vermehren und fördern mit dem Ziele, uns näher zu kommen und Schranken und Vorteile abzubauen. Wir werden den Auslandsbriefwechsel und Schüleraustausch begünstigen. In diesem Zusammenhang darf ich auf den Lieblingsplan von Bischof Théas hinweisen, bezüglich des Austausches von Priesterkandidaten, dahingehend, dass die Seminaristen eines Volkes längere Zeit in einem Priesterseminar des Auslandes verbringen. In unseren Ordensgesellschaften ist dieser Gedanke schon weitgehend verwirklicht und darauf scheint es auch zurückzuführen zu sein, dass die Ordensleute den internationalen Fragen weit zugänglicher sind als der Weltklerus. Andererseits werden wir verwandte Bewegungen und Werke unterstützen, in erster Linie die der katholischen Aktion angeschlossenen. So betrachten wir es als unsere Ehre, dienen zu dürfen. Wir möchten in keinem Falle zur abgetrennten Sekte werden. Wir haben nie einen Augenblick gezögert, wenn es galt, unter Umständen einen Einkehrtag ausfallen zu lassen und unsere Freunde zu einer Veranstaltung und Unterstützung einer ähnlich gerichteten Bestrebung zu ermuntern. Wir unterstützen auch nichtkatholische Bewegungen. Unsere Spalte „Säleute des Friedens" ist allen geöffnet. Wir arbeiten zusammen mit der „Vereinigung zur Verteidigung der Religionsfreiheit", mit den „Vereinigten Staaten der Welt" usw. Und daraus mögen Sie genau erkennen, wes Geistes Kind wir sind und wo die Zusammenarbeit mit anderen begrenzt ist: Wir wollen dienen, dienen bis zur Grenze des Erträglichen, wir wollen mit den anderen gemeinsam gehen, soweit es möglich ist, ohne im geringsten etwas von unserer katholischen Überzeugung aufzugeben. Neben diesen Dingen ist Raum und Notwendigkeit für eine spezifisch in der Zeitlichkeit, auf der praktischen Ebene und sogar im politischen Gebiet sich entfaltende Tätigkeit. PAX CHRISTI als wesenhaft geistige Bewegung muss sich diese Arbeit versagen. Da wir jedoch deren Dringlichkeit anerkennen, haben wir die Bildung einer besonderen Einrichtung hierfür sehr begrüßt, nämlich die katholische Internatonale Friedenszentrale, über welche hier der Generalsekretär derselben berichten wird. Pax-Christ – Werden. Wesen und Wirken 41 Und nun gestatten Sie mir noch einen kurzen Hinweis auf die Anregungen des internationalen Komitees hinsichtlich des deutschen Zweiges. Weiterführung der begonnenen Arbeit für die Werbung und Durchführung der Wallfahrten. Die herrlichen Erlebnisse von Kevelaer, die durch die Herren Pesch, Ehlen und Heinen erzielt wurden, beweisen, dass diese Arbeit in jeder Weise richtig aufgezogen wurde. Durchführung der sofortigen Herausgabe der deutschen Zeitschrift. Zusammenarbeit beim kommenden Aufbau der katholischen Aktion, für welche PAX CHRISTI zur Verfügung der Hierarchie stehen muss. Durchführung von Einkehrtagen in den Pfarreien und Diözesen, sittliche und geistige Hilfestellung in weitestgehender Weise gegenüber den schwer heimgesuchten deutschen Katholiken. Und nun liebe deutsche Freunde, Glückauf zur weiteren Arbeit als Fortsetzung des herrlichen wuchtigen Erlebnisses von Kevelaer: Schenken Sie unserer PAX-CHRISTI-Bewegung auch in Zukunft Ihre ganze Arbeit und – besonders – ihr ganzes Gebet! Das Referat von Mme. Marthe-Marie Dortel-Claudot wurde entnommen: Der Weg in den Frieden. Erste Internationale Arbeitstagung der „Pax Christi“, Kevelaer, 1. bis 4. April 1948. Geschehnis und Gehalt. Herausgegeben im Auftrage der „Pax Christi“, deutscher Zweig, von Hans Heinz Molls, Köln (Verlag J.P. Bachem) 1948; Redaktion: Dr. Franz Norbert Otterbeck VORTRÄGE AUF DER TAGUNG DES IMAK 2008 Die Heilige Familie als Vorbild der christlichen Familien German Rovira Wenn wir klären wollen, inwiefern die Heilige Familie Vorbild für die christliche Familie sein kann, sind einige Voraussetzungen zu erläutern: Es gibt einen Unterschied zwischen dem Feststehenden, dem Unveränderlichen, dem Ewigen, das wir das göttliche Gesetz nennen, und dem Naturgesetz, das ein Abbild des göttlichen Rechtes ist, wonach wir uns immer richten sollen. Davon unterscheiden sich die menschlichen Gesetze, die sich nach dem Naturgesetz richten sollten; aber häufig sind sie den Umständen und der Entwicklung der gesellschaftlichen Ordnung unterworfen. Eigentlich sollten die menschlichen Gesetze der naturgesetzlichen Ordnung nicht widersprechen, wie es schon von den Heiden selbst erkannt wurde: „Das wahre Gesetz ist gewiss die richtige, mit der Natur im Einklang stehende Ordnung, die über alle ausgebreitet, unwandelbar und ewig ist ... Diesem Gesetz etwas von seiner Gültigkeit zu nehmen, ist ein Frevel.“1 Der Unterschied zwischen den beiden Ordnungen ist, dass das göttliche Gesetz, das sich in dem Naturgesetz wieder finden soll, die „Unveränderlichkeit und die Vollkommenheit der göttlichen Vernunft, welche die Schöpferin der Natur ist“, ausdrückt – ex immobilitate et perfectionis divinae rationis instituentis naturam. Das andere Gesetz, das von den Menschen gemachte, das menschliches Gesetz genannt wird oder das man besser als politisches Gesetz bezeichnen sollte, ist „den Menschen und den Zeiten und 1 CICERO, De republica 3,33; siehe W. WALDSTEIN, Das Naturrecht und die Rechtsentwicklung Europas, in: Die Tagespost, Nr. 21, von 16.02.08, S. 13. 44 German Rovira anderen zeitlichen Bedingungen unterworfen“ – pro hominum ac temporum variis conditionibus .2 Unter solchen Voraussetzungen muss man fragen: Was bedeutet das für die Ehe? Die eheliche Bindung zwischen Christen wurde von Christus zu einem sakralen Akt, zu einem Zeichen des Heiles und der göttlichen Gnade, zum Sakrament der Ehe erhoben; er selbst hat diese Einrichtung der kirchlichen Ordnung unterworfen, wenn auch, und das ist der Wille Gottes, die Eheleute sich der menschlich-politischen Ordnung unterwerfen können, vorausgesetzt, dass diese Ordnung dem Wesen der Ehe nicht widerspricht und das göttliche Gesetz anerkannt wird: denn die Eheleute geben dem Kaiser (heute dem Staat), „was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gottes gehört.“ (Mt 22,21) Die Ehe als menschliche, natürliche Institution, die von Gott geschaffen und von Christus zum Sakrament erhoben wurde, kann und soll sich den Gewohnheiten jeder Kultur, jedes Landes und jeder Zeit anpassen, solange diese mit den Geboten Gottes nicht in Widerspruch stehen. Auch die Eigenschaften der Ehe können variieren, je nach den Sitten der Völker oder den Charakteren der Personen, die eine Familie bilden.3 Die maßgebliche Enzyklika über die Ehe, Casti connubii, anerkennt die Variabilität der Gesetzgebung je nach den Umständen des Landes. Diese darf aber nicht mit dem Naturgesetz bezüglich der Ehe in Widerspruch stehen: „Nicht von Menschen ist die Ehe eingesetzt und wiederhergestellt worden, sondern von Gott. Nicht von Menschen, sondern vom Urheber der Natur selbst, von Gott, und vom Wiederhersteller der Natur, Christus dem Herrn, ist sie durch Gesetze gesichert, ist sie gefestigt und erhoben worden. Diese Gesetze können also in keiner Weise dem Gutdünken von Menschen, keiner entgegengesetzten Vereinbarung, auch der Gatten nicht ...“4 beliebig verfügbar sein. In der Ehe und in der Familie gibt es zwei schon erwähnte Eigenschaften: das sind die Unveränderlichkeit und die Eigentümlichkeit eines jeden Mitglieds. Trotz dieser möglichen Unterschiede zwischen den Eheleuten – Verschiedenheit in den Gewohnheiten, weil sie aus zwei unter2 3 4 THOMAS VON AQUIN, Summa theologica I, 2, 97, 1 c. Siehe J. Höffner, Ehe und Familie, Münster 1959, S. 10 und 45-47. PIUS XI., Casti connubii, Rundschreiben vom 31. 12. 1930; in: A. ROHRBASSER, Heilslehre der Kirche, Freiburg 1953, S.1044-1100; n.1641. Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie 45 schiedlichen Familien stammen, und beispielsweise von Temperament oder Charakter –, haben sie die Pflicht übernommen, einander das ganze Leben lang, bis der Tod sie scheidet, treu zu sein; denn „der Ehebund, durch den der Mann und die Frau die Gemeinschaft des ganzen Lebens begründen, welche durch ihre natürliche Eigenart auf das Wohl der Ehegatten und auf die Zeugung und die Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet ist, wurde zwischen Getauften von Christus dem Herrn zur Würde eines Sakramentes erhoben.“5 Es handelt sich also um eine Gemeinschaft für das Leben aus reiner Liebe, die von Gott kommt. Denn, wenn die Verliebtheit aufhört, wie es häufig geschieht, nachdem man geheiratet hat, soll man auf die Liebe bauen, die von Gott gefördert wird, sofern man betet und menschlich guten Willen hat. So erreicht man ein Zuhause, in dem sich jeder sicher und fähig fühlt, die weiteren Tugenden zu erwerben, die in jeder Familie nötig sind, um die Einheit des gemeinsamen Tisches, der Güter und des Vertrauens untereinander6 zu leben. Es sind Dreiheiten, welche die Einheit in der Liebe darstellen und gleichzeitig vermehren; sie sind wie göttliche Spuren im Sakrament der Ehe. Ramon Llull fand hierin ein Diagramm Gottes, das sich in den Liebenden, dem Geliebten und der Liebe 7 äußert. In Jesus und durch die Taufe gehören alle Christen zur Familie Gottes, zur Kirche. Johannes Paul II. hat ganz konkrete Ratschläge gemacht und gleichzeitig Forderungen benannt: auf Eigentümlichkeiten eines jeden Mitglieds der Familie zu achten, wenn die Liebe in der Familie wachsen soll.8 Das Haus einer Familie nennt das Konzil ecclesia domestica, Hauskirche. Sie ist die Wiege der Kirche oder, wie Leo XIII. sie nannte, die Urzelle 5 6 7 8 CIC 1055. Siehe z. B. J. HÖFFNER, o. z., S. 59-71. R. LLULL, Libro del amigo y el amado, Barcelona 1993, S. 77. Vgl. z. B. Familiaris consortium, vom 21.11.1981; Charta der Familienrechte, vom 22.10.1983; Brief an die Familie, vom 2.2.1994; Mulieris Dignitatem, vom 15.8.1988; Brief an die Frauen, vom 29.6.1995, etc. Zu beachten sind mehrere Instruktionen der Glaubenskongregation wie Erklärung zu Fragen der Sexualität, vom 29.12.1975; Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung, vom 10.3.1983 und die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt, vom 31.7.2004, um nur diese Beispiele zu zitieren. 46 German Rovira oder Stammzelle der Kirche und der Gesellschaft.9 Paul VI. nennt sie bei seinem Besuch im Haus der Heiligen Familie in Nazareth die „Schule des Evangeliums“10; und Johannes Paul II. betete an diesem Ort, wo Jesus heranwuchs und zunahm „an Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und den Menschen“ (Lk 2,52): „Alle christlichen Familien sollen auf dieses Beispiel schauen, um so die Schwierigkeiten und Gefahren zu überwinden, die heute die Natur, die Festigkeit und die Aufgaben der Familien bedrohen.“11 Liebe als Gebot des Herrn ist eine Haltung, die bestimmte Pflichten auferlegt, aus denen Rechte entstehen12: Sie ist eine Tugend! Sie ist auf Grundbedingungen gestellt, die man beachten soll, um wahrhaftig von Liebe sprechen zu können. Die „Liebe (ist) ein Widerhall der Wirklichkeit Gottes.“13 Christoph West sagt das Gleiche, indem er eine Frage stellt: „Ist dieser Akt wirklich ein Abbild von Gottes freier, uneingeschränkter, fruchtbringender Liebe oder nicht? Wenn nicht, dann ist sie eine falsche Liebe.“14 Irgendwo habe ich einen Spruch von Otto Falke gelesen, der diese Liebespflicht wunderbar ausdrückt: „Liebe ist der Entschluss, das Ganze eines Menschen zu bejahen, die Einzelheiten mögen sein, wie sie wollen.“ Ähnliches sagt Josef Pieper in seiner Abhandlung über die Liebe, Leibniz zitierend: „Liebe heißt, sich freuen über das Glück des Anderen.“15 Das ist es, was man in der wahren irdischen Liebe beachten muss. Immer wieder sollen wir das Gebot des Herrn über die Liebe hören und es betrachten: „Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“ (Joh 13,34) Dieses neue Gebot ist das Licht Gottes, das 9 10 11 12 13 14 15 Vgl. Breve Neminem fugit, vom 14.6.1982, AAS XXV (1892-1893) 8 ff. und die Enzyklika Quamquam pluries, vom 15.8.1889, ASS XXII (1889-1890) 64 ff. Ansprache vom 5.1.1964. Ansprache bei der hl. Messe in Nazareth am 25.3.2000. Vgl. J. MESSNER, Das Naturrecht, Innsbruck 1966, S. 77 f. D. SCHWADERLAPP, Für immer Ja – Ein Kurs in Sachen Liebe, München 2007, S. 64; siehe vom gleichen Verfasser Erfüllung durch Hingabe – Die Ehe in ihrer personalistischen, sakramentalen und ethischen Dimension nach Lehre und Verkündigung Karol Wojtylas / Johannes Paul II., St. Ottilien 2002. CHRISTOPHER WEST, Theologie des Leibes für Anfänger – Einführung in die sexuelle Revolution nach Papst Johannes Paul II., Kisslegg 2005, S. 118. Amare sive diligere est felicitas alterius delectari: Opera omnia, Band IV (3. Auflage L. Dutens), 295: in J. PIEPER, Über die Liebe, München 1972, c. VI, § 5. Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie 47 uns ermöglicht, nicht in der Finsternis zu leben: „Wer seinen Bruder (das heißt seinen Mitmenschen) liebt, bleibt im Licht.“ (1 Joh 2,10) Die Liebe, die einigt und erleuchtet Als Thomas den Herrn nach dem Weg fragt, den wir gehen sollen, antwortet Jesus: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ (Joh 14, 6) Es klingt wie eine dreifaltige Antwort: Der Vater hat uns geschaffen und uns durch seine Gebote den Weg gezeigt; durch sein Wort, welches die Wahrheit ist, offenbart er, was wir brauchen, um seinen Willen zu tun; und der Heilige Geist, der der Lebensspender ist, wird uns – wenn wir es wollen – das ewige Leben schenken. Dies hat die Dreifaltigkeit auf Erden16, die Heilige Familie, gezeigt: dass die göttliche Dreieinigkeit alles durch die ewige Liebe zur Vollendung führt, wenn die Menschen es zulassen und den Weg der Hingabe und eines authentischen Lebens in Christus in Wahrheit gehen. Die Heilige Familie vermittelt uns durch ihre Fürsprache dieses wahre Leben. So sollen wir uns an sie wenden und die Namen: Jesus, Maria und Josef immer als ein Stoßgebet wiederholen, wie wir ja auch oft am Tage sagen: Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes oder Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geist. Wir sollen diese Haltung der Heiligen Familie nachahmen und durch unser Leben, durch die Erfüllung des Auftrages Gottes, durch unsere Berufung unseren Mitmenschen den Weg zeigen; durch die Wahrhaftigkeit und durch das Apostolat den anderen die Wahrheit, die sie heilen kann, vermitteln. Durch unser universales Gebet, nicht nur für unsere Anliegen, sondern auch in den geistlichen und materiellen Bedürfnissen unserer Mitmenschen sollen wir den Herrn bitten. Auf diese Weise sind wir gleichsam Christus und ahmen das Leben Jesu in der Heiligen Familie nach. Denn das Wort, welches das Licht war (Joh 1,4-5), kam zu den Menschen (Mt 1,18-25 und Lk 2,4-52) und wirkte für die Menschen durch das einfache Leben eines Kindes. Es war sein Licht, das wahrhaftig Maria erleuchtete, sowohl bei der Verkündigung als auch bei der Geburt ihres 16 Der Ausdruck geht auf Pierre d'Ailly, Jean Gerson und Bernhardin von Siena zurück. Heute pflegt man von der Heiligen Familie zu sagen, sie sei die Ikone der göttlichen Dreieinigkeit. 48 German Rovira Sohnes, unseres Herrn. Maria war Trägerin dieses Lichtes, wie die byzantinische Liturgie singt, und sie gab es uns.17 Der hl. German von Konstantinopel unterstreicht das Wirken des Heiligen Geistes: „Wenn Du uns nicht den Weg zeigst, wir könnten nicht Gott anbeten und der Mensch wird nicht geistlich, wie Du, Gottesmutter. Du warst die Wohnung des Heiligen Geistes. Niemand kennt Gott wie Du, Allerheiligste (Panhagia)!“18 Dieses Licht ist daher eng verknüpft – um nicht zu sagen eins – mit dem Leben und der Wahrheit; das Wort (Joh 1,1-14) ist das Licht Christi. Es ist aber auch und deswegen eins mit der Liebe (1 Joh 1,7-11). Deshalb kann man das Leben eines Christen ein Leben nennen, das erleuchtet ist durch die Liebe, das den Mitmenschen das Licht entzündet, das sie brauchen, um den Weg zu gehen (Joh 14,5). Wir haben viele tausend Bücher, die über die Liebe Auskunft geben. Dennoch gibt es kein besseres Buch als das Beispiel, wie oft gesagt wird. „Die Liebe will gelernt sein. ... In dieser Schule der Liebe sind wir gegenseitig Schüler und Lehrer. ... (Und) die Schule der Liebe setzt sich weiter fort im Freundeskreis, im Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz – wo auch immer wir leben und Menschen begegnen. ... Die beste Pädagogik ist hier die eigene Lebenspraxis. Der beste Lehrer in Sachen Liebe ist der, der Liebe vorlebt. ... Und an dieser Stelle sollen wir nicht vergessen, wer unser gemeinsamer Lehrer der Liebe ist: Jesus Christus, der Gottessohn. ... Er zeigt uns nicht nur, was die Liebe bedeutet, er alleine befähigt uns auch, Liebe zu üben.“19 Wir brauchen es nicht zu wiederholen: Diese Schule war für den Sohn Gottes, als er Fleisch angenommen hat und unter uns leben wollte, die Heilige Familie, die Dreifaltigkeit auf Erden. Hier war Jesus Schüler und Lehrer: Er übernahm von Maria und Josef die Sprache der Menschen, auch die Sprache, die nicht mit Worten ausgedrückt und trotzdem von den Menschen verstanden wird: das Lächeln z. B. und menschliche Gebärden. Und er gab den Menschen unbemerkt und sakramental die göttliche Liebe, die er selbst war. 17 18 19 Siehe EPIFANIO EL MONJE, Vida de Maria, Madrid 1990, S. 51, Note 48. Homilie zur Entschlafung, PG 98, 349. D. SCHWADERLAPP, Für immer Ja – Ein Kurs in Sachen Liebe, München 2007, S. 85-87. Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie 49 Aber er erlernte auch von Josef und von seiner Mutter das Arbeiten: Er lernte seine Pflichten zu erfüllen, auch wenn er müde war, um so den anderen die Freude nicht zu verderben. Ja, er lernte alles, was die menschliche Liebe ausmacht, und er gab Maria und Josef die göttliche Liebe, die wir, solange wir hier auf Erden sind, nur ahnen. Jetzt, da sie im Himmel sind und die göttliche Dreieinigkeit schauen, lieben sie uns mit der Liebe Gottes. Sie selbst sind nicht die Dreieinigkeit, und trotzdem sind sie die Mutter Gottes und der Beschützer des Erlösers, wie Papst Johannes Paul II. den hl. Josef in seinem Apostolischen Schreiben Redemptoris custos nennt; mit Jesus bilden sie eine Einheit, die wir nicht beschreiben können, die jedoch in etwa widerspiegelt, was sie hier auf Erden waren. So sind sie für alle Ewigkeit die Dreifaltigkeit der Erde: geeinigt in der Liebe. Die Aufgaben für uns, die sich daraus ergeben, erfüllen sie vorzüglich noch vom Himmel aus. Die Dreieinigkeit des Himmels und die Dreifaltigkeit der Erde Das Band, welches die drei göttlichen Personen verbindet und zu einem Wesen macht, ist die einigende Liebe: „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4,16). Die Dreieinigkeit oder die Trinität sind die drei Personen: Vater und Sohn und Heiliger Geist, die eins sind, geeinigt in einer Natur, welche die Liebe ist: Gott. Hier auf Erden leuchtet dieses Wunder der Liebe in der Heiligen Familie auf, welche diese drei Menschen so einigt, dass sie zusammen denken, wollen und entscheiden: Ihre Entschlüsse sind immer drei; weil sie aber nur das Gute wollen, werden sie eins. Jesus, Maria und Josef waren vollkommen einig. Das geschieht, weil Gott in ihnen ist: „Wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.“ (1 Joh 4,16) Das ist es, was in der Heiligen Familie geschieht: Jesus ist „wahrer Gott und wahrer Mensch“20, Maria ist die Gnadenvolle (Lk 1,28), Panhagia, wie schon gesagt, und Josef ist der Gerechte (Mt 1,19), was auch so viel heißt wie ganz heilig; er handelte in allem nach dem Willen Gottes.21 Gott ist mit ihnen und deshalb sind sie geeinigt in der Liebe. Man darf sie den Spiegel 20 21 So beten wir in der Heiligen Messe, wenn wir das Nizeo-Konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis beten: DH 150 und 301. Vgl. SCHRENK, Δίκαιοης, in: G. KITTEL, Theologisches Wörterbuch zum NT, Band II, Stuttgart 1990, S. 184-193. 50 German Rovira der Dreieinigkeit nennen, wie die Päpste, vor allem Papst Leo XIII.22, die Heilige Familie bezeichnen; oder die Dreifaltigkeit der Erde, wie Pierre D'Ailly, Jean Gerson oder Bernhardin von Siena sie nennen.23 Heute pflegt man sie eher als Ikone der Dreieinigkeit24 zu bezeichnen. Die Liebe, die hier gemeint ist, die Liebe, die das Wesen Gottes ausmacht, ist nicht von der Banalität, zu welcher der Teufel diesen Begriff erniedrigt.25 Diese Liebe ist auch nicht der Eros, den Gott den Menschen als eine Kraft gegeben hat und die der Mensch in seinem Auftrag, wie Gott es will, leben kann.26 Sie ist auch nicht die Philia, welche die Freundschaft oder die natürliche Liebe zu den Eltern und Geschwistern zum Ausdruck bringt.27 Die Liebe Gottes, die er uns schenken will, ist die einigende, übernatürliche Liebe, die das Wesen Gottes ausmacht, und die nur er uns schenken kann und will. Am ehesten könnte man sie mit der Agape vergleichen, die „zweifellos etwas Wesentliches von der Neuheit des Christentums gerade im Verstehen der Liebe anzeigt.“28 Dennoch, wir wissen nicht und können uns auch nicht vorstellen, wie Gott jedes seiner Geschöpfe liebt und für es sorgt; ja er hat sogar aus Liebe zu den Menschen Fleisch angenommen und ist am Kreuz für sie gestorben mit der gleichen Liebe, in der die Drei Personen in einer Natur verwirklicht sind; denn in Gott ist alles eins. 22 23 24 25 26 27 28 Siehe LEO XIII., Neminem fugit, Brief vom 14.6.1892 und Novum Argumentum, Apostolisches Schreiben vom 20.11.1890 und vor allem die Enzyklika Quamquam pluries vom 15.8.1889; auch PIUS XI., Castii connubi, Enzyklika vom 31.12.1930. P. D'AILLY, De doudecem honoribus Sancti Joseph, in: J.C.VIVES, Summa Josephina, Romae 1907, S. 220, und J. GERSON, Josephina, in: Opera Johannis Gersoni, Paris 1608, 3. Pars, c. 140, und J. VIVES, Summa Josephina, o.z. n. 127, 34; n. 234, 50. J. M. BLANQUET, La Sagrada Familia, Icono de la Trinidad, Barcelona 1996. Vgl. J. HÖFFNER, In der Kraft des Glaubens II, Sexualmoral im Licht des Glaubens, Freiburg 1986, S. 129-135. B. STOEKLE, Gottgesegneter Eros, Ettal 1962. Siehe auch J. Pieper, Über die Liebe, München 1972, c. VIII. Siehe STÄHLIN, Philia, in: G. FRIEDRICH, Theologisches Wörterbuch zum NT, Band IX, Stuttgart 1990, S. 153-169. BENEDIKT XVI., Enzyklika Deus caritas est vom 25.12.2005, n. 3. Diese Begriffe sind die gängige Lehre der Kirche, vgl. z. B. H. KUHHAUPT, Die Hochzeit zu Kana – Vom Myterium der Ehe, Recklinghausen 1952, S. 142 f. Kardinal Höffner erklärt es noch ausführlicher und sehr gut. Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie 51 In dieser Liebe waren Jesus, Maria und Josef dreifaltig und zu einer Einheit zusammengewachsen oder verschmolzen. Der hl. Augustinus will diese Einheit unterstreichen und sagt über die Ehe von Maria und Josef, ähnlich wie auch Johannes Paul II.29: „Beide haben es wegen ihrer Treue zur Ehe verdient, Eltern Christi genannt zu werden, und nicht allein Maria wird als die Mutter erwähnt, sondern auch der Vater, als der Gemahl Marias, obwohl nicht er der Erzeuger war, sondern nur in der Liebe.“30 Wir können uns nicht vorstellen, wie sie sich liebten: ganz rein und in der Hingabe füreinander und für die anderen Menschen. In dieser Hingabe haben sie sich durch Jesus Gott liebevoll aufgeopfert und alles, was sie taten, miteinander geteilt: ihre Freude und ihre Leiden, ihre Arbeit und Ruhe, ihr Lächeln und ihre Tränen, alles haben sie mit Jesus freudig Gott geschenkt für das Heil der Menschen. Sie waren einig in der Erfüllung des Willens Gottes. So waren sie eine einige Dreifaltigkeit. Die Ehe zwischen Maria und Josef In der Trauungsmesse beten wir im Tagesgebet: „Gott, unser Schöpfer und Vater, du hast die Ehe geheiligt und durch sie den Bund zwischen Christus und seiner Kirche dargestellt.“31 War die Ehe Marias und Josefs nicht eine solche wunderbare Darstellung dieser Zeichen der Liebe Gottes zu uns? In einer der Präfationen dieser Messe wird hinzugefügt: „Die du aus Liebe geschaffen und unter das Gesetz der Liebe gestellt hast, die verbindest du in der Ehe zu heiliger Gemeinschaft und gibst ihnen Anteil an deinem ewigen Leben.“32 In einem Mariale von Baltasar Sorio, OP33 findet sich folgendes Gebet: „O heilige Ehe Josefs mit der erhabenen Jungfrau! Nach den Zeugnissen war sie frei von jeder Verfehlung und erbte nicht die alte Schuld, die verschwand; so hat der neue göttliche Spross den Teufel besiegt.“ Die Frucht 29 30 31 32 33 Siehe Apostoliches Schreiben Redemptoris custos, vom 15.8.2007, n. 21. AUGUSTINUS, De nuptiis et concupiscentia, L. I, c. 11. Siehe MESSBUCH, Trauungsmesse A, in der Auflage von 1975, S. 977. Ebd. S. 989. B. SORIO, Mariale, Tortosa 1538, 276 Folien: O sacrum matrimonium Joseph et almae Virginis: cuius est testimonium conceptus expers criminis; redit ad patrimonium antiquae stirpis propaginis: et laetet sic daemomino divini partus germinis. 52 German Rovira dieser Ehe ist der jungfräulich geborene Sohn Gottes, der „für uns und zu unserem Heil vom Himmel gekommen“34 ist und „da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung.“ (Joh 13,1) In einem Breviarium35 von einem unbekannten Autor der Stadt Lérida findet man das Gebet: „Gott, durch die jungfräuliche Geburt deines eingeborenen Sohnes durch die Jungfrau Maria hast du die Ehe mit ihrem Bräutigam Josef, einem Gerechten, erhöhen wollen; gewähre uns, dass wir dieses Geheimnis hier auf Erden würdig feiern und der himmlischen Hochzeit teilhaftig werden.“ Nur das Lukasevangelium erwähnt ausdrücklich die Verkündigung der Empfängnis Jesu an die Jungfrau, die in Nazaret stattgefunden hat (Lk 1,26/38/39-86). Dort haben wahrscheinlich auch nach der Empfängnis die Verlobung und die Heimführung Marias durch Josef stattgefunden. Die drei Synoptiker verweisen darauf, dass Jesus in Nazaret aufwuchs, sodass man glaubte, er stamme aus Nazaret. Matthäus beginnt sein Evangelium mit der Geburt Jesu in Betlehem und erwähnt, dass sich die Heilige Familie nach dem Tode des Herodes in Nazaret niederließ.36 Das erste, was wir von dieser Ehe erfahren, ist also, dass Josef der Mann Marias war: „…und nahm seine Frau zu sich.“ (Mt 1,24) Das tut Josef aufgrund der Botschaft eines Engels des Herrn, der ihm im Traum erscheint (Mt 1, 20). „Die Braut und ihr Gemahl, die Mutter und der Vater Jesu, bilden gemeinsam den Raum, in dem das Göttliche Wort Heimstatt nimmt.“37 Josef liebt Maria und das Kind mit menschlicher und übernatür34 35 36 37 Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel. Breviarium quod marianum inscribitur, eo quod festa bb. Virginis übi locorum celebrata referat. Hocce breviarium partim pluribus antiquis conflatur, Ilerdae 1859, LXIV-960 S. 24ff. Darüber R. GAUTHIER, La fête liturgique du mariage de Marie et de Joseph, Montréal 2000, S. 60 : „Deus, qui unigeniti Filii tui genitricem Mariam, ut virginalis partus ejus viri honestaretur consortio, Joseph viro justo desponsari voluisti; da nobis conjugii mysterium digne celebrare in terris, et coelestium participes fieri nuptiarum.“ Vgl. Mt 1,18-26/2,19-23/13,54-58 („Ist dieser nicht des Zimmermanns Sohn?“ Mt 13,55); („… und ließ sich in einer Stadt namens Nazaret nieder. Denn es sollte sich erfüllen, was durch die Propheten gesagt worden ist: Er wird Nazoräer genannt werden.“ Mt 2,23); sowie Mk 6,1-6 ( „Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria...?“ Mk 6,3), und Lk 2,39/51 bzw. 4,16-30 („So kam er auch nach Nazaret, wo er aufgewachsen war...“ Lk 6,16). BENEDIKT XVI., Grußwort des Heiligen Vaters an die Teilnehmer des IX. Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie 53 licher Liebe, das heißt, er empfindet die Größe der Heiligkeit der Mutter Jesu und sogar die Messianität des Kindes. Die Zweifel des hl. Josef vor der Heimführung Marias in sein Haus sind nicht mit Vermutungen zu deuten, die abstoßend wären. Wenn wir uns von der Heiligkeit und der Gerechtigkeit Marias eine Vorstellung machen könnten, würden wir sofort denken: Josef, der „gerecht war“, konnte sich nichts Böses von Maria durch den Kopf gehen lassen; Josef, „der gerecht war“, konnte keinen Fehler seiner reinsten Frau, die ohne Sünde empfangen war, entdecken. Sie strahlte immer Gottes Gerechtigkeit und Heiligkeit in ihren Worten und Taten aus. Man könnte annehmen, dass Maria nach der Verkündigung und ihrem Ja zum Willen Gottes, weil sie eine „Magd des Herrn“ (Lk 1,38) war, das Geheimnis ihrer Schwangerschaft Josef anvertraute: weil der hl. Josef ihr Mann war und weil sie ihn liebte. Sie hat ihm später von der Vision oder Audition des Engels erzählt und dass sie vom heiligen Geist ein Kind empfangen hat; Josef glaubte seiner Braut völlig! Josef stand vor einem göttlichen Geheimnis und dachte nach (Mt 1,20). Er hat von Maria, seiner Frau, schon in ihrer bräutlichen Zeit das Beten und vieles andere gelernt. Er hat von seiner Braut gelernt, sich Gott anzuvertrauen und um Klarheit über Gottes Willen zu bitten. Das Evangelium sagt von dem Gebet Marias zuerst nach der Geburt Jesu, als die Hirten nach der Engelserscheinung auf dem Hirtenfeld zu dem neugeborenen Kind gekommen waren: „Maria bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach.“ (Lk 2,19); und dann, als Josef und Maria den zwölfjährigen Jesus im Tempel wiedergefunden hatten: „…sie verstanden nicht, was er damit sagen wollte. ... Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen.“ (Lk 2,50-51) Von diesem Lernen Josefs aus der Haltung Marias sagt der Heilige Vater: „Maria, die Mutter Jesu, ist die auserwählte Seele, die in völliger Hingabe an den Willen des Höchsten das Ewige Wort empfängt, um es der Welt zu schenken. So wird sie zur Mutter der Kirche, die ihre geistlichen Kinder zu Christus führt. Von ihr lernen wir Vertrauen; mit ihr lernen wir glauben und beten.“38 Maria dachte im Gebet nach, wenn sie die Offen- 38 Internationalen Symposiums über den Heiligen Josef, vgl. J. HATTLER/G. ROVIRA, Die Bedeutung des hl. Josef in der Heilsgeschichte I., Kisslegg 2006, S. 17. Ebd. 54 German Rovira barung Gottes nicht verstand, und bewahrte Taten Gottes in ihrem Herzen. So handelte auch der hl. Josef. Ausdrücklich berichtet uns das Evangelium über dieses Nachdenken Josefs: wie er nachdachte über die Möglichkeit einer solchen Geburt durch das Eingreifen der Kraft des Höchsten, der Maria überschattet hatte (Lk 1,35). Dann beschloss er, Maria zu verlassen, weil er sich unwürdig fand, die Auserwählte Gottes zu sich zu nehmen. Gott, der immer das Gebet des Gerechten hört (Ps 5,13; 37,29-31; 55,23 etc.), sandte einen Engel, der ihm den Willen Gottes offenbarte und bestätigte, was Maria ihm gesagt hatte: Er verstand jetzt die Worte Jesajas (Mt 1,20.23), und so verstand Josef, dass es von Gott vorgesehen war, dass er, Josef, an die Stelle des himmlischen Vaters treten sollte (Mt 1,19-20). Uns bleibt nur festzustellen, dass „zwischen der »Verkündigung« bei Matthäus und jener bei Lukas eine enge Übereinstimmung besteht. Der Bote Gottes weiht Josef in das Geheimnis der Mutterschaft Mariens ein. ... Der Bote wendet sich an Josef als den »Mann Mariens«, der dem Sohn, der von der mit ihm angetrauten Jungfrau aus Nazaret geboren wird, diesen bestimmten Namen geben soll. Er wendet sich also an Josef und überträgt ihm für den Sohn Mariens die Aufgaben eines irdischen Vaters.“39 Maria ist die Mutter der Kirche, wie Paul VI. lehrte40, und die Heilige Familie ist die Mutterzelle oder die Keimzelle41 der Kirche, die von Maria lernen soll. Als solche ist die Heilige Familie das Sinnbild der Kirche und dementsprechend aller christlichen Familien. Wie in der Heiligen Familie alle voneinander lernten, so sollen auch wir es in der Kirche tun; dies ist eine der Aufgaben der Kirche: Wir sind alle dazu berufen heilig zu sein, zum Aufbau des Volkes Gottes. Was wir bisher gehört haben, lässt vermuten, dass Maria und Josef eine ganz normale heilige Ehe führten, bei der die Jungfräulichkeit wegen der göttlichen und wunderbaren Ereignisse bei der Geburt Jesu, des Sohnes Gottes, als ein großes Geschenk erachtet wurde. So ist es logisch, dass alle glaubten, Jesus sei der leibliche Sohn Josefs. Dem widerspricht die Kirche von Anfang an. Neben den Evangelisten waren die ersten christlichen Schriftsteller, Ignatius von Antiochien42, Justin43, Irenäus44 oder 39 40 41 42 JOHANNES PAUL II., Redemptoris custos vom 15.8.1989, n. 3 Paul VI., Ansprache vom 21.11.1964 beim II. Vatikanischen Konzil. Leo XIII., Brevis Neminem fugit, vom 14.6.1892, ASS XXV (1892-1893). IGNATIUS VON ANTIOCHIEN, PG 5,659. Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie 55 Tertullian45, sehr darauf bedacht, die Jungfräulichkeit Marias zu verteidigen, und erwähnen den hl. Josef als den „vermeintlichen“ Vater Jesu, um den Gläubigen das Geheimnis der jungfräulichen Geburt zu entschleiern. Origenes, den man als den ersten Bibelkommentator betrachten kann, bringt noch dazu ein neues Argument, damit man ,,erkennt, dass Jesus der Sohn Davids ist, dank Josef“.46 Bald erkennen alle Autoren, die über den hl. Josef schreiben, dass er wahrer Vater Jesu ist. Wie Johannes Chrysostomus47, Hieronymus48 und Augustinus49 nehmen sie das alle an und bejahen, dass Josef als Vater Jesu anzuerkennen ist, obwohl er das Kind nicht gezeugt hat, was durch das Wirken des Heiligen Geistes (Mt 1,18) geschehen ist. „Der Bote Gottes weiht Josef in das Geheimnis der Mutterschaft Mariens ein. ... Er wendet sich also an Josef und überträgt ihm für den Sohn Mariens die Aufgaben eines irdischen Vaters.“50 So beten wir in der Votivmesse zu Ehren des hl. Josef: „Allmächtiger Gott, in deiner Vorsehung hast du den heiligen Josef zum Bräutigam der seligsten Jungfrau erwählt ... (und) ihn bestellt, deinen Sohn auf Erden an Vaters Statt zu behüten.51 Da müssen wir einiges an geistlichen Gaben voraussetzen und folgern, dass sie dem heiligen Josef von Gott für diese Aufgabe geschenkt wurden, damit er sie in Treue erfülle. Hier gilt auch die Meinung des hl. Bernhardin von Siena, die man am Fest des hl. Josef in der Lesehore findet: „Bei allen besonderen Gnaden, die einem vernunftbegabten Geschöpf mitgeteilt werden, herrscht die allgemeine Regel: Immer, wenn Gott in seiner Güte jemanden zu einer besonderen Gnade oder zu einem hohen Stand beruft, dann gibt er alle Hilfen, die für eine so 43 44 45 46 47 48 49 50 51 JUSTIN, PG 6, 657/887. IRINÄUS, PG 7, 951-955/1175-1176. TERTULLIAN, PL 2,782. ORIGENES, Kommentar im Evangelium nach Matthäus; PG 13, 1814 f./18321840/1852-1854; und Contra Celsum, PG 11,783-786. In Math. Homiliae, PG 57, 21-28/46-47/85-86. De perpetua virginitatis Beatae Mariae adversus Helvidium, PL 23, 186-197. De Consensu Evangelistarum, PL 34, 1071 f. JOHANNES PAUL II., Redemptoris custos, n. 3. MESSBUCH KLEIN-AUSGABE, Deutsche Ausgabe 1981, Tages- und Gabengebet, S.1111. 56 German Rovira erwählte Persönlichkeit und ihre Aufgabe erforderlich sind. Sie zeichnen diesen Menschen dann in reichem Maße aus.“52 Um die Heiligkeit Jesu und Maria zu beschützen, musste der hl. Josef wenigstens eine Ahnung, noch mehr, die Sicherheit haben, dass die Heiligkeit seiner Frau und die des Kindes etwas Besonderes war. Heute formulieren wir es im Glauben so: Maria ist heilig seit dem ersten Augenblick ihrer Existenz und deswegen unbefleckt empfangen. Papst Alexander VII., der Nuntius in Köln und Delegierter bei den Verhandlungen um den Frieden von Westfalen in Münster war, ließ am 8. Dezember 1661 diese Frage ganz klar lösen, wenn er sagte, was auch Scheeben zitiert53: „Die Seele der seligen Jungfrau Maria sei bei ihrer Erschaffung und Eingießung in den Leib mit der Gnade des Heiligen Geistes beschenkt und von der Ursünde bewahrt worden.“54 Die Lehre der Kirche war damit klar, obwohl Alexander VII. diejenigen nicht verurteilte, die anderer Meinung waren, sofern sie diese begründeten. Scheeben setzt voraus, „dass im Vergleich mit den übrigen Menschen bei Maria in irgend einer Weise eine antizipierte Heiligung stattfand. ... Ob Maria durch dieselbe, wie alle anderen Menschen, von dem bereits eingetretenen Makel der Erbsünde nachträglich befreit oder in ihrer Empfängnis vor dem Eintritt dieses Makels bewahrt worden ist“, ist weniger wichtig als ihre tatsächliche Heiligung; daraus folgt, dass sie in allen ihren Handlungen sich nur am Willen Gottes orientierte. Wenn Johannes, der Vorläufer Jesu, vor seiner Geburt schon geheiligt wurde, dann war die außerordentliche Heiligkeit Marias viel mehr: Sie ist „bis in den ersten Augenblick ihres Daseins und mithin bis in ihre Empfängnis zurückzuverlegen.“55 „Diese Heiligkeit Marias und ihres Sohnes muss daher von ihrem Gemahl erkannt worden sein. Er wurde deswegen in einzigartiger Weise ein Hüter des Geheimnisses, das »von Ewigkeit her in Gott verborgen war« (vgl. Eph 3, 9), so wie es Maria in jenem entscheidenden Augenblick wurde, den der 52 53 54 55 BERNHARDIN VON SIENA, Sermo 2: In vigilia nativitate Domini de sancto Josef, Gesamte Werke, Band 7, Quaracchi 1959 S. 16. M. J. SCHEEBEN, Handbuch der Katholischen Dogmatik, Tomo V/2, n. 1667. Breve „Sollicitudo omnium ecclesiarum“, DH 2015-2017. SCHEEBEN, § 1666. Scheeben weist darauf hin, dass Johannes schon im Mutterschoße geheiligt wurde, wie viele Theologen und Kirchenväter annehmen, gemäß dem Wort des Propheten Jeremia (Jer 1,5). Siehe die Note 1 del § 279. Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie 57 Apostel die »Fülle der Zeit« nennt, ... Der erste Hüter dieses göttlichen Geheimnisses ist Josef, zusammen mit Maria. Zusammen mit Maria – und auch in Beziehung zu Maria – hat er, und zwar von allem Anfang an, teil an diesem entscheidenden Abschnitt der Selbstoffenbarung Gottes in Christus.“56 Fray Luís de Granada erklärt in seinem Buch „Jesus Christus, der Erlöser“, was Josef empfunden haben mag, als er vor einem solchen Wunder der Heiligkeit stand, als er von der Heiligkeit Marias und der Frucht ihres Leibes durch den Heiligen Geist erfahren hat: „Wenn ein reines und heiliges Herz sich von solchen Mysterien umgeben, oder noch besser berührt fühlt, was empfindet es, was täte und wie fühlte es sich dann? Würde es nicht erstaunt, entzückt und sprachlos sein über solche Wunder und Größe, die der Heilige Geist den Gerechten gibt, und über die Geheimnisse, die er ihnen offenbart?“57 Als Anekdote kann man den Dialog zwischen Pius IX. und dem Maler Barti hinzufügen: Nach der Definition der Unbefleckten Empfängnis Marias 1854 hatte man einem der besten Maler Roms die Darstellung der Proklamation dieses Dogmas anvertraut. Eines Tages kam Pius IX. zum Künstler und fragte nach der Betrachtung des Gemäldes: „Wo ist der hl. Josef?“, worauf der Maler antwortete: „Hier, Heiliger Vater“, und wies auf eine Gruppe Auserwählter. „Das ist nicht sein Platz“, sagte sofort der Papst; „Sie müssen ihm den gleichen Rang einräumen, den Gott ihm auf der Erde gab: sehr nahe an Jesus und Maria“. Und so wurde er gemalt! Man muss sich diese grandiose und phantastische Malerei, die sich im Vatikan befindet, ansehen. Josef ist ein wenig hinter der heiligsten Maria, aber vor allen anderen Heiligen stehend, zu sehen.58 Die Verdienste des hl. Josef sind nach Meinung der letzten Päpste nach den Verdiensten Marias die größten: „Eben an diesem Geheimnis «hatte» Josef von Nazaret «teil», weil er wie kein anderes Geschöpf erhaben ist, ausgenommen Maria, die Mutter des menschgewordenen Wortes.“59 Das alte Formular für die Messe zur Hochzeit des Heiligsten Paares am 23. Januar hatte nach jedem Gebet die Commemoratio ad memoriam des hl. 56 57 58 59 JOHANNES PAUL II., Redemptoris custos, n. 5. L. DE GRANADA, Jesucristo Redentor, Madrid 1947, S.748. Siehe R. GAUTHIER, Saint Joseph notre intercesseur le plus puissant aprés la Vierge Marie, Montrèal 2004, S. 10. JOHANNES PAUL II., Apostolisches Schreiben Redemptoris custos, n. 1. 58 German Rovira Josef, die im allgemeinen die Verdienste des Heiligen nennen; so sagt die Memoria im Tagesgebet dieses Festes: „Gib uns, wir bitten Dich, Herr, durch die Verdienste des Bräutigams deiner seligsten Gebärerin, dass Du uns gewährst, was uns ohne Deinen Beistand nicht möglich ist zu erreichen.“60 „Die Liebe der Ehegatten gründet sich auf den «ehelichen Glauben», auf den Glauben, den einer in den anderen hat, wie die christliche Liebe sich auf den Glauben an Gott gründet“.61 Glaube, Hoffnung und Liebe sind immer die höchsten Tugenden eines Heiligen; diese zeichneten Maria und Josef aus. Sie gaben ihrem Sohn, dem Sohn Gottes, in der Familie, wozu sie sich verpflichtet fühlten. „Während ihres ganzen Lebens, der ein Pilgerweg im Glauben war, blieben Josef und Maria dem Ruf Gottes treu. Das Leben Mariens war die äußerste Erfüllung jenes ersten fiat, das sie bei der Verkündigung gesprochen hatte, während Josef, wie bereits gesagt wurde, bei seiner «Verkündigung» kein Wort hervorbrachte: er «tat» einfach, «was der Engel des Herrn ihm befohlen hatte» (Mt 1,24). Und dieses erste «Tun» war der Anfang von «Josefs Weg».“62 Die Liebe in der Heiligen Familie „Die Ehe ist nicht nur ein Heim der Liebe. Sie ist auch eine Gemeinschaft oder eine Gesellschaftsform, in der jeder eine bestimmte Rolle spielt.“63 Dies ist ein sich immer wiederholendes Prinzip der menschlichen Gesellschaft. Auch in der Kirche, angefangen bei den Kirchenvätern und bei allen christlichen Schriftstellern, ist dieses Prinzip das Argument, mit dem sie die Ehe zwischen Maria und Josef begründen: Der Schöpfer der Familie, Jesus, wollte wie jeder Mensch in einer Familie aufwachsen. Da er die Familie in das Göttliche aufgenommen hat, konnte er der Ehe die Würde eines Sakramentes geben.64 60 61 62 63 64 MISSALE ROMANUM, Commemoratio S. Joseph, Ratisbonae 1941, S. [139]. A.-M. HENRY, Die Ehe, in: Die katholische Welt, Band III., Freiburg 1961, S. 658. JOHANNES PAUL II., Redemptoris custos, n. 17. A.-M. HENRY, a.a.O., S. 680. Vgl. JOHANNES PAUL II., Redemptoris custos, vom 15.8.1989, n. 21 Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie 59 In der Tradition der Kirche und auch in einer längeren Tradition des jüdischen Volkes ist das Hohelied ein Bild für die Liebe Gottes zu seinem Volk und in übertragenem Sinn für die Liebe auch unter den Menschen. „Im ganzen Alten Testament nimmt eine Heilsgeschichte Gestalt an, bei der sowohl männliche als auch weibliche Gestalten mitwirken. Die Begriffe von Bräutigam und Braut und auch von Bund, durch die sich die Dynamik des Heiles auszeichnet, haben gewiss eine offenkundig bildliche Dimension, sind aber doch viel mehr als bloße Metaphern.“65 Mag sein, dass das Hohelied nach dem Hagiographen vielleicht eine Nachahmung bzw. eine mehr oder weniger bewiesene Anlehnung an ein Hochzeitslied der Ägypter ist. Das kann möglich sein, aber zweifelsohne ist dieses Liebesgedicht ein Liebeslied Israels. Welcher Vorlage der Dichter sich bediente, ob des Mythos der Liebe zwischen der Göttin Inanna (Mesopotamie) oder Istarch (Ägypten) und Dumuzi-Tamuz66, ist für den hohen Wert dieses Buches der Heiligen Schrift nebensächlich. Die Interpretation der meisten modernen Autoren bleibt eine historisch-kritische Auslegung schuldig, wie Christoph Uehlinger aufweist.67 Der Targum und Talmud geben dem Hohelied eine allegorische Interpretation: Gott ist der Bräutigam und das Volk Israel die Braut, und es „besingt die mystische Vermählung des Herrn mit dem auserwählten Volke.“ 68 Wichtig ist, dass „im Gebrauch dieser Weise der Offenbarung das Hohelied zweifelsohne von herausragender Bedeutung ist. In den Worten einer ganz und gar menschlichen Liebe, welche die Schönheit der Leiber und das Glück der gegenseitigen Suche besingt, kommt auch die göttliche Liebe für sein Volk zum Ausdruck. Die Kirche ist deshalb nicht in die Irre gegangen, wenn sie in der kühnen Verbindung des ganz und gar Menschlichen mit dem ganz und gar Göttlichen durch die Verwendung derselben Ausdrücke das Mysterium ihrer Beziehungen zu Christus erkennt.“69 „Seit den ersten christlichen Generationen betrachtet sich die Kirche als Ge- 65 66 67 68 69 GLAUBENSKONGREGATION, Schreiben über Das rechte Verständnis der aktiven Zusammenarbeit von Mann und Frau, vom 31.5.2000, n. 9. M. SIGRIT und O. KOEL, in: Welt und Umwelt der Bibel, S. 15-20 bzw. 27-31, n° 21, 3. Quartal 2001. Vgl. Anthologie oder Dramaturgie, in: Welt und..., o.e., S. 35-39. H. LUSSEAU, Die übrigen Hagiographen, in: A. ROBERT u. A. FEUILLET, Einleitung in die Heilige Schrift, Band I, Wien 1966, S. 654 – 657. GLAUBENSKONGREGATION, Schreiben vom 31.5.2000, n. 9. 60 German Rovira meinschaft, die von Christus gezeugt wurde und durch eine Beziehung der Liebe an ihn gebunden bleibt.“70 Johannes vom Kreuz macht daraus eine schöne Abwandlung der Liebe Gottes zur einzelnen Seele, besonders derjenigen, die das Mystische sucht.71 Alle anderen geistlichen Schriftsteller, wie Bernhard von Clairvaux72, Luis de León73, Luís de la Puente74 und viele mehr, deuten das Hohelied in spirituellem Sinn als ein Gedicht über die Liebe Gottes zu den Menschen, insbesondere zu der Jungfrau Maria. Das weicht zwar sehr ab von der Auslegung des Hagiographen, aber ist in allegorischem Sinn möglich. Dieses Gedicht besingt dann auch die Liebe in der Heiligen Familie. Hb ist das meist gebrauchte Schriftwort der Bibel für Liebe im Allgemeinen, nicht nur, wie man als Resultat einer oberflächlichen Betrachtung deuten könnte, für die Liebe zwischen Mann und Frau. Es drückt genauso die Liebe in der Familie, die Liebe der Eltern zu ihren Kindern und dieser zu ihren Eltern aus.75 In dieser Hinsicht verwendet man den Ausdruck auch für die Beziehungen Gottes zu seinem Volk, das seine Tochter oder seine Braut ist.76 Dementsprechend wird auch das Wort Hb in der Heiligen Schrift benutzt für die Liebe im übernatürlichen Sinn: für die mystische Erfahrung und den Ausdruck der Zuneigung oder sogar Anhänglichkeit an Gott77: „Das biblische Denken (verwechselt) die Liebe nicht mit dem Zeugungsakt.“78 „Menschliche Sexualität ist für das Alte Testament eine positive, kreative, lebendige und manchmal auch instabile, potentiell chaotische Kraft.“79 Und in diesem Sinne war die Ehe von Gott 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 GLAUBENSKONGREGATION, Ebd. n. 16. K. KAVANAUGH, Die Ursprünge der karmelitischen Bewegung, in: L. DUPRÉ u. a., Geschichte der christlichen Spiritualität, III. Band, Würzburg 1997, S. 104-107. Siehe B. PENNINGTON, Die Zisterzienser, in: B. MCGIN u.a., Geschichte der christlichen Spiritualität, Band I., Würzburg 1993, S. 225 f. L. DE LEON, El Cantar de los cantares, Obras Completas I, BAC, Madrid.1957, S. 71218. Siehe J. O’MALLEY, Frühe jesuitische Spiritualität, in: L. DUPRÉ, a.a.O., S. 42-49. Siehe R. DE VAUX, Les institutions des L’Ancien Testament, Band 1, Paris 1961, S. 37-43 und 71-87. Siehe z. B. Jes 49,18; 61,10; 62,5.11; Jer 14,17; Klgl 2,13.15 usw. Jer 2,32; 33,11; Sach 1,16-17;Ps 109,4-5; Hos 11,4; usw. M.-C. HALPERN, Die Frau in der Bibel, in: G. STERBERGER U. M. PRAGER, Die Bibel, Band 5, Salzburg 1984,, S. 2317. A. BERLEJUNG, Liebe und Eros im Kulturraum des Vorderen Orient, in: Welt und Umwelt der Bibel, a. a. O., S. 3-7. Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie 61 gewollt, anders als bei den Griechen, wo sie eher eine Liaison war, die auch eine „religiöse“ Komponente haben konnte wie die kultische oder rituelle Prostitution. Bei den Juden war auch die Prostitution vorhanden, und davon geben die Propheten und sogar die historischen Bücher Zeugnis, wurde aber immer als eine Verfehlung oder widrige Tat angesehen. Die Ehe war gleichzusetzen mit Familie. Und darum geht es bei Maria und Josef: Sie bildeten eine Familie, auch bevor das Kind kam. „Das im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen den Menschen am tiefsten und reichsten erfüllende Leben in der Liebe ist das in der Familie und in der Wirklichkeit der dieser wesenseigenen Werte. ... (Es) gibt keine beglückendere Wesenserfüllung des Menschen als das durch das Liebesverlangen des Menschen zum Menschen am allseitigsten erfüllende Leben der Liebe in der Familie.“80 Das war von Gott gewollt: Die Eltern Jesu sollten sich lieben, und von dieser Liebe sollte der menschgewordene Gott lernen und die ersten Erfahrungen der Liebe als Mensch machen. „Dies ist die Urerfahrung des Menschen: Als Kleinkind ist er ganz abhängig von den Eltern, erfährt deshalb die sorgende Liebe derselben. ... Nicht Angst und Hass, sondern die Liebe und Geborgenheit in ihr (der Mutter) bilden das das Daseinsgefühl zuerst bestimmende Erlebnis des Menschen. ... Durch die Liebe in der Familie lernt der Mensch auch über die Liebe, die er dem Mitmenschen überhaupt schuldet.“81 Die Verbindung zwischen Maria und Josef war also von der Vorsehung gewollt; der Grund dafür ist auch evident, aber die Umstände sind es nicht. Leo XIII. vertritt die Meinung: „Weil aber zwischen Josef und der seligen Jungfrau das Eheband bestand, reifte er selbst zweifellos wie sonst niemand mehr zur vorzüglichsten Würde heran, in der die Gottesgebärerin alle geschaffenen Naturen bei weitem überragt. Die Ehe ist nämlich die engste Gemeinschaft und Beziehung, die ihrer Natur nach mit der gegenseitigen Gütergemeinschaft verbunden ist. Wenn deshalb Gott der Jungfrau Josef zum Bräutigam gab, gab er ihr sicherlich nicht nur einen Lebensgefährten, einen Zeugen der Jungfräulichkeit und einen Beschirmer 80 81 J. MESSNER, Kulturethik, Innsbruck 19542, S. 306; diesbezüglich vgl. vom gleichen Autor, Die soziale Frage, Innsbruck 19566, S. 553-570. J. MESSNER, a.a.O., S. 113 f. 62 German Rovira der Tugend, sondern kraft des Ehebundes selbst auch einen Teilhaber an ihrer hervorragenden Würde.“82 Der Terminus bêt, mit dem die Familie in der Bibel bezeichnet wird, deutet gleichzeitig das „Haus“ oder besser noch das „Zuhause“ des Mannes an, in das die Frau aufgenommen wird: Das Haus ist von dem Augenblick der Heimführung an ihr Zuhause.83 „In der biblischen Tradition wie auch nach dem Zeugnis anderer profaner Schriften war in der patriarchalisch organisierten Familie der Mann der Eigentümer (ba‘al) seiner Frau.“84 Heute gründet die Autorität des Mannes weder auf Verdienst noch auf Tugend, und so war es wahrscheinlich auch bei Josef und Maria. „Die Autorität des Mannes ist keine Auszeichnung, kein Zeichen persönlichen Wertes, sondern eine bloße soziale Funktion.“85 Die Ehe war bei den Hebräern etwas, worüber Gott waltete. Die Polygamie war ihnen fremd, im Prinzip heidnisch, vom verworfenen Stamm Kains stammend.86 Die Tatsache, dass die Polygamie auch bei den Patriarchen vorkommt, gilt nicht für die Zeit Jesu. „Die Einehe war als Ideal angesehen; in Israel kam man sehr bald zu dieser Auffassung.“87 Eine ernste Betrachtung der Institution Ehe in hebräischen Kreisen, verglichen mit der Institution Ehe in der römischen Welt scheint die Worte Christi zu bestätigen: „Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch erlaubt, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen. Am Anfang der Schöpfung aber war das nicht so.“(Mt 19,8) „Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch.“ (Gen 2,24)88 „Theoretisch konnte in Israel wie bei seinen Nachbarn (außer in Assyrien) auch die schwer beleidigte Frau die Scheidung verlangen. Doch erlaubte das Verfahren – das für den Mann im Allgemeinen ziemlich leicht war – der Frau nur in den seltensten Ausnahmen einem grausamen oder ungerechten Gatten zu entrinnen. ... In allen Ländern des Nahen Ostens bestrafte man den Ehebruch – besonders den der Gattin – mit äußerster Härte.“89 82 83 84 85 86 87 88 89 LEO XIII., Quamquam pluries vom 15.8.1889, n. 3260 DH 3260. R. DE VAUX, a.a.O. S. 39/48. M.-C. HALPERN, Die Frau in der Bibel, a.a.O., S. 2318. A.-M. HENRY, a.a.O., S. 682. R.DE VAUX, a.a.O., S. 45-48. M.-C. HALPERN, a.a.O., S.2318. J. FELTEN, Neutestamentliche Zeitgeschichte, Band 1, Regensburg 1925, S. 472. M.-C. HALPERN, Die Frau in der Bibel, a.a.O., S. 2318 f. Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie 63 In Elefantine, das im 6. Jahrhundert vor Christus eine wichtige hebräische Kolonie am Nil war, kamen die Israeliten ziemlich früh zu dem Entschluss, die Frauen könnten auch die Scheidung erreichen; es blieb aber eine „theoretische“ Frage, etwas für Schriftgelehrte. Dies erklärt, dass nach Markus, der sich mit Petrus in Rom aufhielt, wo die Frau die Scheidung erreichen konnte, Jesus vor seinen Jüngern erklärt: „Wer seine Frau aus der Ehe entlässt und eine andere heiratet, begeht ihr gegenüber Ehebruch. Auch eine Frau begeht Ehebruch, wenn sie ihren Mann aus der Ehe entlässt und einen anderen heiratet.“ (Mk 10,11-12) Dass aber eine Frau den Mann aus der Ehe entlässt, war für die Juden unverständlich, wie sich bei den anderen Sypnotikern erweist (vgl. Mt 5,31-32 bzw. Lk 16,18). Das römische Recht erlaubte aber die Scheidung vonseiten der Frau. Es scheint der Frau mehr Rechte zu gewähren und präjudiziert eine Gleichheit der Geschlechter. „Die Braut trat durch das Verlöbnis in dasselbe rechtliche Verhältnis zu ihrem Bräutigam wie die Ehefrau zu ihrem Ehemann.“90 So hat die Kirche nach dem Wort des Herrn und zum Wohle der Familie das römische Recht als Richtschnur des kanonischen Rechtes übernommen. Die Ehe von Maria und Josef war von einer viel erhabeneren Qualität als die rechtliche Ehe bis dahin; aber sie stützte sich auf das Gebot Gottes von Anfang an (Gen 1,27/2,24), so wie Jesus es später verkündete: Menschlich hatte er immer seine Familie vor Augen, wenn er in seiner Verkündigung über die Familie sprach.91 Das Kind in der Familie Bevor diese Überlegungen enden, müssen wir betrachten, wie das Kind in der Heiligen Familie aufgenommen wurde. 90 91 J. FELTEN, Neutestamentliche Zeitgeschichte, Band 2, Regensburg 1925, S. 472-473 und 456-458: 4 Arten von Eheschließung, „die vierte und zu Anfang der Kaiserzeit gewöhnlichste Form der Eheschließung, welche später die ausschließliche wurde, war eine freie Ehe ohne Übergabe der Frau ... Eine Frau, welche eine solche Ehe einging, blieb auch während derselben in der Gewalt ihres eigenen Vaters“ (S. 458). J. PLESSIS, El Mesias anunciado en el Antiguo Testamento, in: Christo, Enciclopedia popular de la Doctrina Cristológica, Madrid 1951, S. 75. Siehe auch P. VIGUÉ, La psicología de Cristo, in: ebd, S. 299-301. 64 German Rovira Die Tradition des Ochsen und des Esels an der Krippe geht auf Jesajas Prophezeiung (Jes 1,3) zurück: „Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn“. Maria und Josef – so sehen wir sie an der Krippe – haben danach bei der Geburt des Herrn nur diese beiden stummen Zeugen. Was macht es uns: Wir glauben trotzdem. Die Heilige Tradition und das Evangelium sind unsere Zeugen. Wir sind von der jungfräulichen, wunderbaren Geburt unseres Herrn in Betlehem überzeugt trotz der Aussagen einiger Pseudowissenschaftler, die das bestreiten.92 Gott und seine Engel sind uns glaubwürdiger. Es fehlt nicht an allegorischen Deutungen für die Anwesenheit dieser beiden Tiere an der Krippe. Die geläufigste besagt, dass der Ochs, der als Vertreter der reinen Tiere gilt, für die Treuen und „Armen“ des Volkes Israel steht, die Awarim, die ecclesia ex Iudeis; während der Esel als unreines Tier die bekehrten Heiden vertritt, die ecclesia ex gentibus. Beide hätten Christus als den Messias oder Erlöser erkannt und ihn als den Sohn Gottes bekannt: Vom Geist geleitet, seien sie zur Krippe gekommen und hätten ihn angebetet. Ochs und Esel hätten Jesus ihre Dienste erwiesen und ihn mit ihrem Hauch in der kalten Nacht dieser Welt erwärmt. So vertreten sie uns, wenn wir dem Werk der Heiligung der Menschen assoziiert werden. Eine zweite Deutung sieht eine Parallele der Krippe mit dem Kreuz: Holz, Nacktheit, Armut sind die Umstände der beiden Lebensabschnitte, des Anfangs und des Endes. Durch den Ochsen würde das Heil angedeutet, weil er als Opfertier bevorzugt wurde; und der Esel stünde da als Zeichen der Störrischkeit des Volkes Israel oder auch für den Schächer, der mit Christus gekreuzigt wurde und sich weigerte, Jesus um Verzeihung für seine Untaten zu bitten. Eine dritte Erklärung für die Präsenz des Ochsen an der Krippe weist wiederum auf das Kreuz hin, auf das Opfer Jesu für uns; und der Esel, damals wie heute Lasttier, auf das Tragen unserer Schuld mit Christus, dem Menschensohn, der auf seinen Schultern die Sünden aller Menschen trägt und am Kreuze für uns stirbt. Der hl. Josefmaria, der Gründer des Opus Dei, hat einen sympathischen Vergleich des Esels mit den apostolischen Männern hergestellt: „Wunderbare Beharrlichkeit des Esels am Schöpfrad des Brunnens! – Immer im gleichen Schritt. Immer die gleichen Runden. – Ein Tag und noch einer, alle gleich. Ohne das würden die Früchte nicht reif, der Garten nicht 92 Vgl. z. B. M. KOSCHORKE, Jesus war nie in Bethlehem, WBG 2007. Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie 65 üppig, und seine Beete blieben ohne Duft. Nimm diesen Gedanken für dein inneres Leben.“93 Danach sollen die Christen wie gute Cyrenäer das Kreuz mit dem Herrn tragen und die Last des Alltags erdulden: „Wenn du ein armes Holzkreuz siehst, einsam, erbärmlich, wertlos und ohne Gekreuzigten, dann wisse, dass dieses Kreuz dein Kreuz ist: das Kreuz jeden Tages, verborgen, ohne Glanz und ohne Trost. Es wartet auf seinen Gekreuzigten. Dieser Gekreuzigte musst du sein.“94 Deshalb ist die Krippe mit Ochs und Esel der Lehrstuhl der Demut95 wie auch des Kreuzes. Wenn wir die Lehre Christi, die er uns in Betlehem erteilt hat, erfassen wollen, sollen wir trotz unserer Störrischkeit und Schwerfälligkeit vom Kind Jesus lernen. Die Frage ist dann: Warum ist Gott ein Kind geworden?96 Gott wollte uns erlösen und uns den Weg des Heiles zeigen, und deswegen ist er einer von uns geworden. Der eingeborene Sohn Gottes ist Kind geworden, um die für unsere Erlösung „notwendige“ Echtheit seiner Menschennatur zu beweisen; notwendig insofern der Sohn Gottes „ ... mit menschlicher Natur ... gearbeitet, mit menschlichem Geist gedacht, mit menschlichem Willen gehandelt, mit menschlichem Herzen geliebt hat. Geboren von Maria, der Jungfrau, ist er in Wahrheit einer von uns geworden, in allem uns gleich außer der Sünde.“97 Gerade deshalb, weil Gott uns gleich geworden ist, ergeben sich viele Konsequenzen und Antworten aus der gestellten Frage: Wir lernen zum Beispiel, was es heißt ein Kind zu werden (Mt 18,3/19,13). Die Abhängigkeit erscheint für Menschen entwürdigend; nicht aber die Abhängigkeit von Gott und von den Menschen, die in der Liebe besteht. So großzügig ist Gott in seiner Heilspädagogik, mit der er uns ein Beispiel gibt – wie bei der Fußwaschung und der Ankündigung des Neuen Gebotes (Joh 13,1-20.34) oder in Betlehem, wo er seine Unmündigkeit aus Liebe zu uns vorlebt, in der Abhängigkeit von Maria und Josef. Diese Bilder sollen uns lehren, sich nicht davor zu fürchten, aus Liebe auf unsere 93 94 95 96 97 J. ESCRIVÁ DE BALAGUER, Der Weg, Köln 19822, n. 998. Ebd. n. 178. Ebd. n. 432 und Christus begegnen, Köln 19785, n. 14, S. 54 ff. Siehe F. HOLBÖCK, Warum ist Gott ein Kind geworden ? - Gründe, Vorbilder und Gebete der Jesuskind-Verehrung, Christiana Verlag, Stein am Rhein 1982 (3. Auflage). 2. VATIKANISCHES KONZIL, Gaudium et spes, 22,2. Siehe auch KKK, n. 470. 66 German Rovira vermeintliche Würde und beanspruchten Rechte zu verzichten, um gehorchen zu können. Gott ist ein Kind geworden, damit wir lernen, von Maria, der Jungfrau98, alles empfangen zu wollen. Wir sollen es als schön und kindlich empfinden, auf ihre Mütterlichkeit angewiesen zu sein. Diese Abhängigkeit ist wiederum eine Lehre der Krippe, die auch verglichen werden kann mit der am Kreuz: „Siehe, deine Mutter!“ (Joh 19,27). Jesus, der Sohn Marias und, wie auch Johannes Paul II. ihn anerkannte, der Sohn Josefs99, hat Vieles von seinen Eltern gelernt: die Sprache, die Sitten seines Volkes, das Menschsein bzw. wie ein Mensch zu leben und sich zu benehmen; und so sollen wir von Maria und Josef lernen, für das alles bereit zu sein, was Gott von uns erwartet und zwar mit Demut und Dankbarkeit. Wir müssen als Kinder Gottes und der Kirche auch bereit sein, die richtige Antwort auf die uns gestellten Fragen bezüglich des Evangeliums und der Tradition gemäß der Lehre der Kirche zu geben. So lernen wir die wahre Armut, die Reinheit des Herzens, die Friedfertigkeit, die gesamte Botschaft der Seligpreisungen. Die Botschaft der Krippe und des Kreuzes können wir an der Haltung Marias erlernen, gemäß der Worte Johannes Pauls II.: „Gerade an dieser »sich erbarmenden« Liebe, die vor allem bei der Begegnung mit dem moralischen und physischen Übel wirksam wird, hatte das Herz derer, die dem Gekreuzigten und Auferstandenen Mutter war, in außergewöhnlicher Weise Anteil. In ihr und durch sie offenbart sich die erbarmende Liebe in der Geschichte der Kirche und der Menschheit.“100 „Wir sehen Maria, die das Haus des Zacharias betritt, aus ganzer Seele den Herrn preisen für »sein Erbarmen von Geschlecht zu Geschlecht über denen, die ihn fürchten«. Gleich darauf erwähnt Maria Gottes Huld für Israel und rühmt die Erwählung Israels, »das Erbarmen«, an das er, sein Erwähler, eh und je »denkt«. Später, im selben Haus, lobpreist bei der Geburt Johannes des Täufers dessen Schon von Anfang an pflegen die Kirchenväter immer diese Eigenschaft dem Namen Marias hinzuzufügen. Vgl. Ignatius von Antiochien. 99 JOHANNES PAUL II., Apostolisches Schreiben Redemptoris Custos, vom 15. 8.1989, n. 21. 100 Johannes Paul II., Enzyklika Dives in misericordia, n. 9 98 Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie 67 Vater Zacharias den Gott Israels und verherrlicht »sein Erbarmen mit unseren Vätern«, und dass er »seines heiligen Bundes gedachte«.“101 Das Lukasevangelium sagt: „Als sie (Maria und Josef) dort waren (in Betlehem), kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.“ (Lk 2,6-7) Diese Worte enthalten ein Geheimnis: Weil sie keinen anderen Platz gefunden haben, gebar sie im Stall und hüllte das Kind in Windeln. Wir brauchen keine andere Erklärung oder Spekulation: Maria handelte wie eine Mutter! Das Matthäusevangelium ist noch nüchterner: „Als Jesus … in Betlehem in Judäa geboren worden war“ (Mt 2,1), und dann beginnt sofort die Erzählung über die Magier. Eines aber fügte Matthäus bei der Anbetung dieses „hohen“ Besuches bei der Heiligen Familie hinzu: „Sie gingen in das Haus und sahen das Kind und Maria, seine Mutter“ (Mt 2,11). Auch eine Kleinigkeit, die aber Vieles über die Sorgfalt Marias und die Ehrfurcht vor Jesus sagt. Danach folgt die Flucht nach Ägypten, die von der Fürsorge des hl. Josef für die Familie spricht: Er ist ein Mensch des Gebetes und erhält die Anweisungen vom Herrn. Er kümmert sich sorgfältig um das Kind und seine Mutter: „Da stand Josef in der Nacht auf und floh mit dem Kind und dessen Mutter nach Ägypten.“ (Mt 2,14) Dies sind die wenigen Texte der Evangelien, die sehr beredt von der Liebe Marias und Josefs zu dem Kind sprechen: auch von der Angst, mit der sie Jesus gesucht haben“ (Lk 2,48). Alles ist natürlich. Wir können hier abgewandelt ein Wort Goethes an die Herzogin Louise verwenden, um zu erklären, was natürlich ist: Die Naturwerke sind immer ein zuerst ausgesprochenes Wort Gottes. 101 Ebd. n. 5. Die Heilige Familie Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen1 Stefan Samerski Ausgehend von den grundlegenden Aussagen der Bibel möchte ich die verschiedenen ikonographischen und historischen Stationen der Frömmigkeitsform Heilige Familie beleuchten. Der Schwerpunkt meiner Beobachtungen liegt auf den beiden unzweifelhaften Höhepunkten des Kultes: auf der Barockzeit und dem 19. Jahrhundert. Dabei möchte ich mit den exegetischen Grundlagen beginnen, um dann in einem Streifzug durch die östliche und westliche Kunstgeschichte bis zur Moderne hin Entwicklungslinien aufzuzeigen. Im dritten, frömmigkeitsgeschichtlichen Teil soll der Heilige-Familie-Kult in seiner Funktionalität und Verortung in der Kirchen- und Gesellschaftsgeschichte herausgestellt werden. Diese Ausführungen erheben nicht den Anspruch auf inhaltliche und thematische Vollständigkeit. An dieser Stelle sei betont, dass diese Beobachtungen zur Hl. Familie nicht einem historiographischen oder folkloristischen Selbstzweck dienen sollen, sondern dass diese Thematik von brennender Aktualität für das Hier und Jetzt ist. Im gesellschaftlichen Diskurs ist man sich weitestgehend darüber einig, dass die virulenten Probleme von Staat und Öffentlichkeit wie Drogenkonsum, negative Pisa-Ergebnisse, Jugendkriminalität und Kindstötungen auf ein nicht intaktes oder weitgehend fehlendes Familienleben zurückzuführen sind. Die Familie ist und bleibt nicht ohne Grund nach christlichem Verständnis die Kernzelle der Gesellschaft, was bei jeder sich bietenden Gelegenheit herausgestrichen werden muss! Wo die Familie nicht mehr verteidigt wird oder gar nicht mehr existent ist, wird am Ende Anarchie an ihre Stelle treten. 1 Ich danke herzlich Herrn David Brähler/München für seine freundliche Unterstützung bei der Recherche für diesen Vortrag. 70 Stefan Samerski 1. Exegese In einem ersten Blick auf die Bibel wird sofort erkennbar, dass nur die Evangelisten Matthäus und Lukas die Geburt und Kindheit Jesu thematisieren.2 Matthäus, dessen Evangelium das wichtigste der alten Kirche war, berichtet über die Geburt Jesu – ohne ausführlicher auf die Verkündigung einzugehen –, die Huldigung der drei Weisen (Mt 2,1-12), die Flucht nach Ägypten (Mt 2, 13-15) und den Kindermord durch Herodes.3 Dem gegenüber setzt Lukas andere Schwerpunkte: Er schreibt nichts über die Episoden um die drei Weisen, die Flucht und Rückkehr aus Ägypten mit dem zwischengeschalteten Kindermord in Bethlehem, sondern betont stattdessen die Verkündigung (Lk 1,26-38) und deutet die für die volksfromme Kultur so wichtige Herbergssuche (Lk 2,7). Weiter finden wir bei ihm die Huldigung der Hirten (Lk 2,8-20), die Darbringung im Tempel (Lk 2,21-38) und die Auffindung des zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk 2,41-50). Es fällt auf, dass die gerade für den späteren Kult der Hl. Familie so bedeutsamen Szenen um die Flucht nach Ägypten im Lukasevangelium nicht erwähnt werden, sondern die Hl. Familie lässt sich nach Lukas ohne nähere Begründung direkt nach der Darbringung im Tempel in Nazareth nieder (Lk 2,39). Joseph, Maria und das Kind Jesus bilden eine Familie, eine Gemeinschaft, die in einem Haus zusammenlebt. Maria und Joseph sind durch die Ehe miteinander verbunden (Mt 1,20; Lk 2,4). Sinn und Zweck dieser Ehe aber ist das Kind Jesus, das Maria nicht auf natürliche Weise, sondern vom Heiligen Geist empfangen hat (Mt 1,18.20). Die Familie entsteht durch die Geburt des Kindes. Jesus wird in der Öffentlichkeit für den Sohn Josephs gehalten (Lk 3,23) und Joseph gilt vor dem Recht als Vater Jesu, was in den aufgezeichneten Stammbäumen der Evangelisten deutlich wird (Mt 1,2-16; Lk 3,23-38). Lukas benennt weiterhin Joseph und Maria zusammen ohne Bedenken als „Eltern” Jesu (Lk 2,27.41.43), weil er über die jungfräuliche Empfängnis ausführlich gesprochen hat (Lk 1,26-38). Dass Joseph in 2 3 Alle folgenden Stellenangaben aus: Die Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament, Freiburg 1980. Vgl. zum folgenden Abschnitt: A. STÖGER, Art. Familie, Heilige, I. Exegese, in: R. BÄUMER/L. SCHEFFCZYK (Hg.), Marienlexikon, Bd. 2, St. Ottilien 1989, 438f.; Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hg. von G. FRIEDRICH, Bd. 5, Stuttgart 1965, 132-136; H. ERLEMANN, Die Heilige Familie. Ein Tugendvorbild der Gegenreformation im Wandel der Zeit. Kult und Ideologie, Münster 1993, 23. Die Heilige Familie - Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen 71 einem anderen Verhältnis zu Jesus steht als Maria, drückt Matthäus aus, wenn er die Redewendung „das Kind und seine Mutter” gebraucht (2,11.13.14.20.21). Doch übt Joseph selbstverständlich die Rechte des Vaters aus, da er, als Haupt der Familie, von Gott Offenbarungen und Aufträge erhalten hat, wie z. B. dem Kind seinen Namen zu geben (Mt 1,21 anders als bei Lk 1,31). Er ist es, der die Flucht, die Rückkehr und Ansiedlung in Nazareth leiten soll (Mt 2,13f., 19-23), was er auch getreu ausführt. 2. Ikonographie Ein erster Zugang zur kultgeschichtlichen Entwicklung der Hl. Familie bietet sich uns über die Kunst. Die christliche Kunst entwickelte ihre Motive zunächst aus den Erzählungen des Matthäus- und Lukasevangeliums sowie aus den apokryphen Kindheitsevangelien.4 Die Knappheit dieser schriftlichen Quellen lassen auch für uns heute noch vieles aus den ersten Lebensjahren Jesu im Dunkeln. In der Geschichte sah man zu allen Zeiten in dem 30 Jahre währenden – verborgenen – Leben Jesu in der Heiligen Familie ein bedeutungstiefes Mysterium, das besonders die frühen Schriftsteller dazu anregte, ergänzende Berichte, Erzählungen und Legendentexte, wie sie uns z. B. in den apokryphen Evangelien vorliegen, zu verfassen.5 Betrachtet man die Genese der Darstellung der Hl. Familie, so wird deutlich, dass sie sich in dem Maße entwickelte, in dem sich für den Glauben der Kirche neue Einsichten ergaben. Man kann eine Entwicklung vom Christusgeheimnis, also der Geburt des Gottessohnes, über das Mariengeheimnis hin zur Darstellung der Hl. Familie beobachten. Seit den Illustrationen in den Katakomben im 3. Jahrhundert bis weit in die Renaissance wurde die Geburtsszene mit der Verkündigung an die Hirten und der Anbetung der Magier verbunden. Der Stall kommt im 4. Jahrhundert hinzu. Sehr früh schon ist die besondere Beziehung Jesu zu Maria Thema der Bilder, z. B. das erste Bad oder die das Jesuskind stillende 4 5 H. SACHS, Art. Familie, Heilige, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2, Freiburg/Br. u.a. 21994, 4-7. Vgl. A. ADAM, Art. Heilige Familie, I. Verehrung, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Freiburg/Br. ³1995, 1276f. 72 Stefan Samerski Mutter, wobei über Maria ein Stern steht (Domitilla- und PriscillaKatakomben, spätes 3. Jahrhundert).6 Erst als Maria 431 auf dem Konzil zu Ephesus als „Gottesgebärerin“ anerkannt wurde7, begann ihre häufigere Darstellung. In den kommenden Jahrhunderten war sie mit dem Jesuskind das Hauptmotiv der christlichen Kunst, und zwar im Abendland wie im Morgenland. Erste Ansätze einer sich herauskristallisierenden Darstellung der Hl. Familie finden sich im 12. Jahrhundert. Das Spätmittelalter versuchte verschiedene Aspekte zusammenzuziehen und so mehrere Elemente der Kindheitsgeschichte Jesu in einem Bild zu vereinigen.8 Dies ist besonders in der Illustration der Anbetung der Könige festzustellen, bei denen die Hl. Familie häufig isoliert unter einer Muschelbedachung steht, durch Säulchen von den heranreitenden Königen getrennt ist und Maria mit dem Kind thront. Allein der neben ihr stehende Joseph stellt eine Verbindung zu den Königen her, indem er auf sie zeigt.9 Joseph wird regelmäßig wesentlich älter dargestellt, steht im Hintergrund und bewacht die Szene. Manches Mal wird er auch schlafend dargestellt. Frühchristliche und byzantinische Bilder von der Geburt sind wesentlich seltener als die mit Magiern und Hirten, also der Epiphanie. Typisch für den byzantinischen Einfluss in Italien ist das Bild von Duccio di Buoninsegna aus dem frühen 14. Jh.10 Der Unterschied zur rein byzantinischen Darstellung liegt in der Darstellung der persönlichen Beziehungen der Personen auf dem Bild zueinander. Die wachsende Marienfrömmigkeit der Hochgotik, die Krippenfrömmigkeit des hl. Franziskus und der Frühhumanismus vermittelten neue Impulse und Inhalte11, so dass die frühere, etwas distanzierte Dar6 7 8 9 10 11 N. SCHMUCK, Art. Katakombenmalerei, in: R. Bäumer/L. Scheffczyk (Hg.), Marienlexikon, Bd. 3, St. Ottilien 1991, 523-526. Kurz: H. JEDIN, Kleine Konziliengeschichte, Freiburg/Br. 21978, 25-27. B. BRAUN-NIEHR/K. NIEHR, Art. Kindheitsgeschichte Jesu, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, Stuttgart 1999, 1154. E. V. WITZLEBEN, Art. Familie, Hl., in: R. BÄUMER/L. SCHEFFCZYK (Hg.), Marienlexikon, Bd. 2, St. Ottilien 1989, 439f. DUCCIO DI BUONINSEGNA, Die Geburt Christi, mit den Seitenflügeln der Propheten Jesaja und Ezechiel, 1308-1311, (National Gallery of Art, Washington D.C). K. SCHREINER, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, Köln 2006, 310-323; CH. BENKE, Kleine Geschichte der christlichen Spiritualität, Freiburg/Br. 2007, 7579. Die Heilige Familie - Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen 73 stellung zwischen Maria und dem Jesuskind einer innigeren, natürlicheren Verbindung zwischen beiden wich. Damit änderte sich auch die bildliche Umsetzung des Joseph, der eine aktivere Rolle zugewiesen bekam. Typisch für die neue Darstellungsweise ist z. B. die berühmte Anbetungsszene von Giotto di Bondone.12 Zu einem eigenständigen Bildthema wurde die Dreiergruppe aus Joseph, Maria und Jesus schließlich in der sich ausdifferenzierenden italienischen Malerei des 14. Jahrhunderts13 – im Anschluss an Mt 2,13-23 und Lk 2,4152, also Geburt, Flucht nach Ägypten und Rückkehr nach Nazareth. Aus den Motiven der Kindheit Jesu schält sich ikonographisch die Darstellung der Eltern mit dem Kind heraus. In der Reduktion und der bereits teilweisen Lösung vom biblisch-szenischen Umfeld auf diesen Typus der Darstellung wird das Eigentliche und Zentrale des Glaubens deutlich. Durch die von Franziskus erstmals praktizierte Krippenfrömmigkeit beginnen die Künstlerschulen dem ein- bis dreijährigen Jesus und Jesus als dem halbwüchsigen Knaben in ihren Darstellungen größere Aufmerksamkeit zu widmen. Hier ist z. B. die berühmte Lorenzetti-Schule in Siena um 1400 zu nennen. Besonders die italienischen Maler Mantegna und Andrea del Sarto ergänzen die Kerngruppe der Hl. Familie um Johannes den Täufer. Darstellungen mit weiteren Nebenpersonen wie Elisabeth, Anna und Joachim sind dagegen als Ausschnitte aus dem Motiv der „Heiligen Sippe“, also der Großfamilie Mariens, zu verstehen, welche sich ab dem 15. Jahrhundert entwickelte. Am Ende des 14. Jahrhunderts fließen genrehafte, idyllische Züge in die Motive ein: Josef bereitet für Mutter und Kind ein Essen, oder er wärmt sich die Hände an einem Ofen. Auch das Herstellen von Windeln oder ihr Trocknen durch Josef wird darstellenswert. Dies bedeutet, dass die Künstler als Ausgangspunkt ihrer Darstellungen zwar noch die apokryphen Berichte heranzogen, sich aber insgesamt von diesen erzählenden Vorgaben lösten und eigene Inhalte zur Menschwerdung abbildeten. Es entwickelt sich hier der Typos des Andachtsbildes: die Heilige Familie im Gemach oder beim Lesen aus der Hl. Schrift. Die Abbildungen strahlen noch größere Harmonie, Idylle und familiären Frieden aus. Der 12 13 GIOTTO DI BONDONE, Die Anbetung der Könige, 1304 (Fresken der Arenakapelle in Padua). Vgl. K. RICHTER, Art. Familie, Heilige, in: Realenzyklopädie für Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, Tübingen 2001, 25. 74 Stefan Samerski Anbetungstypus entwickelt sich bis zum 16. Jahrhundert zum vorherrschenden Motiv. Ein besonderer Höhepunkt ist das theologischspekulativ ausgestaltete Geburtsbild von Matthias Grünewald auf der zweiten Schauseite des Isenheimer Altars.14 Die Hl. Familie-Bilder der Neuzeit zeigen gravierende Unterschiede zu den mittelalterlichen Darstellungen.15 Im Gegensatz zu diesen ist die Gruppe meist nicht mehr in einen geschlossenen Raum, sondern in die freie Landschaft gesetzt. Die Haus- und Gartenmetaphern (Zeichen der Jungfräulichkeit Mariens) werden mit der Renaissance aufgegeben. Sie pflegt die allgemeinen Schöpfungs- und Paradiesessymbole, besonders die des Baumes: Maria als Braut Christi und ecclesia-Personifikation ist hierbei meistens an den Baum als arbor vitae, als Paradies- oder Christussymbol gelehnt. Außerdem treten weiterhin die persönlichen Beziehungen der Figuren zueinander in den Vordergrund, die in den Darstellungen mehr auf ein menschliches Nachempfinden als auf eine strenge Bibelexegese abzielen. Im Barock wird zugunsten der Hauptpersonen auf immer mehr Zutaten verzichtet.16 Alle großen christlichen Maler widmen der Hl. Familie zahlreiche Bilder. Rubens z. B. bevorzugt die Auffassung eines lebensstarken, repräsentativen Familienbildes, wohingegen Rembrandt oft die stimmungsvolle häusliche Genreszene wählt. Das Hl. Familie-Portrait erhält nun eine typische Variante: den Typus der „Ruhe auf der Flucht“. Die Darstellung der Heiligen Familie in einer idyllischen Rastsituation auf ihrem Weg nach Ägypten fand weite Verbreitung. Die Szene des beschatteten Plätzchens, an dem Maria mit dem Kind und dem hl. Joseph lagert, verweist auf die Heilserwartung der Gläubigen und ihre Realisation im Erlösungswerk Christi, Marias und der Heiligen: eine Vorstellung, die für die Bilderwelt der nachreformatorischen katholischen Kirche sehr bezeichnend ist, da nach den Beschlüssen des Konzils von Trient (1545- 1563) die besondere Bedeutung der Heiligen für die Heilsvermittlung festgehalten und bekräftigt wurde. Dabei wurde besonderer Wert auf die Geborgenheit und die Intimität der Hl. Familie-Gruppe gelegt, die häufig durch eine Baumgruppe gegenüber einer weiten Landschaft künstlerisch erreicht wurde. 14 15 16 MATHIS GOTHART NITHART (Matthias Grünewald), Isenheimer Altar, etwa 1513, (Musée d’Unterlinden, Colmar). ERLEMANN, Die Heilige Familie, 43. Vgl. zu diesem Abschnitt: WITZLEBEN, Art. Familie, Hl., 440f; ERLEMANN, Die Heilige Familie, 43f. Die Heilige Familie - Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen 75 Bereits hier zeigt sich, dass mit der Frühneuzeit, also nach den Reformationen und dem Konzil von Trient, etwas ganz Neues beginnt.17 Alle Darstellungen des Mittelalters, auch wenn sie exklusiv die Dreiergruppe zeigen, sind in Komposition und Symbolik eigentlich als Variationen des Madonnenbildes zu verstehen. Maria in ihrer Beziehung zu Jesus ist dabei der Mittelpunkt aller Abbildungen. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts, im Zeitalter der Konfessionalisierung, in der sich die einzelnen Bekenntnisse gegeneinander religiös, politisch und auch künstlerisch abgrenzten18, findet nun eine neue Komposition im Auftrag der Jesuiten Verbreitung, die in der Folgezeit als „Heiliger Wandel“ populär wurde. Sie enthält die frontale Darstellung der Hl. Familie, deren Symmetrie sie zu einer Einheit verschmilzt, sowie die Darstellung von Gott-Vater und dem Heiligen Geist in den Wolken. Die beiden so entstehenden Achsen mit dem Kind als Schnittpunkt zeigen gewissermaßen die Trinität zwei Mal: eine himmlische und eine irdische Trinität. Das Licht des Hl. Geistes, welches auf die Wandernden fällt, symbolisiert die enge Verbindung zwischen den beiden Trinitäten. Damit nimmt die Familie als solche sakrosankte Züge als Abbild des Himmels und der göttlichen Dynamik an. Die theologische Bedeutung der Familie im irdisch-gesellschaftspolitischen Kontext wird damit ganz klar entwickelt und unterstrichen. Die Bezeichnung „Wandel” wurde neben der biblischen Szene des Auf-demWeg-Seins vor allem im Sinne des indiviuellen Lebenswandels und der menschlichen Pilgerschaft verstanden und damit als Idealbild der Lebensführung in der persönlichen Spiritualität reflektiert. Familie in ihrem Weg durch die Zeit und in ihren lebensräumlichen Veränderungen steht damit unter dem Schutz Gottes. Und Familie bedeutet immer: Vater, Mutter, Kind. Ein zweiter Betrachtungspunkt liegt im Vorgang „Wandel” als Gespräch zwischen den Heiligen, das sich der Gläubige selbst ausmalen konnte, was häufig in der Praxis als ein pastorales Instrument genutzt 17 18 A. ANGENENDT, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 21997, 242-248; ST. SAMERSKI, „Wie im Himmel, so auf Erden“? Selig- und Heiligsprechung in der Katholischen Kirche 1740 bis 1870, (= Münchener Kirchenhistorische Studien, 10), Stuttgart 2002, 374f. Dazu: A. OHLIDAL/ST. SAMERSKI (Hg.), Jesuitische Frömmigkeitskulturen. Konfessionelle Interaktion in Ostmitteleuropa 1570-1700, Stuttgart 2006, 7-13. W. REINHARD/H. SCHILLING (Hg.), Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993, Gütersloh/Münster 1996. 76 Stefan Samerski wurde. Der Schwerpunkt der Verbreitung dieser doppelten Trinität liegt in der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In diesem Zeitraum erlebten auch die sog. Jesus-Maria-Joseph- und Hl. Wandel-Bruderschaften ihre Blüte. Die Darstellung des Hl. Wandels finden wir vor allem in der Katechese als Kult-, Votiv- und Altarbild sowie auf vielfältigen Gegenständen des Prozessionswesens. Sie war also als sozialpolitisches Exempel in allen Bereichen des kirchlichen Lebens präsent und wurde besonders von den Reformkräften der katholischen Erneuerung, den Jesuiten und später auch den Kapuzinern, eingesetzt. Der Gedanke, die Heilige Familie als „trinitas terrestris“ zu verstehen, wurde in dieser Zeit vom Hl. Franz von Sales weiter ausgedeutet und fand großen Anklang bei den Lehrorden. Bereits hier wird deutlich, wie stark die Zeit der Konfessionalisierung Kunst, religiöses Leben und auch die Politik beeinflusste. Glauben war nun nichts Selbstverständliches mehr, sondern musste in der Konkurrenzsituation verschiedener Bekenntnisse häufig erkämpft und verteidigt werden. Unverkennbar ist bereits an dieser Stelle ein stark pädagogischer Zug in Kunst und Verkündigung, den es im Mittelalter so ausgeprägt und gewollt nicht gegeben hat. Dieser pädagogische Zug erstreckte sich nicht nur auf die Katechismuswahrheiten, sondern auch auf das soziale und politische Leben. 3. Frömmigkeitsgeschichte Zu einem ersten Aufblühen des Hl. Familie-Kults kam es, wie wir bei der Ikonographie bereits gesehen haben, in der Zeit des Barock. Nach dem Konzil von Trient führten die Bestrebungen der katholischen Kirche in Abgrenzung von den Reformationen dazu, sich auf mittelalterliche Traditionen zu besinnen, die Reinheit der Lehre herauszustellen und sich vom konfessionellen Gegner abzusetzen.19 Die Reformen, die alle Bereiche des kirchlichen Lebens betrafen, wurden in den einzelnen Diözesen erst nach und nach umgesetzt. Als Gegenpol zum bilderfeindlichen Calvinismus oder dem verkopften Luthertum baute die Katholische Reform auf die Kraft der sinnlichen Erfahrung des Religiösen im Kultus, in der Katechese wie auch in der frommen Einzelbetrachtung. Die Jesuiten verfassten 19 Immer noch ausführliche und beste Abhandlung: H. JEDIN, Geschichte des Konzils von Trient, 4 Bde., Freiburg/Br. 21951-1975; vergl. auch: H. SMOLINSKY, Kirchengeschichte der Neuzeit I, Düsseldorf 2003, 68-75. Die Heilige Familie - Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen 77 Dramen und Lieder mit familienthematischen Schwerpunkten. Gerade hier wird der pädagogische Effekt ganz deutlich.20 Die Verehrung der Hl. Familie fand nun Eingang in alle katholischen Bräuche und Frömmigkeitsformen, da man die Heiligenverehrung als genuin katholisches Charakteristikum neben einem prägnanten Eucharistie- und Trinitätskult dem Protestantismus entgegenstellte. In diesem Rahmen war die Verehrung der Hl. Familie also vor allem als etwas Personalisiertes, Persönliches zu verstehen. Es darf dabei aber nicht übersehen werden, dass diese neue Frömmigkeitsform eine Konstruktion aus den verschiedenen Einzelkulten und daher inhomogen war: Wir haben hier eine starke Marienfrömmigkeit vor uns wie auch eine das Menschliche unseres Erlösers betonende Andacht und die nun erst aufkommende Josephsverehrung. Das zweite Phänomen ist die große Verbreitung der Andachtsform der Hl. Familie: Kirchen- Kapellen- und Altarpatrozinien nahmen ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunders deutlich zu. Mit der Erhebung des hl. Joseph zum Landespatron verschiedener deutschsprachiger Diözesen und Länder seit 1654 mehren sich diese Patrozinien. Für das 18. Jahrhundert ergeben sich 56 Belege von Patrozinien der Hl. Familie im deutschsprachigen Raum. Mit der Säkularisation kam die Errichtung von Kirchen, Kapellen und Altären zu Ehren der Hl. Familie fast völlig zum Erliegen, nahm aber in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wieder zu, wie wir später noch näher sehen werden. Nach diesen zusammenfassenden Beobachtungen zur frühneuzeitlichen Hl. Familie-Devotion möchte ich verschiedene neue bzw. neuverstandene Elemente der Volksfrömmigkeit herausgreifen: a) Joseph, b) Maria, c) Loreto, d) Guter Tod. a) Der reformierte Karmel hatte seit seinen Anfängen den hl. Joseph zu seinem wichtigsten Patron gewählt.21 Bekanntlich hatte die hl. Theresia fast 20 21 Zur Praxis der frühen Jesuiten: J. O’MALLEY, Die ersten Jesuiten, Würzburg 1995; DERS., u.a., The Jesuits. Cultures, Sciences and the Arts, 1540-1773, Toronto u.a. 1999. B. MIKUDA-HÜTTL, Vom „Hausmann“ zum Hausheiligen des Wiener Hofes. Zur Ikonographie des hl. Josef im 17. und 18. Jahrhundert, Marburg/L. 1997; ST. SAMERSKI, Wie Joseph über die Alpen kam – die Karmeliten und die Anfänge der Josephsverehrung im deutschsprachigen Raum, in: Die Bedeutung des hl. Josef in der Heilsgeschichte. Akten des IX. Internationalen Symposions über den heiligen Josef, 25. September bis 2. Oktober, Kevelaer, Bd. 2, hg. von J. HATTLER/G. 78 Stefan Samerski alle ihre Neugründungen dem Nährvater Jesu geweiht. Mit dem Einzug der Unbeschuhten Karmeliten in nordalpine Gebiete wurde auch hier der Josephskult heimisch. Vor allem die Habsburger nahmen sich seiner an, ernannten Joseph 1653 zum Landespatron und 1675 zum Reichspatron. Auf Bitten des Habsburger-Kaisers wurde Joseph 1726 in die Allerheiligenlitanei aufgenommen. Spielte Joseph im Mittelalter in bildlichen Darstellungen (wie gesehen) nur eine Nebenrolle und trat allenfalls als Patron des guten Todes in den Vordergrund, so gibt es seit der Frühen Neuzeit erstmals Abbildungen, die ihn individuell zeigen. Meist hat er dann das Handwerkszeug des Zimmermanns in Händen, was in der Barockzeit als Hinweis auf die Gewissensdisziplin verstanden wurde: Winkelmaß und Lot etwa als Zeichen der Buße und Beichte. In Andachtsschriften entwickelt sich das Bild vom keuschen Joseph. Es wird also deutlich, dass der Nährvater Jesu nun mit einem indiviuellen Rollenverständnis im Rahmen der Sozialdisziplinierung in Zusammenhang gebracht wird. Außerdem ist er seit Kaiser Leopold I. (Mitte des 17. Jahrhunderts) der dynastische Patron der Habsburger, der über Politik und Schlachtenglück der Habsburger wacht. Jede Josephsverehrung war also in der Barockzeit eine Loyalitätserklärung an die Habsburger-Herrscher. Kaisertreue Städte errichteten daher auf den Marktplätzen Josephssäulen und –brunnen. b) Ähnliches lässt sich von der Marienverehrung nördlich der Alpen berichten. Hatte sie bereits eine viel längere Tradition als die Josephsverehrung, so lässt sich doch seit der Katholischen Reform um 1600 auch hier ein gewandeltes Verständnis erkennen. Auch sie geriet in den Bereich politisch-dynastischer Interessen von katholischen Fürsten, allen voran Bayern und Habsburg, die Darstellungen von Maria auf ihren Fahnen mit in die Schlacht führten und ihr ihre Länder weihten.22 Die Muttergottes 22 ROVIRA, Kisslegg 2006, 725-37; Ders., Hausheilige statt Staatspatrone. Der misslungene Absolutismus in Österreichs Heiligenhimmel, in: Die Habsburgermonarchie 1620 bis 1740. Leistungen und Grenzen des Absolutismusparadigmas, hrsg. von PETR MAT’A/TH. WINKELBAUER (= Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 24), Stuttgart 2006, 251-78; DERS. (im Druck), „…in allen Stücken als Nothelfer kennengelernt“. Die Anfänge des globalen Josephskults als Wechselwirkung zwischen karmelitischer Spiritualität und dynastischem Interesse der Habsburger, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 116, 2008. SCHREINER, Maria, 393-409; Zuletzt: ST. SAMERSKI, Maria zwischen den Fronten. Bayerische Einflüsse auf die Pietas Austriaca und die ungarische Eigentradition in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Ungarn-Jahrbuch 27, 2004, 359-371; DERS., Die Heilige Familie - Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen 79 wurde auch in anderen Ländern wie Polen und Frankreich zum Zeichen der siegreichen katholischen Konfession und der politischen Souveränität des jeweiligen Landes verehrt. Kaiser Ferdinand II. bezeichnete sie als Generalissima und “oberstes Kriegshaupt”. Er und seine Nachfolger pilgerten zu ihrem Regierungsbeginn nach Altötting, um ihre Herrschaft unter den Schutz der Gottesmutter zu stellen. Vergleichbares lässt sich etwa aus Polen berichten, wo die Muttergottes von Tschenstochau nach dem Abwehrkampf gegen die Schweden zur Königin Polens erhoben wurde. Auch bei Maria drückte sich politischer Erfolg z. B. in Form von Mariensäulen aus, die die reine Lehre und die siegreiche Kirche versinnbildlichten. Nicht umsonst entstand in jenen Jahrzehnten europaweit die Verehrung der Immakulata als die Personifikation der makellosen Braut Christi, der römischen Kirche. c) Die Loreto-Verehrung lässt sich sicherlich als ein spezieller Ausdruck des Hl. Familie-Kultes verstehen.23 Verbunden ist sie mit Wallfahrten, die stark marianisch geprägt sind. Darüber hinaus ist die Loreto-Verehrung aber auch ein Motor der Hl. Familie-Devotion. Die konkrete Verehrung der Heiligen Familie ist überhaupt nachweisbar, seit das Haus von Nazareth in Loreto/Italien verehrt wird. Schon im 11. Jh. führte eine Vision zur Errichtung des Hauses der Heiligen Familie in Walsingham in England. Seit 1315 ist eine Kirche auf dem Hügel von Loreto in den Marken Italiens erwähnt, in der eine Madonna mit Jesuskind verehrt werde. Seit dem 14. Jahrhundert nimmt der Strom der Pilger aus ganz Europa aufgrund der Wundererzählung zu, wonach Engel das Haus Mariens in Nazareth zuerst 1291 nach Tsat an der illyrischen Küste und dann am 10. Dezember 1294 auf den Hügel von Loreto getragen hätten. Diese Legende vom wunderbaren Ursprung der Kirche wurde durch Pietro Tolomei aus Teramo (gest.1473) im frühen 15. Jahrhundert verbreitet. Um die großen Pilgerströme zu fassen, errichtete man daraufhin 1468 über der Kapelle eine große Basilika. Vermutlich wurde das Haus der Hl. Familie in Nazareth von den Kreuzfahrern abgebaut und in den Marken nach ihrer Flucht aus Palästina Ende des 13. Jahrhunderts wieder errichtet. 23 Hausheilige statt Staatspatrone, 251-278. M. LUPI, Art. Loreto, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6, Freiburg/Br. ³1997, 1052f.; ERLEMANN, Die Heilige Familie, 121f.; G. MELZER, Loreto. Der erste und ehrwürdigste Marienwallfahrtsort, Lauerz 22003. 80 Stefan Samerski Die religiöse Bedeutung des Hl. Hauses – auch casa santa genannt – liegt in der Lokalisierung mehrerer heilsgeschichtlich wichtiger Begebenheiten in dieses Gebäude, wie z. B. Geburt Mariens, Verkündigung und Empfängnis. Außerdem soll die Casa Santa der Legende nach auch die Wohnung der Hl. Familie nach ihrer Rückkehr aus Ägypten und die Heimstatt der Apostel nach der Himmelfahrt gewesen sein. Deutlich werden hier der Aspekt der Erlösung, die an Jesus Christus gebunden ist, und die bereits erwähnte Ausrichtung auf die Gottesmutter. Aber auch Joseph ist hier kultisch vertreten: Sein Grab war ursprünglich in einer benachbarten Grotte verehrt worden, bis der Leib des Nährvaters Jesu schon von den Kreuzfahrern nach Betlehem überführt wurde. Mit der Herausbildung der Überlieferung, die im Laufe des 16. Jahrhunderts durch mehr und mehr Einzelheiten und Daten präzisiert wurde, entstehen Schriften, die die Legende und den Wallfahrtsort Loreto und damit die Marienverehrung gegen die Reformation verteidigen. Kämpfte man im 15. Jahrhundert in Loreto gegen die Bedrohung türkischer Piraten, so wurde im 16. Jahrhundert gegen die geistige Bedrohung der Reformationen Stellung bezogen. Erst in der Gegenreformation begann man nördlich der Alpen mit Architekturkopien, die im 17. Jahrhundert detailgetreu dem Original entsprachen.24 Solche Kopien, die über Tirol und Bayern in den habsburgischen und norddeutschen Raum eindrangen, waren als Großreliquien zu verstehen, die das Heilige Land greifbar machten, in das man nicht mehr pilgern konnte. Die Casa Santa wurde für die katholische Kirche zu einem Bollwerk gegen die Reformation, was sich im 16. und 17. Jahrhundert durch die Wallfahrt berühmter Persönlichkeiten zeigte: Der hl. Petrus Canisius besuchte Loreto mehrfach, so z. B. 1558 mit Bischof Otto Truchsess von Waldburg, um von dort aus die Lauretanische Litanei zu verbreiten. Auch der Wittelsbacher Herzog Albert V. kam schon 1555 dorthin, so wie die Gemahlin Herzog Wilhelms V., Renata von Lothringen, die 1575 die Litanei in der Frauenkirche in München singen ließ. Der nachmalige Kaiser Ferdinand II., der zum großen Gegenreformator in den deutschsprachigen Landen wurde, gelobte hier 1598 die Bekämpfung des Protestantismus in seinem österreichischen Herrschaftsgebiet. 24 F. MATSCHE, Gegenreformatorische Architekturkopien. Casa-Santa-Kopien und Habsburger Loreto-Kult nach 1620, in: Jahrbuch für bayerische Volkskunde 1, München 1978, 81-118; W. PÖTZL, Art. Loretokapellen, in: Marienlexikon, Bd. 4, St. Ottilien 1992, 155; SAMERSKI, Hausheilige statt Staatspatrone, 275. Die Heilige Familie - Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen 81 Der Marienkult und die Verehrung der Hl. Familie waren für diese Herrscher von besonderem Interesse bei dem Bemühen, ihre Gebiete nach außen und nach innen zusammenzuhalten und den zentrifugalen Kräften der Glaubensspaltung Einhalt zu gebieten. Durch diese Elitenfrömmigkeit wurde die Marienverehrung an die Staatsfrömmigkeit angebunden. In Österreich verband sich die Loreto-Frömmigkeit mit der Pietas Austriaca, mit der Frömmigkeit des Habsburger-Herrschers.25 Ahmten die Gläubigen diese nach, galt das gleichsam als Loyalitätsbekundung gegenüber dem Fürsten. Die genauen Architekturkopien in Bayern und den Habsburgerländern symbolisierten im 17. und 18. Jahrhundert den Sieg des Katholizismus nicht nur über die Irrlehren, sondern auch über die militärischen Gegner der katholischen Fürsten (etwa im Dreißigjährigen Krieg). Dieser militärische Aspekt trat ganz deutlich nach dem Sieg der Katholischen Allianz in der Seeschlacht von Lepanto 1571, die bekanntlich dem Rosenkranzgebet zugeschrieben wurde, hervor, wie auch nach der Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620, in deren Gefolge die Erbländer bis 1918 kompromisslos rekatholisiert wurden. Im marianisch determinierten Loreto-Kult als Hl. Familie-Frömmigkeit wurden die Gläubigen auch emotional in das katholische Weltbild eingebunden, das Verhaltensmaßregeln auf sehr anschauliche Weise vermittelte. Ganz deut25 Zur Pietas Austriaca immer noch grundlegend: A. CORETH, Pietas Austriaca. Österreichische Frömmigkeit im Barock, Wien 21982; TH. WINKELBAUER, Ständefreiheit und Fürstenmacht. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen Zeitalter, Teil 2, Wien 2003, 185-203; SAMERSKI, Hausheilige statt Staatspatrone. 82 Stefan Samerski lich wird dies in Bayern und den habsburgischen Erbländern, wo das gesamte Herrschaftsgebiet mit Loreto-Kapellen und Mariensäulen überzogen wurde. Das weltliche Territorium wurde so zu einer Sakrallandschaft, der Boden gewissermaßen überall geheiligt. d) Als viertes Element der barocken Volksfrömmigkeit sei das „GutTod-Patrozinium“ erwähnt.26 Das größte Risiko für den zeitgenössischen Christen bedeutete ein plötzlicher, unvorbereiteter Tod, d. h. ohne Sakramentenempfang und mit persönlicher Sündenlast. Man fürchtete langandauernde Qualen im Fegefeuer oder sogar die ewige Verdammnis. Hier hatten die Fürbittfunktionen der Heiligen mit ihren Verdiensten ihren Platz, um nämlich die kommenden 26 ERLEMANN, Die Heilige Familie, 158-163. Die Heilige Familie - Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen 83 Strafen zu mildern etc. So war beispielsweise der hl. Christophorus ein beliebter Heiliger in mittelalterlichen Westwerken von Kirchen, der vor einem jähen Tode schützen sollte. Nun übernahmen diese Aufgabe die drei höchsten heiligen Personen: Jesus, Maria und Joseph. Bei der Anrufung dieser hervorragendsten Heiligen musste die Bitte um Beistand und Hilfe erfolgreich sein, zumal sich die Gläubigen als ‚Kinder‘ der Muttergottes und des Vaters der Gläubigen, Joseph, auf einer persönlichen Ebene mit ihnen verbunden fühlten. Zudem galt Joseph seit dem Mittelalter als Patron des Guten Todes. Ab dem beginnenden 17. Jahrhundert sind Kupferstiche, Totenzettel und Votivbilder erhalten, die den nahen Tod, aber auch die fürbittenden Joseph und Maria darstellen. Zur weiteren Aufwertung der Dreiergruppe gehörten zahlreiche Lieder dieser Zeit, die immer wieder die drei Namen Jesus, Maria und Joseph wiederholten. Auch zu diesem Patrozinium entstanden in der Folgezeit Gut-Tod-Bruderschaften. Mit der Aufklärung änderten sich die Grundbedingungen des religiösen Lebens nachhaltig.27 Man beobachtet einen Bruch mit den barocken Frömmigkeitstraditionen in Form, Ikonographie und Inhalt. Die historisierende Deutung der Heilsgeschichte des 19. Jahrhunderts hatte schließlich für Wunder kaum noch Platz. Das Verbot der Jesuiten 1773 versetzte der Barockfrömmigkeit vielfach in der Praxis den Todesstoß.28 Nun verschwanden sogar die Loreto-Kapellen wie in München oder Wien, wo der aufgeklärte Joseph II. sie in der Wiener Hofkirche (Augustinerkirche) 1784 abbrechen ließ. Die Säkularisation tat im Entzug der materiellen Basis ein übriges, um viele angestammte Formen der Volksfrömmigkeit zu unterdrücken. Die Beschlagnahmung des Bruderschaftsvermögens und die zahlreichen Klosteraufhebungen führten zur Stilllegung vieler Fraternitäten und Kongregationen, die bisher den Kult der Hl. Familie gepflegt hatten. Der neue Aufstieg des Katholizismus nach den napoleonischen Wirren wurde aber bereits in der erwachenden Romantik erkennbar, die die Frömmigkeit unter mittelalterlichen Vorzeichen wieder entdeckte. Einen zweiten Aufschwung erhält die Verehrung der Heiligen Familie in der Frömmigkeit des 18. Jahrhunderts.29 Diese Blüte ist beheimatet in der 27 28 29 ANGENENDT, Heilige und Reliquien, 261-273; SMOLINSKY, Kirchengeschichte der Neuzeit, 163-179; ERLEMANN, Die Heilige Familie, 167. Dazu zuletzt: CH. VOGEL, Der Untergang der Gesellschaft Jesu als europäisches Medienereignis (1758-1773). Publizistische Debatten im Spannungsfeld von Aufklärung und Gegenaufklärung, Mainz 2006. Kurzer Überblick: K. SCHATZ, Kirchengeschichte der Neuzeit II, Düsseldorf 2003, 84 Stefan Samerski sich überschwänglich entwickelnden Verehrung von Maria und Joseph als Einzelgestalten. Hier wie auch im 17. Jahrhundert erkennt man den Aufschwung des Josephskultes als Schrittmacher der Hl. FamilieFrömmigkeit.30 Der hl. Joseph spielte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als Vorbild bei der religiösen Arbeiterbildung in Frankreich eine zentrale Rolle. Seine weit verbreitete und ebenfalls euphorische Verehrung hätte fast zu seiner Aufnahme in die Anrufungen des Schuldbekenntnisses und des Suscipe-Gebetes der Gabenbereitung geführt. 1870 erfolgte die Erhebung Josephs zum Gesamtpatron der Kirche. Es überrascht nicht, dass diese religiös so intensive Zeit mit ihrer populären Frömmigkeit auch den Kult der Hl. Familie reaktivierte. Er nahm besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem von Kanada ausgehend, unter Papst Leo XIII. einen weltweiten Aufschwung. Es ging nun darum, die hl. Familie in ihrer Vorbildfunktion zur Stärkung der gefährdeten christlichen Familien, aber auch zur Abwehr familienfeindlicher Strömungen einzusetzen.31 Die industrielle Revolution, die Verstädterung und Verelendung ganzer Regionen hatte die innere Struktur der Familien zerrüttet: Kinderarbeit, Aushöhlung der christlichen Werte und die Entfremdung der Arbeiterschaft von der Kirche etc. waren die Folgen. Der Kult der Hl. Familie war im 17. Jahrhundert durch den ersten Bischof der Diözese Quebec, Francois de Montmorency-Laval, nach Kanada gelangt.32 Dort verbreitete er sich rasch und wirkte intensivierend auf Europa zurück. Aber auch in Belgien gab es neue Kraftquellen dieser Devotion: die in Lüttich neu gegründete „Bruderschaft von der Heiligen Familie“ (1844), sowie der durch Leo XIII. besonders geförderte „Verein der christlichen Familie“ (1861) boten wichtige Impulse für den Aufschwung im 19. Jahrhundert. Das Ideal der christlichen Familie wurde dabei auf die Lebensführung des Einzelnen hin konkretisiert und vermittelte ein ganz bestimmtes soziales Rollenverständnis: Aufgaben und Pflichten einer jeden Person im familiären und gesellschaftlichen Gefüge 30 31 32 48-86. O. KÖHLER/G. BANDMANN, Formen der Frömmigkeit, in: H. JEDIN (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 6/2: Die Kirche in der Gegenwart. Die Kirche zwischen Anpassung und Widerstand (1878 bis 1914), Freiburg/Br. u.a. 1985, 265-315, hier: 272f. ADAM, Art. Heilige Familie, 1276f. J. GRÜHN, JENS, Art. Montmorency-Laval, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, Freiburg/Br. ³1995, 446. Die Heilige Familie - Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen 85 wurden beschrieben und danach festgelegt. Vergleicht man den Funktionsradius der spezifischen Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts mit dem der Barockzeit, muss man festhalten, dass hier im Laufe der Zeit eine Verarmung und Engführung erfolgt ist. Die barocke Devotion ließ inhaltlich mehr Spielraum für private Andacht. Ausdruck der starken Verehrung ist seit 1893 der Antrag verschiedener Diözesen und Orden, ein Fest zur Ehre der Hl. Familie feiern zu dürfen, welches lokal für den 3. Sonntag nach Epiphanie gewährt wurde. Erst Benedikt XV. führte es 1920 für die Gesamtkirche ein und legte das Fest der Heiligen Familie liturgisch auf den Sonntag nach Epiphanie. Seit der Reform des römischen Kalenders feiert man das Fest am Sonntag der Weihnachtsoktav oder, falls die Oktav eines Sonntags entbehrt, am 30. Dezember. Die liturgischen Texte bitten um die Gnade, „dass auch unsere Familien in Frömmigkeit und Eintracht leben und einander in der Liebe verbunden bleiben” (Tagesgebet) und „dass wir das Vorbild der Heiligen Familie nachahmen und nach der Mühsal des Lebens in ihrer Gemeinschaft das Erbe erlangen...” (Schlussgebet).33 Im Rahmen dieser zweiten Blütezeit der Verehrung der Heiligen Familie lohnt es sich abschließend, einen Blick auf die Neugründungen religiöser Genossenschaften jener Jahrzehnte zu werfen, die besonders die Heilige Familie zu ihrem Vorbild haben. Die Kirche verzeichnet zwischen 1650 und 1986 etwa 105 Ordensgründungen, die der Hl. Familie gewidmet sind und in allen Bereichen des Apostolates und der Caritas wirken.34 Die meisten von ihnen wurden zwischen 1820 und 1900 errichtet. Obgleich es schwer ist, hier einen Überblick zu gewinnen, lassen sich folgende knappe Eindrücke formulieren: Die Neugründungen sind meist stark marianisch geprägt, widmen sich neben pastoral-caritativen Zielen häufig auch der Ausbildung der Jugend und stehen in ihrer Spiritualität nicht selten dem Franziskanerorden nahe. Zu nennen sind: Die „Kongregation der Missionare der Hl. Familie“ (MSF), welche 1895 von J. B. Berthier in Grave (Holland) gegründet wurde und Maria besonders in ihrer Berufung, ihrem Dienst und ihrer Haltung im Geheimnis der Hl. Familie verehrt. Als priesterliche Missionsgemeinschaft vertraut die 33 34 Vgl. auch für den weiteren Abschnitt: ADAM, Das Kirchenjahr mitfeiern, 121. Vgl. zu diesem Abschnitt: K.S. FRANK, Heilige Familie, III. Religiöse Genossenschaften, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Freiburg/Br. ³1995, 1278. 86 Stefan Samerski weltweit verbreitete Kongregation mit etwa 1000 Mitgliedern auf die Hilfe und das Vorbild Marias für das Leben nach den Evangelischen Räten. Seit 1919 ist die Kongregation auch in Deutschland tätig. Die „Hijos de la Sagrada Familia“ wurden 1864 in Tremp bei Lérida in Spanien gegründet, um als Priesterkongregation pastorale und pädagogische Aufgaben zu übernehmen. Sie wurde von Pius IX. insbesondere mit der Verbreitung der Verehrung der Heiligen Familie betraut. Unter den vielen italienischen Gemeinschaften wären z. B. zu nennen, die „Suore della Sacra Famiglia di Nazareth“, welche 1875 von der adeligen Polin Franziska Siedliska in Rom gegründet wurde. Obwohl sie zunächst als kontemplative Gemeinschaft geplant war, übernehmen sie bis heute mit etwa 1700 Schwestern weltweit pastorale und sozial-caritative Aufgaben. Von den etwa 20 Gemeinschaften französischen Ursprungs, die den Namen der Heiligen Familie tragen, wären die „Soers de la Sainte-Famille de Bourdeaux“ zu erwähnen. Sie wurden 1820 von P. B. Noailles innerhalb einer weit verzweigten Vereinigung zu Ehren der Heiligen Familie gegründet. Zu ihr gehören etwa 2800 Schwestern. In der in München gegründeten Gemeinschaft der „Schwestern der Hl. Familie“ leben nach der franziskanischen Drittordensregel etwa 100 Schwestern. Sie wurde 1914 gegründet und lange Zeit durch ihren Spiritual, den Sel. P. Rupert Mayer, geprägt. Ihre Schwerpunkte sind die Mädchenbildung, Familienpflege und andere pastoral-caritative Dienste. Die Heilige Familie und die christliche Familie Peter von Steinitz A. Einführung Die auf den ersten Blick harmlos erscheinende Verknüpfung der beiden Begriffe Heilige Familie und christliche Familie hat es in sich. Bei näherem Hinsehen wird nicht jeder sie so ohne weiteres akzeptieren. Und zwar aus zwei Gründen: Für den Menschen unserer postchristlichen Zeit bedeutet die Hl. Familie gar nichts bzw. ein für ihn irrelevantes Relikt aus einer vergangenen Zeit. Der gleiche „moderne“ Mensch wird den Gedanken mit Skepsis aufnehmen, dass es überhaupt eine „christliche Familie“ gibt, denn sehr viele Christen leben in allem, auch was Ehe und Familie angeht, so wie die anderen. (So erklärt sich z. B., dass in den U.S.A. über sechzig Prozent der Katholiken sich dafür ausgesprochen haben sollen, dass jede Frau ein „Recht auf Abtreibung“ habe.) B. Hat die Hl. Familie Vorbildcharakter? Die Hl. Familie - Jesus, Maria und Josef - wird uns vonseiten der Kirche seit Jahrhunderten als vorbildlich hingestellt. Warum? Und dann: In welcher Hinsicht vorbildlich? Diese Frage, warum gerade diese, ist zunächst einfach zu beantworten: Es sind der Erlöser, seine heilige Mutter und ein ausgezeichneter heiliger Mann, Josef, und nicht irgendwelche historischen Persönlichkeiten, die interessant sind, aber zu denen wir keinen persönlichen Bezug haben. Wenn es nämlich darum ginge, käme sogleich die Frage: Warum sollte ein Ehepaar versuchen, sich das Eheleben, sagen wir, von Cäsar und Kleopatra oder von Ludwig XVI. und Marie Antoinette zum Vorbild zu nehmen? Abgesehen von den mit diesen Ehen verbundenen Komplikationen, die eine allgemeine Vorbildlichkeit nicht gerade nahe legen, 88 Peter von Steinitz wären diese historischen Persönlichkeiten in keiner Weise dazu angetan, uns an ihnen zu orientieren, auch wenn man von ihrem gesellschaftlichen Umfeld absieht, das für die meisten Menschen nicht nachahmbar ist. Aber auch ein nach Ansicht der Zeitgenossen vorbildliches Ehe- und Familienleben historischer Personen, z. B. Johann Sebastian Bachs und seiner Frau Maria Barbara würde nicht jedem vorbildhaft erscheinen. Maria Barbara starb nach 13 Ehejahren, und nicht jeder ist musikalisch und lutherischen Bekenntnisses. Ja, bei näherem Hinsehen auf Familiengeschichten aus alter oder neuer Zeit müssen wir feststellen, dass es kaum eine Ehe oder eine Familie gibt, mit der sich jeder und unter jedem Gesichtspunkt identifizieren kann. Vielleicht würden uns noch am ehesten die eigenen Eltern in dieser Weise exemplarisch vorkommen. Dann aber stellt sich die Frage: exemplarisch für alle Menschen, etwa im Sinne des Kategorischen Imperativs von Kant, oder nur für mich? Wenn wir so eine größere Zahl uns bekannter Familien haben Revue passieren lassen, erscheint es uns gar nicht mehr befremdlich, dass Maria und Josef mit dem Kind uns als Vorbild vor Augen gestellt werden. Tatsächlich vereinen diese drei Personen – auch wenn man sie zunächst nur rein menschlich betrachtet – in sich eine Menge von Vorzügen. Im einzelnen: Sie sind erfrischend ‚normal’; keiner von den dreien ist irgendwie seltsam oder ‚originell’; bei fast allen anderen Menschen wäre das anders. Man stelle sich vor, die Mutter wäre wie Maria Stuart oder Eva Herman und der Vater vielleicht wie Bismarck oder Michael Ballack – einige würden sagen: großartig, genau so, aber viele andere wären spontan ablehnend. Der hl. Josefmaria Escrivá spricht von der ‚bendita normalidad’, der gesegneten Normalität, die wir leicht unterschätzen, denn damit ist ja nicht platte Durchschnittlichkeit gemeint, sondern etwas, das vielen, wenn nicht sogar allen Menschen gemeinsam ist. Und Maria und Josef sind so gut wie jedem sympathisch, weil sie normal sind, dabei aber nicht durchschnittlich. Sie führen ein äußerlich durchschnittliches Leben, sie gehören weder der Oberschicht an noch sind sie arme Leute. Sie leben nicht in der Hauptstadt, sondern in einer Kleinstadt, an der nichts Besonderes ist, die nicht einmal in den alten Prophezeiungen Erwähnung findet. Die Heilige Familie und die christliche Familie 89 Beide Eltern üben einen Beruf aus, der häufig vorkommt, so dass viele Menschen, auch Menschen verschiedener Epochen, sich darin wieder finden können. Josef ist ein Handwerker. Es bleibt etwas offen, ob Schreiner, Zimmermann oder sonst ein Bauhandwerker. Jesus wird in der Vulgata als Fabri filius bezeichnet. Faber heißt Handwerker in einem weiteren Sinne. Josefs Tätigkeit ist nicht eine, wie sie in Eliteschichten üblich ist; er ist nicht Professor oder Staatsmann. Nein, sein Handwerksberuf befindet sich in der Mitte zwischen intellektueller Tätigkeit und Fließbandarbeit. Auch Maria arbeitet wie Millionen anderer Frauen, nämlich im Haushalt. Der einzige Unterschied zu heute: Die Hausarbeit war damals ohne die heutigen Geräte viel mühsamer. Wenn hier anschließend von den Tugenden die Rede sein wird, können wir auf das Arbeiten Josefs und Marias zurückkommen. Schließlich das Kind. Jesus ist ganz Kind. Nirgendwo im Evangelium steht, dass Jesus als Kind Wunder gewirkt hat, wie einige Apokryphen, z. B. das sog. Jakobusevangelium behaupten (Jesus formte aus Ton ein paar Vögelchen, hauchte sie an, und sie flogen davon). Nicht dass er das nicht hätte tun können. Er hätte die Macht gehabt, denn er war schon als Kind der Gottmensch, nicht erst bei der Taufe im Jordan, aber es lag ihm daran, durch sein normales Leben in Nazareth zu demonstrieren, dass die Christusnachfolge (die ‚Imitatio Christi’) im Rahmen ganz alltäglicher Dinge nicht nur möglich, sondern für die meisten Menschen genau das Richtige ist. Wie in vielen Familien stirbt der Vater zuerst. Jesus, der bis zu seinem 30. Lebensjahr in Nazareth verbleibt, begleitet ihn zu einem guten Tod. An dieser Stelle wären gleich zwei Anmerkungen zu machen. Zum einen: Muss ein junger Mensch nicht spätestens ab dem 18. Lebensjahr von zuhause ausziehen? Ich würde nicht sagen, dass das heute in jedem Falle falsch ist, aber zumindest ist es ein Teil einer Auffassung, die man schon als Ideologie bezeichnen muss: Du musst auf jeden Fall dein eigenes Leben leben. Dabei hat dir die alte Generation überhaupt nichts zu sagen. Nicht immer, aber in sehr vielen Fällen ist da der junge Mensch überfordert, und die Alten vereinsamen vor der Zeit. Die Hl. Familie nachahmen heißt dabei sicher nicht, dass der heranwachsende Mensch bis zu seinem 30. Lebensjahr zuhause bleiben muss. Zumal in diesem Alter die Frage nach der möglichen Gründung einer eigenen Familie in den Vordergrund treten kann. Das ist bei Jesus kein Gesichtspunkt, da er selbst zwar die Ehe hoch schätzt und sie sogar zur Würde eines Sakraments erhebt, aber für seine eigene Person die Ehelosigkeit ‚um des Himmel- 90 Peter von Steinitz reichs willen’ vorzieht (auch darin gibt er Vorbild, aber diesmal nur für einige wenige, nach dem Wort „Wer es fassen kann, der fasse es!“) Die Hl. Familie, so können wir mit Fug und Recht sagen, bietet für den Menschen, der sich in einer unruhigen Welt an Werten orientieren möchte, auch schon unter bloß menschlichen Gesichtspunkten in der Tat ein ideales Vorbild. Denn – und das sei an dieser Stelle eingeschoben – der Mensch kann sich viel leichter an Personen orientieren als an Ideen. Nur die wenigsten sind so sehr an abstraktes Denken gewöhnt, dass es ihnen genügt, einige theoretische Richtlinien zum Thema Familie zu hören, um genau zu wissen, wie ‚man es macht’. C. Orientierung der christlichen Familie aus der übernatürlichen Sicht des Glaubens Aber nicht nur unter den erwähnten rein menschlichen Gesichtspunkten, die wahrhaftig nicht gering zu schätzen sind, bietet die Familie von Josef, Maria und Jesus eine Hilfestellung zur Orientierung. Im Lichte des Glaubens an die Menschwerdung des Logos, des Gottessohnes im jungfräulichen Schoß Marias, an die Erlösung, die durch ihn für alle Menschen gewirkt wurde, gewinnt das Thema „christliche Familie“ eine weitere Tiefendimension. Denn wenn der Sohn Gottes von den etwa dreiunddreißig Jahren seines irdischen Lebens dreißig in einer so auffallend unauffälligen Familie zugebracht hat, und diese Jahre sicher nicht nur dazu da waren, die Zeit bis zu seinem öffentlichen Auftreten zu überbrücken, dann stellen sie offensichtlich eine Botschaft dar. Eine Botschaft, die alle Menschen angeht, aber im besonderen die große Mehrzahl derjenigen, die eine Familie gründen und diese im Sinne Gottes gestalten wollen. Der hl. Josefmaria Escrivá, der Gründer des Opus Dei, der einen Weg der Heiligkeit nicht nur für zölibatäre, sondern auch für verheiratete Christen konkretisiert hat, sagt in „Christus begegnen“: „Ich wünsche mir die Häuser von Menschen, die Christen sind, so hell und freundlich wie das Haus der Heiligen Familie. ... Jedes christliche Haus müsste ein Haus des Friedens sein, in dem, über die alltäglichen kleinen Unstimmigkeiten hinweg, jene tiefe und aufrichtige Sorge füreinander und jene heitere Gelassenheit spürbar werden, die aus einem tief gelebten Glauben kommen.“ Und er stellt klar: „Die Ehe ist für einen Christen keine bloße gesellschaftliche Einrichtung und noch viel weniger bloßes Heilmittel für die menschliche Schwachheit: Sie ist eine wahrhaft übernatürliche Berufung, sacramentum magnum, ... Die Heilige Familie und die christliche Familie 91 ein Vertrag, den ein Mann und eine Frau für immer schließen, denn – ob wir es wollen oder nicht – die von Christus eingesetzte Ehe ist unauflöslich.“ Im Folgenden spricht der Heilige davon, dass die Ehe ein von Gott gegebener Weg ist, um die christliche Heiligkeit auf Erden zu erreichen. Der Verheiratete kann nicht an seinem Ehepartner vorbei oder ohne ihn zur christlichen Vollkommenheit gelangen. „Das Familienleben, der eheliche Umgang, die Sorge um die Kinder und ihre Erziehung, das Bemühen um den Unterhalt der Familie und ihre finanzielle Besserstellung, die gesellschaftlichen Kontakte zu anderen Menschen, dies alles – so menschlich und alltäglich – ist gerade das, was die christlichen Eheleute zur Ebene des Übernatürlichen erheben sollen.“ Daran ist also nicht zu deuteln: Alle Menschen sind zur Heiligkeit berufen, auch die, die eine Familie gründen, denn Christus hat zu allen, nicht nur zu den Priestern und Ordensleuten, gesagt: „Seid heilig wie euer Vater im Himmel heilig ist!“ Wir deuteten schon an, dass die Heiligkeit des Menschen sich verwirklicht in der Nachfolge Christi. Und nicht eine Gruppe, sondern nur der einzelne Mensch wird heilig. Wenn also eine christliche Familie sich am Vorbild der Familie von Nazareth ausrichtet, so heißt das, dass sie verschiedene Verhaltensmuster von dieser ‚Modellfamilie’ übernimmt, aber nicht nur in der Absicht, gut durchs Leben zu kommen wie jene, sondern um auch das Ziel zu erreichen, das jene schon erreicht haben, nämlich die Vollendung in der Ewigkeit, also die Heiligkeit. Wenn wir also das Leben von Jesus, Maria und Josef in Nazareth studieren, sehen wir, dass diese Familie selbst um ihre Heiligkeit bemüht ist, die sie von dem in ihrer Mitte lebenden Sohn empfängt. Mit anderen Worten: Im Umgang mit dem Gottessohn (er selbst nennt sich mit Vorliebe ‚Menschensohn’) wachsen Maria und Josef und gelangen zur Fülle ihrer Persönlichkeit, denn Heiligkeit ist ja nichts anderes als die volle Entfaltung der Person. Heilig ist man dann, wenn man DER Mensch geworden ist, den Gott im Sinn hatte, als er uns erschuf. Anders ausgedrückt: Maria und Josef leben mit Jesus nicht einfach ‚so vor sich hin’. Vielmehr hat ihr Leben das Ziel, die Vollkommenheit zu erreichen, die den Menschen sozusagen ‚himmelsfähig’ macht. Betrachten wir kurz, wie die drei heiligen Personen einer normalen christlichen Familie konkrete Hilfestellung geben. Hier taucht das schon angedeutete Stichwort ‚Tugenden’ auf. 92 Peter von Steinitz D. Die Tugenden im Leben der christlichen Familie Der hl. Josefmaria gibt uns noch einmal einen Hinweis: „Tag für Tag das Zuhause zu heiligen und in feinfühliger Liebe eine durch und durch familiäre Atmosphäre zu schaffen: darum geht es. Diese Heiligung eines jeden Tages erfordert viele christliche Tugenden.“ Escrivá ist unter den modernen christlichen Schriftstellern derjenige, der nach meinem Dafürhalten in einmaliger und äußerst konsequenter Weise die Rede von den Tugenden aufnimmt und ins Milieu des heutigen Menschen hineinstellt. Das Wort Tugend ist heute für viele, auch viele Christen, fast ein Fremdwort geworden. Ein geistreicher französischer Schriftsteller (Jerome Lejeune) sagte einmal: „Tugend kommt eigentlich heute nur noch vor im Wörterbuch der Académie Francaise und in der Operette.“ Dabei sind es die Tugenden, die für die Beurteilung der Heiligkeit eines Menschen den Ausschlag geben, wenn Rom in einem Selig- oder Heiligsprechungsprozess darüber befindet, ob ein Mann oder eine Frau selig bzw. heilig zu nennen ist. Da werden nicht die außerordentlichen Gnadengaben wichtig – wie Wunder wirken, spektakuläre Krankenheilungen vollbringen, Prophezeiungen verkünden oder gar die Fähigkeit der Seelenschau. All dies wird registriert, spielt aber bei der Beurteilung der Heiligkeit einer Person kaum eine Rolle. Denn das sind ja nur gratiae gratis datae, d. h. Gnaden, die ohne Verdienst gegeben werden, und die hauptsächlich zur Heiligung der anderen da sind. Vielmehr sind das entscheidende Kriterium die Tugenden des ‚Kandidaten’, die unter die Lupe genommen werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Rolle des advocatus diaboli zu sehen, der alles ins Feld führen muss, was am Tugendleben des Betreffenden evtl. auszusetzen ist. Was ist eine Tugend? Die großen Theologen des Mittelalters, Thomas von Aquin, aber auch schon die Generation vor ihm, haben gedanklich den Unterschied zwischen einer Tugend als bleibender Haltung und einem Tugendakt als einer konkreten aktuellen Handlung herausgearbeitet. Der Unterschied wird noch deutlicher am Beispiel des Gegenspielers der Tugend – des Lasters. So besteht ein häufiger Verständnisfehler darin, dass man sagt ‚die sieben Hauptsünden’, wo es eigentlich heißen müsste ‚die sieben Hauptlaster’. So wie die Tugend der habitus ist, die bleibende Einstellung, und der Tugendakt die verdienstvolle Tat, ebenso ist das Laster der habitus und die Sünde die aktuelle schlechte Tat. Diese muss man beichten, einen habitus, eine Veranlagung o. ä. kann man nicht beichten. Sie ist da, wird aber erst zu etwas Schlechtem, wenn aus ihr eine aktuelle Die Heilige Familie und die christliche Familie 93 Sünde hervorgeht. Beispiel: Jemand, der zur Unwahrheit neigt, nimmt sich aber immer wieder zusammen und kämpft dagegen an – er hat nicht nur nichts zu bekennen, sondern er erwirbt im Gegenteil ein geistliches Verdienst durch seinen asketischen Kampf. Ähnlich bei der Tugend: Mit der Gnade Gottes erwirbt der Mensch einen guten habitus, eine positive Haltung. Aber verdienstvoll wird das erst, wenn daraus tugendhafte Handlungen resultieren. Dann aber wird bei den Tugenden deutlich, dass sie etwas anderes sind als eine natürliche Veranlagung. Die Gelassenheit ist eine Tugend (man hat darum gekämpft), die man unterscheiden muss von einer bloß natürlichen phlegmatischen Veranlagung. Interessant für das ewige Leben wird es, wenn die Tugend eine nicht bloß menschliche Tugend ist (die findet man oft auch bei den Heiden), sondern eine übernatürliche. Es ist ein Unterschied, ob jemand die Tugend der Armut, d. h. der Loslösung, lebt, weil er weiß, dass ihm das eine innere Freiheit und souveräne Überlegenheit vermittelt, oder ob er sich von den Dingen innerlich loslöst um der Liebe Christi willen (Beispiel: der hl. Franz von Assisi). Hören wir noch einmal den heiligen Escrivá, wie er die Tugenden benennt, ohne allerdings eine erschöpfende Aufstellung zu geben: „Da sind zuerst die theologischen Tugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe) und dann all die übrigen: die Klugheit, die Treue, die Ehrlichkeit, die Einfachheit, die Arbeitsamkeit, die Freude...“. (Ich möchte hinweisen auf den Internetauftritt zum Thema Familienlehre des hl. Josefmaria: www.josemariaescriva.info) Nach der klassischen Tugendlehre können wir zur Klugheit die Tapferkeit, die Mäßigkeit und die Gerechtigkeit hinzufügen. Dann haben wir die so genannten Kardinaltugenden, die auch schon die Heiden kannten (Aristoteles legt eine ausgearbeitete Tugendlehre vor, die bei ihm allerdings nur irdisch und nur menschlich, also nicht übernatürlich aufgefasst wird). E. Die Tugenden im Leben der Heiligen Familie Tugenden, die nur natürlich gesehen werden, lassen die Menschen nicht selten blass und langweilig erscheinen. Man denke an die Dramenfiguren eines Racine oder Corneille oder an die Tugendbolde in den Dramen Senecas. Sobald aber die Tugend übernatürlich fundiert ist, hebt sie das menschliche Niveau um ein Beträchtliches. Das sehen wir in vollendetem 94 Peter von Steinitz Maße bei der Heiligen Familie. Wie bezaubernd ist die junge Mutter, die die Tugenden der Reinheit, der Selbstvergessenheit, der Ergebenheit in den Willen Gottes verkörpert. Sie ist die ganz Treue, die Kluge; und wie klar zeigt sie, dass die echt gelebte Tugend der Demut Anmut verleiht. Wenn sie im Magnificat von ihrer Demut spricht, weiß sie um den Wert ihrer Tugenden. Beim heiligen Josef bewundern wir ebenfalls die Treue, nicht nur zu seiner Gattin, sondern in erster Linie zum Willen Gottes, seinen Gehorsam, der nichts Serviles an sich hat, seine Arbeitsamkeit. Wo Mann und Frau sich um die christlichen Tugenden bemühen, sind sie im vollen Sinne männlich und weiblich. Sollte das denn den modernen Menschen nicht anziehen, wenn er sich darum bemüht, die heiligen Personen realistisch zu betrachten? Selbst in dem einen Punkt, der bei der Familie von Nazareth anders aussieht als bei den übrigen christlichen Familien, nämlich in der Art, wie die Tugend der Reinheit gelebt wird, erscheint keinerlei Bruch oder Absonderlichkeit. Dass Maria und Josef die eheliche Liebe ohne Ausübung der Geschlechtlichkeit pflegen, ist ein Hinweis darauf, dass beides vor Gott wertvoll ist: die Ausübung der Sexualität in der Ehe und der Verzicht auf die Sexualität um des Himmelreiches willen. Maria und auch Josef haben jungfräulich leben wollen. Darüber liegt ein Geheimnis Gottes, das wir respektieren müssen. Andererseits ist die von Gott geschaffene Sexualität in der Ehe, wo sie nach dem Willen Gottes hingehört, nicht nur erlaubt, sondern heilig. Die Ehegatten gehören einander, und ein Verzicht auf die Sexualität ist nur mit beiderseitigem Einverständnis in Ordnung. Josef ist zwar nicht dem Fleische nach, aber doch in vollem Sinne Vater. Auch hier finden wir für unsere Zeit, die als ‚vaterlos’ charakterisiert wird und tatsächlich auf der Suche nach einem neuen, haltbaren Vaterbild ist, ein wunderbares Vorbild. Neue wissenschaftliche Forschungen zur Rolle des Vaters in der Familie finden heraus und bestätigen, was wir immer schon wussten: dass nämlich die Liebe des Vaters zu seinen Kindern, die anders ist als die mütterliche Liebe, dem Kind wesentliche Elemente in seinem Heranwachsen zu geben hat. Eine amerikanische Studie über dieses Thema (‚Why fathers count: the importance of fathers and their involvement with children’ von Sean E. Brotherson) kommt zu dem Schluss, dass sich der Einfluss der Väter bei der ethisch moralischen Entwicklung der Kinder auf verschiedene Weise zeigt. Es könne etwas so Simples sein wie das Einhalten von Versprechungen, die man seinem Kind Die Heilige Familie und die christliche Familie 95 gemacht hat, oder das Setzen von bestimmten Grenzen, indem man klar macht, welches Verhalten akzeptabel ist und welches nicht. Herzerfrischend ist es sich vorzustellen, wie Jesus als Kind in ein Leben der Tugenden hineingewachsen ist. Wie er von seinen Eltern gelernt hat. Ja atemberaubend der Gedanke, dass ein Geschöpf, Josef, dem Schöpfer beibringt, wie er mit den von ihm geschaffenen Dingen umzugehen hat. Wie er mit Werkzeugen und Werkstücken arbeitet. Jesus lernt von Josef das Arbeiten mit all seinen vielen Einzelheiten, er, der in seinem Sechstagewerk alles aus dem Nichts geschaffen hat. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle von dem Wert der Arbeit zu sprechen und davon, wie bei der Arbeit die Ausübung der Tugenden einen entscheidenden Anteil hat. Im Haus von Nazareth wird viel und ernsthaft gearbeitet. Aber auch das Ausruhen, die Heiligung des Sabbats und überhaupt das geistliche Leben, nicht zuletzt die Freude, spielen eine Rolle in diesem so harmonischen Milieu. Der zweite Einwand, der gegen das Exemplarische der Familie von Jesus, Maria und Josef scheinbar gilt, ist der, dass der Sohn etwas derart Besonderes ist, dass ein Kind oder Kinder sich kaum daran orientieren können. Jesus ist wirklich Mensch, aber er ist auch wahrer Gott. Das ist sonst niemand. Aber auch dieser Einwand ist nicht stichhaltig – aus einem besonders beglückenden Grund heraus. Die Tatsache nämlich, dass Jesus ‚unerkannt unter den Menschen war’, wie es die Liturgie ausdrückt, ist ja unser ganzes Glück. Er hat seine Gottheit verhüllt, damit wir uns ihm ungeniert nähern können. Das aber führt dazu, dass etwas geschieht, wovon der Mensch eigentlich in seinen kühnsten Fantasien nicht zu träumen wagen würde, dass nämlich, wie die Kirchenväter sagten ‚Gott menschlich wurde, damit der Mensch göttlich werden könne’. Halten wir fest: Die Hl. Familie ist keineswegs unnahbar, wie große Persönlichkeiten sonst, sondern sie ist nachahmbar, und zwar buchstäblich für alle Menschen. Alle können sie nachahmen, sogar sich mit ihr identifizieren, gleich welcher Rasse oder Nation. Ja, auch diejenigen, die aus irgendeinem Grunde keine Familie gründen, finden in der Hl. Familie Orientierung. Gestatten Sie mir, meine Ausführungen mit einem Wort des Hl. Vaters, Papst Benedikt XVI. zu beschließen, mit dem er in einer Ansprache am 13. September 2007 erneut auf die Bedeutung der Familie hingewiesen hat: 96 Peter von Steinitz „Die Familie ist der Kernbereich, in dem eine Person zuallererst menschliche Liebe kennen lernt und Tugenden wie Verantwortung, Großzügigkeit und brüderliche Anteilnahme entwickelt.“ Dann fuhr er fort: „Starke Familien gründen auf dem Fundament starker Ehen. Starke Gesellschaften gründen auf starken Familien.“ Maria und Josef Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute Christa Meves Als Grundlage dieses Vortrages sollen die Kachelbilder der spanischen Künstlerin Palmira Laguéns dienen, die sich im Eingang des spanischen Wallfahrtsortes Torreciudad und auch schon in meinem Buch „Ein neues Vaterbild“ befinden. Von diesen Bildern habe ich zehn ausgewählt. Die Bilder und ihr biblischer Hintergrund sind ganz besonders symbolträchtig und bieten deshalb sowohl für das Verständnis der Heilsgeschichte als auch für das Verständnis der Beziehung von Vater und Mutter zu ihren Kindern wie auch als Hilfe zur Bewältigung von Konflikten in der modernen Familie gute Möglichkeiten. Das ist eine Behauptung. Sie bedarf der kritischen Nachfrage: Geben diese beiden biblischen Gestalten, Maria und Josef, wirklich etwas Positives im Hinblick auf den Erziehungsstil von Eltern heute vor? Auf den ersten Blick scheint es wenig wahrscheinlich: Ist die Welt, in der Jesus Christus aufwuchs, nicht der unseren absolut fern – unserem Leben, das von der Technik geradezu beherrscht wird? Und sind nicht allein unsere Landschaft, unser Klima und unsere verstädterte Lebensform so anders als das damalige Israel? Ist ein Vergleichen damit nicht irgendwie an den Haaren herbeigezogen? Und geben denn die kargen biblischen Texte über den Erziehungsstil, mit dem der kleine Jesus erzogen wurde, überhaupt irgendetwas her? So lässt sich fragen. Aber diese Skepsis verschwindet rasch, wenn man sich in die entsprechenden Texte – die meisten bei Lukas, einige auch bei Matthäus – vertieft und sie in Bezug auf dieses Thema abzuklopfen beginnt; denn dann zeigt sich, dass man als moderne Eltern heute wohl beraten ist, wenn man sich bei der Erziehung seiner Kinder an die großen Vorbilder hält. Ich werde jetzt in der zeitlichen Reihenfolge an den entsprechenden Texten entlanggehen. Als erstes ist da Lukas 1 mit der Verkündigung zu nennen. Dieser Text enthält geradezu DIE entscheidende Voraussetzung 98 Christa Meves dafür, dass Erziehung gelingen kann. Das große „Ja“ – dieses: „Mir geschehe, wie Du, Gott, es für mich bestimmt hast.“ – kennzeichnet bei Maria ihr absolutes Gottvertrauen. Was lässt sich für unsere Moderne daraus an Erkenntnis gewinnen? Es ist ratsam, dass sich jede junge Frau, die schwanger geworden ist, in Marias Nachfolge, in die Unbedingtheit dieser Akzeptanz stellt; denn diese Einstellung ist ein Schutz gegen jegliche Grenzüberschreitung, die wir Mütter uns gegenüber unseren leiblichen Kindern leicht einmal herausnehmen können. Schon die Vorstellung, dass diese unsere „Leibesfrucht“ unser Eigentum sei, über das wir willkürlich verfügen könnten, ist eine erhebliche Grenzüberschreitung. Wie bei Maria ist es den Müttern heute förderlich, Mutterschaft als ein Geschenk Gottes und als einen Auftrag zu verstehen, etwa so: „Mein Leben darf auf diese Weise großen Sinn bekommen. Ich bin zum Muttersein für dieses Kind berufen. Indem ich mich dieser Aufgabe stelle, diene ich unmittelbar dem Willen Gottes.“ Es lohnt sich, eine solche Einstellung – wie Maria – als das erste große „JA“ zum Kind zu gewinnen und diese allezeit „im Herzen zu bewahren“, sodass sich diese Einstellung wie ein roter Faden durch den Erziehungsprozess des Kindes hindurch zu ziehen vermag; es ist sogar statistisch nachgewiesen, dass eine solche gläubige Einstellung wesentlich bessere Erziehungsfrüchte zeitigt als die von Atheisten. Eine Entscheidung des Vaters von ähnlicher Art ist aber nicht minder wichtig und nicht weniger einfach als die der Mutter des ungeborenen Kindes. Ob leiblicher Vater oder – wie Josef – Ziehvater: Vaterschaft ist grundsätzlich weniger unmittelbar als Mutterschaft. Vaterschaft ist schließlich zunächst wesentlich weniger durch die Natur unterlegt. Das Kind als Ergebnis der intimen Beziehung zur Frau besteht ja keineswegs von Anfang an als selbstverständliche Absicht des Mannes, ein Kind zu zeugen. Auch moderne Väter können – wie Josef – von der Schwangerschaft ihrer Frau überrascht werden, ja nicht wenige – so beweisen es zahlreiche Vaterschaftsprozesse – haben Zweifel, dass sie überhaupt die Erzeuger des ungeborenen Kindes seien. Wenn das bei den üblicherweise gezeugten Kindern gar ein solches Geheimnis ist wie bei der Schwangerschaft von Maria, braucht der Vater geradezu so etwas wie himmlischen Zuspruch, um die Kraft zu entwickeln, das Kind und damit seine Vateraufgabe annehmen zu können. Josef erschien deshalb ein Engel. Und dergleichen ist in der Tat nötig, um ihn – und damit jeden modernen Vater heute auch – 99 Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute davon zu überzeugen, dass es so etwas wie ein Befehl Gottes ist, das Kind durch seine Vaterschaft unter seinen Schutz zu stellen. Für den Mann ist es von höchster Dringlichkeit, dass er diesen Zusammenhang begreift: Vaterschaft ist Gottes Geschenk und fordert zu höchster Verantwortlichkeit für seinen Nachwuchs heraus; denn nur eine Einstellung von Vaterschaft dieser Art kann es ermöglichen, dass der Vater durch sein Tun und Sein für das Kind während dessen langer Kindheit zu einem Vorbild hin zum himmlischen Vater zu werden vermag; ein Vater, der sich damit als im Dienst vor Gott versteht, der ein Langmütiger, Liebender, Weitherziger, aber doch auch Grenzen Setzender ist, der den Sinn des Lebens, Statthalter Gottes auf Erden zu sein für seine Kinder und mit ihnen, ihnen so Orientierung gebend, im Auge behält. Diese überzeitlichen Vorgaben Gottes sind wunderbar eindringlich in dem Matthäustext 1,18-24 enthalten. Als Josef von der Schwangerschaft Marias erfuhr, wollte er sich von ihr trennen, doch der Engel übermittelte ihm im Traum seinen großen Auftrag, sodass Josef ihn annehmen konnte. In wunderschönen Kachelbildern ist diese Szenerie von der spanischen Malerin Palmira Laguéns zur Darstellung gebracht worden. (Bild 1 und 2)1 Aber auch die weiteren Stationen der Heilsgeschichte können für moderne Eltern Erziehungshilfe sein. Als nächstes kann da die so knappe Schilderung der Begegnung der schwangeren Maria mit der ebenfalls schwangeren aber sehr viel älteren Elisabeth dienen. Die Bedeutung dieser Begegnung hat viele geheimnisvolle Facetten, aber für die moderne Frau auch folgende: Mutterschaft steht grundsätzlich in einer Kette, die das tradierte Wissen und mütterliche Weisheit als durch Generationen hindurch überlieferte Erfahrung enthält. Schwangerschaft, mit all ihren nirgendwo festgeschriebenen Verhaltensanweisungen in der Verantwortung für das wachsende neue Wesen in ihrem Leib ist Frauensache, ja, es war einst Geheimwissen zwischen den alten und den jungen Müttern. Die Großmütter und die Mütter stehen durch die Nähe der Blutsverwandtschaft zueinander in einer das Leben weiterreichenden Verbindung. Gemeinsame Freude ist die Kennzeichnung dieses Geheimnisses. Wir Modernen haben in dieser Hinsicht einen gefährlichen Abbruch mit der Tradition vollzogen, indem wir die Geburtsvorbereitungen ausschließlich in die Hand der Medizin gegeben haben. Die Lebensklugheit er1 Die Betrachtungen zu den beiden ersten Bildern und die Bilder selbst sind hier ausgelassen. Die Bildnummerierung entspricht der im Buch. 100 Christa Meves fahrener Frauen aus früheren Generationen kann sie aber nicht ersetzen. Die Medizin kann nichts vom Mysterium der schwangeren Frau verstehen. Erst in allerjüngster Zeit musste die pränatale Hirnforschung neu darüber belehren, wie wesentlich es für die seelische Kraft des Kindes ist, dass dessen Mutter – am besten in Gemeinschaft mit Schicksalsgefährtinnen – die unbedingte, jubelnde oder auch stille, glückliche Freude über das „hüpfende“ neue Leben in ihrem Leib durch diesen hindurch erfahren kann. Wir sollten – an Elisabeth und am Magnifikat erfahren – uns schnellstens wieder dem Mysterium der Schwangerschaft annähern. Stress und Angst können schon hier das ungeborene Kind unruhig machen. Die Verantwortung der jungen Eltern, aber auch des Umfeldes und der Gesellschaft für das Kind während der Schwangerschaft ist also riesengroß, wie wir dem Besuch Marias bei Elisabeth entnehmen können. Bild 3 Herbergssuche In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Landes in Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum ersten Mal; damals war Quirinius Stadthalter von Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. So zog auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt; denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete. (Lk 2,1-5) Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. (Joh 1,11) Dieses Bild zeigt Josef als den Vorangehenden, den Aktiven, den Anklopfenden. Wieder sind beide Aufgaben sehr verschieden. Maria ruht in 101 Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute passiver Selbstverständlichkeit, wie es sich für eine geborgene Schwangere gehört, auf einem Reitesel. Sie steht unverrückt im „Fiat“, der großen glücklichen Ergebenheit des Gottgehorsams. Aber Josef braucht eine Herberge. Er trägt die Verantwortung, er braucht eine Stätte für die Geburt dieses Kindes Gottes. Den jungen Vätern irdischer Kinder ergeht es heute (wenn auch nicht ganz so drastisch) oft ähnlich. In welchen Wohnungen sind noch Familien mit kleinen Kindern erwünscht? Sie gelten als lästig, als Störfaktoren. Man lässt – schrecklicher Weise – hierzulande die Familie „im Wind stehen“. Sollen sie doch sehen, wie sie mit ihrem Nachwuchs zurechtkommen! Diese falsche Einstellung ist eine der Ursachen unseres gefährlichen Geburtenschwunds. Bild 4 Die Geburt Jesu Als sie dort waren, kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war. In jener Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde. Da trat der Engel des Herrn zu ihnen und der Glanz des Herrn umstrahlte sie. Sie fürchteten sich sehr, der Engel aber sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt. Aber plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach: Verherrlicht ist Gott in der Höhe und 102 Christa Meves auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade. Als die Engel sie verlassen hatten und in den Himmel zurückgekehrt waren, sagten die Hirten zueinander: Kommt, wir gehen nach Betlehem, um das Ereignis zu sehen, das uns der Herr verkünden ließ. So eilten sie hin und fanden Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag. Als sie es sahen, erzählten sie, was ihnen über dieses Kind gesagt worden war. Und alle, die es hörten, staunten über die Worte der Hirten. (Lk 2,6-18) Was kann uns die Geburtsszene in Betlehem vermitteln? Nicht die Texte des unendlich reichhaltigen Schrifttums zu diesem Thema sollen hier wiederholt werden, sondern lediglich einige Fakten, wie sie unnachahmlich sinnträchtig für moderne Eltern in der Darstellung der Geburtsszene von Palmira Laguéns enthalten sind: Vom ersten Schrei des Kindes an sollte es von beiden Eltern gehalten werden. Näher, unmittelbarer von der Mutter, aber in einer Doppelfunktion auch vom Vater: Als der unvermittelt in die Verantwortung groß hineinwachsende Mann nimmt der junge Vater, hier also der heilige Josef, Mutter und Kind in seinen Schutz. Die teilnehmenden Personen im Umfeld, hier die Hirten, fügen sich in das so zentral wichtige Ereignis ein. Beide, Mutter und Vater, sind auf das Kind bezogen, was im Halten des Tuches durch beide von der Künstlerin so sinnträchtig dargestellt ist. Und auch dieses ist bedeutsam: Das Kind ist der Mutter unmittelbar zugeordnet. Es ruht auf ihrem Schoß, während der Vater es mit der Spitze des Tuches nur – und damit eben mittelbar – berührt und sich eher, aber mit seinem ganzen Leib eine mächtige Schutzwand bildend, dennoch im Hintergrund hält. Die Verschiedenheit von Mutter und Vater in ihrer Aufgabe als Eltern wird auf diese Weise herrlich einfach und wahr dargestellt – eine Wahrheit, die eine tumbe Gesellschaft heute gar nicht mehr wahrhaben will und statt dessen von austauschbaren Eltern–„ROLLEN“ spricht. An Weihnachten wird Familie festgeschrieben. Betlehems Stall ist das unsterbliche Bild dafür, dass ein liebender Gott-Vater die Familie als die Keimzelle vorbereitender Zukunft vorgesehen hat. Dieses Fest ist deshalb derartig durchschlagend, dass die Menschen von heute noch so sehr vom Atheismus verführt sein können, sie sitzen am Weihnachtsabend dennoch millionenfach auf den Kirchenbänken und sind von diesem Geschehen bis in die tiefsten Winkel ihres Herzens hinein angerührt. Weihnachten will symbolisieren, dass die Familie als Vorgabe Gottes verstanden sein will und deshalb unaufgebbar ist, dass sie ein ermutigendes Fanal ist, durch alles verführerische Unverständnis unserer Zeit hindurch. Vom Licht der 103 Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute Weihnacht her werden noch heute Eltern gekräftigt, zusammenzuhalten und für ihre Kinder persönlich einzustehen. Wir müssen das in unser Bewusstsein nehmen: Der atheistische Sozialismus hat das anmaßende Ziel, Familie ganz abzuschaffen und Kindererziehung zu einer Angelegenheit des Staates zu machen. Viele neue Gesetze in jüngster Zeit beweisen das. Und wie zentral, wie umwerfend ist dieses Gefühl erst für die junge Mutter selbst, wenn diese ihr Kind in den Armen hält. Nichts geht über die Unfasslichkeit dieses Glücks, selbst wenn die Hütte noch so karg ist, in der dieses Wunder geschieht. Das Neugeborene erweckt ein sprachloses Staunen und das Verlangen, das Kind an die Brust zu nehmen, sich diesem Wunder ganz und gar – mit aller Verschwendung der eigenen Lebenskraft – hinzugeben. Es gibt für die seelisch gesunde Frau nichts Vergleichbares an Glück mit diesem Erleben von schwerer Qual und höchstem Berührtsein in unmittelbarer Abfolge wie das Geburtserleben. Das überzeitliche Bild der Heiligen Familie spiegelt die Wahrheit des von Gott so und nicht anders Gedachten. Durch die Liebe der Eltern für ihr Kind verwirklicht sich Gottes Wille mit der Menschheit. Die Hirnforschung belegt das mit einer erstaunlichen Entdeckung: Mutter und Kind – aber auch, nur in etwas geringeren Dosen der Vater – werden im Augenblick der Konstituierung ihrer, einer neuen, Familie mit dem Glückshormon Oxytocin geradezu überschüttet, um durch diese emotionale Erschütterung das Band der neuen Dreiheit geradezu zu vernieten. Das ist eine schöne Bestätigung dafür, WIE WICHTIG GOTT die Familie als Nest für die Kinder nimmt, und wie nötig es ist, dass jedes Elternpaar dieses als einen unumstößlichen Auftrag annimmt, weil er von Gott selbst so immens wichtig genommen wird. Jetzt werden Mann und Frau in die Pflicht genommen. Von jetzt an müssen sie zusammenhalten. Also nichts da mit Scheidung, Fremdgehen, Ehe-zu-Dritt – oder was unsere hochmütige Generation sich alles sonst noch ausgedacht hat. Das Postulat der Ehe auf Lebenszeit, wie Christus es festschreibt, ist deshalb eine Bekräftigung dieses Willens unseres Gottes und damit die maßgebliche Voraussetzung für das Gedeihen des Kindes. Die Hirnforschung bestätigt: Das GEFÜHL DES GELIEBTSEINS lässt die Synapsen sprießen. Es ist DIESES Gefühl, das den Herangewachsenen menschlich und das heißt bindungs- und arbeitsfähig werden lässt! 104 Bild 5 Christa Meves Die Beschneidung Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden sollte, gab man ihm den Namen Jesus, den der Engel genannt hatte, noch ehe das Kind im Schoß seiner Mutter empfangen wurde. (Lk 2,21) Palmira Laguéns schließt in ihren Kachelbildern jetzt zunächst die Bechneidungsszene an, bei der der Vater Josef im Vordergrund steht – ein Ereignis, das die Dominanz Gottes im Leben des Kindes versinnbildlicht. Sie bezieht sich dabei auf den Text Lk 2,21. Einiges dazu muss zum Verständnis dieses religiösen Brauches eingefügt werden: Seit der Festlegung der mosaischen Gesetze galt und gilt im Judentum die Beschneidung für jeden männlichen Angehörigen des jüdischen Volkes als ein Kennzeichen der Auserwählung Israels durch Gott, ein Zeichen des Bundes, den Gott Jahwe in mosaischer Zeit mit Israel schloss. Symbolisiert durch die Entfernung der das Glied umhüllenden Vorhaut, ist sie ein Zeichen dafür, dass das Kind, seiner rohen Natur entkleidet, der Zugehörigkeit Gottes anheim gestellt wird. Pars pro toto soll ein Stück des rohen Naturtriebes zwecks einer Bindung zwischen Gott und Mensch geopfert werden. Das ist eine sehr männliche Angelegenheit, und deshalb steht Maria betend mit leidendem Gesichtsausdruck im Hintergrund. Josef hat hier in tapferer Behutsamkeit Vateraufgabe. Er tut es in zarter Beugung seines Hauptes. Er ist in das Ritual der Opferung einbezogen. Er durchleidet es mit wie das Kind in seinem Arm, das nun den Namen Jesus erhält. Der Vater steht bei diesen rituellen Handlungen in Israel sehr im Vordergrund. Er bringt auf diese Weise auch seine eigene Macht Gott dar; er nimmt sie zurück. Wie nötig hätte unsere moderne Männerwelt generell eine solche Einstellung der Väter zu ihren Kindern! Wenn man auch heute 105 Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute die Vateraufgabe in die Ver-Antwortung vor Gott stellen würde, dann wäre es undenkbar, dass man die Kinder nach eigener Maßgabe zu manipulieren und zu dressieren versuchen würde. Bewusste Frömmigkeit, wie Josef sie hier vollzieht, könnte auch die Mächtigen davor bewahren, die junge Männergeneration auf Angriffskriege vorzutrimmen und sie millionenfach als Kanonenfutter zu missbrauchen, wie etwa Hitler es tat, oder sie zu terroristischen Zwecken zu missbrauchen. Bild 6 Vaterglück Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen und seine Herrschaft wird kein Ende haben. (Lk 1, 32-33) Dran schließt sich mit einem Lukaszitat (Lk 1,32-33) eine Szene an, bei der abermals der Ziehvater Jesu im Vordergrund steht. Glückliches Familienleben ist das Thema. Die Unterschiedlichkeit im Verhalten von Vater und Mutter mit ihrem Kind kommt hier sehr hübsch zum Ausdruck. Mit einer leichten Gebärde der Abwehr schaut die Mutter dem Treiben des Vaters mit dem Baby zu. Mütterliches Verhalten ist eben auch Behutsamkeit, auf Einfühlung aus; das entspricht ihrer Hirnausstattung, die in dieser Weise darauf angelegt ist, dem neugeborenen verletzlichen Kind gerecht zu werden. Das ist dem Vater fern. Er schwingt das Kind in die Höhe und verbindet bereits damit eine Art Mutprobe. Es ist Vateraufgabe, in seinem Kind den Mut zu wecken, Ermutigendes einzuüben und es auf diese Weise 106 Christa Meves zu lehren, das Risiko nicht zu scheuen. Sichtbar wird schon hier: Kinder brauchen nicht nur die Mutter, sondern auch den Vater, der weiß, dass er selbst persönlich gefordert ist, wenn ihm ein Kind geschenkt ist. Er empfindet es deshalb auch nicht als eine Last, sondern als Möglichkeit der Verwirklichung einer sehr unmittelbaren, höchst wichtigen Lebensaufgabe. Bild 7 Begegnung mit Simon Dann kam für sie der Tag der vom Gesetz des Mose vorgeschriebenen Reinigung. Sie brachten das Kind nach Jerusalem hinauf, um es dem Herrn zu weihen, gemäß dem Gesetz des Herrn, in dem es heißt: Jede männliche Erstgeburt soll dem Herrn geweiht sein. Auch wollten sie ihr Opfer darbringen, wie es das Gesetz des Herrn vorschreibt: ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben. In Jerusalem lebte damals ein Mann namens Simeon. Er war gerecht und fromm und wartete auf die Rettung Israels, und der Heilige Geist ruhte auf ihm. Vom Heiligen Geist war ihm offenbart worden, er werde den Tod nicht schauen, ehe er den Messias des Herrn gesehen habe. Jetzt wurde er vom Geist in den Tempel geführt; und als die Eltern Jesus hereinbrachten, um zu erfüllen, was nach dem Gesetz üblich war, nahm Simeon das Kind in seine Arme und pries Gott mit den Worten: Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel. (Lk 2,22-32) Dieses Thema wird in der Darstellungsszene im Tempel und bei der Begegnung mit Simeon vertieft. Die Texte sind bezogen auf Lk 2, 22-35. Zunächst steht auch hier Josef im Vordergrund und übergibt – wie es bei der Darstellung im Tempel 40 Tage nach der Geburt eines männlichen Kindes notwendig ist – die beiden vorgeschriebenen Tauben. 107 Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute Bild 8 Die Prophezeiung Sein Vater und seine Mutter staunten über die Worte, die über Jesus gesagt wurden. Und Simeon segnete sie und sagte zu Maria, der Mutter Jesu: Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden. Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen. (Lk 2, 33-35) Aber durch das Verhalten des alten Simeon ändert sich diese Konstellation: Simeon erkennt visionär in diesem Kind den Erlöser und wendet sich der nun im Vordergrund knienden Maria direkt zu. Eine tiefe Mystik beginnt die Szene zu durchziehen, denn der alte Simeon umfasst bereits das auf Maria wartende Leidensmysterium: „Dir selbst wird ein Schwert durch die Seele dringen“, heißt seine Prophetie, nachdem er das Kind in tiefer Erschütterung als den Messias gesegnet hat. Bild 9 Flucht nach Ägypten Als die Sterndeuter wieder gegangen waren, erschien dem Josef im Traum ein Engel des Herrn und sagte: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter, und flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich dir etwas anderes auftrage; denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten. Da stand Josef in der Nacht auf und floh mit dem Kind und dessen Mutter nach Ägypten. (Mt 2,13-14) In der Gestalt des hl. Josef auf der Flucht nach Ägypten wird deutlich, dass Vaterschaft und Mutterschaft unterschiedliche Eigenarten sind, die Christa Meves 108 sich keineswegs einfach willkürlich austauschen lassen: Josefs führende Vaterschaft ist eine zentrale Ur-Aufgabe des Mannes. Deshalb sollten wir nicht so leichtfertig und dumm sein, sie heute einfach nicht mehr für nötig zu erachten. Wir sollten uns deshalb auch als Frauen nicht von der Gleichheitsideologie verführen lassen und meinen, wir bedürften der Führung und des Schutzes weder durch den Mann noch durch Gott nicht mehr. Diese Funktionen sind dem Mann sowohl durch seinen körperlichen wie durch seinen seelisch-geistigen Habitus vorgegeben. Es taugt deshalb auch für die Kinder nicht, wenn diese seine Wesenheit von den Müttern leichtfertig ausgeschaltet und durch eigene Machtansprüche ersetzt wird. Der Vater ist der das Ziel Vorgebende! Der Vater hat auf dem Weg zu GottVater voranzugehen! Dem Vater fällt es zu, seinen Kindern geistliche Orientierung vorzugeben und vorzuleben, indem er sich an der Bibel und am Lehramt der Kirche orientiert. Denn Gott-Vater selbst – in der Einheit mit Christus und dem hl. Geist – ist der eine Einzige, der jedem einzelnen Menschen seinen Weg zuweist und ihn unmerklich führt. Wir müssen – um das zu spüren – lediglich auf ihn hören. Es ist auch dieser Schutz, den die zerbrechliche Fracht, den die Mutter mit einem Säugling nun einmal darstellt, braucht, um in jener Gelassenheit und Sicherheit zu ruhen, wie sie in Maria mit dem Jesuskind auf dem Schoß auf diesem Bild zur Darstellung gebracht wird. Genau diese Stimmung ist es, die das hilflose Kind am allerdringlichsten für sein Gedeihen braucht. Diese beschützte Gelassenheit seiner Mutter bewirkt, dass das Kind sich geborgen fühlt. Und aus dieser Geborgenheit wächst später die Lebenskraft, ohne die es grundsätzlich schwer ist, das Leben zwischen Dornen und Disteln zu bestehen. Bild 10 In Ägypten Dort (in Ägypten) blieb er (Josef) bis zum Tod des Herodes. Denn es sollte sich erfüllen, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen. (Mt 2,15) 109 Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute Die Heilige Familie in Ägypten! Das Bild der Künstlerin lässt vermuten, dass Josef für sich und die Seinen eine Bleibe gefunden hat, in der es ihm auch möglich war, seinem Zimmermannshandwerk nachzugehen, um das Brot für sich und die Seinen zu verdienen. Das scheint zufrieden stellend möglich zu sein; denn im Gegensatz zum Fluchtbild sind die Gesichtszüge des hl. Josef hier nicht nur entspannt, sondern gemeinsam mit Maria von tiefer Freude erfüllt über das lebhafte Kind in den Armen der Mutter, in all dem Glück über sein Wachsen und Gedeihen. Das Bild bringt ein außerordentlich bedeutsames Ereignis im Erleben zwischen Mutter und Säugling zum Ausdruck: Der kleine Jesus schaut der Mutter unverwandt in die Augen, was sie mit inniger Zuwendung erwidert. Heute wissen die Hirnforscher: Dies ist das Kennzeichen dafür, dass sich im Gehirn des Kindes der Gesichtssinn entfaltet hat, und das ist das Zeitfenster für eine noch festere Verbindung zwischen dem Kind und seiner Mutter. Jetzt ist es, solange es seine Mutter braucht, intensiv an sie gebunden, noch einmal wie mit unsichtbarer Nabelschnur mit ihr verknüpft. Es ist mehr als eine Tragödie, dass diese Voraussetzung zu seelischer Gesundheit im Erwachsenenalter heute nicht nur nicht bekannt, sondern in sträflicher Weise missachtet wird. Deshalb wird Kleinkindern heute durch viel zu viele Trennungserlebnisse von der Mutter Unbekömmliches, nämlich die Einprägung von Angst und Unsicherheit zugemutet, die seinen Charakter bestimmt und es in seinen Fähigkeiten beeinträchtigt. Aber auch Josef, der Vater, wird dadurch, dass er seine Hand auf das linke Ärmchen von Jesus legt, in das Geschehen mit einbezogen. Mit einem glücklichen Lächeln nimmt das Kind wahr, dass es nicht nur von der Mutter, sondern auch von der breiten Gestalt des Vaters wie von einem hohen Wall umgeben ist. Sicher ist es auch nicht einfach Zufall, dass der Kopf des Jesuskindes mit seinem großen hellen Heiligenschein genau vor Josefs Herz liegt. Das göttliche Kind ist dem hl. Josef ans Herz gewachsen, so möchte man die Symbolik des Bildes verstehen. Dies ist anscheinend die Voraussetzung, um die ägyptische Fremde aushalten zu können. Ägypten – dieses Land steht bereits im Alten Testament für Versklavung, für Entfremdung des auserwählten Volkes. Es ist schwer, Fremde zu ertragen, und ohne Hinwendung zu Gott nicht möglich. In jedem Menschenleben gibt es ein „Ägypten“ von Entfremdungen, von Emigrationen äußerer und manchmal auch innerer Art, z. B. von Vereinnahmt-Sein vom eigenen Egoismus, vom Gefesselt-Sein an fremde, entfremdende Einflüsse. Die Liebe und die Verantwortung für das Kind 110 Christa Meves erst machen Josef und Maria hingegen zu Menschen, die von sich absehen können und so die Möglichkeit mit vorbereiten, dass das ganze Menschengeschlecht die Verhaftung an die triviale Fremdherrschaft allein irdischer Belange im Glauben an Jesus Christus überwindet. Auch hierin sind Josef und Maria Vorbilder. Die bergende Vaterliebe Gottes ist es letztlich, die den Menschen das Gefühl von Fremdsein auf dieser Welt überwinden lassen kann. Abermals wird diese Bildaussage durch die Gestaltung des Raumes und des Hintergrundes untermalt und vertieft. Die Fremde wird durch zwei in der Ferne emporragende Pyramiden gekennzeichnet, die Grabmale der Pharaonen, Kennzeichen einer Religion, in der die Naturgöttin Isis und ihr Sohn, der Naturgott Osiris, im Zentrum standen, Fremdherrschaft, die durch die Inkarnation des Christus überwunden sein will. Nichts weniger als diese Fremde ist es, aus der Josef und Maria bald mit ihrer kostbaren Fracht in eine hochbedeutsame Zukunft starten werden! Diese Zukunft erwirkt das heilige Elternpaar mit, indem Josef – wie der Arbeitstisch und die Geräte an der Wand verdeutlichen – sich für die Menschen einsetzt und Maria lactans als die stillende Mutter die Erlösung der Menschheit vorbereitet. Bild 12 In Josefs Werkstatt Als Herodes gestorben war, erschien dem Josef in Ägypten ein Engel des Herrn im Traum und sagte: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und zieh in das Land Israel; denn die Leute, die dem Kind nach dem Leben getrachtet haben, sind tot. Da stand er auf und zog mit dem Kind und dessen Mutter in das Land Israel. Als er aber hörte, dass in Judäa Archelaus anstelle seines Vaters Herodes regierte, fürchtete er sich, dorthin zu gehen. Und weil er im Traum einen Befehl erhalten 111 Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute hatte, zog er in das Gebiet von Galiläa und ließ sich in einer Stadt namens Nazaret nieder. Denn es sollte sich erfüllen, was durch die Propheten gesagt worden ist: Er wird Nazoräer genannt werden.“ (Mt 2,19-23) Nun ist Nazareth als Heimatstadt des göttlichen Kindes gewählt, die Werkstatt ist eingerichtet, offenbar haben sich Aufträge eingestellt – so jedenfalls vermittelt uns das ein weiteres Bild der Künstlerin. Josefs Nachdenken hat sich bewährt: Abermals wurde ihm die Qual der Entscheidung durch eine himmlische Weisung abgenommen; abermals hatte er ein Traumgesicht. Viermal ist das dem nüchternen Zimmermann nun bereits geschehen, und immer bezog es sich auf das so ganz besondere Kind. Das ist wirklich eine kräftige Bestätigung dafür, dass Josef eine ganz besondere Gnade zuteil wurde, indem er als Schutz für dieses Kind und sein gesundes Aufwachsen ausersehen ist. Dieses Bild ist ganz von der Elternfreude über das Kind und sein weiteres Gedeihen gekennzeichnet. Josef geht seiner Zimmermannsarbeit nach, und Jesus sammelt die zur Erde fallenden Späne ebenso sorgsam wie spielerisch in seinen Korb. Das Kind ist gewissermaßen im Windschatten der Mutter mehr dem Vater und seiner Arbeit zugewandt. Es ist offenbar bereits im Begriff, seinem Kleinkindstatus zu entwachsen: Die Identifikation des männlichen Kindes mit seinem Vater und die Lockerung der Nähe zur Mutter ist bereits in vollem Gange. Der Vater ist für ihn der Große, der ihn liebevoll Leitende; noch ist das Jesuskind selbst der kleine, der dem Vater untergeordnete Sohn, schon ein wenig in seine Arbeit einbezogen, schon ein wenig mit in einen ordnenden Dienst gestellt. Aber bei aller Beachtung des Kindes durch den Vater bewegt sich der kleine Jesus doch bereits selbstständig. Josef ist gewiss zu sehr mit Ehrfurcht gegenüber Jesus erfüllt, als dass er sich anmaßen würde, ihm seine Freiheit einzuschränken. Er hobelt nicht an der Kinderseele herum, sondern bleibt bei seinem Leisten, dem Tischlerhandwerk. Vorbildliche Vaterschaft und Mutterschaft in der Familie heute demonstriert uns das Heilige Paar auch mit diesem Bild. Kinder brauchen nicht nur die Gegenwart ihrer Mütter, sondern, je älter sie werden und ganz besonders, wenn sie Söhne sind, zunehmend diejenige ihrer Väter, wenn sie auch von anderem Charakter ist als die der Mütter. Söhne wollen beim Vater mittun, sie wollen mit seiner Tätigkeit vertraut werden, sie wollen zu ihm aufblicken, um durch den Vormacher einen Entwicklungsanreiz zu bekommen: einst so zu werden wie Vater, später so etwas zu machen wie Vater! Die großen Füße des Vaters müssen den kleinen des 112 Christa Meves Sohnes nahe sein, wie auf unserem Bild, damit es ihm zur Freude wird, in seine Fußstapfen zu treten. Von unermesslicher Wichtigkeit ist es dabei, die Kinder diese Nachahmungsfreude selbst entdecken zu lassen und sie nicht hineinzunötigen. Stille, freudige Zustimmung, ein „Interesse“, ein „Dazwischen Sein“ im wahrsten Sinne des Wortes ist als wirksames erzieherisches Verhalten von beiden Eltern, bei älteren Kindern besonders des Vaters, wichtig und besser als gängelndes Sich-Aufdrängen. Das Kind, das Vertrauen in seine Eltern hat, beginnt von selbst, Interesse für deren Tun zu entwickeln. Wenn der Vater z. B. freudig auf die freiwillige Hilfsbereitschaft seines Sohnes eingeht, ist dies für den Sohn sicher eine wirksamere Anregung zum Mitmachen als barscher Zwang und Androhung von strafender Gewalt. Besonders hübsch ist es auch, dass dieses Bild auf eine Geschlechterdifferenz hinweist, die jetzt erst durch die Hormonforschung wissenschaftlich bewiesen wurde: Der Mann ist durch das Testosteron mehr für Grobmotorik begabt (Josef hobelt), die Frau für Feinmotorik (Maria handarbeitet), ein Geschlechterunterschied, der die Mutter bei der Pflege kleiner Kinder die Begabtere sein lässt. Für die Moderne ist das Bild insofern eine schöne Belehrung, als es auch den Größenunterschied von Vater und Sohn betont. Unsere Zeit trachtet nur allzu gern danach, das Kind dem Vater gleichzusetzen. Aber das Kind kann nicht vom Vater lernen, es kann nicht zu ihm aufblicken, es kann sich ihn nicht zum Vormacher erwählen, wenn dieser sich künstlich klein macht und Kindlichkeit heuchelt. Das Kind pflegt eine solche ideologische Lüge mehr oder weniger bewusst bald zu durchschauen und die Achtung vor einem solchen unmännlichen Vater zu verlieren. Wahrhaftigkeit des Vaters seinen Kindern gegenüber, wie der heilige Josef sie zeigt, führt zu GottVater; denn Josef lebt mit dem Kind eine es freilassende Liebe, wie sie auch zur Einstellung Gottes gegenüber seinen Menschenkindern gehört. Dennoch hat der irdische Vater die Aufgabe, als der Große, als der Erfahrene, dem Kind die Unterscheidung von Gut und Böse zu vermitteln, und das heißt: negatives Verhalten des Kindes zu tadeln und gegebenenfalls zu bestrafen; denn der Mensch ist nicht einfach von Natur gut. Er bedarf der Kultivierung seiner wilden Schösslinge. Die Autorität des Vaters ist dazu nötig. Darüber hinaus: Jedes Kind sollte die Demut seines leiblichen Vaters gegenüber Gott-Vater erleben. Es ist dem Kind dienlich, wenn es dieses natürliche hierarchische Verhältnis: Kind – leibliche Mutter – leiblicher 113 Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute Vater bez. Ziehvater – Gott-Vater erlebt. Der hochmütige, Gott spottende, sich gar glaubenslos an die Stelle Gottes setzende Vater vorenthält seinen Kindern die wesentlichste Voraussetzung für ein gelingendes Leben. Und dann ist auch alles weitere erzieherische Tun in der Tiefe fragwürdig, ja, wie es in der Moderne nur allzu oft geschieht, u. U. sogar vergeblich. Noch etwas Weiteres lässt sich aus der Josef-Analogie lernen: Auch Gott ist der Schaffende. Er ist, wie es im Handwerk des Zimmermanns zum Ausdruck kommt, einer, der die Natur (das Holz) verwandelt, der sie schöpferisch formt, künstlerisch und unendlich einfallsreich gestaltet. Bild 14 Wiedergefunden im Tempel Die Eltern Jesu gingen jedes Jahr zum PaschaFest nach Jerusalem. Als er zwölf Jahre alt geworden war, zogen sie wieder hinauf, wie es dem Festbrauch entsprach. Nachdem die Festtage zu Ende waren, machten sie sich auf den Heimweg. Der junge Jesus aber blieb in Jerusalem, ohne dass seine Eltern es merkten. Sie meinten, er sei irgendwo in der Pilgergruppe, und reisten eine Tagesstrecke weit; dann suchten sie ihn bei den Verwandten und Bekannten. Als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten ihn dort. Nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen. Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten. Als seine Eltern ihn sahen, waren sie sehr betroffen, und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht. Da sagte er zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? 114 Christa Meves Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört? Doch sie verstanden nicht, was er damit sagen wollte. (Lk 2,41-50) Auf diesem letzten Bild der Künstlerin – Jesus spricht mit den Gelehrten im Tempel – befindet sich das Elternpaar Maria und Josef fast schon im Hintergrund. Es steht von dem Knaben entfernt. Aber ihre Gesichtszüge sind von einer entlasteten Freude gekennzeichnet. Gott sei gelobt; dem Kind ist nichts Übles zugestoßen. Kein Ärger über Jesu Eigenmächtigkeit prägt noch weiter ihre Gesichtszüge. Deutlich wird erkennbar: Sie werden Jesus keine weiteren Vorwürfe machen. Im Gesicht der Eltern ist etwas ganz anderes als das Bedürfnis, das ungehorsame Kind, das den Eltern durch seinen eigenwilligen Alleingang Sorgen bereitet hat, zu bestrafen. Es steckt in ihrer Haltung und Mimik auf diesem Bild mehr als der Lukas-Text uns direkt vermittelt. Schließlich passt diese Szene – die ungewöhnliche Haltung der Schriftgelehrten dem Knaben Jesus gegenüber – in die Kette aller Wunder, die die Eltern von Anbeginn an mit Jesus erlebt haben. Dieses Kind, das spüren sie hier einmal mehr, ist durch und durch ungewöhnlich. Immer wieder wurde ihnen neu erkennbar, dass sich hier eine sehr direkte himmlische Offenbarung vorbereitet, die durch Jesus geschehen soll. Und der Sohn weist hier zum ersten Mal auf seinen Dienst für den himmlischen Vater hin, dem sein Leben als Erwachsener gelten wird. Und wenn auch der weitere Text sagt, dass Jesus ohne Widerstand mit den Eltern nach Nazaret zurückkehrte und sich in Liebe und Gehorsam in das Familienleben einpasste (Lk 2,51-52), so weisen Jesu Worte im Tempel doch bereits darauf hin, dass der elterliche Auftrag über kurz oder lang zu Ende sein wird. Josef hat seinen Auftrag erfüllt. Sie haben Jesus so lange beschützen müssen, als er noch nicht zur Selbstständigkeit und zur Reife seiner Sendung gekommen war. Josef darf nun bald von seinem so verantwortungsschweren Amt im Leben des Erlösers im Gegensatz zu Maria ganz zurücktreten; denn der heranwachsende Jesus hat seine Bestimmung erkannt. Der Gärtner Josef darf den erblühten Baum nun an den Eigner zurückgeben. Erntezeit ist Gotteszeit. Die Bibel entlässt Josef mit dieser Aussage. Es erfolgt keine weitere Erwähnung mehr. Josef darf heraus aus dem Rampenlicht der irdischen Geschichte des Erlösers der Menschheit. Vielleicht hat er sich das geradezu so gewünscht: nun fernerhin anonym bleiben zu dürfen. Das Fehlen weiterer Erwähnungen Josefs im Evangelium kennzeichnet wohl auch etwas Typisches in Josefs Charakter: seine Bescheidenheit, seine Selbst- 115 Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute losigkeit und seine Gott vertrauende Demut. Auf Josef trifft zu, was Johannes der Täufer bekundet, nachdem er Christus begegnet war: „Er muss wachsen, ich aber muss kleiner werden.“ (Joh 3,30). So heilig wie Josef und Maria werden sich viele Eltern angesichts des Ablösungsprozesses eines Sohnes, einer Tochter gewiss nicht verhalten; und dennoch ist Erhebliches und Beachtenswertes von ihnen zu lernen; denn das bleibt keinem Vater erspart zu erleben, wie die Kinder gegen die Wünsche und vernünftigen Absprachen mit den Eltern ihren eigenen Weg gehen. Aber ein Zurücktreten hinter den eigenständigen Lebensauftrag ihrer Kinder – dieses Schicksal bleibt keinen Eltern erspart, die liebevoll an deren Glück und an deren seelischer Gesundheit interessiert sind. Josef und Maria sind gewiss auch deshalb heilige Vorbilder, weil ihnen dies anscheinend ohne übermäßige Zerreißproben mit dem Jesusknaben gelang. Kein heranwachsendes Kind, ganz gewiss auch keine heranwachsende Tochter, ist Besitz der leiblichen Eltern – auch wenn sie noch so viel Geld, Zeit und Kraft in die Nachkommen investiert haben. Sie haben keine Besitzansprüche an ihre Kinder zu stellen. Sie haben auch hier ihren Kindern eine Vorahnung vom Wesen Gott-Vaters zu vermitteln: Gott-Vater lässt seine Menschenkinder frei! Deshalb dürfen auch leibliche Eltern z. B. die Berufe ihrer Kinder nicht eigenmächtig bestimmen. Sie dürfen Sohn (oder Tochter) nicht egoistisch vor ihren eigenen Lebenskarren spannen. Manche Söhne und Töchter sollen werden, was Vater oder Mutter gerne geworden wären, oder sie werden verplant, um ihr Lebenswerk in Betrieb, Geschäft, Praxis etc. fortzusetzen. Eltern, die sich an das heilige Vorbild halten und ihm nacheifern, haben sehr viel mehr Chancen, dass sich später eine harmonische Beziehung zwischen ihnen und den erwachsenen Kindern ergibt; denn diese erleben eine solche Einstellung als wahrhaft liebevoll. Sie erfahren sie in der Tiefe als ihrer Würde angemessen. Es zahlt sich aus, wenn Eltern Jugendliche bei der Verselbständigung mit weiser Nachdenklichkeit und behutsam erteiltem Rat selbstlos unterstützen. Die Heranwachsenden brauchen dann nicht in Kraft verschleißender Weise an unbilligen Fesseln zu zerren, die ein autokratisches Elternpaar ihnen anlegt. Die schöne Bildfolge über die ersten Lebensjahre des Christuskindes, in der die Eltern den Auftrag erfüllen, dem Jesuskind ein sorgsamer Vater und eine umhüllende Mutter zu sein, kann uns einen Vorgeschmack vom Wesen der Beziehung zwischen Gott und Mensch geben. Wenn mehr 116 Christa Meves moderne Eltern in ähnlicher Weise wie Josef und Maria auf Stolz und Selbstherrlichkeit verzichten, so wird es gewiss zunehmend mehr Jugendliche geben, die unbeschädigt und sorgfältig gefestigt in ihr Erwachsenenleben eintreten, um – durch ein positives Vorbild vorbereitet – den Weg zu ihrem eigentlichen Vater, nämlich zu Gott zu finden. Die Heilige Familie kann uns verdeutlichen: Ein neues konstruktives Elternsein der Moderne bedarf als Voraussetzung des Gottvertrauens; es bedarf einer persönlichen Beziehung der Eltern zu Gott und einer Bereitschaft, auf ihn zu hören. Ohne eine solche, sehr wirklichkeitsbezogene Frömmigkeit der neuen Eltern wird es keine Hoffnung auf Zukunft geben können. Eine solche Frömmigkeit kann dazu führen, dass Eltern – wie einst Josef und Maria – alles als Heilsgeschehen und damit Gott als den überschwänglich liebenden Vater erahnen, sodass – als Reaktion darauf – der Dienst für die Ihren in erzieherischer Festigkeit von dankbarer Liebe für Gott getragen ist. Bei dem erwähnten Buch handelt es sich um: Christa Meves, Ein neues Vaterbild Zwei Frauen unserer Zeit entdecken Josef von Nazaret, herausgegeben von German Rovira, Christiana-Verlag, Stein am Rhein 1989. Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage Politische und öffentliche Beobachtungen Jürgen Liminski In der veröffentlichten Meinung wird die christliche Familie weitgehend tot gesagt. Aber es gibt sie natürlich auch heute noch. Sie ist keineswegs selten geworden. Selten geworden ist das öffentliche Bekenntnis zu ihr. Die Politik hat die christliche, man könnte auch sagen, die natürliche Familie vergessen. Dabei begegnen wir ihr auf Schritt und Tritt im öffentlichen Diskurs. Ja, unsere Gesellschaft lebt von ihr. Böckenförde hat das mit dem geflügelten Wort so ausgedrückt: Dieser Staat lebt von Voraussetzungen, die er selber nicht schaffen kann. Richtig, es ist die christliche Familie, die diese Voraussetzungen schafft. Diese vergessene Grundlage, diese verdrängte Grundlage der Gesellschaft möchte ich jetzt aus dem Dunkel des Diskurses herausholen, ich möchte die Aktualität dieser Grundlage aufzeigen und das anhand von drei Themen oder Punkten: Zunächst anhand der aufgebrochenen Rentendebatte. Sie eröffnet Ausblicke in die Sozialsysteme und in die Statik der Gesellschaft. Denn diese Statik hängt wesentlich vom Verhältnis der Generationen, vom familiären Miteinander ab. Der zweite Punkt befasst sich mit der totalitären Arbeitswelt, die bald alle Generationen umfasst und ihnen die Menschlichkeit und Würde raubt, und beim dritten Punkt geht es um die Wege aus dieser inhumanen Gesellschaft, also um Widerstandsformen gegen diese Entmenschlichung. Erstens: Der imaginäre Generationenkrieg Um es gleich vorweg zu sagen: Der Generationenkonflikt findet nicht statt. Er ist eine Erfindung wirklichkeitsfremder Medienleute. Es ist ja viel leichter – auflagen- und quotenträchtiger sowieso – zu behaupten, die Alten beuteten die Jungen aus, als das inkonsequente Verhalten und die gebrochenen Versprechen der großkoalitionären Regierung darzustellen. Diese Regierung beutet die Familien aus; man sieht es erneut an der wieder aufflammenden Diskussion um das Kindergeld für kinderreiche Familien, 118 Jügen Liminski das der Finanzminister nicht herausrücken will, obwohl es verfassungsrechtlich geboten wäre. Diese Regierung verrät die Familie, ich habe die Formen des Verrats in meinem Buch aufgezählt, natürlich auch die Maßnahmen, die zu einer vernünftigen Familienpolitik gehören. Der Generationenkonflikt ist eine Erfindung. Denn Tatsache ist: Mit acht oder zehn Euro mehr wäre die Ausbeute recht mager, die 1,1 Prozent Rentenerhöhung liegen außerdem deutlich unter der Inflationsquote und schließlich: Viele, ja die meisten Rentner und Rentnerinnen sind Familienmenschen, mithin der Jugend und ihren Kindern und Enkeln zugeneigt. Sie helfen ihren Kindern. Sie schenken Zeit und Geld. Das wird in keiner Statistik festgehalten, ist also für Politiker und Medienleute nicht erkennbar und deshalb vielfach auch nicht existent oder relevant. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass von der älteren Generation jährlich 22 Milliarden Euro zur jüngeren fließen. Das ist ein stiller Transfer, ein Transfer der Liebe und Solidarität, ohne den die Zahl der jungen Hartz-4Empfänger explodieren würde. Hinzu kommt, dass viele Großeltern gern und häufig auf ihre Enkel aufpassen, sie betreuen und Zeit mit ihnen verbringen. Es gibt sie noch, die immer wieder totgesagte Familie, auch die mit drei Generationen, weniger häufig als früher unter einem Dach, aber doch in derselben Stadt. Im politisch-medialen Establishment allerdings wird sie seltener, schon weil dort, bei Journalisten und Politikern, nachweislich die Kinder fehlen, und dieses Establishment schafft die veröffentlichte Meinung und bestimmt so den Eindruck von der Gegensätzlichkeit oder gar einem Krieg der Generationen. Dieser Gegensatz geht, wenn überhaupt, nur von einer Gruppe aus: den bewusst und gewollt Kinderlosen. Sie haben wenig Interesse daran, in eine Zukunft jenseits ihres Lebens, also in die Nachkommenschaft oder Familien zu investieren. Und sie schauen auch argwöhnisch auf jene, die vor ihnen aus der Rentenkasse bedient werden. Es könnte ja nicht mehr viel übrig bleiben. Für sie gilt das Carpe diem der Epikureer, das pralle Leben jetzt. Sie nutzen die Sozialsysteme aus, ohne sich um die anderen, geschweige denn das Gemeinwohl zu kümmern. Für sie ist der Generationenvertrag, von dem sie so bequem leben, in Gefahr. Für sie ist „die Mutation der Volksparteien zu Seniorenvereinigungen“ (WamS), der „Rentenpopulismus“, tatsächlich eine Gefahr, weil dann für sie weniger übrigbleibt. Denn da sie keine Kinder haben, sind sie für ihre Pflege und Altersversorgung auf die Fähigkeiten der jüngeren Generation – genauer: auf die Kinder der anderen – und deren Versorgungskraft für die Alten angewiesen. Diese Versorgungskraft wird geschmälert, wenn die Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage 119 ältere Generation jetzt „Kasse macht“, wie der Gesellschaftsforscher Meinhard Miegel befürchtet. Die gewollt Kinderlosen sind meistens auch die, die über die christliche Familie spotten, obwohl sie gerade von der Solidarität dieser Familien im Alter leben. Nun, diese Gruppe der gewollt Kinderlosen ist in Politik und Medien überproportional vertreten. Der Generationenkrieg lebt in ihrer imaginären und auch bequemen Welt. Dagegen gibt es auch die ungewollt Kinderlosen, die ein hartes Schicksal tragen und in der Regel auch Familienmenschen sind (im Gegensatz zu ihren gewollt kinderlosen Generationsgenossen), indem sie sich um ihre Eltern, Cousins oder Nachbarn und deren Kinder kümmern. Meist bekleiden sie auch ehrenamtliche Funktionen. Sie haben in der Regel ein quasifamiliäres Netz, weil sie zwar kinderlos aber familiär leben. Hier muss man unterscheiden. Kinderlos ist nicht gleich kinderlos, auf die Absicht und Motive kommt es an. Die Problematik mit der Rentenerhöhung liegt woanders. Zunächst: Viele Kleinrentner haben heute nicht genug zum Leben; die steigenden Lebenshaltungskosten schlagen dramatisch ins magere Haushaltsbudget. Ihnen ist mit zehn Euro mehr kaum geholfen, mit fünfzig dagegen schon. Gesellschaftlich sinnvoller wäre eine kräftige Erhöhung für die Kleinrentner und eine Nullrunde für die, die es nicht brauchen. Das verstößt natürlich gegen den Gleichheitssatz; aber Gerechtigkeit heißt, so wussten schon die Klassiker wie Thomas von Aquin oder selbst der alte Fritz, Gerechtigkeit heißt jedem das Seine und nicht allen das Gleiche. Es wäre den Schweiß der Edlen wert, sich von den sozialistischen Gerechtigkeitsbegriffen zu lösen und einen intergenerationellen, man könnte auch sagen christlich geprägten Ausgleich in der Rentenfrage zu finden, statt einer Generation kaum zu helfen und dennoch die andere zu belasten. Genau das strebt der gern als „Arbeiterführer“ und jetzt als „Rentnerführer“ von wahrscheinlich kinderlosen Journalisten und Politikern verhöhnte Ministerpräsident von NRW, Jürgen Rüttgers, an. Es geht um die Vermeidung von ungerechter Altersarmut, der Armut jener Menschen, die lange gearbeitet haben und keine Mark erübrigen konnten für eine private Altersvorsorge, zum Beispiel deswegen, weil sie Kinder ernähren und erziehen mussten und wollten. Kinder, die jetzt oder in ein paar Jahren die gewollt Kinderlosen durchfüttern und durchpampern sollen. Aber hier geht diese Bundesregierung genauso skrupellos vor wie ihre Vorgänger. Schon unter Kohl wurde die Intergenerationengerechtigkeit auf die lange Bank geschoben, obwohl die Zahlen aus dem Bericht der 120 Jügen Liminski Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ eindeutig die künftige Schieflage belegten. Kohl und Schröder sahen – wie jetzt Merkel und Beck – in der Rentenfrage nur eine Machtfrage. Sie sehen nur die Zahlen: Heute sind 18 Prozent der Deutschen älter als 65, in zwölf Jahren werden es 22 Prozent sein. Schon bei der Bundestagswahl 2009 werden mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten über 60 Jahre alt sein; es ist statistisch auch die Gruppe mit der höchsten Wahlbeteiligung. Eine Rentenkürzung kommt für Beck und Merkel nicht infrage, vor einer Beitragserhöhung scheuen sie ebenso zurück. Der kleinste gemeinsame Nenner ist die Null. Diesmal trifft die Null die Jungen: Der Beitrag zur Rentenversicherung wird nicht wie versprochen gesenkt. Alles andere überlässt man den Experten und der Zeit nach der Sintflut. Die wird kommen. In sechs, sieben Jahren beginnen die Baby-Boomer, die geburtenstarken fünfziger- und sechziger- Jahrgänge in die Rente zu gehen. Gleichzeitig schmilzt die Zahl der Erwerbstätigen, also jener, die die Beiträge zahlen, denn von den Baby-Boomern haben 30 Prozent keine Kinder. Für diese Zeit ist keine strukturelle Vorsorge getroffen. Dabei könnte sich die Regierung auch hier auf eigene Zahlen berufen, um einen sozio-generationellen Ausgleich zu schaffen. Im siebten Familienbericht ist nachzulesen, dass die öffentlichen Ausgaben für Alters- und Hinterbliebenenversorgung sechsmal so hoch sind wie für die Familien. In fast allen anderen europäischen Ländern ist die Relation wesentlich günstiger. Bei den Gesundheitskosten sieht es ähnlich aus. Das Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e.V. (www.i-daf.org) hat diesen Zusammenhang in seiner wöchentlichen Nachricht grafisch dargestellt. In solchen Zahlen drücken sich politische Wertentscheidungen aus. Sie sind auch Ausdruck einer vergreisenden Gesellschaft, deren politische Führung sich nicht mehr traut, zukunftsweisende Investitionsentscheidungen zu treffen. Es geht bei der Rentenfrage auch längst nicht mehr um ZehntelprozentPunkte. Die innere Statik dieser Gesellschaft wird brüchig. Das zeigt sich eben an den Gegensätzen innerhalb der Generationen, nicht zwischen den Generationen. Man könnte auch sagen, das Gemeinwohl wird durch „Mein Wohl“ ersetzt. Solche Gedanken stoßen auf Kritik. Nicht nur im politisch-medialen Establishment, sondern auch in familienfreundlichen Kreisen. Es gebe doch den Generationenkonflikt, heißt es. Die Alten sahnten ab, vor allem die kinderlosen Alten der Baby-Boomer-Generation. Deshalb noch einmal: Es geht nicht um einen Konflikt zwischen zwei Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage 121 Generationen, der in Statistiken herauslesbar wäre, sondern um den Konflikt innerhalb der Generationen und zwar zwischen jenen, die einen generativen Beitrag geleistet haben, wie das BVG sagt, und jenen, die diesen Beitrag nicht leisten wollen. Man muss, ich wiederhole, auch bei den Kinderlosen differenzieren. Manche Kinderlose leisten ihren generativen Beitrag nicht durch Zeugung, sondern durch Miterziehen. Nicht die Alterung ist das Problem der Generationengerechtigkeit, sondern die Kinderlosigkeit. Dazu ein paar Zahlen. Roland Woldag, Leiter des Regionalbüros Schleswig Holstein des Familiennetzwerks hat die Mehrkosten der Alterung für die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) 2004 einmal ausgerechnet. Das Ergebnis der Rechnung ergab für die GRV 635 Millionen Euro Mehrkosten im Jahr für die steigende Lebenserwartung, das sind 0,27% der 233,9 Milliarden Euro, die 2003 aus der GRV ausgezahlt wurden. 0,27 Prozent, das liegt im Bereich der Rundungstoleranz. Die künftige Krise der Sozialsysteme hat ihre Ursache nicht in der höheren Lebenserwartung, sondern in der Kinderlosigkeit, und dafür ist die Generation, die die Elterngeneration der „Baby-Boomer“ ist, nicht verantwortlich. Denn sie hatte ja Kinder in bestandserhaltender Zahl. Der Konflikt besteht zwischen Leuten wie Ihnen und Ihren Kindern oder mir und meiner Familie auf der einen und der Kinderlosencamarilla auf der anderen Seite. Die vergessene Familie ist die Grundlage dieser Gesellschaft; sie schafft die Voraussetzungen, von denen dieser Staat lebt und die er selber nicht schaffen kann. Sie lebt in den modernen Katakomben der Mediengesellschaft, in der medialen Verdrängung. Folgt man der wissenschaftlichen Literatur, so ist bezeichnend, dass „die Erzeugung solidarischen Verhaltens“ als ein Grund für den verfassungsrechtlichen Schutz der Familie genannt wird. Es sei eine Leistung, die in der Familie „in einer auf andere Weise nicht erreichbaren Effektivität und Qualität“ erbracht werde. Wir sind hier mitten im Raum der Kernkompetenz der Familie – denn die Familie ist ein Raum der Geborgenheit, der Lebensraum der selbstlosen Liebe. Es geht nicht nur um das genetische Bad. Hier kommen Aspekte und Verhaltensmuster ins Spiel, die sich schwer messen lassen. Es geht um das Angenommen-Sein um der Person willen, ganz gleich was sie hat oder leistet, wie sie aussieht oder was sie tut. Es gibt das menschliche Grundbedürfnis nach dieser selbstlosen Liebe. Das Streben danach ist eine anthropologische Konstante. Die Liebe ist das Ur-Geschenk, sagt Thomas von Aquin; alles, was uns sonst noch unverdient gegeben werden mag, 122 Jügen Liminski wird erst durch sie zum Geschenk. Und, so lässt sich mit Alfred Adler folgern, alle menschlichen Verfehlungen sind das Ergebnis eines Mangels an Liebe. All das wird vergessen oder verdrängt, wenn wir die Familie beiseite schieben, wie es die jetzige Bundesregierung tut. Die Familie hat zwar im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte, also seit der Industrialisierung und der entstehenden Sozialgesetzgebung mehr und mehr die Aufgaben der wirtschaftlichen Erhaltung, der Daseinsvorsorge bei Krankheit, Invalidität, Alter usw. verloren oder an den Staat abgegeben und sich zunehmend auf die Funktionen der Zeugung des Nachwuchses, seiner Sozialisation und auf die Pflege der innerfamiliären Intim- und Gefühlsbeziehungen beschränkt. Aber ihre Kernkompetenz hat sie noch nicht aufgegeben. Diese Kompetenz ist die Pflege und die Stabilität der emotionalen Befindlichkeit, besonders in den ersten Jahren. Sie ist auch die erste Quelle des Humanvermögens. Diese Funktion ist nicht zu ersetzen. Deshalb muss jede Reform hier ansetzen. Genau das Gegenteil jedoch versucht die Politik mit ihren ökonomistischen Ansätzen, mit ihren Fremdbetreuungskonzepten, die den kalten Hauch der DDR atmen. Dabei weist der jüngste und siebte Familienbericht deutlich auf die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse der Hirn- und Bindungsforschung hin. Aber aus Gründen, die man nur ideologisch einordnen kann, wird diesen Hinweisen nicht Rechnung getragen. Die drohende Verstaatlichung der Erziehung und Betreuung könnte so dazu führen, dass die Primärquelle für die Bildung von Humanvermögen versiegt. Denn diese Forschung sagt uns: Bindung geht vor Bildung. Selbst die positiven Ergebnisse frühkindlicher Bildung gehen später verloren, wenn die Grundlage der Bindung nicht vorhanden war. Emotionale Stabilität trägt, sie trägt durchs Leben. Darüber hört man wenig, auch in der ARD-Themenwoche nicht. Der Grund ist einfach. Es sind vorwiegend die gewollt Kinderlosen, die diese Woche gestalten und in ihr die Hauptrollen spielen, in Talkshows und Filmen. Woldag sagt deshalb voraus, ich zitiere: „Diese Gesellschaft wird in der Gewalt des Umverteilungskrieges versinken, und danach hat es wieder keiner gewusst.“ Zweitens: Die totalitäre Arbeitswelt oder die Entmenschlichung der Gesellschaft Damit sind wir bei Punkt zwei, den Folgen des intergenerationellen Konflikts. Da ist zunächst der Druck auf das aktuelle Umlagesystem. Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage 123 Dieses System muss, so denken die kinderlosen Hedonisten, erhalten werden für die nächsten dreißig, vierzig Jahre. Danach, wie gesagt, mag die Sintflut kommen. Um das System zu erhalten, muss in die Sozialkassen eingezahlt werden, natürlich nicht, wie das BVG es fordert, entsprechend den Einkommen und generativen Leistungen, sondern nur gemäß den Einkommen. Deshalb müssen Frauen in sozialpflichtige Jobs und die Kinder in Krippen. Es spielt auch keine größere Rolle, ob die Kinder ausreichend für die Zukunft qualifiziert werden. In keinem Budget eines Landes, des Bundes sowieso nicht, ist für die rund hunderttausend Erzieher und Erzieherinnen, die man für die 500.000 Krippenplätze bräuchte, ein Posten für die Ausbildung vorgesehen. Das heißt, man rechnet nicht mit einem Schlüssel fünf zu eins und man rechnet auch nicht damit, dass die Krippenwarte besonders ausgebildet sein müssten. Ein Krippenwart muss füttern und pampern können, das bedarf keiner pädagogischen Ausbildung auf einer Fachhochschule. Dafür reicht ein Schein von der Handwerkskammer. Nach diesem Sintflut-Prinzip darf, kann und muss die Abtreibung zu einem Grundrecht werden, schließlich ist der individuelle Hedonismus unantastbar. Die Zukunftsvergessenheit, die in diesem Denken liegt, ist gigantisch. Sie hat historische Dimension. Sie zeigt aber auch, dass Abtreibung für diese Menschen schon ein Gewohnheitsrecht ist. Auf der Webseite der „Birke“ wird dieser hedonistische Typ in seinem Denken mit Bezug auf einen Typ neue Frau so beschrieben, einen Typ, nicht den Typ – es sind keineswegs alle jungen Frauen so, es geht nur um diesen hedonistischen Typ, ich zitiere: „Nach der 68er-Revolution geboren, keine existentielle Bedrohung erlebt, immer in materieller Sicherheit gelebt. Verzicht, Verzichten können unbekannt. Sie ist überzeugt: Für Geld ist alles zu haben. Häufig ohne sachliche Orientierung, ohne persönliche Vorbilder. Dafür überschwemmt durch Reizfluten der Medien: Pornographie, Gewalt, Horror, Perversion. Mutter war meist berufstätig, das Kind also fremd betreut mit wechselnden Bezugspersonen. Oft kommen Trennungen, Scheidungen, Ein-Eltern-Familie, neue Partnerschaften, Patchwork-Konstellationen hinzu. Solche Bindungsdefizite schwächen das Urvertrauen und führen zu Bindungsängsten und Bindungsunfähigkeit. Die „neue Frau“ kann auch nicht im Geschwisterverband diese Defizite wettmachen, sie ist entweder Einzelkind, Halbschwester, Stiefschwester, Patchwork-Kind und das alles nur auf Zeit. Deshalb praktiziert die neue Frau Schmerzvermeidung und 124 Jügen Liminski Enttäuschungsprophylaxe in Beziehungen, sie lässt sich nicht mehr tief auf einen anderen Menschen ein. Dennoch hat sie große Ansprüche an den Partner. Er soll ihr alles geben, was sie seit der Kindheit schmerzlich vermisst: Geborgenheit, Wärme, Halt, ständige Gegenwart, Versorgung. Da sie keine echte Erfahrung dessen hat, was ihr fehlt, greift sie zu Ersatzgefühlen aus dem Fernsehen – und verwechselt das flüchtige Gefühl der Leidenschaft mit der Haltung des Liebens. Liebe ist für sie daher kein Zustand von Dauer. Die Folge: Liebe muss erst mal probiert werden; häufig wechselnde Partnerschaften werden als normal angesehen. Sie will Genuss sofort. Grundlegendes geistiges Muster der neuen Frau ist: Sie kennt nicht den Unterschied zwischen ‚gut fühlen’ und ‚gut sein’. Orientierung an objektiven Maßstäben, die zum Gutsein (früher: zur Tugend) führt, wird abgelehnt. Es gilt der reine Subjektivismus, „Gut-drauf-sein“ ist letztes Ziel und höchstes Gebot. Eine Schwangerschaft ist in den Augen der „neuen Frau“ nur störend, „das“ muss weg. Ein Schuldoder Verantwortungsbewusstsein fehlt. Die Beraterin muss praktisch bei null anfangen.“ Natürlich gilt dieses Denken und Fühlen auch für den neuen Typ Mann. Aber der geht nicht zur Beratung, obwohl er es manchmal noch nötiger hätte als der neue Typ Frau. Es geht auch nicht um Mann oder Frau, es geht um das Denken des hedonistischen Kinderlosen, eine Art Parasit des Gemeinwohls. Auch die Infrastruktur darf für solche Leute nur notdürftig ausgebessert werden. Alle Kosten für die Allgemeinheit sind den Hedonisten zuviel. Hans Magnus Enzensberger hat diese Entwicklung 1993 in seinem Essay „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ so beschrieben: „Dieser (gemeint ist der Bürgerkrieg) wird in Europa als molekularer Bürgerkrieg beginnen. Seine winzigen stummen Kriegserklärungen sind zunächst unblutig und harmlos. Allmählich mehrt sich der Müll am Straßenrand. Im Park häufen sich Spritzen und zerbrochene Bierflaschen. An den Wänden tauchen überall monotone Graffiti auf. ... In den Schulzimmern werden die Möbel zertrümmert, in den Vorgärten stinkt es nach Scheiße und Urin.“ Einige dieser „Moleküle“ können wir schon beobachten. Und natürlich gehören auch die Euthanasie und die Altenkrippe zu diesem Denken, wie überhaupt alles, was, wie in den utopischen Romanen „1984“ oder „Fahrenheit 451“, der Entsorgung von nicht- Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage 125 produktiven Elementen dient. Produktion hat Priorität. Diesem ökonomistischen Denken muss sich alles unterordnen. Wir befinden uns schon zwischen den Mühlsteinen der totalitären Arbeitswelt. Die Familienpolitik ist de facto Arbeitsmarktpolitik, und die Klein- oder Kernfamilie hat sich an den Bedürfnissen der Wirtschaft und der Arbeitswelt, mithin des politisch-medialen Establishments zu orientieren. Denn die Familie dieses Establishments ist das Büro, das Atelier, die Redaktion, das Parlament. Die Flure sind die Wohnzimmer, die Archive ersetzen die Erinnerung an schöne Stunden, die Aktenschränke sind die modernen Interieurs, die neue Intimität, das Fernsehen bestimmt den Gefühlshaushalt, das Herz ist die Stechuhr. Es ist kafkaesk. In dieser Welt ist kein Platz für Freiräume der Menschlichkeit. Die OECD sucht auch entsprechend diese Freiräume zu besetzen oder zu vernichten. OECD und Regierung sind das Auge des Großen Bruders. Sie wollen das Ehegattensplitting und die Mitversicherung bei den Krankenkassen abschaffen und damit die Frauen in die Produktion zwingen. Dass sie damit auch das ehrenamtliche Engagement abschaffen und der Pflege die Zeit rauben, die jede Beziehung braucht und so diese Räume der Menschlichkeit einengen und zerquetschen, das steht nirgendwo in den Aktenschränken vermerkt. Die Produktion braucht keine Menschlichkeit und keine Liebe und auch keine Würde. Sie braucht Zahlen und Willfährigkeit. Sie braucht den Konsum. Die veröffentlichte Meinung, vielfach ein Spiegel, um nicht zu sagen, Lebedame dieses Denkens, neigt auch dazu, die Beziehungswelt des Menschen in all ihren Aspekten zu vermarkten und die Privatheit oder Intimität ins grelle Licht des Voyeurismus, der Neugier und der Quotenträchtigkeit zu zerren. Treue und Unauflöslichkeit mögen der heimlichen Sehnsucht des Menschen entsprechen; sie vertragen sich nicht mit der für notwendig gehaltenen Offenheit und der Vielfalt des medialen Angebots. Der Markt legt sich nicht fest, er bietet nur an. Die offene Option ist sein Elixier. Und diese Haltung ist wie durch Osmose in unser Denken eingedrungen. Beispiel Handy: Das Instrument ist gut und nützlich. Aber es kann wie jedes wertneutrale Instrument auch falsch gebraucht werden. In ihm steckt auch die Möglichkeit, Verabredungen bis zum Schluss offen zu halten und gegebenenfalls auch abzusagen. So werden heute Einladungen zwar angenommen aber nicht definitiv zugesagt. Man 126 Jügen Liminski weiß eben noch nicht, ob man kommt. Man schaut mal. Statt den eigenen Willen zu bemühen und zuzusagen, wägt man lieber die Einladung mit möglichen künftigen Optionen ab. „Ich ruf an“, heißt es, und übersetzt bedeutet es: „Mal sehen, was sonst noch geboten wird ...“. Auch Veranstaltungen mit größerem Publikum sind eine unsichere Angelegenheit geworden. Man weiß selten, wie viele Teilnehmer wirklich kommen. Die erwünschten Rückmeldungen sind kein Gradmesser mehr, nur noch ein Mindestmaß. Die Verabredungskultur ist vom Pflichtdenken zum Marktdenken übergegangen. Zuerst wird die Angebotslage gesichtet, bevor man sich festlegt. Früher war die Beziehung zu Personen ausschlaggebend, heute ist es der Konsum- und Freizeitwert, manchmal auch nur der persönliche Nutzen für die Karriere. Hier offenbart sich ein Verlust an persönlicher Beziehungsfähigkeit, mithin an Menschlichkeit. Unmerklich hat sich dieses optionale Denken auch in die Unfähigkeit eingeschlichen, klare Aussagen zu treffen. Man überlässt Entscheidungen, auch kleine und unwichtige, entweder den Umständen oder den anderen. Sei es aus Angst vor den Folgen eines Neins, sei es aus Angst, dadurch andere Optionen zu verlieren. Definitive und definitorische Aussagen legen fest. Das ist eine Gesellschaft, die permanent nach Konsens und Kompromissen sucht, nicht mehr gewohnt. Freundschaften dagegen sind keine Optionen, ihre Subjekte sind Personen. Zwischen Person und Handeln, zwischen Freundschaft und Option unterscheiden zu können, ist Teil der Beziehungsfähigkeit. Das gilt auch für größere Lebensfragen. Man entschließt sich nicht, ein Kind zu bekommen, sondern „schafft“ es sich an. Und das möglichst spät. Natürlich ist jedermann/frau frei, diese Entscheidung nach den persönlichen Umständen zu fällen. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der eine Liebesbeziehung auch diese Gedanken verfolgte, ist verloren gegangen. Sicher stellte man sich früher auch die Frage, was ein Kind kostet. Aber die Frage lautete eher: „Wie schaffen wir das?“ Und in dieser Frage ist das Beziehungsdreieck Mutter-Vater-Kind schon enthalten. Heute lautet die Frage eher: Was bringt es, was kostet es, sollen wir überhaupt eins haben? Und darin schwingt die Abwägung Kind-Konsum-Optionsverlust mit. Wer kleine Kinder hat, kann nicht mehr so ohne weiteres auf Partys, in die Oper, ins Theater – auf den Markt der Freizeitgesellschaft. Dass die Beziehung zu einem Menschen auch Glück mit sich bringt, spielt in der generativen Überlegung oft nur noch eine Nebenrolle. Das Preis- Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage 127 Leistungs-Verhältnis und das Kosten-Nutzen-Denken haben den Faktor Kind objektiviert. Besonders deutlich wird das bei einer Scheidung, wenn die Besuchs-, Sorge- oder Umgangsrechte mit dem Kind wie Claimrechte abgesteckt, eingeschränkt oder gar verboten werden. Das Kind als Gut oder Besitzobjekt. Auch hier wieder: Weniger Beziehung, weniger Menschlichkeit, mehr ich. Oder das Beispiel Gesundheit. Gesundheit ist zum „höchsten Gut“ des Menschen avanciert. Der Bestsellerautor und Psychotherapeut Manfred Lütz hat seinem Buch „Lebenslust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult“ ein Wort von Platon vorangestellt. Es lautet: „Die ständige Sorge um die Gesundheit ist auch eine Krankheit.“ Diese Krankheit behandelt er in seinem Buch. Lütz hält Deutschland im Sinne Platons für ein krankes Land. Heute gelte Gesundheit als höchstes Gut und deshalb seien „die Leute von morgens bis abends mit diesen Fragen beschäftigt, laufen zum Arzt, zum Therapeuten. Es gibt einen schlimmen Spruch, der heißt: ‚Gesund ist ein Mensch, der nicht ausreichend untersucht wurde.’ Also je mehr Untersuchungen man macht, desto mehr pathologische Werte bekommt man mit. Es gibt Menschen, die von morgens bis abends nicht mehr leben, sondern nur noch vorbeugend leben und dann gesund sterben“. Der hauptberuflich als Arzt für Psychiatrie tätige Autor hat Theologie studiert. Für ihn ist der Gesundheitswahn ein moderner Religionsersatz, so wie vor 200 Jahren etwa die Vernunft die Religion ersetzen sollte. Die Menschen glauben – so Lütz – „nicht mehr an Gott aber an die Gesundheit“. Der Deutsche Fitness-Studio-Verband beziffere die Zahl seiner Mitglieder für das Jahr 2000 auf 4,59 Millionen Deutsche. Im gleichen Jahr 2000 seien noch 4,42 Millionen Deutsche in den katholischen Sonntagsgottesdienst gegangen. Lütz folgert: „Das Jahr 2000 ist also ein Wendepunkt. Die Gesundheitsreligion hat sozusagen die Macht übernommen und ich glaube in der Tat, dass alle Formen der religiösen Tradition inzwischen im Gesundheitswesen angelangt sind.“ So könnte man beliebig alle Felder der Politik und der Gesellschaft durchgehen. Man stieße immer wieder auf den Begriff der Ich-AG oder der Ich-Gesellschaft. Die sozialen Netze sind gerissen, der Mensch lebt schon als Kind in einer, wie die Soziologen sagen, insulären Situation. Schon Romano Guardini wies auf die Gefahr des „unmenschlichen“ oder des „nicht-humanen Menschen“ hin. In einer Studie, die Hans Urs von Balthasar Romano Guardini widmete, sieht der große Denker die „Un- 128 Jügen Liminski menschlichkeit des Menschen“ in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Vergessen Gottes und der Anwendung einer nahezu gebieterischen aber auch irreführenden Technologie. Das ist die moderne Barbarei. Guardini schrieb mit einem Hauch von Prophetie: „Es ist für mich als ob unser ganzes kulturelles Erbe von den Zahnrädern einer Monstermaschine erfasst würde, die alles zermalmt. Wir werden arm, wir werden bitterarm.“ Drittens: Wege aus der Barbarei Wie kommt eine Gesellschaft aus so einer Situation heraus? Altpräsident Herzog bietet da eine Lösung an: das Familienwahlrecht. Auch Paul Kirchhof ist dafür und andere Persönlichkeiten mehr. Wenn die Stimmen der Kinder treuhänderisch von den Eltern genutzt würden, gäbe es mit einem Schlag 15 Millionen Stimmen mehr, von den Eltern für die Kinder in die Waagschale der Macht geworfen. Das würde die Interessenlage der Parteien schlagartig ändern. Alle, auch in der Politik, sind sich einig, dass dann ein Run auf familienfreundliche Themen und Projekte begänne. Ein solcher Schritt würde Energien für die Zukunft freisetzen. Paul Kirchhof schreibt in seinem Essay über die Erneuerung des Staates in Deutschland: „Freiheit ist ein Wagnis in Grenzen des Rechts“. Es wäre ein kalkulierbares Wagnis, das Land hätte wieder Zukunft. Aber das politisch-mediale Establishment will oder wagt diese Freiheit nicht. Dieses Establishment der gewollt Kinderlosen führt einen heimlichen Krieg gegen das Gemeinwohl und gegen die Gesellschaft. Einen heimlichen, aber realen Krieg. Die Familien müssen sich wehren. Wir leben bereits in einer Pseudo-Demokratie. Die alten Griechen wussten das schon. Der Historiker Polybios hat es im zweiten Jahrhundert vor Christus so formuliert: Ein Staat sei dann keine Demokratie, wenn in ihm „eine beliebige Masse Herr ist, zu tun, was ihr beliebt“. Im Gegenteil sei die „Bezeichnung Demokratie da und dann am Platze“, wo man „Vater und Mutter ehrt, vor einem Älteren Respekt hat, den Gesetzen gehorcht.“ Freilich müssen die Gesetze gerecht sein. Das ist in Deutschland nicht immer der Fall. In puncto Gerechtigkeit für Familien erst recht nicht. Hier muss die Balance neu justiert werden, wenn man ein solidarisches Gemeinwesen zwischen den und innerhalb der Generationen schaffen will. Es ist eine alte Dichotomie. Es geht um die Gestaltung der Gesellschaft als solidarische oder als repressive. Vor dieser Alternative standen schon Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage 129 die alten Griechen. Denn prinzipiell gibt es nur zwei Gesellschaftsmodelle: Das Konfliktmodell und das Konsensmodell. Ein Ahnherr der Konflikttheorie, der Sophist Thrasymachos, sah als alleiniges Kriterium für das gesellschaftliche Handeln die technische Durchsetzbarkeit. Was geht, wird gemacht. Keine Rücksicht auf Ethik, Familie oder Würde im Alter. Das Ergebnis ist der repressive Staat mit Abtreibung, Euthanasie, Instrumentalisierung der Familie, Altenkrippe und der absoluten Vorfahrt für Profit und Arbeit. Aristoteles, der andere geistige Pol der Antike, sah nicht im Henker, sondern in der Freundschaft das Band der Gesellschaft. Sie sei „das Nötigste im Leben“, meinte der große Grieche. Und man kann hinzufügen: In der Familie findet sie, die Freundschaft, ihr Zuhause. Das ist die Alternative der Zukunft: Eine repressive Gesellschaft mit der Kultur des Todes und der Ich-Mentalität oder eine solidarische Gesellschaft mit freundschaftlichen Formen des Zusammenlebens der Generationen. Denn Freundschaft ist generationenübergreifend und Vorbild gebend und die Demographie spitzt diese Alternative immer schärfer zu. Wir stehen auf der Kippe dieser alternativen Entscheidung. Die Konflikttheorie scheint die Oberhand zu gewinnen. Schirrmacher hat in seinem Buch „Minimum“ einen prophetischen Blick nach vorn gewagt und die These aufgestellt: Nur die Familien werden überleben. Darüber freuen wir uns, aber zunächst müssen wir als Familie erst mal selber überleben. Was Schirrmacher nicht sagt: Die Familien werden überleben, weil sie die Würde des Menschen leben. Dieses Bewusstsein von der Würde droht in einer hyper-individualisierten Gesellschaft des Konsums und der Produktion zugrunde zu gehen. Dieses Bewusstsein von der Würde aber ist der Dreh- und Angelpunkt einer solidarischen Gesellschaft. Es muss immer wieder wachgerufen werden. Wenige Jahre nach dem Krieg, 1949, also zu einer Zeit, da die Brandbilder noch im Gedächtnis loderten und es klar war wie Quellwasser im Gebirge, wohin der Wahn von Ideologen und die Feigheit der Guten führen kann, jene Feigheit, von der Don Bosco sagt, dass sie die häufigste Ursache der bösen Taten ist, zu dieser Zeit verfasste Romano Guardini eine kleine Schrift über das Recht des ungeborenen Menschenlebens, die sich heute noch oder schon wieder lohnt, in die Hand zu nehmen. Im Abschnitt mit dem Titel „Der entscheidende Gesichtspunkt“ schreibt er: „Die endgültige Antwort liegt im Hinweis auf die Tatsache, dass das heranreifende Leben (man könnte auch sagen das dahinwelkende Leben, A. d. V.) ein Mensch ist. Den Menschen aber darf man nicht töten, es sei denn in der Notwehr ... und der Grund dafür liegt in der Würde seiner Person.“ Und dann zieht er die Kausalkette noch 130 Jügen Liminski etwas weiter: „Nicht deshalb ist der Mensch unantastbar, weil er lebt und daher ein Recht auf Leben hat. Ein solches Recht hätte auch das Tier, denn das lebt ebenfalls. … Sondern das Leben des Menschen darf nicht angetastet werden, weil er Person ist.“ Dann definiert Guardini diesen Begriff. „Person ist die Fähigkeit zum Selbstbesitz und zur SelbstVerantwortung; zum Leben in der Wahrheit und in der sittlichen Ordnung. Sie ist nicht psychologischer, sondern existentieller Natur. Grundsätzlich hängt sie weder am Alter, noch am körperlich-seelischen Zustand, noch an der Begabung, sondern an der geistigen Seele, die in jedem Menschen ist. Die Personalität kann unbewusst sein, wie beim Schlafenden; trotzdem ist sie da und muss geachtet werden. Sie kann unentfaltet sein wie beim Kinde; trotzdem beansprucht sie bereits den sittlichen Schutz. Es ist sogar möglich, dass sie überhaupt nicht in den Akt tritt, weil die physischpsychischen Voraussetzungen dafür fehlen wie beim Geisteskranken oder Idioten. Dadurch aber unterscheidet sich der gesittete Mensch vom Barbaren, dass er sie auch in dieser Verhüllung achtet. So kann sie auch verborgen sein wie beim Embryo, ist aber in ihm bereits angelegt und hat ihr Recht. Diese Personalität gibt dem Menschen seine Würde. ... Die Achtung vor dem Menschen als Person gehört zu den Forderungen, die nicht diskutiert werden dürfen. Die Würde, aber auch die Wohlfahrt, ja endgültigerweise der Bestand der Menschheit hängen davon ab, dass das nicht geschehe. Wird sie, die Würde, in Frage gestellt, gleitet alles in die Barbarei.“ Josef Pieper geht noch einen Schritt weiter und tiefer. In seinem Traktat Über die Gerechtigkeit sagt auch er, „weil der Mensch Person ist, das heißt ein geistiges, in sich ganzes, für sich und auf sich hin und um seiner eigenen Vollkommenheit willen existierendes Wesen, darum steht dem Menschen etwas zu, darum hat er ein suum, ein Recht, gegen jedermann vertretbar, jeden Partner verpflichtend, mindestens zur Nicht-Verletzung.“ Ja, die Personalität des Menschen, die Verfasstheit des geistigen Wesens, kraft deren er Herr seines eigenen Tuns ist, verlange sogar, zitiert er den heiligen Thomas von Aquin, dass die göttliche Vorsehung die Person um ihrer selbst willen leite und über uns mit großer Ehrfurcht verfüge. Aber er fragt auch: Wie kann die Personalität der letzte Grund sein, zumal sie selbst nicht in sich gründet? Die Antwort: „Der Mensch hat deshalb unabdingbare Rechte, weil er durch göttliche, das heißt aller menschlichen Diskussion entrückte Setzung als Person geschaffen ist. Dem Menschen steht letzten Grundes deswegen etwas unabdingbar zu, weil er creatura ist, und als Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage 131 creatura hat der Mensch die unbedingte Verpflichtung, dem anderen das ihm Zustehende zu geben. Diesen Sachverhalt hat Kant so ausgesprochen: Wir haben einen heiligen Regierer, und das, was er den Menschen als heilig gegeben hat, ist das Recht der Menschen.“ Wir wissen heute, dass die Würde nicht nur im Einzelfall sondern prinzipiell infrage gestellt ist. Sie wird angetastet – siehe embryonale Stammzellforschung, siehe Abtreibung, siehe aktive Sterbehilfe –, aber sie bleibt prinzipiell unantastbar. Denn es ist, so Pieper, „der Creator selbst in seiner Absolutheit der letzte Grund für die Unabdingbarkeit (also für die Unantastbarkeit, d. V.) des dem Menschen Zustehenden“. Deshalb ist der Kampf auch nicht hoffnungslos, selbst wenn es manchmal so scheint und die Politik beim Thema Abtreibung, Euthanasie in absurder Weise sich wie die drei Affen verhält: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Nein, Gott selbst ist der prinzipielle Garant für die Unantastbarkeit. Wen schert das, könnte man fragen. Alle, heißt die Antwort. Denn die Natur des Menschen hat sich nicht geändert. Was aber passiert, wenn die Natur nicht anerkannt wird? Wenn, wie Sartre sagt, „la nature de l’homme n’existe pas“, wenn die Natur des Menschen nicht existiert? Dann gibt es kein Humanum und dann ist alles möglich. Und in seinem posthum erschienenen Werk „Die Existenz des Christen“ beobachtet Guardini, wie dies geschehen kann, dann nämlich wenn der Geist krank wird. „Das geschieht nicht unbedingt nur dann, wenn der Geist sich irrt“, schreibt er, „sonst wären wir ja alle geistig krank, denn wir täuschen uns alle mal; noch nicht einmal, wenn der Geist häufig lügt; nein, der Geist wird krank, wenn er in seinem Wurzelwerk den Bezug zur Wahrheit verliert. Das wiederum geschieht, wenn er keinen Willen mehr hat, die Wahrheit zu suchen und die Verantwortung nicht mehr wahrnimmt, die ihm bei dieser Suche zukommt; wenn ihm nicht mehr daran liegt, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden.“ Vor dieser Situation stehen wir. Es ist die Situation des Pilatus. Resignierend, fast vorwurfsvoll fragt er Jesus – im Film „Die Passion“ fantastisch gespielt –: Quid est veritas? Was ist Wahrheit? Seine Jünger, die Pilatisten, sind heute zweifellos in der Mehrheit, jedenfalls in der Bewusstseinsindustrie. Es sind die Jünger des Pilatus, die Ende der sechziger Jahre sämtliche Wertefundamente zertrümmerten, indem sie alles infrage stellten. Es sind die Jünger des Pilatus, die nur ihre Karriere, ihre Bequemlichkeit, ihre Ruhe im Sinn haben. Es sind die Jünger des Pilatus, die die Wahrheit im Stich lassen und sich eine Wirklichkeit nach ihrem Gusto zimmern. Der 132 Jügen Liminski Verzicht auf die Wahrheit ist der Kern der heutigen Krise, konstatierte knapp und bündig schon vor zehn Jahren Kardinal Ratzinger. Dieser Relativismus grassiert auch in der Politik, auch bei den C-Parteien. Angesichts der Debatte über beschränkte Ressourcen oder leere Kassen wächst zudem der Druck auf potentielle Patienten und ihre Angehörigen, mit der Einwilligung in teure medizinische Maßnahmen zur Lebensverlängerung sehr zurückhaltend zu sein. Das ist das Sterben nach Kassenlage, eine Vorstufe zur Euthanasie. Auch dagegen hilft nur die Familie, die vergessene oder verdrängte Institution. Ich komme zum Schluss. Vor einigen Jahren trugen Schüler bei einer Demonstration in Berlin ein Plakat mit folgender Aufschrift durch die Straßen: So wie ihr uns heute behandelt, so werden wir euch später pflegen. Es war eine unbewusste Kriegserklärung an die kinderlosen Hedonisten. Diese werden zwar viel Geld haben, aber wenig Freunde. In der von ihnen verschuldeten demographischen Krise geht es nicht so sehr um die Umlagesysteme, sondern mehr noch um die emotionale Verarmung. Die gewollt Kinderlosen und Familienverächter werden einsam sein. Dagegen helfen auch Generationenhäuser oder Altersheime nicht. Sie können im Gegenteil bei allem Luxus Stätten organisierter Einsamkeit sein. Die Freundschaft ist in der Familie zuhause. Die Familie ist als Schutzraum der Intimität vor dem Wandel der Kultur und der sozialen Strukturen gefeit. Für sie zählt nicht, was der andere hat – Güter, Geld, Besitz – oder wie er aussieht. Für sie zählt, was er ist: konkrete Person, Vater, Mutter, Mann, Frau, Bruder, Schwester – alles Personen, Gesichter mit Namen. Für sie lebt man selbstlos Solidarität. Das ist das Gegenprogramm zur hyper-individualisierten Gesellschaft, zum kollektiven Egoismus des politisch-medialen Establishments, zu den Krippenwarten und Altenwarten, zu den Funktionären einer enthumanisierten Gesellschaft. Wir brauchen eine Rückbesinnung auf die Würde des Menschen, auf die selbstlose Liebe. Das kann kein Staat, kein Amt leisten. Das Bewusstsein für Würde und Person wächst in der Familie heran. In ihr ist die selbstlose Liebe zuhause, die diese Würde pflegt, in den jungen Herzen das Bewusstsein für sie stiftet. Die Familie ist, wie Benedikt XVI. sagt, „der Kern aller Sozialordnung“. Sie ist, für jung und alt, die Krippe der Menschlichkeit. Deshalb muss die Familie gestärkt werden, damit die Menschen wieder Zeit haben füreinander, Zeit für die Beziehung, Zeit für die Liebe und damit Zeit für die Anerkennung der Würde. Das wird man freilich erst Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage 133 verstehen, wenn man davon ausgeht, dass es eine Natur des Menschen gibt, dass der Mensch creatura ist, über die der Creator, wie es im Buch der Weisheit steht, nur „mit großer Ehrfurcht“ verfügt. Wenigstens einen Hauch dieser Ehrfurcht, mehr oder weniger stark, erfährt man in der Familie, der Krippe par excellence. Früher waren die Deutschen gefürchtet, jetzt fürchten sie sich selbst und auch vor ihrer Vergangenheit. Diese Furcht ist sprichwörtlich geworden. „The German Angst“ sagen die Angelsachsen, wenn mal wieder eine Hysterie auf dem Kontinent tobt, sei es wegen der Rinder, der Vögel oder sonst etwas, das den Appetit verderben könnte. Die Anfälligkeit der Deutschen für Hysterien verdichtet sich in diesem Begriff. Aber vielleicht sind es gar nicht die Deutschen, sondern nur deutsche Medien, wenn man sich zum Beispiel die Hysterie um Eva Herman und auch um Kardinal Meisner anschaut. Und immer wird gleich die Nazi-Keule geschwungen, obwohl alle wissen, dass weder Frau Herman noch der Kölner Kardinal irgendetwas mit den Nazis und deren barbarischen Ideologien zu tun haben. Wir kennen das. Man fragt sich, was treibt diese Leute außer der Annahme, dass sie mit diesen Schlagzeilen Auflage oder Quote erhöhen könnten? Natürlich gibt es den einen oder anderen Gutmensch, bei dem die Empörung auch echt ist. Er regt sich aber in der Regel ab, wenn er merkt, dass es sich um ein Missverständnis oder um eine bewusst provokative Äußerung handelte. Nicht so die Hysterie-Schaffenden. Sie drehen weiter, vor allem wenn es sich um eine Äußerung handelt, die die Natur des Menschen betrifft. Das kann das Wort „Gebärmaschine“ sein oder der schlichte Begriff „Mutter“. Da hört der Spaß der Meinungsfreiheit auf. Reflexartig wird dann mit allen Rohren geschossen – Missverständnis hin, Kontext her. Aber hier wird es erst wirklich interessant. Denn Fragen, die mit der Natur des Menschen zu tun haben, haben auch mit der Wirklichkeit zu tun, mithin mit der Wahrheit. Daraus ergeben sich Grundsätze. Aus dem Sein erwächst ein Sollen, nannte es Guardini, und das mögen die Vertreter einer Denkrichtung nicht, deren Lebenselexier die Beliebigkeit ist, die von Grundsätzen und Ethik also nichts halten, und die sind eben vor allem in Massenmedien zu finden. Aus dieser Ecke kommen dann auch Angriffe auf andere Persönlichkeiten, am liebsten Bischöfe, weil die sozusagen die klassischen Vertreter von Grundsätzen sind oder sein sollten. Dass solche Menschen auch mal Fehler machen oder sich ungeschickt äußern, ist nicht das Problem. Ihr Problem ist: Sie sind der verkörperte Widerspruch zur Beliebigkeit, zum Alles-ist-möglich. Das 134 Jügen Liminski hat auch mit Pluralismus nichts mehr zu tun. In einer pluralen Gesellschaft wird noch um Werte gerungen, in einer Gesellschaft der Beliebigkeit ist das nur lästig. Die Gleich-Gültigkeit aller Werte ist heute in den meisten Medien voll durchgeschlagen. Man sucht nicht mehr nach Wahrheiten und das gilt vor allem für einige bekannte Massenmedien. Es zählen nur die Konkurrenz und der profitable Erfolg. Aus diesem Denken entsteht dann auch, was die amerikanische Publizistik den pack-journalism, den Meutenjournalismus nennt. Alle jagen einem Thema, einer Beute nach. Diese Meute kennt keine Werte mehr. Es wird nicht mehr berichtet, nur noch hingerichtet. Gorgias, eine führende Figur unter den Sophisten der alten Griechen, hatte nur einen Grundsatz: „Es gibt nichts.“ Er ist der Ahnherr vieler Medienleute. Denn der Nihilismus ist die Zwillingsschwester der Hysterie. Das ist die Denkweise, die der Lebensweise der Beliebigkeit zugrunde liegt. Wo aber in den Werten und Grundsätzen keine Ordnung mehr herrscht, wo nicht mehr gefragt, geschweige denn geforscht wird nach dem, was richtig und was falsch ist, da ist, wie Guardini sagte, „der Geist im Wurzelwerk krank“ und die Hysterieanfälligkeit am größten. Da wird jedes Wort der Vertreter von Wahrheit(en) auf die Goldwaage gelegt. Man überlege nur mal, wie die medialen Reaktionen ausgefallen wären, wenn Alice Schwarzer oder ein Politiker aus dem linken Spektrum sich so missverständlich ausgedrückt hätte wie Frau Herman oder eine Wortwahl getroffen hätte wie der Kardinal. Man hätte allenfalls milde gelächelt oder süffisant die Ungeschicklichkeit aufgespießt. Es gibt eine alte Volksweisheit für solche Fälle: Die Kirche im Dorf lassen. Aber das ist es ja gerade, man will Kirchen und Werte ins Nichts, sozusagen heim ins Reich der Beliebigkeit führen. Der Streit ist alt, die Sophisten trugen ihn gegen Aristoteles und Platon aus. Neu an der geistig-geistlosen Auseinandersetzung ist die Schärfe und die Wucht, mit der die Jünger des Nihilismus Andersdenkende verfolgen, sobald diese den Nerv der Lebensweise berühren oder auch schlicht eine Ordnung wiederherstellen wollen, die den liberalistischen Geistern missfällt. Das heißt: Es wird weiter medial geschrieen werden. Da ist die alte Kardinaltugend der Tapferkeit gefragt und zwar in ihrem Wesenskern, dem Standhalten. Standhalten in der Wahrheit und den immer gültigen Werten. Dafür sehe ich in den großen Parteien kaum Ansätze. Es wird weiter geschrieen werden, und da ist auch eine weitere Tugend gefragt: Gelassenheit. Das Schreien führt zu nichts. Auch das ist eine Form von Nihilismus. Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage 135 Was aber bleibt, ist die Natur des Menschen. Und, so sagt Robert Spaemann: „Von der Natur können wir uns nicht emanzipieren.“ Also warten wir ab, bis die Stunde der Besinnung wieder schlägt. Vielleicht ist das Volk doch nicht so dumm, wie die Politik glaubt. BESPRECHUNGEN WOLFGANG BADER, STEFAN LIESENFELD, Maria – Vier Wochen mit der Mutter Jesu, München 2006, ISBN 3-87996-680-X, S. 64 (German Rovira) Es ist ein Büchlein, das Anregungen für das Gespräch mit Maria – oder sagen wir besser – für Betrachtungen über die Beziehung Marias zu Gott (9-22), zu ihrem Sohn (23-35), zu den Anderen (36-49) und zu uns (5063) gibt. Dementsprechend ist das Buch in diese vier Bereiche, abschnittsweise für jeden Tag der Woche, eingeteilt. Bei jeder Meditation sind verschiedene Zitate ausgewählt worden, die unterschiedlich bewertet werden können, je nach dem ob man das Büchlein einfach liest oder für die tägliche Betrachtung verwendet: Zitate von Boff, Luther und aus dem evangelischen Gemeindekatechismus, von Petra Kelly, Helder Camara bis hin zu Mutter Teresa und Johannes Paul II. Nun, die Intention des Verfassers ist zweifellos gut, vor allem die Einteilung für einen Monat. Man hätte aber mehr und tiefer über Maria nachdenken können. JOSEPH OVERATH, Mann ohne Worte – Eine Deutung der Litanei vom heiligen Joseph, Kisslegg 2007, ISBN 978-3-939684-181-3, S. 80 (German Rovira) Zur lauretanischen Litanei sind sehr viele Kommentare erschienen, meistens hilfreich für die Betrachtung dieser liebenswürdigen Anrufungen zur Mutter Gottes, die auch unsere Mutter ist. Zur Litanei des hl. Josef gibt es nur wenige Kommentare. Ich kenne nur einen Kommentar in französischer Sprache – und jetzt den von Overath. Hier kann man das Gleiche sagen, was man meistens empfindet, wenn etwas Sinnvolles zu einem Gebet oder einer Stelle des Evangeliums geboten wird, das uns das Gespräch mit Gott erleichtert und das wir mit Dankbarkeit annehmen. Der Kommentar zur Litanei des hl. Josef, den uns Overath anbietet, besitzt diese Merkmale: Er ist hilfreich für das Gebet und für die Betrachtung dessen, was uns 138 Besprechungen im Evangelium über den hl. Josef gesagt wird, welcher in die Geschichte des Volkes Gottes im Alten Testament (vgl. 10-15) verwoben ist. Zum Teil dient die Geschichte des Joseph, des Sohnes Jakobs im AT, zur Erleuchtung der Tugenden des Vaters Jesu , z. B. der Keuschheit (6164). Hier sei mir eine Anmerkung zu den vortrefflichen Ausführungen Overaths erlaubt: Warum hat er so viel Scheu, den hl. Josef den Vater Jesu zu nennen (18)? Anstatt „Vater“ benutzt er die alten Formulierungen Pflegevater (z. B. 29 u. 54) oder Nährvater (71). Maria, die Jungfrau, nannte ihn einfach Vater (Lk 2,48), wie auch der hl. Augustinus und Johannes Paul II. Dieser gibt auch eine deutliche Erklärung dafür, den hl. Josef nicht ersatzweise oder als den scheinbaren Vater Jesu zu bezeichnen, „sondern (Josef) besitzt die volle Authentizität der menschlichen Vaterschaft“ (RC n. 21). Auch bedarf dieser wunderbare Kommentar über die Litanei zum Hl. Josef noch einer Korrektur. Ich muss nämlich darauf aufmerksam machen, dass nicht Leo XIII. 1889 den hl. Josef zum „Patron der Kirche“ ernannt hat, sondern dass Pius IX. mit dem Dekret Quemadmo- dum vom 8.12.1870 den hl. Josef als Patron der universalen Kirche anerkannte. Mit dem Apostolischen Schreiben Inclytum Patriarcharum vom 17.7.1871 wurde dieser Titel des hl. Josef ratifiziert. Pius IX. ist auch derjenige, der seit dem 10.12.1847 das Fest des Patroziniums des hl. Josef feiern ließ und die entsprechende Liturgie approbierte. Und noch eines müsste man meines Erachtens für eine wünschenswerte spätere Auflage des Buches verbessern: die Bezeichnung Zimmermann (41): War der hl. Josef Zimmermann oder hatte er eine Werkstätte als Zimmermann in Nazareth? Er war technon, ein Techniker in seiner Arbeit, die er sich überall suchte und die ihn häufig mit Schmerzen von Zuhause fernhielt. In einem Dorf mit maximal 100 Leuten konnte er eine Werkstätte nicht halten und suchte sich in der Umgebung, vor allem in Sepphoris, Arbeit. Aber das ist Ermessungssache, wie auch manche andere Deutungen im Buch, wie z. B. die Behandlung der Anrufung amator paupertatis (50 f.); man hätte mehr über die „Armen Israels“, die Awarim Israels, die arm im Geist waren, wie der Herr sie in den Seligpreisungen (Mt 5,3) nennt, sprechen können. Besprechungen Brillant und tapfer dagegen ist die Verteidigung der Orthodoxie, der wahren Lehre der Kirche über den Teufel in Terror daemonum (74 f.). Ja, wir glauben daran, nicht nur weil die Heilige Schrift und die Tradition den Teufel mehrere Male erwähnt, sondern weil diese Lehre der Kirche über den Teufel für die Christen verständlich ist. Wir selbst können den Hass der Welt auf Jesus ohne weiteres konstatieren. Wir müssen Pfr. Overath für die schönen und tiefen Betrachtungen, die er uns in diesem Büchlein anbietet, sehr dankbar sein. WILLI STEINFORT, In der Schule Mariens, Kisslegg 2007, ISBN 978-3-939684-17-6, S. 143 (German Rovira) Die Lektüre ist eine gute Schulung für das Rosenkranzgebet: eine Mischung von lehramtlichen Dokumenten, Volksfrömmigkeit und Praxis beim Beten des Rosenkranzes. Sie bietet auch einige Anregungen liturgischer oder biblischer Art als Alternative für einzelne Einschiebungen oder Schlussformen, mit 139 denen man den Rosenkranz beenden kann. Der Verfasser fängt mit einer Einstimmung an, indem er Worte des Prologes verwendet, die Papst Johannes Paul II. zur Ermutigung, das Gebet des Rosenkranzes zu üben, geschrieben hat. Das ist ein Lob für dieses Gebet. Die lehramtlichen Anweisungen des Buches beziehen sich fast nur auf das Apostolische Schreiben Rosarium Virginis Mariae, das Steinfort in Teilen durch das ganze Büchlein nach trefflicher Auswahl wiedergibt. Er verwendet nicht die vielen anderen Lehrschreiben, die seit Leo XIII. immer wieder von den Päpsten zur Verbreitung und Förderung des Rosenkranzgebetes erschienen sind. Er beschränkt sich auf das erwähnte Schreiben Johannes Paul II. Ein kleines Buch, dem man eine große Verbreitung wünscht. Es dient sowohl der Bekanntmachung des Rosenkranzes als auch der Förderung der Frömmigkeit durch das Beten des Rosenkranzes. 140 Besprechungen TARCISIO STRAMARE, San Giuseppe – Dignità ⋅ Privilegi ⋅ Devozioni, Camerata Picena 2008, ISBN 978-88-8404-160-9, € 5, S. 298 (German Rovira) Professor Stramare hat schon viele Bücher über den hl. Josef geschrieben. Eines von ihnen mit dem Titel „Er gab ihm den Namen Jesus“ ist ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht worden. Der Autor ist Vorsitzender der „Josefinischen Bewegung“ von Italien und Koordinator der Josefssymposien, die alle vier Jahre an einem vorher bestimmten Ort der Welt stattfinden. Jetzt ist ein neues Buch von ihm erschienen. Für diejenigen, die die anderen Bücher von Stramare kennen, bringt es nichts Neues; aber es fasst alles zusammen, was über den hl. Josef gesagt werden kann, und das ist viel! Er beginnt mit der Würde des Heiligen, er spricht über die Aufgaben im Leben des hl. Josef, über seine Berufung und seine spezielle Rolle im Heilswerk seines Sohnes, der Sohn Gottes ist und Sohn der jungfräulichen Mutter Maria. Stramare zeigt den hl. Josef hier in einem anderen Licht, denn Josef ist nicht eine Randfigur an der Krippe, wie er manchmal von ungläubigen Exegeten dargestellt wird, sondern er erfüllte neben der Gottesmutter und im Schweigen die wichtigsten, zusätzlich erforderlichen Pflichten im Werk der Erlösung, damit Gott Mensch werden konnte und als Mensch die natürlichen Etappen seines Erdenlebens durchlaufen konnte; und so konnte der Menschensohn das Erlösungswerk vollziehen. Zur Erfüllung dieser Pflichten und Aufgaben hat Gott den hl. Josef berufen. Er sollte der Beschützer des Erlösers und Marias sein (11-15), der Ehemann der Gottesmutter (16-33) und der Vater Jesu (34-51), weshalb der Sohn Gottes und der Jungfrau Maria ‚Sohn Davids’ genannt werden konnte (21-27). Das Buch ist klein, vergleichbar mit einem Katechismus: die Lehre der Kirche über den hl. Josef. Neben den schon beschriebenen Aufgaben im Leben des hl. Josef spricht Stramare die schon angedeuteten Privilegien an (144-207) sowie die Frömmigkeitsübungen, mit denen man ihn verehren kann (209-296). Diese Übungen sind parallele Praktiken, die man bei der Verehrung der allerseligsten Jungfrau Maria schon kennt, ebenso die Devotion zum Herzen des hl. Josef (279-284). Die Erwägung „Sklave sein“ für Josef (285-298) ist Besprechungen Nachahmung der ähnlichen Übung bei Maria, die Ildephons von Toledo zuerst vorgeschlagen hat und die dann von Ludwig Maria Grignion von Monfort verbreitet wurde als Weihe an Jesus und Maria. Hinzuzufügen wäre noch, dass bei der Behandlung der Würde des hl. Josef nicht nur das Leben des Heiligen besprochen wird, sondern natürlich gehören seine Aufgaben im Himmel für uns dazu und das wird erörtert: sein Schutzpatronat über die ganze Kirche (113-117), sein Vorbild für die Christen als Arbeiter (118-122), als Meister des inneren Lebens (125-129) und Ähnliches. Ein Buch, das man ins Deutsche übersetzen sollte, damit die Person des hl. Josef bekannter gemacht und seine Hilfe für uns erfahrbar wird. MANFRED HAUKE, Introduzione alla Mariologia, Eupress FTL, Lugano 2008, ISBN 973-8888446-52-3, 447 S., 38 €. Der Titel ist bescheiden: Introduzione - Einführung (!), und der Verfasser schreibt 447 Seiten und behandelt alle Themen der Mariologie: Er schreibt sogar vier Seiten über die Mariologie im Internet mit der Home- 141 page berühmter Mariologen (371-374), eine Bibliographie von 36 Seiten (377-413), einen biblischen Index von 17 Seiten (415-422) und Fußnoten im Umfang von 24 Seiten (423-447). Dies ist schon ein Hinweis darauf, wie großartig die Arbeit von Prof. Hauke ist, die er „Einführung“ nennt. In Wahrheit handelt es sich um eine Zusammenfassung der Mariologie oder zum Teil um einen Versuch, dem Leser das gesamte Werk der Mariologie in kürzester Form anzubieten. Natürlich hätte man in einem mariologischen Werk die Patristik (78-87) stärker berücksichtigen, mehr von der Entwicklung im Mittelalter (87-89) bringen und dem 2. Kapitel mehr Bedeutung geben können. Aber das liegt im Ermessen des Verfassers und ist eine Sache der Auffassung, ob man so oder so konzipiert. Nun, das Buch ist ausgezeichnet und behandelt genau die Themen, die in der Mariologie behandelt werden müssen: die göttliche Mutterschaft Marias (139-146); ihre Jungfräulichkeit (147-174); die Heiligkeit Marias vom Anfang ihrer Existenz an und deshalb ihre Unbefleckte Empfängnis (175-217); dann ihre Assumptio, ihre Aufnahme nach 142 Besprechungen ihrem Tod mit Leib und Seele in den Himmel, wo sie uns Menschen hilft, den Kampf gegen den Teufel zu führen und Menschen für Gott zu gewinnen (221-251). Von dieser Aufgabe Marias im Himmel her erklärt sich, dass der Verfasser ein längeres Kapitel ihrer Aufgabe als Mittlerin widmet. Dabei behandelt er auch das Thema „Miterlöserin“ (253-308). Zwar sind wir Christen alle von Christus zur Miterlösung gerufen: „Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern“ (Mt 28,19); aber Maria ist – als die Mutter des Erlösers – mit allen ihren Vorzügen Miterlöserin in besonderer Weise und deshalb auch Vermittlerin der Gnade. Vielleicht – und damit sage ich wiederum meine persönliche Meinung, nicht zu verstehen als Kritik an dem Buch – widmet er zu viele Seiten den Erscheinungen und Prophetien, die man Maria zuschreibt (303-329), vor allem aus der letzten Zeit (312329). Im Mittelalter waren es vielleicht noch viel mehr, vor allem in den Klöstern. Es ist aber sehr gut, dass er am Anfang dieses 9. Kapitels die Kriterien angibt, mit deren Hilfe man Visionen und ähnliche Phänomene zu beurteilen vermag (308-312). Was ich nicht verstehe ist, dass der Verfasser sich gegen „Leiden Gottes“ wehrt (324). Ich verstehe zwar seine Einwände: dass man im Himmel voll Freude ist; aber Gott leidet bis zum Ende der Zeit in jeder Heiligen Messe und Maria mit ihm. Es ist ein Geheimnis; aber wir dürfen von den „Leiden Gottes“ sprechen, z. B. von den Leiden um jeden Menschen, der freiwillig verloren geht. Das letzte Kapitel über den Kult an Maria (331-370) ist ausführlich und sehr klar. Ich persönlich hätte nicht die Weihe an Maria – als das Sich-Hingeben wie Maria, um Jesus zu dienen – als etwas Spezielles von Grignon de Monfort heraus gestellt (365368). Eine solche Weihe gab es schon sehr früh, schon bei Romano Melodus und vor allem bei Ildephons von Toledo. So ist die Weihe an Maria seit dem 6. Jahrhundert verbreitet und die Hingabe an ihr Herz seit dem 16. und 17. Jahrhundert, eine Hingabe an Gott mit dem Vertrauen auf Maria, die uns helfen wird, ihm zu dienen, wie sie ihm gedient hat: als eine Magd des Herrn (Lk 1,38). Besprechungen MARIE-LOUISE GUBLER, Maria – Mutter, Prophetin, Himmelskönigin, Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2008, ISBN 978-3932203-62-6, 65 S., 4,50 €. (German Rovira) Das Büchlein könnte einen frommen Christen – und ich meine damit einen normalen Christen, der betet und an alles glaubt, was die katholische Kirche verbindlich lehrt –, es könnte einen solchen Christen ärgern; nicht dass er Anstoß nehmen müsste, denn „Anstoß“ würde bedeuten, dass man ernst nimmt, was da geschrieben steht: „Zuweilen entwarf die Mariologie in Maria aber auch ein abstraktes Hochbild der Frau, das die Mutter Jesu unerreichbar machte.“ (5) Was versteht die Verfasserin unter Mariologie? Diese Wissenschaft als solche wurde im 16. oder 17. Jahrhundert als neues Fach innerhalb der Theologie errichtet, wenn man Francisco Suarez oder Petrus Nigidi als Begründer dieses besonderen Faches ansehen will. Demnach entwarf die Mariologie kein willkürliches Bild der Jungfrau, sondern legte die wahre Vorstellung der katholischen Theologie dar: Sie ent- 143 nahm die Daten der Offenbarung und systematisierte sie. Oder will die Verfasserin der marianischen Frömmigkeit diese Beschuldigung zuschreiben? Nun, dann könnte man dazu sagen, dass einige Richtungen, die die Frömmigkeit des Volkes im Hinblick auf Maria eingeschlagen hat, falsch waren und deshalb von der Kirche nicht akzeptiert wurden. Die echte Frömmigkeit hat aber z. B. das Avemaria, wunderbare Antiphonen, den Rosenkranz, die Heiligtümer Marias, den Monat Mai als Marienmonat gebracht und die Feste und Mariendogmen gefordert. Man fragt sich, was die Verfasserin des Buches mit der Frage „Wer war diese Frau?“ bezweckt (5). Die Antwort, die Gubler gibt, ist nicht befriedigend: Maria war nicht nur die Mutter Jesu, über die sie 15 Seiten lang schreibt (7-22), sondern auch die Mutter Gottes! Die Deutungen der neutestamentlichen Texte, welche die Verfasserin vornimmt, sind danach zu beurteilen, was die Kirche lehrt, und das tut die Kirche an Hand der Tradition und der dogmatischen Entscheidungen, die sie im Laufe 144 Besprechungen der Geschichte getroffen hat. Zu sagen: „Die neutestamentlichen Texte zeigen eine erstaunliche Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Mariendeutungen.“ (22) ist falsch, wenn man die Texte im Licht des Glaubens versteht und mit dieser Überzeugung liest, wenn man nicht unterstellt, die Evangelisten hätten ihre Worte nicht im Sinne der Offenbarung gebraucht. Sie verstanden sie vielleicht nicht in ihrer ganzen Tiefe; aber sicherlich anders als kritische Exegeten. Das „Material“ (45-53), das die Verfasserin anbietet, ist zum Teil in Ordnung; aber die Gedichte und die Bilder (54-64) sind sicher nicht nach jedermanns Geschmack. Und vielleicht hätte sie nicht so kategorisch von dem Salve Regina als einem Werk Hermanns des Lahmen schreiben sollen. H-O. MÜHLEISEN / H. PÖRNBACHER / K. PÖRNBACHER, Der Heilige Josef – Theologie – Kunst Volksfrömmigkeit, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg 2008, ISBN 978-3-89870-285-0, 255 S., 24 €. (German Rovira) Ein so schönes Buch war dringend notwendig: Es kann die Frömmigkeit und die Andacht zum heiligen Josef fördern, die seit Jahrhunderten in der ganzen Welt und gerade in Deutschland lebendig ist, zumindest seit dem 14. Jahrhundert, angeregt durch Pierre d’Ailly, Jean Gerson, Isoldo Isolani und viele andere. Ein gutes und schönes Buch! Dem Kunstverlag Josef Fink sei gedankt! Nun, es ist schwer ein solches Buch zu besprechen: Man müsste das Buch selbst sehen. Die Reproduktionen der Kunstwerke sind herrlich, und wer sie ausgewählt hat, versteht viel von Kunst. Es sind Kunstwerke vom 14. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Zuerst stellen die Herausgeber das Buch vor (7-9), und diese Präsentation ist ein Zeichen der Verehrung des heiligen Josef. Sie endet mit einem langen Zitat aus einer Predigt (1992) von Kardinal Ratzinger. Das Buch ist, wie der Untertitel besagt, in drei Haupteile gegliedert, zu denen ein 4. Teil hinzugefügt wird, der eigentlich zur Volksfrömmigkeit gehört. Und natürlich, wenn man nach Fehlern sucht, wird man sie finden; so spricht z. B. der Titel des 1. Teils vom „Bild des heiligen Josef in der Bibel“. Ist die Bibel die einzige Quelle der Offenbarung? Hat Besprechungen man nicht bei der Vorstellung des Buches auch von einer Josefologie, einer Theologie über den heiligen Josef gesprochen? Vielleicht hat eine eingeschränkte Auffassung von Theologie tatsächlich zur Nichtbehandlung der Erkenntnisse der Josefstheologie geführt und zur Nichterwähnung von Johannes Chrysostomus, Augustinus, Hieronymus, Bertold von Regensburg, Bernhard von Clairvaux und vielen anderen bedeutenden Theologen und ihrer Aussagen über die Gestalt des heiligen Josef. Aber zu den Quellen der Offenbarung gehört die Tradition so maßgebend wie die Bibel. Ein anderer Kritikpunkt sind die Ausführungen über Josef in seiner „Stellung des Zimmermanns“ (37-44), die zwar sehr schön sind, bei denen aber gefragt werden muss, ob Josef ein Zimmermann war oder ein Technon, der nicht hauptsächlich in Nazareth gearbeitet hat, sondern in den Städten der Umgebung auf Arbeitsuche ging. Das wird jedenfalls in dem Aufsatz von Wolfgang Urban angedeutet (71). Aber ich will nicht auf die kleinen Mängel hinweisen. Das Buch ist großartig, und ich 145 hebe besonders den kurzen Artikel von Gahbauer über die Apokryphen und die Ostkirche hervor: kurz, aber bündig! (4551) – und die Artikel, in denen die Stellung des hl. Josef in der Liturgie behandelt wird (53-59 und 61-64). Besonders gelungen ist der Teil, der von Josef in der Kunst handelt. Man findet sogar Darstellungen des Heiligen auf Kelchen und Monstranzen (87-92) und wunderbare Figuren Josefs aus dem Schwarzwald (93-102). Einen grundlegenden Überblick über den „heiligen Josef in der schönen Literatur“ gibt uns einer der Herausgeber, Hans Pörnbacher (113-129). Der Abschnitt über den heiligen Josef in der Volksfrömmigkeit und im Brauchtum ist sehr interessant und man gewinnt einen guten (wenn auch nicht vollständigen) Überblick darüber, welche Rolle der Heilige in der Pflanzenkunde (159-165), in der Philatelie und bei Andachtsbildchen spielt. Auch über die Verehrung des heiligen Josef in verschiedenen Gegenden des deutschen Sprachgebiets erfährt man Wissenswertes und sogar über seine Bedeutung bei der Feier 146 Besprechungen von Weihnachten in Nordbrasilien (205 f.). Der 4. Teil gehört – wie bereits erwähnt – eigentlich zum Bereich der Volksfrömmigkeit und des Brauchtums dazu, allerdings mit einigen Ausnahmen: einer Meditation in Gedichtform (213), einer Betrachtung von Erich Läufer (215-218) und einem kurzen Gedicht von Ida Friederike Görres. Das Buch endet mit einem ausführlichen Anhang über den „Namen Josef und seine Varianten“ (244), „Josef in Ortsnamen“ (245), Pfarreien, Kliniken im wiederum deutschen Sprachraum. Nun, ich wiederhole: ein gelungenes Buch über den hl. Josef. Anschriften der Autoren Marthe-Marie Dortel-Claudot, Lehrerin aus Südfrankreich, Mitbegründerin von PAX CHRISTI und bis 1950 erste internationale Generalsekretärin Jürgen Liminski, Neckarstr. 13, 53757 Sankt Augustin, fon: 02241-332717, fax: 02241-337074 Christa Meves, Albertstr. 14, 29525 Uelzen, email: [email protected], homepage: www.christa-meves.de Prof. Dr. Stefan Samerski, Ludwig-Maximilians-Universität, GeschwisterScholl-Platz 1, 80539 München Msgr. Dr. Peter von Steinitz, Am Kreuztor 8, 48147 Münster, fon: 02513319762, , email: [email protected] Anschrift der Herausgeber Dr. German Rovira, Mariologisches Institut, Maasstraße 2, 47623 Kevelaer, fon: 02832-799900, fax: 0049-2832-978202, email: [email protected] Prof. Dr. Gerhard B. Winkler O.Cist., Stift Wilhering, Linzer Str. 4, 4073 Wilhering, Österreich, fon: 0043-7226231123 Redaktion Dr. Monika Born, An der Zeche Heinrich 9, 45227 Essen, fon: 0201588193, fax: 01212-6-66-588193, email: mo.born@web,de Schriftleiter Klaus Meise, Dudweiler Str. 8, 45307 Essen, fon: 0201-553986, fax: 012126-66-553986, email: [email protected], homepage: www.klaus-meise.de