Sitz der Weisheit Marianisches Jahrbuch

Transcription

Sitz der Weisheit Marianisches Jahrbuch
Veröffentlichungen des
Internationalen Mariologischen
Arbeitskreises Kevelaer
Sitz der Weisheit
Marianisches Jahrbuch
Jg. 12 (2008) Band 1
Herausgeber
German Rovira – Gerhard B. Winkler
Schriftleitung
Klaus Meise
Redaktion
Monika Born
Sitz der Weisheit
Mariologisches-Marianisches Jahrbuch, 12 (2008) Bd. 1
Herausgeber
Dr. German Rovira und Prof. Dr. Gerhard B. Winkler O.Cist.
Schriftleitung: Klaus Meise
Redaktion: Dr. Monika Born
Eine Veröffentlichung des
Internationalen Mariologischen Arbeitskreises Kevelaer e.V. (IMAK)
1. Auflage 2008
ISBN:
© fe-medienverlags GmbH
Hauptstr. 22, 88353 Kisslegg
Titelbild: In Josefs Werkstatt – Entnommen aus dem Buch: Christa Meves, Ein neues
Vaterbild: Zwei Frauen unserer Zeit entdecken Josef von Nazaret, Christiana-Verlag, Stein
am Rhein 1989.
Titelbild: In Josefs Werkstatt
Entnommen aus dem Buch: Christa Meves, Ein neues Vaterbild:
Zwei Frauen unserer Zeit entdecken Josef von Nazaret,
Christiana-Verlag, Stein am Rhein 1989.
Die Original-Kachelbilder über das Leben des hl. Josef
von der spanischen Künstlerin Palmira Laguéns aus Saragossa
befinden sich in: Santuario des Torreciudad (Huesca), Spanien.
INHALT
EDITORIAL................................................................................................ 7
VOM WELTJUGENDTAG 2008 IN SYDNEY
Papst Benedikt XVI.
Ausschnitt aus einer Predigt
am 19. Juli 2008 in Sydney ....................................................................... 9
Papst Benedikt XVI.
Ansprache zum Angelus
am 20. Juli 2008 in Sydney ............................................................................ 10
ARTIKEL
German Rovira
Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria ......................13
Marthe-Marie Dortel-Claudot
Pax Christi – Werden, Wesen und Wirken ....................................................35
BEITRÄGE ZUR IMAK-TAGUNG APRIL 2008
German Rovira
Die Heilige Familie als Vorbild der christlichen Familie ..............................43
6
Stefan Samerski
Die Heilige Familie –
Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen ............................................ 69
Peter von Steinitz
Die Heilige Familie und die christliche Familie ............................................ 87
Christa Meves
Maria und Josef –
Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute ........................... 97
Jürgen Liminski
Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage –
Politische und öffentliche Beobachtungen .................................................. 117
BESPRECHUNGEN ...................................................................................... 137
EDITORIAL
Liebe Leserinnen und Leser,
mit diesem 2. Heft von Sitz der Weisheit (Marianisches Jahrbuch) übernehme ich die Schriftleitung des Marianischen Jahrbuches. Die Redaktion
erfolgt durch Dr. Monika Born. Die Schriftleitung des Mariologischen
Jahrbuches Sedes Sapientiae verbleibt bei Dr. Günther Maria Michel.
Ich wiederhole an dieser Stelle noch einmal den geltenden Erscheinungsmodus:
Wie bisher erscheint das nun so genannte Mariologische-Marianische Jahrbuch
zweimal im Jahr.
Einer der Bände trägt den Titel: „Sedes Sapientiae – Mariologisches Jahrbuch“. Der andere Band trägt den Titel: „Sitz der Weisheit – Marianisches
Jahrbuch“. Über die verschiedene Zielsetzung der beiden Bände haben wir
Sie in dem Band vom 11. Jahrgang Nr. 1/2007 informiert.
Die Nummerierung gibt jeweils an, um welchen Band es sich handelt
(Mariologisches Jahrbuch oder Marianisches Jahrbuch), um welchen
Jahrgang der Zeitschrift (z. Zt. 12. Jg.), um welches Kalenderjahr (z. Zt.
2008) und um welchen Band des Jahrganges/des Kalenderjahres es sich
handelt (um den ersten Band oder den zweiten Band (Band 1 oder
Band 2).
Daraus ergibt sich für den vorliegenden Band folgende Nummer:
Sitz der Weisheit – Marianisches Jahrbuch – Jg. 12 (2008) Band 1
Der Band Sitz der Weisheit enthält regelmäßig die Beiträge zur
jeweils letzten IMAK-Tagung. Darüber hinaus auch weitere Artikel
und Beiträge zu marianischen Themen.
In diesem Band sind die fünf Referate der IMAK-Tagung 2008 enthalten.
Das Thema der Tagung hieß: Die Heilige Familie und die christliche Familie.
Die Referenten gingen das Thema von je verschiedenen Perspektiven an:
Dr. German Rovira und Msgr. Dr. Peter von Steinitz führten aus, dass
und wie die christliche Familie Vorbild und Maß in der Heiligen Familie
findet. Prof. Dr. Stefan Samerski sprach über Die Heilige Familie – Kunstund kirchenhistorische Beobachtungen. Christa Meves referierte – engagiert wie
immer – anhand von Bildern der Künstlerin Palmira Laguéns aus
Saragossa über: Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der
Kinder heute. Hier wurde sehr deutlich, dass falsche Erziehungsmaßnahmen aus einem verkehrten Menschenbild resultieren. Jürgen Liminski
8
sprach abschließend über Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage –
Politische und öffentliche Beobachtungen, in der er die falschen politischen
Weichenstellungen anprangerte.
Zwei Artikel ergänzen die Berichterstattung von der Tagung.
1. Eine Abhandlung von Dr. German Rovira, die sich mit der Evolution
auseinandersetzt und zeigt, wieso in Maria die Vollendung des
Schöpfungsplanes Gottes verwirklicht ist.
2. Wegen des 60. Jubiläums der Pax-Christi-Bewegung bringen wir in
diesem Band auch die Rede von Marthe-Marie Dortel-Claudot mit dem
Thema: Pax Christi. Werden, Wesen und Wirken. Diese Rede wurde vor 60
Jahren in KEVELAER gehalten.
Schließlich wollten wir auch an dem aktuellen „Großereignis“ des Weltjugendtages nicht vorüber gehen, ohne wenigstens zwei kleine Ausschnitte
von Reden unseres Papstes Benedikt XVI. wiederzugeben, die die Bedeutung der Gottesmutter hervorheben. Der erste Ausschnitt stammt aus
seiner Predigt bei der Heilige Messe und Weihe des neuen Altars mit den
australischen Bischöfen, Seminaristen, Novizen und Novizinnen in der St.
Mary’s Cathedral in Sydney am 19. Juli 2008. Der zweite Ausschnitt ist die
Ansprache Benedikts XVI. zum Angelus am 20. Juli 2008 in Sydney. Beide
Texte entsprechen der Veröffentlichung in Die Tagespost vom 22. Juli 2008.
Die Übersetzungen sind von Claudia Reimüller bzw. Armin Schwibach.
Klaus Meise
VOM WELTJUGENDTAG 2008
Heilige Messe und Weihe des neuen Altars mit den
australischen Bischöfen, Seminaristen, Novizen und Novizinnen
in der St. Mary’s Cathedral in Sydney am 19. Juli 2008
„Maria, die Hilfe der Christen, bitten“
Die größten Schätze, die Ihr mit anderen jungen Menschen teilt –
Euren Idealismus, Eure Hochherzigkeit, Eure Zeit und Energie – sind
die wirklichen Opfer, die Ihr auf den Altar des Herrn legt. Mögt Ihr stets
dieses wunderbare Charisma schätzen, das Gott Euch zu seiner Ehre
und für den Aufbau der Kirche geschenkt hat!
Liebe Freunde, lasst mich diese Überlegungen abschließen, indem ich
Eure Aufmerksamkeit auf das große bunte Glasfenster im Altarraum
dieser Kathedrale lenke. Dort ist Unsere Liebe Frau, die Königin des
Himmels, voller Majestät auf dem Thron neben ihrem göttlichen Sohn
dargestellt. Der Künstler hat Maria als die neue Eva dargestellt, die
Christus, dem neuen Adam, einen Apfel reicht. Diese Geste symbolisiert
die von ihr bewirkte Umkehrung des Ungehorsams unserer ersten
Eltern, die reiche Frucht, die Gott in ihrem eigenen Leben hervorgebracht hat und die ersten Früchte der erlösten und verherrlichten
Menschheit, der sie in die Herrlichkeit des Himmels vorausgegangen ist.
Lasst uns Maria, die Hilfe der Christen, bitten, die Kirche in Australien
in Treue zu dieser Gnade zu erhalten, durch die der gekreuzigte Herr
selbst jetzt die ganze Schöpfung und jedes menschliche Herz „zu sich
zieht“ (vgl. Joh 12, 32). Möge die Kraft des Heiligen Geistes die
Gläubigen dieses Landes in Wahrheit heiligen und reiche Frucht der
Heiligkeit und Gerechtigkeit für die Erlösung der Welt hervorbringen.
Möge sie die ganze Menschheit in die Fülle des Lebens um jenen Altar
führen, wo wir in der Herrlichkeit der himmlischen Liturgie dazu aufgerufen sind, auf ewig Gottes Lobpreis zu singen. Amen.
DT vom 22.07.2008 – Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Reimüller
Benedikt XVI.
10
Der Angelus des Heiligen Vaters
am 20. Juli 2008 in Sydney
Liebe junge Freunde!
Wir werden jetzt gemeinsam das schöne Gebet des „Engel des
Herrn“ beten. Dabei denken wir über Maria nach, eine junge Frau im
Gespräch mit dem Engel, der sie im Namen Gottes zu einer besonderen
Hingabe ihrer selbst, ihres Lebens, ihrer Zukunft als Frau und Mutter
einlädt. Wir können uns vorstellen, wie sich Maria in diesem Augenblick
gefühlt haben muss: ganz bang, völlig überwältigt von der Zukunftsperspektive, die ihr eröffnet wurde.
Der Engel verstand ihre Angst, und sofort versuchte er, sie zu beruhigen: „Fürchte dich nicht, Maria! Der Heilige Geist wird über dich
kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten“ (Lk
1,30,35). Der Geist war es, der ihr die Kraft und den Mut gab, auf den
Ruf des Herrn zu antworten. Der Geist half ihr, das große Geheimnis zu
erfassen, das durch sie verwirklicht werden sollte. Der Geist umgab sie
mit seiner Liebe und befähigte sie, den Sohn Gottes in ihrem Schoß zu
empfangen.
Diese Szene bildet vielleicht den zentralen Moment in der Geschichte
der Beziehung Gottes mit seinem Volk. Im Alten Testament hatte sich
Gott zum Teil und schrittweise offenbart, wie wir alle dies in unseren
persönlichen Beziehungen tun. Es brauchte Zeit, damit das auserwählte
Volk seine Beziehung zu Gott vertiefte. Der Bund mit Israel war wie
eine Zeit der Liebeswerbung, ein langes Verlöbnis. Dann kam der endgültige Moment, der Moment der Ehe, die Verwirklichung eines neuen
und ewigen Bundes. In jenem Augenblick repräsentierte Maria vor dem
Herrn die gesamte Menschheit. In der Botschaft des Engels war es Gott,
der der Menschheit gegenüber einen Heiratsantrag vorbrachte. Und in
unserem Namen gab Maria das Jawort.
In den Märchen hören die Geschichten hier auf, und „von da an
lebten alle glücklich und zufrieden“. Im wirklichen Leben ist es nicht so
leicht. Mit vielen Schwierigkeiten musste Maria sich messen, als die
Folgen dieses „Ja“, das sie dem Herrn gegeben hatte, auf sie zukamen.
Simeon sagte voraus, dass ihr ein Schwert das Herz durchbohren werde.
Als Jesus zwölf Jahre alt war, erlebte sie die schlimmsten Alpträume, die
Vom Weltjugendtag 2008 in Sydney
11
Eltern durchmachen können, als sie drei Tage lang mit dem Verlust ihres
Sohnes fertig werden musste.
Und nach dem öffentlichen Leben Jesu hat sie die Agonie erlitten, bei
seiner Kreuzigung und seinem Tod zugegen zu sein. Durch die verschiedenen Prüfungen hindurch blieb sie – unterstützt vom Geist der
Stärke – ihrem Versprechen immer treu. Und dafür wurde sie mit der
Herrlichkeit des Himmels belohnt.
Liebe Jugendliche, auch wir müssen dem Jawort treu bleiben, mit dem
wir die Freundschaft angenommen haben, die uns von Seiten des Herrn
angeboten wurde. Wir wissen, dass er uns nie verlassen wird. Wir wissen,
dass er uns immer mit den Gaben des Geistes stützen wird. Maria hat
den „Antrag“ des Herrn in unserem Namen angenommen.
Und jetzt wollen wir uns an sie wenden und sie bitten, uns in den
Schwierigkeiten zu führen, damit wir dieser lebenswichtigen Beziehung
treu bleiben, die Gott mit einem jeden von uns eingegangen ist. Maria ist
unser Beispiel und unser Vorbild; sie tritt bei ihrem Sohn für uns ein,
und mit mütterlicher Liebe bewahrt sie uns vor Gefahren.
DT vom 22.07.2008 – Übersetzung von Armin Schwibach aus dem Englischen anhand
der von Radio Vatikan veröffentlichten Auszüge der offiziellen deutschen Version
ARTIKEL
Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes:
Maria
German Rovira
„Das ist es, was Gott will: eure Heiligung.“ (1 Thess 4,3) Dieser eindringliche Appell des heiligen Paulus steht in voller Übereinstimmung mit
der Aufforderung Gottes im Alten Testament, wo Gott den Israeliten rät:
„Erweist euch als heilig und seid heilig, weil ich heilig bin.“ (Lev 11,44)
Der hl. Paulus macht in seinem Brief an die Thessalonicher diese Forderung Gottes nun verbindlich für Juden wie für Heiden, die nach der
Lehre Jesu Christi leben wollen. Sie entspricht dem Rat Christi bei der
Bergpredigt: „Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer
Vater ist.“ (Mt 5,48).
Schöpfung, Erlösung, Heiligung
Der Mensch, erschaffen nach dem Bild Gottes, soll nun die Vollkommenheit seines Vorbildes suchen, weil er Herrscher über die ganze
Schöpfung sein soll, wie Gott es bestimmt hat: „Lasst uns Menschen
machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische
des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze
Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land.“ (Gen 1,26) Der Mensch
soll das Erschaffene nach Gottes Anordnung „bebauen und hüten“ (Gen
2,15), damit es gedeiht. Nicht willkürlich soll der Mensch handeln. So
ordnete Gott den Plan der Schöpfung und gebot dem Menschen: „Von
allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch von dem Baum der Er-
14
German Rovira
kenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon
isst, wirst du sterben.“ (Gen 2,16 f.)
Gott wollte den Menschen behüten und ihm helfen; denn er wusste als
sein Schöpfer vom Wissensdrang des Menschen, der ihn in Verderbnis
treiben kann. Wenn er, vom Teufel verführt, etwas wissen will, schreckt er
nicht vor Grausamkeit zurück und kann sogar über Leichen gehen, bis er
sein Ziel erreicht hat (Gen 4,3-8). Die Nutzung der vernichtenden Kraft
des Atoms oder – noch aktueller – die Versuche mit menschlichen
Embryonen und das Klonen von Menschen belegen diese kriminelle
Wissensgier des Menschen, abgesehen von vielen anderen, häufigeren
Verbrechen.
Nun, beim Menschen überwiegt oft der Wissensdrang gegenüber der
Bereitschaft, den Willen Gottes zu erfüllen, und so missachteten Adam
und Eva Gottes Gebot. Da „gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten …“ – Ja, was erkannten sie? – „ … dass sie nackt waren.“ (Gen
3,7). Vielleicht hat den Menschen diese Erkenntnis gerettet; denn obwohl
der Mensch seinen Fehler nicht zugab, erkannte er doch, dass es für den
Menschen unmöglich ist wie Gott zu sein.
Gott wollte jedoch sein Werk bei den Menschen vollenden (Mt 28,20)
und wirkte das Werk der Erlösung, das eins ist mit dem Werk der
Schöpfung, in dem vollendeten Menschen: Jesus! Und zugleich wirkte er es
in der vollendeten, reinen, bloßen Kreatur: Maria. Über das Mysterium
Jesu, der wahrer Mensch, aber auch wahrer Gott ist, kann man sagen, dass
er als Mensch die Absicht Gottes bei der Schöpfung erfüllte: Er tat in
allem den Willen des Vaters (Joh 4,34/9,4/10,25/12,49/usw.). So führte,
oder besser führt Jesus den Menschen zur Vollendung.
Mit der reinen Kreatur, mit Maria, ist es Gott auch „gelungen“, den
vollendeten Menschen zu schaffen, was gewissermaßen mit Adam und Eva
angefangen hatte, aber wegen ihrer Sünde nicht vollendet werden konnte.
Sie ist die Magd des Herrn (Lk 1,38). So hat sie auf Gott gehört: bis zum
Ende. Am Fuß des Kreuzes erlebte sie mit qualvollen Schmerzen den Tod
ihres Sohnes. Überdies ist sie, wie die Kirche sie nennt, Sitz der Weisheit,
und die Kirche wendet viele Worte des Alten Testamentes über die „erschaffene Weisheit“ auf Maria an1. Sie ist als die Unbefleckt Empfangene
1
Über die Ewige Weisheit Gottes, die normalerweise auf das Wort Gottes angewandt wird, und die erschaffene Weisheit des Menschen und vor allem der
Mutter Gottes, vgl. P. H. PAISSAC, Gott ist, in: Die Katholische Glaubenswelt –
Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria
15
leiblich in den Himmel aufgenommen worden2 und herrscht dort als
Königin der Engel und Mutter aller Menschen, als die zweite Eva.3
Aber wie vollendet Gott sein Werk bei uns, bei jedem einzelnen
Menschen? Indem wir gehorsam den Willen Gottes erfüllen wollen, gemäß
dem Gebet, das der Herr uns gelehrt hat: „Dein Wille geschehe wie im
Himmel, so auf der Erde.“ (Mt 6,10) So müssen wir uns nach den Vorbildern im Himmel, nach Jesus und Maria, mit dem Beistand des Heiligen
Geistes, aber auch mit ihrer Hilfe, ausrichten. Dann kann Gott sein Werk
in uns vollenden, das er bei der Schöpfung beabsichtigt hat: uns die ewige
Anschauung seines Antlitzes ermöglichen; uns, der uns für den Himmel
erschaffen hat, in die Gemeinschaft der Heiligen einführen.
Das ist „sich verhalten“ als Abbild Gottes (Gen 1,26), wie wir oben
zitiert haben, zu leben nach dem Wunsch Gottes. Dann ist der Mensch ein
Abbild Gottes, denn Gott hat ja den Menschen als sein Abbild erschaffen.
Wir Menschen haben diesen „Spiegel der Gerechtigkeit“, der wir sein
sollten, zerbrochen – mit Ausnahme Marias. Diesen Spiegel hat Gott
restauriert durch das Werk der Erlösung, das wir uns im Heiligen Geist
aneignen können und sollen.
Im ersten Punkt des KKK wird die Haltung Gottes uns gegenüber beschrieben: „Er ruft den Menschen und hilft ihm, ihn zu suchen, ihn zu
erkennen und ihn mit all seinen Kräften zu lieben. Er ruft alle durch die
Sünde voneinander getrennten Menschen in die Einheit seiner Familie, die
Kirche. Er tut es durch seinen Sohn, den er als Erlöser und Retter gesandt
hat. In ihm und durch ihn beruft er die Menschen, im Heiligen Geist seine
Kinder zu werden und so sein glückliches Leben zu erben.“4
Wenn wir uns erklären wollen, warum wir in der Welt sind, können wir
dies letzten Endes nur plausibel machen, wenn wir an die Liebe Gottes
denken: Seine Werke und alles, was in der Welt geschieht, entspringt aus
der Liebe Gottes. Ja, „Gott ist die Liebe. Die Liebe Gottes wurde unter
uns dadurch offenbart, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt
hat, damit wir durch ihn leben.“ (1 Joh 4,8 f.)
2
3
4
Wegweisung und Lehre I.: Die Quellen der Theologie – Gott und seine Schöpfung,
Freiburg 1961, S. 322-387, und L. SCHEFFCZYK, Maria, Augsburg 2003.
Siehe darüber G. ROVIRA, Die Aufnahme Marias in den Himmel; in: Mariologisches, August 2005, S. 1 f.
Siehe JUSTIN, Dialog 100,5 und IRENÄUS, Adversus Haereticos, III,22,4.
Katechismus der Katholischen Kirche (KKK), München 1993, n. 1, S. 38.
16
German Rovira
Unsere Vollendung und Vollkommenheit bedeutet: Gott ähnlich zu
werden, das heißt alle so zu lieben, wie Gott sie liebt; dann sind wir vollendet in der Liebe, das heißt in Gott (1 Joh 4,12/18). Sonst werden wir
unser Ziel verpassen (1 Joh 3,14-17/4,20 f.).
Unsere Vorbilder im Himmel sind Jesus und Maria, wie wir schon
sahen. Von der Liebe Jesu zu uns, die göttlich und menschlich ist,
brauchen wir nur das Wort des Johannes zu beherzigen: „Das wahre Licht,
das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt und
die Welt ist durch ihn geworden.“ (Joh 1,9 f.) Von der Liebe Marias genügt
es zu wissen, wie die Kirche sie nennt: Mutter der schönen Liebe!
Aber eines müssen wir erklären, um Missverständnisse zu vermeiden:
Wenn Gott nur unser Glück will, warum leiden so viele Menschen und
auch wir selbst? Nun, wir Menschen haben auf die Stimme des Teufels
gehört und sind unsere eigenen Wege gegangen: Wir wollten alles wissen;
das Wissen schien uns „köstlich“, „voll Lust“ und „begehrenswert“, um
zur Erkenntnis zu gelangen; wir wollten wie Gott sein (Gen 3,4-6) und
handelten nicht nach seinem Willen. „Er war in der Welt..., aber die Welt
erkannte ihn nicht.“ (Joh 1,10). Das ist der Grund unserer Misere!
Heilig ist nur Gott, qados, das ist der Erhabene, der ganz anders ist als
wir, und deshalb ist er für uns das Furchtbare, das Heilige! Heilig ist, was
zum Einflussbereich Jahwes gehört: Engel, Tempel, Bundeslade, Zion, das
Allerheiligste, das Sakrament des Altares, die Kirche!
Und so fragte sich Johannes Paul II., was denn dann unsere Heiligkeit
bedeute, und antwortete: „Es ist nichts anderes, als mit Freude den Willen
Gottes zu erfüllen.“5 Ja, wir sollten auf das hören, was die hl. Teresa von
Avila sagt: „Wenn wir uns nicht entschließen, den Tod und die Leiden mit
Freude anzunehmen, werden wir niemals Gutes tun.“6
Bei der Schöpfung des Menschen, so wie sie uns das Alte Testament in
Bildern darstellt, war der Plan Gottes klar skizziert und hätte uns mit aller
Deutlichkeit den Modus unserer Herrschaft über die anderen Geschöpfe
gezeigt. Mit drei Worten zeigt er uns, wie wir diese Herrschaft ausüben
sollen: „Seid fruchtbar! Bevölkert die Erde! Unterwerft sie euch!“ (Gen
1,28). Diese Worte Gottes erinnern uns an die Werke Gottes, die wir jeder
göttlichen Person zuschreiben: die Schöpfung, die Erlösung und die
5
6
JOHANNES PAUL II., Homilie am 18.1.1981.
TERESA DE JESÚS, Weg zur Vollkommenheit, 11,4.
Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria
17
Heiligung. Gott wollte und will noch immer mit uns diese Welt gestalten
und zur Vollendung bringen.
Jesus zeigt uns durch sein Beispiel, was das heißt. Er ging durch das
Leben, tat Gutes und lehrte (Apg 1,1), was wir tun sollen. Und das ist es,
was wir von Jesus lernen sollen: zur Osterfreude zu gelangen, indem wir
durch seinen Tod am Kreuze gehen. Das ist es, was uns die Taufe lehrt
und die ganze Liturgie der Kirche: sich auf Gott verlassen: „Actiones
nostras quaesumus, aspirando...“ – „Komm unserem Beten und Arbeiten
mit deiner Gnade zuvor und begleite es, damit alles, was wir beginnen, bei
dir seinen Anfang nehme und durch dich vollendet werde.“7
„Unser Ziel soll unsere Vollkommenheit sein, nicht nach unserem Ermessen, sondern nach der Vollkommenheit in Christo.“8 So sagt es auch
der KKK im Anschluss an ein Wort des II. Vatikanums: „Mit so vielen
und so großen Mitteln zum Heil ausgerüstet, sind alle Christgläubigen jedweden Berufs und Standes auf ihrem jeweiligen Weg zum Herrn zu der
Vollkommenheit der Heiligkeit berufen.“9
Der KKK lehrt uns weiter: „Der Weg zur Vollkommenheit führt über
das Kreuz. Es gibt keine Heiligkeit ohne Entsagung und geistigen Kampf.
Der geistliche Fortschritt verlangt Askese und Abtötung, die stufenweise
dazu führen, im Frieden und in der Freude der Seligpreisungen zu leben.“10
„In der Nachfolge Christi und in Einheit mit ihm sind die Christen fähig,
Gott nachzuahmen … und dem Weg der Liebe zu folgen.“11
Das alles tat in wunderbarer Weise die Mutter des Herrn. Das haben die
Christen von Anfang an verstanden; aber das theologische Verständnis
dessen, was dies konkret heißt, und das Formulieren der Vorzüge Marias
hat sich erst im Laufe der Jahrhunderte entfaltet.
Maria, der vollendete Mensch
De Maria nunquam satis gilt als ein Axiom der Theologie, und das bedeutet, dass wir – zumindest hier auf Erden – das Geheimnis Marias nicht
in seiner ganzen Tiefe verstehen und in es eindringen können: was Gott
7
8
9
10
11
Tagesgebet des Donnerstags nach Aschermittwoch.
AUGUSTINUS, Kommentar zu Ps 69.
KKK, n. 825; Lumen Gentium, 11.
Ebd. n. 2015.
Ebd. n. 1694.
18
German Rovira
mit diesem Menschen, den er zu seiner Mutter gemacht hat, vorhatte und
in alle Ewigkeit vorhat. Sie ist, wie die Kirchenväter des Ostens und die
ganze ostkirchliche Tradition bekunden, die Panhagia, die Allheilige! Das
übersetzen wir im Westen mit dem Ausdruck „Allerseligste“. Diese Bezeichnung steht nicht im Widerspruch dazu, dass man Gott „den Heiligen“
nennt. Sie bedeutet vielmehr, dass Maria vollkommen dem Bild Gottes
entspricht, dass sie der vollendete Mensch ist, wie Gott ihn bei der
Schöpfung wollte.
Trotz der klaren Offenbarungen, die wir in der Heiligen Schrift und in
der Tradition finden, und trotz der dogmatischen Erklärungen des Lehramtes können und sollen wir uns immer weiter durch Gebet und Nachdenken über die Güte Gottes in dieses grandiose Werk des „geboren aus
einer Frau“ (Gal 4,4) vertiefen und es entfalten, um es besser zu verstehen
und vielleicht noch klarer und genauer formulieren zu können.
Es hat beinahe fünf Jahrhunderte gedauert, bis die Kirche formulieren
konnte und vielleicht auch musste, um Irrtümer zu vermeiden, warum wir
die Mutter Jesu auch Gottesmutter nennen sollen.12 Zuerst waren es die
Doketen, welche die Fleischwerdung Gottes verächtlich machten.13 Diese
Irrlehre, die schon zur Zeit der Apostel entwickelt wurde, beachtete die
Würde der Mutter Jesu nicht. Sie galt ihnen nur als eine Art Kanal, durch
den der Logos zu uns kam.
Dann waren es die Gnostiker, die den Glauben zu einer Geheimwissenschaft nur für Eingeweihte erklären wollten und in der Mutter Jesu eine
bloße Randfigur sahen, die von einzelnen Gnostikern dazu missbraucht
wurde, in ihren Irrlehren eine Phantasierolle zu spielen.14 Andere machten
sie zu einer außergewöhnlichen Frau, aber nur weil Gott durch sie wie über
eine Treppe zu uns gekommen sei, ähnlich wie bei den Doketen, die im
Grunde auch Gnostiker waren.
Arius vertrat, obwohl er Priester der Kirche war, mit ausgezeichneter
Redekunst gnostische Gedanken und leugnete die Gottheit Jesu, indem er
den Logos als nicht wesensgleich mit dem Vater, homousios, ansah, sondern nur als wesensähnlich, homoiusios: Jesus wäre der inkarnierte Logos,
jedoch nicht Gott. Damit meinte er und viele mit ihm, dass Maria lediglich
12
13
14
Siehe z. B. H. GRAEF, Maria – Eine Geschichte der Lehre und Verehrung, Freiburg
1963, Ss. 38-96.
Siehe z. B. G. KOEPGEN, Die Gnosis des Christentums, Salzburg 1938, S. 200 f.
z. B. G. KOEPGEN, o.z.
Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria
19
die Mutter eines außergewöhnlichen Geschöpfes sei15, nicht aber die
Mutter Gottes. Trotz der Klärung von Seiten der Kirche auf dem Konzil
von Nizäa16 (325) dauerte es noch viele Jahrhunderte, bis alle Christen die
Wahrheit der Gottesmutterschaft Marias annahmen.17 Der Grund war, wie
bei Nestorius, dass viele darin eine Wiederbelebung des heidnischen
Mythos von den Müttern der Götter sahen.18
Obwohl von den griechischen Christen der Ausdruck Theotokos19,
Gottesgebärerin, immer gebraucht wurde, war diese Bezeichnung dem
Patriarchen von Konstantinopel, Nestorius, nicht geheuer: Er zweifelte
noch im 5. Jahrhundert an der Richtigkeit dieses Terminus. Deshalb sollte
man nicht von Θεοτοκος sprechen, sondern nur von Χριστοτοκος, wie
Nestorius den Prediger Proklus mahnte.20
So musste das Konzil von Ephesus (431) Klarheit über den Namen und
die Person Jesu schaffen und damit auch darüber, dass die Mutter Christi
Gottesmutter ist.21 Nestorius, der ein inniger Verehrer Marias war, vertrat
die Auffassung von zwei Personen in Jesus: Jesus sei wie ein lebendiger
Tempel Gottes. Nestorius wollte nicht annehmen, dass die beiden Naturen
in Christus, die göttliche und die menschliche, in der Einheit der Person
des Wortes Gottes existieren; dass dementsprechend alles, was an Erhabenheit und Würde von Jesus ausgesagt wird, Eigenschaften der Person
sind – und diese ist Gott. In Christus ist auch die menschliche Natur, die
Leidensfähigkeit und alles, was ihn als Menschen uns gleich macht.
Dies alles ergab sich aus den Schwierigkeiten, das trinitarische Wesen
Gottes zu erfassen. Die Kirche musste sich zur Klärung der Philosophie
15
16
17
18
19
20
21
Siehe ATHANASIUS, Vier Reden gegen die Arianer, 4. Rede, 33 und 36; und Brief an
Epiktetus, 5; Kempten 1913, S. 382 f., 386 f., 509.
DH 125 y 126.
Berühmt ist der Satz, den man Ambrosius zuschreibt: Wohin du guckst, die
Welt ist arianisch geworden. Alle germanischen Stämme, die das Christentum
kannten, waren arianisch geprägt. In Spanien dachten die Westgoten noch
arianisch bis ins 6. Jahrhundert, bis sie unter Recaredo zum katholischen
Glauben übertraten.
Siehe R. LAURENTIN, Die Jungfrau Maria; in: Katholische Glaubenswelt – Wegweisung und Lehre III.: Die Heilsökonomie, Freiburg 1961, S. 227 f.
L. SCHEFFCZYK, Theotokos; in: Marienlexikon 6., St. Ottilien 1994, S. 390 f.
PG 65, 680-692; auch G. ROVIRA, Das Zeichen des Allmächtigen, Würzburg 1980,
S. 229-233.
DS 252.
20
German Rovira
bedienen und den Begriff Person herausstellen – im Unterschied zum Begriff Natur.
Ein anderes Problem ergab sich aus der Jungfräulichkeit Marias, der
Mutter Gottes, die nicht alle annehmen wollten. Jovinian22, Helvidius23 und
viele andere leugneten die Jungfräulichkeit Marias, obwohl diese im Evangelium klar herausgestellt wird (Mt 1,23-25 und Lk 1,26-38), vor allem
nach der Geburt des Heilands. Einige, wie Helvidius, taten dies vielleicht
mit guter Absicht, um den Pelagianern zu widersprechen.
Noch heute verstehen einige nicht diesen schönen Vorzug Marias, und
dementsprechend erklären sie die Jungfräulichkeit falsch oder deuten sie in
einem anderen Sinne als der Glaubenssatz, mit dem die Kirche festgelegt
hat, was die Katholiken darunter zu verstehen haben.24 Die Kirche hat das
Dogma im 2. Konzil von Konstantinopel erklärt, um weiteren Missverständnissen im Hinblick auf die immerwährende Jungfräulichkeit Marias
entgegenzuwirken.25 Im 7. Jahrhundert bekräftigte Martin I. dieses Dogma,
als er die Akten der Synode vom Lateran approbierte.26
Noch deutlicher wird die Würde Marias in den beiden marianischen
Dogmen, die im 19. und 20. Jahrhundert verkündet wurden.
Die Wahrheit von der unbefleckten Empfängnis Marias wurde mit dem
Fest der heiligen Anna27 im Osten spätestens im 6. Jahrhundert angedeutet,
aber nicht klar dargelegt. Im 10. Jahrhundert (ab 1060 belegbar) verbreitete
sich diese Lehre in England, bis sie von den Normannen durch Wilhelm
den Eroberer 1066 unterdrückt wurde. Danach gab es einen neuen Impuls
durch Eadmer und den Erzbischof Anselm, der wahrscheinlich ein Neffe
22
23
24
25
26
27
PG 16,1121.
HIERONYMUS, Contra Helvidio, PL 23.
vgl. z. B. R. PESCH, Über das Wunder der Jungfrauengeburt – Ein Schlüssel zum Verstehen, Bad Tölz 2002.
DH 422, 427, 437.
Lateransynode, approbiert von Papst Martin I., DH 502, 503, 504. Martin I.
verwarf den Monotheletismus. Da der Patriarch von Konstantinopel die Zustimmung verweigerte und exkommuniziert wurde, kam es zum Streit mit dem
oströmischen Kaiser. Dieser ließ Martin I. gefangen nehmen, zum Tode verurteilen und verbannte ihn nach Begnadigung auf die Krim (653). Dort starb
der Papst im Jahr 655. Er wurde heiliggesprochen.
L. HEISER, Orthodoxe Theologie, in: Marienlexikon 1., St. Ottilien 1988, S. 155-157
und H. M. KÖSTERS, Der Beitrag Eadmers...., in: G. ROVIRA, Im Gewande des
Heils, Essen 1980, S. 61.
Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria
21
des großen Anselm war, die sich beide um die Neubelebung dieser Lehre
verdient machten. Dann breitete sich das Fest der unbefleckt Empfangenen in ganz Europa aus oder es begann die Diskussion über dessen
Einführung. Bekannt sind die Einwände, welche Bernhard von Clairvaux
gegenüber dem Kanoniker von Lyon vorbrachte (1138).
Nun, das Fest und damit die Wahrheit von der unbefleckten Empfängnis Marias war Jahrhunderte lang ein Punkt der theologischen Streitigkeiten
zwischen Franziskanern und Dominikanern. Das Konzil von Basel, als es
schon nicht mehr als ein allgemeines Konzil anerkannt war (1431), proklamierte, beeinflusst von den Franziskanern und angeführt von Juan de
Segovia, die Wahrheit von der Unbefleckten Empfängnis in einem Dekret
(1439); aber dies hatte kaum Resonanz.28
Davor – und wahrscheinlich beeinflusst von den Tendenzen in seiner
Heimat wie in seinem Orden – half Duns Scotus, das zukünftige Dogma
zu skizzieren29, und trug so zu dem Dekret in Basel bei. Trotzdem dauerte
es bis zum 19. Jahrhundert, bis die Kirche diese Lehre endgültig zum
Dogma erklärte.
Ähnlich war es mit der Lehre der leiblichen Aufnahme Marias in den
Himmel.30 Auch an dieser Wahrheit wurde in der Tradition der Kirche
immer festgehalten.31 Ein Zeugnis des allgemeinen Glaubens der Kirche an
die leibliche Aufnahme Marias in den Himmel sind vor allem die mündliche Überlieferung32, die Einführung des Festes und die Behandlung des
Themas in den meisten Traktaten der Dogmatik.33 Dennoch wurde erst im
20. Jahrhundert diese Wahrheit als Dogma der Kirche von Pius XII. am 1.
November 1950 proklamiert.
28
29
30
31
32
33
Vgl. z. B. J. AUER, Gedanken zu den Bemühungen des Konzils von Basel..., in: G.
ROVIRA, Im Gewande des Heils, o.z., S. 71-84.
Sicherlich hat sich schon früher die Verehrung der Unbefleckten Empfängnis
in Europa etabliert, wie schon gesagt, durch den Einfluss von EADMER VON
CANTERBURY, Die Empfängnis der seligen Jungfrau, Paderborn, 1954.
DS 3903.
Vgl. J. IBAÑEZ/F. MENDOZA, Die Aufnahme Marias in den Himmel nach dem
Zeugnis der Kirchenväter, in: G. ROVIRA, Die Sonnenbekleidete Frau, Kevelaer 1986,
S. 95-139.
Interessant ist hier die Tradition des leeres Grabes in Jerusalem.
Siehe z. B. M. J. SCHEEBEN, Handbuch der Katholischen Dogmatik 3, Freiburg 1927,
§ 281, S. 570-588.
22
German Rovira
Das bedeutet nicht, dass die Kirche an dieser Wahrheit gezweifelt hätte,
sondern dass sie nicht immer verständlich genug formulieren konnte und
Zeit brauchte, bis Gott und das Gebet heiliger Christen die Wahrheiten des
Glaubens für uns klärten. Das gilt auch für Wahrheiten, die von Missverständnissen bedroht sind. Die Kirche studiert das Problem, fragt die
Bischöfe und definiert nach vielen Gebeten die Lehre als Dogma, als
etwas, woran nicht mehr gezweifelt werden kann und darf.
Die Kirche ist der mystische Leib Christi mit den Gläubigen als
Gliedern seines Leibes, aber sie ist auch die Mutter der Gläubigen. Sie hat
immer auf den Beistand des Heiligen Geistes vertraut, und deshalb hat sie
uns immer klarer zeigen können, wieso und warum wir der Wahrheit ihrer
Lehre Vertrauen schenken können. Darauf wird nach einigen Überlegungen zu Entwicklungen in der Theologie noch näher eingegangen.
Über die Entfaltung von Wahrheiten in der Theologie
Im Laufe der Jahrhunderte ist eigentlich nicht der Glaube gewachsen,
sondern das Verständnis der Glaubensmysterien oder das Begreifen des
offenbarten Glaubens: Die Kirche vermittelt uns den Glauben durch die
Schriften der Kirchenväter und heiliger Männer seit apostolischer Zeit. Wir
glauben an das, was die Kirche uns lehrt; die Kirche ihrerseits verkündet
uns den Glauben, den sie von den Aposteln empfangen hat; und letzten
Endes wissen wir das, was die Kirche uns lehrt und die Apostel verkündet
haben, aus der Tradition: Das ist das, was uns Gott durch den Heiligen
Geist und seinen menschgewordenen Sohn im Laufe der Geschichte mitgeteilt hat; das, was für uns gut und heilsam ist.
Selbst die Heilige Schrift ist aus der Tradition entstanden und in der
Tradition begründet. Dies sind sozusagen die Handbücher, deren das
Lehramt sich bedient, um die Lehre der Apostel zu verkünden, die sich nur
zum Teil ausdrücklich in der Heiligen Schrift niedergeschlagen hat. Wenn
das Lehramt ein Dogma verkündet, dann ist es mit Sicherheit aus dieser
Überlieferung abgeleitet, und wir sind dann verpflichtet, es zu glauben.
Man kann aber von einer Entfaltung des Dogmas sprechen und auch
von einer Entfaltung der Wahrheit; man kann sogar von einer Entfaltung
des Glaubens in dem Sinne sprechen, dass man ihn immer klarer darlegt,
Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria
23
sodass er wächst: nicht in seinem Inhalt, aber doch in seinem Verständnis
– ähnlich wie in der Knospe Verborgenes in der Frucht entfaltet ist.34
Dies erklärt, warum das, was seit der Zeit der Apostel schon geglaubt
wurde, erst im Laufe der Jahrhunderte dogmatisch verbindlich festgelegt
wurde. Dies erklärt aber auch die vielen Missverständnisse und warum von
einigen oder vielen nicht genau verstanden wurde und wird, was die Kirche
uns lehrt.
Der Glaube ändert sich nicht, denn die Inhalte des Credo35 haben sich
homogen entwickelt. Was sich ändert, ist nur das Wissen der einzelnen
Gläubigen. Der Glaube ist Festhalten an dem, was Christus uns gelehrt hat
(Röm 5,1 ff.)36, und Christus ist der gleiche gestern, heute und in Ewigkeit
(Hebr 13,8). Was die Gläubigen, was die Theologen und für eine gewisse
Zeit sogar die Kirche nicht mit aller Klarheit und Sicherheit verstanden
haben, wurde uns zu einem bestimmten Zeitpunkt vom Heiligen Geist
durch die Kirche gelehrt, die auch die Gemeinschaft der Heiligen ist. Das
Streben des Menschen nach der Fülle der Wahrheit wurde unterstützt
durch das Wirken des Heiligen Geistes in der Kirche, wie Jesus Christus
uns versprochen hat (Joh 14, 26, 16,13 ff. und Mt 28,18-20).
Die von Gott geschaffenen Dinge und die uns offenbarten Glaubensmysterien werden nicht von jedem Menschen klar erkannt; aber Gott bewirkt durch seinen Heiligen Geist immer größere Klarheit, wenn sich der
Mensch im Gebet und im Vertrauen auf Gott in diese Mysterien vertieft.
Das kann kollektiv geschehen oder, besser ausgedrückt, durch kirchliche
Entfaltung einer Wahrheit bis zur Festlegung eines Dogmas. Es kann auch
individuell geschehen durch Wachstum des Einzelnen in der Erkenntnis
der Wahrheit. Der Glaube eines Kindes ist wahr, wenn ihm das Richtige
verkündet wird; seine Vorstellungen jedoch sind lückenhaft und verschieden vom Wissen eines Erwachsenen.
Dies wird deutlich z. B. bei der Entfaltung des Verständnisses der geistlichen Mutterschaft Marias und ihres Anteils am Werk der Erlösung. Wir
können hier von einer Evolution oder Entwicklung des Dogmas sprechen.
34
35
36
Vgl. I. TOTZKE, Entwicklung oder Entfaltung – Zwei Möglichkeiten geistigen Wachstums, in: Der christliche Osten, LXII/2007/5, S. 251.
Mit wenigen Sätzen gibt uns PIO MOA eine wunderbare Synthese des
Glaubens an Gott in Contra la mentira, Barcelona 2006, S. 84 f.
DS 3008, 3010 und 3031-3045; KKK, nn. 26, 142, 150, etc. Siehe auch die
Enzyklika von BENEDIKT XVI., Spes Salvi, nn. 7-9, vom 30.11.07.
24
German Rovira
Aber „Evolution“ ist ein missverständliches Wort, das einige Gottlose in
den letzten Jahrhunderten in ihrem Sinn verändert haben. Eigentlich ist
„Evolution“ ein wertneutrales Wort und bedeutet: Entwicklung, Entfaltung; philosophisch sogar das Fördern von niederen zu höheren Begriffen.
Wir wissen, dass Gott der Gott des Alls, des Universums ist und dass
sich nichts seinem Wissen und seiner Kenntnis entzieht. Es kann sich aber
wohl eine gewisse Evolution oder Entwicklung in unserer Erkenntnis vollziehen, in dem Wissen über Gott und seine Werke, im Wissen aus dem
Glauben. Trotzdem scheint es besser, nicht dieses belastete Wort Evolution
oder das Wort Entwicklung37 zu gebrauchen. Wir könnten dieses Problem
umgehen, indem wir von einem intelligent design sprechen; denn nur Gott
weiß, wie jeder Mensch sich entwickelt und auch die Theologie. Selbst bei
Irrtümern oder Häresien weiß Gott, warum er sie zulässt. Er selbst ist
nicht die Ursache des Irrtums, sondern er erlaubt, dass wir unsere Wege
gehen, auch wenn wir freiwillig in den Versuchungen des Teufels untergehen.
Die Evolution des Begriffes Evolution – und: Evolution des
Dogmas?
Wir gehen von der erwähnten Voraussetzung aus: Gott weiß alles; Gott
ist der Allsehende und die ewige Vorsehung. Diese Annahme ist erforderlich, wenn wir an die Schöpfung des Alls glauben: „Seht euch die Vögel
des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. … Lernt von den
Lilien, die auf dem Feld wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. …
Wenn aber Gott schon das Gras so prächtig kleidet …, wieviel mehr dann
euch.“ (Mt 6, 26/28/30)
Das vorausgesetzt, können wir uns fragen, ob Gott nur die wichtigsten
Dinge voraussieht und vorausplant, so zum Beispiel die Menschwerdung
und das, was mit diesem Mysterium verbunden ist: geboren von einer Frau
(Gal 4,4). Das geschah auf eine geheimnisvolle Weise, die mit dem Licht
der menschlichen Vernunft allein nicht erklärbar ist. Das kann nur Gott.
Aber nur das? Wenn wir glauben, müssen wir an seine Allmacht glauben:
37
Mir scheint es sehr gut, wie Totzke (siehe die in Anm. 21 zitierten Artikel) die
Unterschiede darlegt.
Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria
25
Aus dem Nichts alles zu schaffen, ist nur Gott möglich. Auch das ist ein
Mysterium, das wir glauben müssen: dass Gott allwissend und allmächtig
ist, das zu tun.
Nun, und hier beginnen die Unterschiede: Ist die Welt entstanden durch
„l'atome primitif“, das Uratom, und mit dessen Explosion, dem Urknall,
wie Georges Lemaître sagte38? Kümmert Gott sich nicht um die
„spontane“ Entwicklung oder Evolution der Zellen? Und weiter können
wir fragen: Interessiert Gott sich nicht für diese Entwicklung und weiß er
deswegen nicht davon? Ist diese Entwicklung für Gott unwichtig?39 Dies
behaupten einige, für die Gott nur eine Hypothese ist, die Gott überflüssig
machen wollen: Es geschehe das alles ganz zufällig; zumindest bei der
Entwicklung einzelner Zellen handle es sich um reinen Zufall. Gibt es also
keine Gesetze oder Gesetzmäßigkeiten?
Abgesehen davon, dass einige Astrophysiker an der Urknall-Theorie
zweifeln40, kann man sie durchaus annehmen, vorausgesetzt man glaubt,
dass Gott bei jenem Feuerball und Rauchschwaden das Schaffen des Universums, so wie es geworden ist, wollte.
Nun, dazu kommen viele Voraussetzungen, welche die moderne Kosmologie nicht beachtet. „Der moderne Zugang zur Kosmologie besteht in
der Verwendung physikalischer Theorien, die nicht im Labor überprüft
worden sind. Er beschreibt kosmische Epochen, die für die Astronomie
unerreichbar sind, und hat bis jetzt keine einzige erfolgreiche Voraussage
erbracht“41; oder wie der russische Kosmologe Landau wusste: „Kosmologen irren sich oft, aber sie zweifeln nie.“42
Zur Frage der Zufallsevolution: Sie fußt auf der nicht bewiesenen
Selektion43, einem grausamen Prinzip, wie Darwin selbst erkannte, denn es
38
39
40
41
42
43
Vgl. E. SCHÜCKING, Probleme der moderne Kosmologie in ihrer geschichtlichen Entfaltung, in: G. BÖRNER, u.a., Vom Urknall zum komplexen Universum,
München 1993, S. 9.
Zu diesen Fragen siehe H. BECK, Biblische Universalität – Interdisziplinäre Theologie,
Gustav-Siewerth-Akademie, Weilheim-Bierbronnen 19942.
F. HOYLE, Erfordert die Astrophysik eine Alternative zum Urknall?, in: G. BÖRNER,
o.z., S. 93-108.
F. HOYLE, o.z., S. 96 f.
Siehe E. L. SCHÜCKING, o.z., S. 41.
Siehe R. JUNKER und S. SCHERER, Entstehung und Geschichte der Lebewesen, Gießen
1992, z. B. S. 27-41.
26
German Rovira
lässt nur einen bösen Gott zu.44 Hinzu kommt das Prinzip der Mutation45,
das man milder beurteilen kann. Beide Prinzipien sind unbewiesene Hypothesen.46
Und dann ergibt sich die Frage: Halten wir an Gott als dem Allmächtigen und Gütigen fest? Unsere Antwort: Ja! Denn Gott hat nicht das
Böse erschaffen, sondern es ist der Mensch, der frei ist und den Willen
seines Schöpfers verachtet. In der Voraussetzung der Selektion ist das
Böse ein immer vorhandenes Element. Sind wir nicht damit dem
Manichäismus nahe?
Entweder hat Gott nicht vorausgesehen, wie die Welt wird, oder er hat
es absichtlich nicht sehen wollen. Das wäre die eine Position. Die andere
ist die Leugnung Gottes, jedenfalls wie unser Glaube ihn bekundet.
Fangen wir mit der Hypothese vom Zufall an: Was verstehen die Anhänger der Evolution unter Zufall? Meinen sie etwas anderes, als was das
Wort besagt? Und was stellen sie sich unter Selektion vor – das Töten oder
Sterben der Schwachen?47
Die Naturwissenschaft begründet alles und hält sich nur an geprüfte
Naturgesetze. Das können wir zumindest von der Chemie, Physik,
Mathematik und der daraus entwickelten Informatik oder Astronomie
erfahren. Aber wir müssen von manchen ihrer Theorien absehen.
Wenn eine brauchbare Erklärung für ein Ereignis fehlt oder eine These
noch nicht vollkommen bewiesen ist, dann gilt das nur als eine Hypothese
oder Theorie, die nützlich sein kann, solange man noch nicht die wahre
Lösung für ein Problem hat. Was man nur vermutet, darf man ja nicht als
Wahrheit bezeichnen; und das tun auch die echten Naturwissenschaftler
nicht: Was nicht bewiesen ist, wird nicht als sichere Erkenntnis aus44
45
46
47
Darwin soll in seiner Sterbestunde die Hilfe eines anglikanischen Geistlichen
bekommen haben, der von seiner frommen Frau gerufen worden sei; der Geistliche habe ihn auf den inneren Widerspruch eines bösen Gottes aufmerksam
gemacht; Darwin habe dem zugestimmt und soll trotzdem darauf beharrt
haben, weil er das Prinzip der Selektion nicht aufgeben wollte.
R. JUNKER und S. SCHERER, o.z., z. B. S. 80 f.
Siehe P. BLANK, Alles Zufall? - Naive Fragen an die Evolution, Augsburg 2006, und
B. VOLLMERT, Die Frage nach der Entstehung der Lebewesen in naturwissenschaftlicher
Sicht – Darwin im Lichte der Makromolekularen Chemie, in: Schöpfung, Informationszentrum Berufe der Kirche , Freiburg1988.
Siehe J. MONOD, Zufall und Notwendigkeit, München 1973.
Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria
27
gegeben, auch dann nicht, wenn Einzelergebnisse auf die Richtigkeit einer
Theorie hinzudeuten scheinen.
So z. B. könnten wir uns viele Universen vorstellen, ähnlich oder verschieden unserem Universum, die uns jedoch unbekannt sind. Sie hätten
dann wahrscheinlich andere Entwicklungen genommen als unser Universum, Entwicklungen, die uns wiederum unbekannt sind48. Aber so
könnten wir nur spekulieren und dabei von Gott absehen.
Die Biologen, die das Leben durch Evolution aus Zufall begründen
wollen und diese Theorie für wahr erklären, machen aber – wie auch einige
Mediziner – eine Zäsur, wenn sie partout mit menschlichen Embryonen
„forschen“ wollen. Sie begründen das mit der Hoffnung auf mehr
Möglichkeiten zur Heilung von z. B. bisher unheilbaren Krankheiten.
So hat A. Kutschers für den Unterricht in Biologie gefordert: „Der
naturwissenschaftliche Unterricht muss weltanschauungsfrei bleiben.“49
Was bedeutet für ihn Weltanschauung? Und warum bezeichnet er den
Unterricht über Theorien oder Hypothesen als „naturwissenschaftlich“?
Die Medizin, oder besser gesagt, einige „Mediziner“, die unbedingt mit
embryonalen Stammzellen „forschen“ wollen, versprechen sich Erfolge,
die aber bis heute ausgeblieben sind. Da sind ethische Einwände gegen ein
solches „Forschen“ nicht unbedingt weltanschaulich bedingt, aber erforderlich.
Shinya Yamanaka und Thomas Thomson haben mit ihren Forschungen
bewiesen, dass die angestrebten Heilerfolge eher mit der ethisch einwandfreien Forschung an adulten Stammzellen zu erreichen sind.
Wenn es übrigens wissenschaftlich bewiesen wäre, dass der menschliche
Embryo tatsächlich kein Mensch ist, dann wäre es ethisch vertretbar, mit
solchen Zellen zu operieren und dafür Embryos zu töten. Indessen ist
dieses Forschen kriminell, wenn nicht bewiesen oder unsicher ist, dass der
menschliche Embryo kein Mensch ist.
Wenn aber der Beweis erbracht wurde, dass der Embryo ein menschliches Wesen ist, dann ist das Töten eines Embryos nichts anderes als das
Eliminieren menschlichen Lebens.
48
49
Vgl. D. W. SCIAMA, Ist das Universum einzigartig?, in: G. BÖRNER, o.z., S. 183194.
Zitiert von L. SPERLING, Zur Debatte um Schöpfungslehre und Evolution, in: Die
Tagespost vom 30. 10. 2007, S. 15.
28
German Rovira
Solange es um die Vermutung oder den Glauben geht, dass es sich bei
einem menschlichen Embryo nicht um einen Menschen handelt, verübt
man im Grunde genommen grobes Unrecht, genauso wie bei der Tötung
eines Menschen – unter der Prämisse, dass es kein Mensch ist, sondern ein
Monster oder dass man nicht wusste, dass es sich um einen Menschen
handelte. Dann handelt man wahrhaftig „weltanschaulich“ oder besser
ideologisch.
So befürwortet derjenige, der an embryonalen Zellen forscht, den Tod
eines Menschen, was so verbrecherisch und so traurig ist wie jede Abtreibung, auch wenn das geschieht wegen angeblicher Heilungschancen. Es
handelt sich, und das muss betont werden, um die Tötung (wenigstens
„theoretisch“ oder wahrscheinlich) eines Menschen, und noch dazu eines
ganz unschuldigen. Und das ist vor jedem zivilisierten Gericht strafbar.
Für den Gläubigen steht fest, dass es sich beim Embryo um einen
Menschen handelt: Der Sohn Gottes ist bei seiner Menschwerdung uns in
allem gleich geworden außer der Sünde (Phil 2,6-7)50, und Jesus ist ein
Mensch von Anfang an, seit dem Augenblick, in dem Maria gesagt hat:
„Ich bin die Magd des Herrn.“ (Lk 1,38)51
Dabei spielt es keine Rolle, dass lange Zeit bezweifelt wurde, ob der
Embryo ein Mensch sei – vom Augenblick der Zeugung an –,mit einer
menschlichen Seele beseelt. Es ist unwichtig, ob zuerst von einem
vegetativen Lebensprinzip ausgegangen wurde, das sich dann entwickelt
und eingliedert in ein sensitives, bis es endlich eine menschliche Gestalt
bekommt. Aus der christlichen Lehre von der Person ergibt sich, dass Gott
die Seele mit dem gezeugten Leib im Augenblick der Zeugung verbindet,
so wie Gott in der Jungfrau Maria seine Natur mit der menschlichen Natur
verbunden hat.52
Die pseudowissenschaftlichen Disziplinen sind diesbezüglich ideologisch, wie selbst Ernst Mayr, der „Altmeister der Evolutionslehre“, von
den Evolutionisten behauptet: „Tatsächlich steht die Evolutionsbiologie
als Wissenschaft in vielerlei Hinsicht der Geisteswissenschaft näher als den
Naturwissenschaften.“53 Nun, dabei ist aber vorausgesetzt, was keineswegs
50
51
52
53
Siehe auch das 4. Hochgebet der Heiligen Messe.
W. J. GIEFFERS, Immakulata-Dogma und Person-Beginn; in: Mariologisches 3, August
2006, S.7 .
Ebd.
Siehe L. SPERLING, o. z.
Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria
29
immer der Fall ist, dass die Geisteswissenschaftler so handeln oder
sprechen würden wie die Anhänger der Zufallsevolution. Die Geisteswissenschaften sind etwas anderes als die Naturwissenschaften und ihre
Methoden sind nicht einfachhin als ideologisch zu bezeichnen.
Die Ideologisierung wird noch grauenhafte Folgen haben, wenn man an
den total ideologischen Genderismus und an „Planned Parenthood“ denkt.
Die Ziele, die sie sich setzen: Organ-Transplantation, Samenbanken, Einfrieren von Sperma für Generationen, Vermischung der menschlichen
Embryonen mit tierischen etc. etc., sind nicht nur gegen die Natur gerichtet, sondern sie zielen auf rassistische Lösungen und sind wahrhaftig
darauf gerichtet, einen „neuen Menschen“ zu schaffen, der den Schöpfer
überflüssig macht.54
Bei solchen ideologischen Rahmenbedingungen für den Biologieunterricht in der Schule hatte die hessische Ministerin Wolf recht, wenn sie verlangt: „In einem modernen Biologieunterricht sollten auch die Grenzen
naturwissenschaftlich gesicherter Erkenntnis sowie theologische und
philosophische Fragen nach dem Sinn des Seins und der Existenz von
Welt und Menschen eine Rolle spielen.“55
Hier muss man voraussetzen, dass der Lehrer, welcher die Evolutionstheorien in seinem Unterricht behandeln will und dabei ins philosophische
und theologische Gebiet eindringt, dies den Schülern vorher ankündigen
und philosophische und theologische Aussagen sachlich richtig darstellen
muss. Man darf die Schüler nicht einseitig ideologisch indoktrinieren und
behaupten, man lehre ja nur Biologie. Die Evolutionstheorie bedient sich
zwar einiger Daten aus der Naturwissenschaft, aber zum größten Teil weltanschaulicher oder ideologischer Positionen56: „… victoria cursus artis
super naturam…“ (Sieg der Kunst über die Natur), wie Benedikt XVI.
Francis Bacon zitiert.57
Aber zurück zu dem theologischen Prinzip: Gott weiß alles! „Die
Zweckmäßigkeit und die Ordnung in der Natur bestreitet eigentlich
54
55
56
57
Vgl. I. M. THÜRKAUF, Der Weg des „neuen Menschen“ – von der biologischen Revolution
zur Diktatur des Genderismus, in: Medizin und Ideologige 2/07, S. 28-35. Vgl.
auch G. KUBY, Die Gender-Revolution – Relativismus in Aktion, Kisslegg 2006.
Ebd.
Siehe z. B. W. MIXA, Zwei Seiten der einen Wirklichkeit, in: Die Tagespost, Nr. 139,
vom 20.11.2007, S. 6.
BENEDIKT XVI., Spes Salvi, Enzyklika vom 30.11.2007, n. 16.
30
German Rovira
niemand. ... Die Naturwissenschaften können nicht mit ihren eigenen
Methoden und auf ihrem Feld die Spuren übernatürlichen göttlichen
schöpferischen Eingreifens feststellen.“58
Und dieses schöpferische Eingreifen Gottes ist meines Wissens und –
wenn ich nicht irre –, auch in der Sicht von Bischof Elio Esgreccia, dem
vatikanischen Beauftragten für Bioethik59, und nach Auffassung von
gläubigen Evolutionisten, zu fassen als intelligent design, das der gläubige
Evolutionist als eine reale Hypothese annehmen kann, wenn nichts
anderes bewiesen wird. Ohne diese Suppositio wäre die Evolution unrealistisch. Man hat unglücklicher Weise diese Hypothese mit dem so genannten Isolationismus verknüpft; denn „die in der Natur existierenden
Ziel- oder Zweckursachen sind evident.“60
Leider werden Worte manchmal einseitig gebraucht und dementsprechend auch häufig missverstanden, z. B. das Wort Kreationismus.
Eigentlich bezeichnet es die Schöpfung aus dem Nichts: dass nicht ein Big
Bang am Anfang war und alles zufällig entstand, wie die Evolutionisten
behaupten. Nein! Kreationismus besagt letztlich: Alles ist eine Schöpfung
Gottes. Das wollen manche Kreationisten in dem engen Sinn verstehen,
dass alles in sieben Tagen entstanden sei (Gen 1,1-31), wie uns die Bibel in
bildhafter Sprache einfach und anschaulich vor Augen stellt. Diese Bilder
wörtlich und buchstäblich zu verstehen, ist eine einseitige Interpretation.
Ich persönlich halte die biblische Schöpfungsgeschichte für ein wunderbares Bild, sowohl die jahwistische Beschreibung (Gen 1,1-2,4a) wie die
elohistische Erzählung (Gen 2,4b-23). Diese Bilder aber sagen uns nur:
58
59
60
RHONHEIMER, Neodarwinistische Evolutionstheorie, Intelligent Design und
die Frage nach dem Schöpfer. Aus einem Schreiben an Kardinal Christoph
Schönborn, «Imago Hominis» 14 (2007), S. 49. - Und ich zitiere hier ausdrücklich Prof. Rhonheimer gerade deswegen, weil er mit seiner Schrift beweisen
will, dass das intelligent design eine unbrauchbare Fiktion ist. Ja, ich stimme zu,
wenn es nicht die Evolution gäbe. In dem Sinne, wie gläubige Evolutionisten
intelligent design verstehen, halte ich es für eine gute Hypothese. Ich richte mich
nach den Worten von ERNST BORIS CHAIN (1906-1979), dem Nobelpreisträger
von 1945: Der grundsätzliche Zweck eines (göttlichen) Designs oder einer
Vorausplanung schaut auf den Biologen, egal wo dieser hinschaut. Die Wahrscheinlichkeit, dass etwas wie die DNA zufällig sei, ist zu gering, um eine solche
Hypothese ernst zu nehmen.
Siehe Kein Widerspruch, in: Die Tagespost, Nr. 46, vom 17.11.2007, S. 6.
RHONHEIMER, ebd. S. 51.
Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria
31
Gott hat alles erschaffen und sorgt für alles. Der eigentliche Kreationismus
ist nicht mit dem Festhalten am Buchstaben des Bildes zu verwechseln.
Halten wir fest: Das intelligent design ist eine Hypothese, welche die
Evolutionstheorie zu retten vermag, ohne dass man an die Allmacht des
Zufalls glaubt. Die Theorie, welche die Evolution im Sinne Gottes verstehen will, gebraucht dieses Wort wie auch den Begriff Selektion in
anderer Bedeutung, eher so ähnlich, wie die Menschen ihn im Alltagsgebrauch verwenden. So ähnlich ist es mit dem Wort Mutation, das der
Gläubige anders versteht und gebraucht als der Ungläubige – nicht nur,
wenn es sich um Zellen handelt.
Nun, aus diesem Grund wollen wir hier nicht von einer Evolution des
Dogmas sprechen: Man könnte dann meinen, dass die Wahrheit sich im
Laufe der Jahrhunderte zufällig ändert und der Mensch die Inhalte der
Wahrheit selektiere oder sie sogar mutierten.
Das Mysterium Marias
Wie wir bereits gesehen haben, hilft uns das Beispiel der allerseligsten
Jungfrau, den richtigen Weg zu gehen. In ihr vollendete Gott sein Werk
(vgl. Mt 28,20). Über dieses Vollenden können wir jetzt weiter diskutieren:
Was verfolgte Gott mit der Schöpfung? Vor allem scheint es sicher, dass
die Schöpfung auf den Menschen zielte. Die Erschaffung der Engel, von
der wir nur Andeutungen zur Verfügung haben, scheint sogar im Hinblick
auf den Menschen, vor allem auf Jesus, von Gott gewollt zu sein (vgl. Hebr
1,4 ff.)61. Auf jeden Fall wissen wir vom Dienst der Engel, über ihre
Existenz und ihr Wirken mehr als von ihrer Erschaffung, die Gott nicht
ausführlich offenbart hat (vgl. z. B. Gen. 18/22/28; Ex 12 u. 19; Ps
2/91/96/148/; Tob 12; Jes 6; Dan 9).62
Zum Dienst der Engel: Sie dienten Jesus und auch Maria, der Mutter
Gottes. So versteht man, warum der Engel Gabriel zu Maria gesandt
wurde, um ihre Zustimmung einzuholen, von der die Menschwerdung
Gottes abhing (Lk 1,26-38), oder warum Engel nach der Geburt Jesu bei
den Hirten sangen: „Verherrlicht ist Gott in der Höhe und auf Erden ist
61
62
Vgl. A. D. SERTILLANGES, Die Schöpfung, in: Katholische Glaubenswelt I., Freiburg 1961, S. 489-501.
Über die Engel vgl. P. BENOIST D’AZY, Die Engel, in: Katholische
Glaubenswelt I. , S. 524-553.
32
German Rovira
Friede bei den Menschen seiner Gnade.“ (Lk 2, 14); denn nur bei diesen
kann die Gnade Gottes Frucht bringen.
In der ganzen Heiligen Schrift sind die Engel die Vertrauten Gottes als
Gesandte zu den Menschen. An vielen Stellen im Alten Testament denkt
man unwillkürlich an Gott, wenn von der Erscheinung eines Engels vor
einem Menschen die Rede ist. Und man sieht sogar – im Licht der Offenbarung der Dreieinigkeit – die Trinität, als drei Engel zu Abraham
kommen und in der Einzahl zu ihm reden (Gen 18, 1-16).
Nun, die Engel sind Begleiter des menschgewordenen Gottes (vgl. z. B.
Mt 4,11; Mk 1,13; Lk 22,43) und – wie gesagt – der Menschen, besonders
Marias. Seit dem Konzil von Ephesus (431) hält die Christenheit fest an
der göttlichen Mutterschaft Marias, einer Lehre, an die schon die Apostel
glaubten, wie auch an ihre Jungfräulichkeit, wie Ignatius von Antiochien
uns bereits überliefert.63 Gleichzeitig wird Maria als unsere Fürsprecherin
von den Christen angerufen, weil sie die Mutter unseres erlösenden Gottes
ist.64
Auch der Glaube daran, dass Gott uns in allem gleich geworden ist und
deswegen die Mutter des Herrn die neue Eva ist65, stützte den Gedanken:
Maria ist in der neuen Schöpfung die Mutter der Erlösten.66 Das ist das
Fundament der Anrufung Marias als unsere Fürsprecherin. Von diesem
Gedanken aus entwickelte sich die Überzeugung, dass sie uns liebt und für
uns sorgt wie eine Mutter. So sehen wir, wie die Entfaltung des Glaubens
weiter geht: Der gläubige Mensch erkennt in Maria ein Zwischenglied, das
uns mit Jesus verbindet, der Gott ist. Er nennt Maria „Mittlerin aller
Gnaden“, „Miterlöserin“, „Mutter der Kirche“. Das ist noch nicht feierlich
dogmatisiert, aber es ist fester Glaube der Kirche. Menschen, die dies noch
nicht mit vollziehen können, sind deswegen nicht schon bösen Willens
oder gar ungläubig. Die Kirche, und das sind alle Gläubigen, muss noch
viel beten und im Gebet um diese Wahrheiten ringen, bis der Tag kommt,
63
64
65
66
Siehe PG 5,650/659/682, etc.
Siehe das Büchlein von J. AUER, Unter deinen Schutz und Schirm – Das älteste
Mariengebet der Kirche, Leutersdorf 2004.
JUSTIN, PG 6,710-714; und IRENÄUS, PG 7,938/954-956/958, etc.; CYRILLUS
ALEXANDRINUS, Commentarii in Lucam 2, in: S. ALVAREZ CAMPOS, Corpus
Marianium Patristicum IV,1, nn. 3239-3240, Burgos 1976.
B. AMBROSIUS, PL 16, 750-755; AURELIUS PRUDENTIUS, 59, 890/894-895;
IULIANUS VON TOLEDO, Mariam patronuam esse hominum, in: S. ALVAREZ
CAMPOS, o. z., VI, Burgos 1981, n. 7188.
Die Vollendung der Welt im Schöpfungsplan Gottes: Maria
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an dem das Lehramt der Kirche sie vielleicht zu verbindlichen Glaubenssätzen erklärt, die wir im Glauben annehmen sollen.
PAX CHRISTI
Werden, Wesen und Wirken
Marthe-Marie Dortel-Claudot
Zum 60. Jubiläum der PAX-CHRISTI-BEWEGUNG bringen wir an dieser
Stelle den Text einer Rede von Mme. Marthe-Marie Dortel-Claudot anläßlich der
ersten Internationalen Arbeitstagung der „Pax Christi" in KEVELAER Anfang
April 1948 (Anmerkung des Herausgebers)
Die erste Pflicht, die mir obliegt, ist angenehm: zu danken und zu
grüßen! Dank sei zunächst dem lieben Gott und der allerheiligsten Jungfrau. Als PAX CHRISTI in die Welt trat, hatten wir, menschlich gesehen,
alles gegen uns. An dieser Stelle, wo wir uns jetzt befinden, tobten noch
vor drei Jahren die Schrecknisse des Krieges, der unheimliche Lärm der
Geschütze. Wir selbst, die wir uns heute die Hand reichen, wir standen uns
feindselig, verbittert und vielleicht voller Hass gegenüber, der eine das
Opfer des anderen. Und nun ist die Gnade vorübergegangen. Wir sind hier
brüderlich vereint unter dem Auge Gottes, unter dem Lächeln der Mutter.
Am Sonntag wird ein französischer Bischof den Kindern vom Rhein zum
ersten Mal das Brot des Lebens reichen.
Gott bedient sich der Menschen als Werkzeuge. Daher müssen wir auch
denen danken, die Gottes Werkzeuge waren und zuallererst S.°Em.
Kardinal Saliège, welcher die Initiative zu PAX CHRISTI ergriffen hat und
seither ihr Schutzherr ist, S.°Exz. Bischof Théas, unserm zielbewussten
Leiter, dem gesamten französischen Episkopat, welches uns so hochherzig
anerkannt hat, der Hierarchie in den anderen Ländern und ganz besonders
S.°Em. Kardinal Griffin von Westminster.
Was soll ich sagen über die Aufnahme seitens der deutschen kirchlichen
Obrigkeit? Gestatten Sie mir, dass ich zunächst in Ehrfurcht die Erinnerung an zwei große Dahingeschiedene wachrufe: an S.°Em. Kardinal
von Galen, der allzu plötzlich von uns hinweggenommen wurde, im
Augenblick, wo er von unserer Bewegung Kenntnis erhielt, und an S.°Exz.
Bischof Gröber, der als erster uns seine Zustimmung übermittelte, uns in
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Marthe-Marie Dortel-Claudot
Deutschland einführte und sich von Herzen darauf freute, den deutschen
Pilgerzug nach Lourdes führen zu dürfen, nach jenem Lourdes, das er, wie
er uns schrieb, nur einmal in seinem Leben, vor seiner Priesterweihe, besucht hatte.
Die Wahrheit fordert von mir, dass ich hier eine Klammer aufmache,
um meine Dankbarkeit jener gegenüber auszusprechen, die die ersten Verbindungen mit Erzbischof Gröber anknüpfte und so zum bescheidenen
Grundstein des deutschen Zweiges von PAX CHRISTI wurde, unserer
Hauptschatzmeisterin, Mlle. Putois.
Unter den lebenden Mitgliedern der deutschen Bischofskonferenz in
Fulda getraue ich mich kaum, Namen zu nennen; es sind ihrer zu viele, die
uns ihr Wohlwollen bewiesen, die uns unterstützt und ermutigt haben, sei
es S.°Em. Kardinal Frings, oder S.°Em. Kardinal von Preysing, Bischof
Keller, Erzbischof Bornewasser oder Bischof van der Velden, der uns
noch gestern mit so viel brüderlicher Liebe in seinem gastlichen Hause
empfangen hat! Und ich würde es als schnöden Undank betrachten,
schweigend über die deutschen leitenden Kräfte von PAX CHRISTI
hinwegzugehen und nicht wenigstens einige von ihnen zu erwähnen: Egon
Formans, welcher uns die Verdienste eines jahrelangen Martyriums bringt,
Pfarrer Hinz, Pater Konstantin Fuchs, Heinrich Heinen und – last, but not
least – unser Freund Joseph Probst, der alte Kampfgenosse von Marc
Sangnier, der Pilger von Bierville.
Und wenn ich so viele Namen noch zu nennen hätte in meiner Dankbarkeit, und zwar Namen aus den verschiedensten Gebieten, so kommt
das daher, dass derselbe Geist uns alle beseelt: der Geist der PAX
CHRISTI, der Geist des Christentums. Hier gibt es weder Freunde noch
Feinde, weder Verbündete noch Gegner, weder Besatzung noch Besetzte,
weder Franzosen noch Deutsche, Belgier oder Holländer. Hier sind wir
alle Christen, Katholiken, Brüder, Glieder des geheimnisvollen Leibes
Christi, alle berufen zur göttlichen Anschauung in der Ewigkeit, alle genährt aus derselben Eucharistie, alle Kinder derselben Mutter, der Jungfrau, alle Glieder derselben Kirche, unterstellt demselben Heiligen Vater, in
der Gemeinschaft derselben Dogmen, desselben Glaubens, derselben
Hoffnung und derselben Liebe.
Und nun erwarten Sie von mir, liebe deutsche Freunde von PAX
CHRISTI, dass ich Ihnen zunächst einiges über das Entstehen von PAX
CHRISTI sage, um dann zu Ihnen von unserer Zukunft zu sprechen.
Pax-Christ – Werden. Wesen und Wirken
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PAX CHRISTI wurde mitten im Kriege gegründet, als in Frankreich das
Gebiet noch nicht vollständig befreit war, als unsere Kriegsgefangenen und
Verschleppten noch in den Lagern schmachteten. Wir waren zu Beginn
nicht zahlreich: etwa 10 höchstens, alles Laien, alle entstammend aus den
Reihen dessen, was wir in Frankreich mit Résistance bezeichnen, d. h. jene
Franzosen, die auf einem schmerzlichen, mit den Gräbern ihrer Toten,
ihrer Erschossenen bezeichneten Wege versuchten, sich aufzulehnen, nicht
so sehr gegen Deutschland, als gegen den nazistischen Materialismus, jenen
Irrtum, den Pius XI. verurteilt hatte, und den Kardinal Saliège als „die
größte Gefahr für das Christentum seit dessen Gründung" bezeichnete. Im
Verlaufe dieses unseres Kampfes gegen den Nazismus hatten wir Gelegenheit, festzustellen, welche gewaltigen Schäden diese Irrlehre in der Seele so
vieler Ihrer Landsleute angerichtet hatte, und wir ahnten auch, wie viel Sie
gelitten haben, deutsche Katholiken, unter der nazistischen Unterdrückung; wir wollten Ihnen in Ihrem heldenmütigen Kampfe die einzige
uns zur Verfügung stehende Hilfe bringen, die auch die wirksamste ist: das
Gebet.
Wir hatten auch Gelegenheit, durch die Schrecknisse des Kampfes hindurch uns der Einheit unseres Katholizismus und der Katholizität der
Kirche bewusst zu werden. Sahen wir nicht den französischen Marineoffizier d'Esteinne d'Arves, den ersten Hingerichteten aus der Widerstandsbewegung, einen seiner Matrosen, einen protestantischen Holländer,
der gekommen war, um sein Leben für dieselbe Sache der Freiheit aufzuopfern, zu seinem Glauben bekehren; und wie dieser Konvertit getauft und
in die Kirche aufgenommen wurde, einige Augenblicke, bevor die
nazistischen Kugeln ihn niederstreckten, durch den deutschen Gefängnisgeistlichen, den inzwischen gestorbenen Abbé Stock, dessen Angedenken
ich mich glücklich schätze, hier ehren zu dürfen, denn er war wirklich in
dem vollen Sinne des Wortes die Verkörperung der Liebe Christi.
Das neu ins Leben getretene Werk entfaltete sich prompt. Msgr. Théas
übernahm ohne Zögern dessen Leitung, Kardinal Saliège die Schutzherrschaft. Anmeldungen von Priestern, von Ordensleuten, von Gemeinschaften, von Laien erfolgten in großer Zahl. Die Zustimmungen der
Hierarchie vermehrten sich. Es kam Zuwachs von jenseits der Grenzen.
Nationale Zweige bildeten sich. Aus Deutschland kam ebenfalls ein frohes
Echo, und sie können heute die herrliche Entfaltung unserer Bewegung in
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Marthe-Marie Dortel-Claudot
Ihrem Lande beurteilen. Bald erhielten wir auch die für uns wertvollste
Unterstützung: den Segen des Heiligen Vaters.
Welches sind nun heute unsere Ziele?
1. Den katholischen Glauben in den einzelnen Völkern immer weiter zu
verbreiten. Und hier möchte ich in einem Lande, in welchem unsere getrennten Brüder sehr zahlreich sind, zur Genauigkeit feststellen, dass wir
eine ausgesprochen katholische Bewegung sind, aber dass wir keineswegs
aus unserem Gebet unsere Brüder der anderen christlichen Konfessionen
ausschließen. Wir betonen insbesondere jenes wesentliche Element der
katholischen Frömmigkeit, die Marienverehrung. Unser tägliches Gebet
geht durch die Hände Mariens und daher rufen wir Sie auf, in Lourdes für
den Frieden zu beten.
2. Neben diesen ersten Zweck unseres Gebetes stellen wir die Vertiefung des geistigen Wohlergehens der Völker. Jeder von uns betet für die
anderen Völker. Für den Frieden zu beten, ist zu leicht, da braucht jeder
nur der Neigung seines eigenen Herzens zu folgen. Gibt es Menschen, die
keinen Frieden wünschen? Aber für eine fremde Nation zu beten, als Ziel
sich eine Nation aussuchen, von welcher uns Vorurteile, Unwissenheit und
vielleicht ein geheimer Groll trennen, ist ungleich verdienstreicher, erzieherischer und aufbauend im Sinne der Liebe und des Friedens. „Beten
wir füreinander", nach der schönen Devise von Therese Neumann, wir
Franzosen für Euch Deutsche, Ihr Deutsche für uns Franzosen.
3. Und daraus ergibt sich ganz von selbst unsere dritte Zielsetzung: der
Völkerfrieden. Und hier möchte ich betonen, dass, obschon wir äußerst
eifersüchtig auf die Bewahrung unserer Unabhängigkeit und unserer
Selbstständigkeit bedacht sind, wir doch für die verschiedenen Bestrebungen und für die einzelnen Friedensbewegungen, seien sie konfessioneller oder überkonfessioneller Art, zum Zwecke der gegenseitigen
Fühlungnahme und Unterrichtung in unserer Zeitschrift eine neue Spalte
„Säleute des Friedens" eröffnet haben, in welcher wir Darlegungen über
solche Bestrebungen veröffentlichen werden.
Welches sind nun die Mittel, die PAX CHRISTI zur Erreichung dieser
Ziele vorschlägt? Zunächst, seinem innersten Wesen entsprechend, das
Gebet. Wir sind vor allem eine geistige Bewegung. Zunächst also das
persönliche Gebet in Form des täglichen marianischen Gebetes und das
von unsern Anhängern verlangte tägliche Opfer. Dann aber auch das gemeinsame Gebet, durch die Veranstaltung von Einkehrtagen, von Pfarrtagen, Diözesantagungen, auch von Wallfahrten: wir haben zwei jährlich
Pax-Christ – Werden. Wesen und Wirken
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vorgesehen, die eine jedes Jahr in der Osterzeit, jeweils in einem anderen
Lande, dieses Jahr in Kevelaer, im Jahre 1949 hoffen wir nach England zu
gehen, um den englischen Katholiken behilflich zu sein, die alten MutterGottes-Wallfahrten, die seit Jahrhunderten ruhen, wieder aufzubauen, im
Jahre 1950 wird wohl Frankreich unser Ziel sein, anschließend vielleicht
die Schweiz – nachher: Fatima – Tschenstochau…Warum nicht?
Die Sommerwallfahrt wird uns jedes Jahr nach Lourdes führen, mit
Ausnahme der Heiligen Jahre, in welchen wir nach Rom gehen, wie z. B.
1950. Beten ist das Wesentliche. Zur Förderung unseres Gebetseifers muss
jedoch unser Gedankengut verbreitet, unser Geist unter die Völker getragen werden. Dies geschieht durch Versammlungen und Tagungen. Und
da möchte ich Ihnen als Beispiele aus unserem diesjährigen Tagungskalender aus Paris folgende Einzelheiten nennen: am 15. Februar Vortrag
des Herrn Tolédano, dann an sechs aufeinander folgenden Donnerstagen
eine Vortragsserie des Herrn de Lapradelle, am 15. April folgt die große
Tagung für den geistigen Wiederaufbau in Europa unter dem Präsidium
des Herrn Kardinals Saliège, zu welcher auch ihr deutscher Landsmann
Romano Guardini eingeladen wurde, anschließend Veranstaltungen für die
Jünger des hl. Franz, Vorträge in der italienischen Mission usw.
Diese Versammlungstätigkeit kann nicht die ganze Allgemeinheit erreichen; daher haben wir unsere Zeitschrift gegründet. Wir möchten sie in
möglichst vielen Sprachen verbreiten, mit ihren verschiedenen Spalten: Die
Päpste und der Frieden: Widerhall zu den päpstlichen Friedensgrundsätzen
– Christenheit: Nachrichten aus den einzelnen katholischen Ländern, so
ähnlich wie die ersten Christengemeinden ihre Briefe austauschten –
Säleute des Friedens: wovon ich soeben sprach – unser Kreuzzug: mit
Nachrichten aus der Bewegung. Und dann kommt unsere Tätigkeit in der
Presse. In Frankreich und in Deutschland haben große Tageszeitungen
und kleine religiöse Pfarrblätter und Zeitschriften von uns gesprochen,
ebenso in Kanada, in England, in den USA, in der Schweiz. Auch in
Büchern wurde bereits eingehend über unsere Tätigkeit berichtet, so z. B.
im „Leben des Paters de Jabrun" von Pater Bessières.
Das Wertvollste jedoch, um eine Atmosphäre brüderlicher Liebe zu
schaffen, so wie sie uns als Ziel vor Augen steht, bleibt das persönliche
Beispiel und die Einzelwerbung. Um unsern Freunden für diese Arbeit die
nötige Ausrüstung zu geben, haben wir im Laufe unserer Wallfahrten und
Tagungen Arbeitskreise vorgesehen.
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Marthe-Marie Dortel-Claudot
Einer unserer Dichter schrieb: La foi qui n'agit pas est-ce une foi
sincère? Ist der Glaube, der nicht handelt, ein wahrer Glaube?
Dürfen wir uns der praktischen Tätigkeit entziehen? Gewiss nicht! Und
darum wollen wir die Gelegenheiten zu internationalen Treffen vermehren
und fördern mit dem Ziele, uns näher zu kommen und Schranken und
Vorteile abzubauen.
Wir werden den Auslandsbriefwechsel und Schüleraustausch begünstigen. In diesem Zusammenhang darf ich auf den Lieblingsplan von
Bischof Théas hinweisen, bezüglich des Austausches von Priesterkandidaten, dahingehend, dass die Seminaristen eines Volkes längere Zeit
in einem Priesterseminar des Auslandes verbringen. In unseren Ordensgesellschaften ist dieser Gedanke schon weitgehend verwirklicht und
darauf scheint es auch zurückzuführen zu sein, dass die Ordensleute den
internationalen Fragen weit zugänglicher sind als der Weltklerus.
Andererseits werden wir verwandte Bewegungen und Werke unterstützen, in erster Linie die der katholischen Aktion angeschlossenen. So
betrachten wir es als unsere Ehre, dienen zu dürfen. Wir möchten in
keinem Falle zur abgetrennten Sekte werden. Wir haben nie einen Augenblick gezögert, wenn es galt, unter Umständen einen Einkehrtag ausfallen
zu lassen und unsere Freunde zu einer Veranstaltung und Unterstützung
einer ähnlich gerichteten Bestrebung zu ermuntern.
Wir unterstützen auch nichtkatholische Bewegungen. Unsere Spalte
„Säleute des Friedens" ist allen geöffnet. Wir arbeiten zusammen mit der
„Vereinigung zur Verteidigung der Religionsfreiheit", mit den „Vereinigten
Staaten der Welt" usw. Und daraus mögen Sie genau erkennen, wes
Geistes Kind wir sind und wo die Zusammenarbeit mit anderen begrenzt
ist: Wir wollen dienen, dienen bis zur Grenze des Erträglichen, wir wollen
mit den anderen gemeinsam gehen, soweit es möglich ist, ohne im
geringsten etwas von unserer katholischen Überzeugung aufzugeben.
Neben diesen Dingen ist Raum und Notwendigkeit für eine spezifisch in
der Zeitlichkeit, auf der praktischen Ebene und sogar im politischen Gebiet sich entfaltende Tätigkeit. PAX CHRISTI als wesenhaft geistige Bewegung muss sich diese Arbeit versagen. Da wir jedoch deren Dringlichkeit anerkennen, haben wir die Bildung einer besonderen Einrichtung
hierfür sehr begrüßt, nämlich die katholische Internatonale Friedenszentrale, über welche hier der Generalsekretär derselben berichten wird.
Pax-Christ – Werden. Wesen und Wirken
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Und nun gestatten Sie mir noch einen kurzen Hinweis auf die Anregungen des internationalen Komitees hinsichtlich des deutschen
Zweiges.
Weiterführung der begonnenen Arbeit für die Werbung und Durchführung der Wallfahrten. Die herrlichen Erlebnisse von Kevelaer, die
durch die Herren Pesch, Ehlen und Heinen erzielt wurden, beweisen, dass
diese Arbeit in jeder Weise richtig aufgezogen wurde.
Durchführung der sofortigen Herausgabe der deutschen Zeitschrift.
Zusammenarbeit beim kommenden Aufbau der katholischen Aktion,
für welche PAX CHRISTI zur Verfügung der Hierarchie stehen muss.
Durchführung von Einkehrtagen in den Pfarreien und Diözesen, sittliche und geistige Hilfestellung in weitestgehender Weise gegenüber den
schwer heimgesuchten deutschen Katholiken.
Und nun liebe deutsche Freunde, Glückauf zur weiteren Arbeit als Fortsetzung des herrlichen wuchtigen Erlebnisses von Kevelaer: Schenken Sie
unserer PAX-CHRISTI-Bewegung auch in Zukunft Ihre ganze Arbeit und
– besonders – ihr ganzes Gebet!
Das Referat von Mme. Marthe-Marie Dortel-Claudot wurde entnommen: Der
Weg in den Frieden. Erste Internationale Arbeitstagung der „Pax Christi“,
Kevelaer, 1. bis 4. April 1948. Geschehnis und Gehalt. Herausgegeben im Auftrage der „Pax Christi“, deutscher Zweig, von Hans Heinz Molls, Köln (Verlag J.P.
Bachem) 1948; Redaktion: Dr. Franz Norbert Otterbeck
VORTRÄGE AUF DER TAGUNG DES IMAK 2008
Die Heilige Familie als Vorbild der christlichen Familien
German Rovira
Wenn wir klären wollen, inwiefern die Heilige Familie Vorbild für die
christliche Familie sein kann, sind einige Voraussetzungen zu erläutern:
Es gibt einen Unterschied zwischen dem Feststehenden, dem Unveränderlichen, dem Ewigen, das wir das göttliche Gesetz nennen, und dem
Naturgesetz, das ein Abbild des göttlichen Rechtes ist, wonach wir uns
immer richten sollen. Davon unterscheiden sich die menschlichen Gesetze, die
sich nach dem Naturgesetz richten sollten; aber häufig sind sie den Umständen und der Entwicklung der gesellschaftlichen Ordnung unterworfen.
Eigentlich sollten die menschlichen Gesetze der naturgesetzlichen
Ordnung nicht widersprechen, wie es schon von den Heiden selbst erkannt wurde: „Das wahre Gesetz ist gewiss die richtige, mit der Natur im
Einklang stehende Ordnung, die über alle ausgebreitet, unwandelbar und
ewig ist ... Diesem Gesetz etwas von seiner Gültigkeit zu nehmen, ist ein
Frevel.“1
Der Unterschied zwischen den beiden Ordnungen ist, dass das göttliche
Gesetz, das sich in dem Naturgesetz wieder finden soll, die „Unveränderlichkeit und die Vollkommenheit der göttlichen Vernunft, welche die
Schöpferin der Natur ist“, ausdrückt – ex immobilitate et perfectionis divinae
rationis instituentis naturam. Das andere Gesetz, das von den Menschen gemachte, das menschliches Gesetz genannt wird oder das man besser als
politisches Gesetz bezeichnen sollte, ist „den Menschen und den Zeiten und
1
CICERO, De republica 3,33; siehe W. WALDSTEIN, Das Naturrecht und die Rechtsentwicklung Europas, in: Die Tagespost, Nr. 21, von 16.02.08, S. 13.
44
German Rovira
anderen zeitlichen Bedingungen unterworfen“ – pro hominum ac temporum
variis conditionibus .2
Unter solchen Voraussetzungen muss man fragen: Was bedeutet das für
die Ehe?
Die eheliche Bindung zwischen Christen wurde von Christus zu einem
sakralen Akt, zu einem Zeichen des Heiles und der göttlichen Gnade, zum
Sakrament der Ehe erhoben; er selbst hat diese Einrichtung der kirchlichen
Ordnung unterworfen, wenn auch, und das ist der Wille Gottes, die Eheleute sich der menschlich-politischen Ordnung unterwerfen können,
vorausgesetzt, dass diese Ordnung dem Wesen der Ehe nicht widerspricht
und das göttliche Gesetz anerkannt wird: denn die Eheleute geben dem Kaiser
(heute dem Staat), „was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gottes gehört.“
(Mt 22,21)
Die Ehe als menschliche, natürliche Institution, die von Gott geschaffen
und von Christus zum Sakrament erhoben wurde, kann und soll sich den
Gewohnheiten jeder Kultur, jedes Landes und jeder Zeit anpassen, solange
diese mit den Geboten Gottes nicht in Widerspruch stehen. Auch die
Eigenschaften der Ehe können variieren, je nach den Sitten der Völker
oder den Charakteren der Personen, die eine Familie bilden.3
Die maßgebliche Enzyklika über die Ehe, Casti connubii, anerkennt die
Variabilität der Gesetzgebung je nach den Umständen des Landes. Diese
darf aber nicht mit dem Naturgesetz bezüglich der Ehe in Widerspruch
stehen: „Nicht von Menschen ist die Ehe eingesetzt und wiederhergestellt
worden, sondern von Gott. Nicht von Menschen, sondern vom Urheber
der Natur selbst, von Gott, und vom Wiederhersteller der Natur, Christus
dem Herrn, ist sie durch Gesetze gesichert, ist sie gefestigt und erhoben
worden. Diese Gesetze können also in keiner Weise dem Gutdünken von
Menschen, keiner entgegengesetzten Vereinbarung, auch der Gatten nicht
...“4 beliebig verfügbar sein.
In der Ehe und in der Familie gibt es zwei schon erwähnte Eigenschaften: das sind die Unveränderlichkeit und die Eigentümlichkeit eines
jeden Mitglieds. Trotz dieser möglichen Unterschiede zwischen den Eheleuten – Verschiedenheit in den Gewohnheiten, weil sie aus zwei unter2
3
4
THOMAS VON AQUIN, Summa theologica I, 2, 97, 1 c.
Siehe J. Höffner, Ehe und Familie, Münster 1959, S. 10 und 45-47.
PIUS XI., Casti connubii, Rundschreiben vom 31. 12. 1930; in:
A. ROHRBASSER, Heilslehre der Kirche, Freiburg 1953, S.1044-1100; n.1641.
Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie
45
schiedlichen Familien stammen, und beispielsweise von Temperament
oder Charakter –, haben sie die Pflicht übernommen, einander das ganze
Leben lang, bis der Tod sie scheidet, treu zu sein; denn „der Ehebund, durch
den der Mann und die Frau die Gemeinschaft des ganzen Lebens begründen, welche durch ihre natürliche Eigenart auf das Wohl der Ehegatten und auf die Zeugung und die Erziehung von Nachkommenschaft
hingeordnet ist, wurde zwischen Getauften von Christus dem Herrn zur
Würde eines Sakramentes erhoben.“5
Es handelt sich also um eine Gemeinschaft für das Leben aus reiner
Liebe, die von Gott kommt. Denn, wenn die Verliebtheit aufhört, wie es
häufig geschieht, nachdem man geheiratet hat, soll man auf die Liebe
bauen, die von Gott gefördert wird, sofern man betet und menschlich
guten Willen hat. So erreicht man ein Zuhause, in dem sich jeder sicher
und fähig fühlt, die weiteren Tugenden zu erwerben, die in jeder Familie
nötig sind, um die Einheit des gemeinsamen Tisches, der Güter und des
Vertrauens untereinander6 zu leben.
Es sind Dreiheiten, welche die Einheit in der Liebe darstellen und gleichzeitig vermehren; sie sind wie göttliche Spuren im Sakrament der Ehe.
Ramon Llull fand hierin ein Diagramm Gottes, das sich in den Liebenden,
dem Geliebten und der Liebe 7 äußert.
In Jesus und durch die Taufe gehören alle Christen zur Familie Gottes,
zur Kirche. Johannes Paul II. hat ganz konkrete Ratschläge gemacht und
gleichzeitig Forderungen benannt: auf Eigentümlichkeiten eines jeden
Mitglieds der Familie zu achten, wenn die Liebe in der Familie wachsen
soll.8
Das Haus einer Familie nennt das Konzil ecclesia domestica, Hauskirche.
Sie ist die Wiege der Kirche oder, wie Leo XIII. sie nannte, die Urzelle
5
6
7
8
CIC 1055.
Siehe z. B. J. HÖFFNER, o. z., S. 59-71.
R. LLULL, Libro del amigo y el amado, Barcelona 1993, S. 77.
Vgl. z. B. Familiaris consortium, vom 21.11.1981; Charta der Familienrechte, vom
22.10.1983; Brief an die Familie, vom 2.2.1994; Mulieris Dignitatem, vom 15.8.1988;
Brief an die Frauen, vom 29.6.1995, etc. Zu beachten sind mehrere Instruktionen
der Glaubenskongregation wie Erklärung zu Fragen der Sexualität, vom
29.12.1975; Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung, vom 10.3.1983 und die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche
und in der Welt, vom 31.7.2004, um nur diese Beispiele zu zitieren.
46
German Rovira
oder Stammzelle der Kirche und der Gesellschaft.9 Paul VI. nennt sie bei
seinem Besuch im Haus der Heiligen Familie in Nazareth die „Schule des
Evangeliums“10; und Johannes Paul II. betete an diesem Ort, wo Jesus
heranwuchs und zunahm „an Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und
den Menschen“ (Lk 2,52): „Alle christlichen Familien sollen auf dieses
Beispiel schauen, um so die Schwierigkeiten und Gefahren zu überwinden,
die heute die Natur, die Festigkeit und die Aufgaben der Familien bedrohen.“11
Liebe als Gebot des Herrn ist eine Haltung, die bestimmte Pflichten
auferlegt, aus denen Rechte entstehen12: Sie ist eine Tugend! Sie ist auf
Grundbedingungen gestellt, die man beachten soll, um wahrhaftig von
Liebe sprechen zu können. Die „Liebe (ist) ein Widerhall der Wirklichkeit
Gottes.“13 Christoph West sagt das Gleiche, indem er eine Frage stellt: „Ist
dieser Akt wirklich ein Abbild von Gottes freier, uneingeschränkter, fruchtbringender Liebe oder nicht? Wenn nicht, dann ist sie eine falsche Liebe.“14
Irgendwo habe ich einen Spruch von Otto Falke gelesen, der diese
Liebespflicht wunderbar ausdrückt: „Liebe ist der Entschluss, das Ganze
eines Menschen zu bejahen, die Einzelheiten mögen sein, wie sie wollen.“
Ähnliches sagt Josef Pieper in seiner Abhandlung über die Liebe, Leibniz
zitierend: „Liebe heißt, sich freuen über das Glück des Anderen.“15 Das ist
es, was man in der wahren irdischen Liebe beachten muss.
Immer wieder sollen wir das Gebot des Herrn über die Liebe hören und
es betrachten: „Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr
einander lieben.“ (Joh 13,34) Dieses neue Gebot ist das Licht Gottes, das
9
10
11
12
13
14
15
Vgl. Breve Neminem fugit, vom 14.6.1982, AAS XXV (1892-1893) 8 ff. und die
Enzyklika Quamquam pluries, vom 15.8.1889, ASS XXII (1889-1890) 64 ff.
Ansprache vom 5.1.1964.
Ansprache bei der hl. Messe in Nazareth am 25.3.2000.
Vgl. J. MESSNER, Das Naturrecht, Innsbruck 1966, S. 77 f.
D. SCHWADERLAPP, Für immer Ja – Ein Kurs in Sachen Liebe, München 2007, S.
64; siehe vom gleichen Verfasser Erfüllung durch Hingabe – Die Ehe in ihrer
personalistischen, sakramentalen und ethischen Dimension nach Lehre und Verkündigung
Karol Wojtylas / Johannes Paul II., St. Ottilien 2002.
CHRISTOPHER WEST, Theologie des Leibes für Anfänger – Einführung in die sexuelle
Revolution nach Papst Johannes Paul II., Kisslegg 2005, S. 118.
Amare sive diligere est felicitas alterius delectari: Opera omnia, Band IV (3.
Auflage L. Dutens), 295: in J. PIEPER, Über die Liebe, München 1972, c. VI, § 5.
Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie
47
uns ermöglicht, nicht in der Finsternis zu leben: „Wer seinen Bruder (das
heißt seinen Mitmenschen) liebt, bleibt im Licht.“ (1 Joh 2,10)
Die Liebe, die einigt und erleuchtet
Als Thomas den Herrn nach dem Weg fragt, den wir gehen sollen,
antwortet Jesus: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ (Joh
14, 6) Es klingt wie eine dreifaltige Antwort: Der Vater hat uns geschaffen
und uns durch seine Gebote den Weg gezeigt; durch sein Wort, welches
die Wahrheit ist, offenbart er, was wir brauchen, um seinen Willen zu tun;
und der Heilige Geist, der der Lebensspender ist, wird uns – wenn wir es
wollen – das ewige Leben schenken.
Dies hat die Dreifaltigkeit auf Erden16, die Heilige Familie, gezeigt: dass die
göttliche Dreieinigkeit alles durch die ewige Liebe zur Vollendung führt,
wenn die Menschen es zulassen und den Weg der Hingabe und eines
authentischen Lebens in Christus in Wahrheit gehen. Die Heilige Familie
vermittelt uns durch ihre Fürsprache dieses wahre Leben. So sollen wir uns
an sie wenden und die Namen: Jesus, Maria und Josef immer als ein Stoßgebet wiederholen, wie wir ja auch oft am Tage sagen: Im Namen des Vaters
und des Sohnes und des Heiligen Geistes oder Ehre sei dem Vater und dem Sohne
und dem Heiligen Geist.
Wir sollen diese Haltung der Heiligen Familie nachahmen und durch
unser Leben, durch die Erfüllung des Auftrages Gottes, durch unsere Berufung unseren Mitmenschen den Weg zeigen; durch die Wahrhaftigkeit
und durch das Apostolat den anderen die Wahrheit, die sie heilen kann,
vermitteln. Durch unser universales Gebet, nicht nur für unsere Anliegen,
sondern auch in den geistlichen und materiellen Bedürfnissen unserer
Mitmenschen sollen wir den Herrn bitten. Auf diese Weise sind wir gleichsam Christus und ahmen das Leben Jesu in der Heiligen Familie nach.
Denn das Wort, welches das Licht war (Joh 1,4-5), kam zu den
Menschen (Mt 1,18-25 und Lk 2,4-52) und wirkte für die Menschen durch
das einfache Leben eines Kindes. Es war sein Licht, das wahrhaftig Maria
erleuchtete, sowohl bei der Verkündigung als auch bei der Geburt ihres
16
Der Ausdruck geht auf Pierre d'Ailly, Jean Gerson und Bernhardin von Siena
zurück. Heute pflegt man von der Heiligen Familie zu sagen, sie sei die Ikone
der göttlichen Dreieinigkeit.
48
German Rovira
Sohnes, unseres Herrn. Maria war Trägerin dieses Lichtes, wie die
byzantinische Liturgie singt, und sie gab es uns.17
Der hl. German von Konstantinopel unterstreicht das Wirken des
Heiligen Geistes: „Wenn Du uns nicht den Weg zeigst, wir könnten nicht
Gott anbeten und der Mensch wird nicht geistlich, wie Du, Gottesmutter.
Du warst die Wohnung des Heiligen Geistes. Niemand kennt Gott wie
Du, Allerheiligste (Panhagia)!“18
Dieses Licht ist daher eng verknüpft – um nicht zu sagen eins – mit
dem Leben und der Wahrheit; das Wort (Joh 1,1-14) ist das Licht Christi.
Es ist aber auch und deswegen eins mit der Liebe (1 Joh 1,7-11). Deshalb
kann man das Leben eines Christen ein Leben nennen, das erleuchtet ist
durch die Liebe, das den Mitmenschen das Licht entzündet, das sie
brauchen, um den Weg zu gehen (Joh 14,5).
Wir haben viele tausend Bücher, die über die Liebe Auskunft geben.
Dennoch gibt es kein besseres Buch als das Beispiel, wie oft gesagt wird.
„Die Liebe will gelernt sein. ... In dieser Schule der Liebe sind wir gegenseitig Schüler und Lehrer. ... (Und) die Schule der Liebe setzt sich weiter
fort im Freundeskreis, im Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz – wo auch
immer wir leben und Menschen begegnen. ... Die beste Pädagogik ist hier
die eigene Lebenspraxis. Der beste Lehrer in Sachen Liebe ist der, der
Liebe vorlebt. ... Und an dieser Stelle sollen wir nicht vergessen, wer unser
gemeinsamer Lehrer der Liebe ist: Jesus Christus, der Gottessohn. ... Er
zeigt uns nicht nur, was die Liebe bedeutet, er alleine befähigt uns auch,
Liebe zu üben.“19
Wir brauchen es nicht zu wiederholen: Diese Schule war für den Sohn
Gottes, als er Fleisch angenommen hat und unter uns leben wollte, die
Heilige Familie, die Dreifaltigkeit auf Erden. Hier war Jesus Schüler und
Lehrer: Er übernahm von Maria und Josef die Sprache der Menschen, auch
die Sprache, die nicht mit Worten ausgedrückt und trotzdem von den
Menschen verstanden wird: das Lächeln z. B. und menschliche Gebärden.
Und er gab den Menschen unbemerkt und sakramental die göttliche Liebe,
die er selbst war.
17
18
19
Siehe EPIFANIO EL MONJE, Vida de Maria, Madrid 1990, S. 51, Note 48.
Homilie zur Entschlafung, PG 98, 349.
D. SCHWADERLAPP, Für immer Ja – Ein Kurs in Sachen Liebe, München 2007, S.
85-87.
Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie
49
Aber er erlernte auch von Josef und von seiner Mutter das Arbeiten: Er
lernte seine Pflichten zu erfüllen, auch wenn er müde war, um so den
anderen die Freude nicht zu verderben. Ja, er lernte alles, was die menschliche Liebe ausmacht, und er gab Maria und Josef die göttliche Liebe, die
wir, solange wir hier auf Erden sind, nur ahnen.
Jetzt, da sie im Himmel sind und die göttliche Dreieinigkeit schauen,
lieben sie uns mit der Liebe Gottes. Sie selbst sind nicht die Dreieinigkeit,
und trotzdem sind sie die Mutter Gottes und der Beschützer des Erlösers, wie
Papst Johannes Paul II. den hl. Josef in seinem Apostolischen Schreiben
Redemptoris custos nennt; mit Jesus bilden sie eine Einheit, die wir nicht beschreiben können, die jedoch in etwa widerspiegelt, was sie hier auf Erden
waren. So sind sie für alle Ewigkeit die Dreifaltigkeit der Erde: geeinigt in der
Liebe. Die Aufgaben für uns, die sich daraus ergeben, erfüllen sie vorzüglich noch vom Himmel aus.
Die Dreieinigkeit des Himmels und die Dreifaltigkeit der Erde
Das Band, welches die drei göttlichen Personen verbindet und zu einem
Wesen macht, ist die einigende Liebe: „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4,16).
Die Dreieinigkeit oder die Trinität sind die drei Personen: Vater und Sohn
und Heiliger Geist, die eins sind, geeinigt in einer Natur, welche die Liebe
ist: Gott.
Hier auf Erden leuchtet dieses Wunder der Liebe in der Heiligen Familie
auf, welche diese drei Menschen so einigt, dass sie zusammen denken,
wollen und entscheiden: Ihre Entschlüsse sind immer drei; weil sie aber
nur das Gute wollen, werden sie eins. Jesus, Maria und Josef waren vollkommen einig. Das geschieht, weil Gott in ihnen ist: „Wer in der Liebe
bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.“ (1 Joh 4,16)
Das ist es, was in der Heiligen Familie geschieht: Jesus ist „wahrer Gott
und wahrer Mensch“20, Maria ist die Gnadenvolle (Lk 1,28), Panhagia, wie
schon gesagt, und Josef ist der Gerechte (Mt 1,19), was auch so viel heißt
wie ganz heilig; er handelte in allem nach dem Willen Gottes.21 Gott ist mit
ihnen und deshalb sind sie geeinigt in der Liebe. Man darf sie den Spiegel
20
21
So beten wir in der Heiligen Messe, wenn wir das Nizeo-Konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis beten: DH 150 und 301.
Vgl. SCHRENK, Δίκαιοης, in: G. KITTEL, Theologisches Wörterbuch zum NT,
Band II, Stuttgart 1990, S. 184-193.
50
German Rovira
der Dreieinigkeit nennen, wie die Päpste, vor allem Papst Leo XIII.22, die
Heilige Familie bezeichnen; oder die Dreifaltigkeit der Erde, wie Pierre
D'Ailly, Jean Gerson oder Bernhardin von Siena sie nennen.23 Heute pflegt
man sie eher als Ikone der Dreieinigkeit24 zu bezeichnen.
Die Liebe, die hier gemeint ist, die Liebe, die das Wesen Gottes ausmacht, ist nicht von der Banalität, zu welcher der Teufel diesen Begriff
erniedrigt.25 Diese Liebe ist auch nicht der Eros, den Gott den Menschen
als eine Kraft gegeben hat und die der Mensch in seinem Auftrag, wie Gott
es will, leben kann.26 Sie ist auch nicht die Philia, welche die Freundschaft
oder die natürliche Liebe zu den Eltern und Geschwistern zum Ausdruck
bringt.27 Die Liebe Gottes, die er uns schenken will, ist die einigende,
übernatürliche Liebe, die das Wesen Gottes ausmacht, und die nur er uns
schenken kann und will. Am ehesten könnte man sie mit der Agape vergleichen, die „zweifellos etwas Wesentliches von der Neuheit des Christentums gerade im Verstehen der Liebe anzeigt.“28
Dennoch, wir wissen nicht und können uns auch nicht vorstellen, wie
Gott jedes seiner Geschöpfe liebt und für es sorgt; ja er hat sogar aus
Liebe zu den Menschen Fleisch angenommen und ist am Kreuz für sie
gestorben mit der gleichen Liebe, in der die Drei Personen in einer Natur
verwirklicht sind; denn in Gott ist alles eins.
22
23
24
25
26
27
28
Siehe LEO XIII., Neminem fugit, Brief vom 14.6.1892 und Novum Argumentum,
Apostolisches Schreiben vom 20.11.1890 und vor allem die Enzyklika
Quamquam pluries vom 15.8.1889; auch PIUS XI., Castii connubi, Enzyklika vom
31.12.1930.
P. D'AILLY, De doudecem honoribus Sancti Joseph, in: J.C.VIVES, Summa Josephina,
Romae 1907, S. 220, und J. GERSON, Josephina, in: Opera Johannis Gersoni,
Paris 1608, 3. Pars, c. 140, und J. VIVES, Summa Josephina, o.z. n. 127, 34; n. 234,
50.
J. M. BLANQUET, La Sagrada Familia, Icono de la Trinidad, Barcelona 1996.
Vgl. J. HÖFFNER, In der Kraft des Glaubens II, Sexualmoral im Licht des Glaubens,
Freiburg 1986, S. 129-135.
B. STOEKLE, Gottgesegneter Eros, Ettal 1962. Siehe auch J. Pieper, Über die Liebe,
München 1972, c. VIII.
Siehe STÄHLIN, Philia, in: G. FRIEDRICH, Theologisches Wörterbuch zum NT,
Band IX, Stuttgart 1990, S. 153-169.
BENEDIKT XVI., Enzyklika Deus caritas est vom 25.12.2005, n. 3. Diese Begriffe
sind die gängige Lehre der Kirche, vgl. z. B. H. KUHHAUPT, Die Hochzeit zu
Kana – Vom Myterium der Ehe, Recklinghausen 1952, S. 142 f. Kardinal Höffner
erklärt es noch ausführlicher und sehr gut.
Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie
51
In dieser Liebe waren Jesus, Maria und Josef dreifaltig und zu einer Einheit zusammengewachsen oder verschmolzen. Der hl. Augustinus will
diese Einheit unterstreichen und sagt über die Ehe von Maria und Josef,
ähnlich wie auch Johannes Paul II.29: „Beide haben es wegen ihrer Treue
zur Ehe verdient, Eltern Christi genannt zu werden, und nicht allein Maria
wird als die Mutter erwähnt, sondern auch der Vater, als der Gemahl
Marias, obwohl nicht er der Erzeuger war, sondern nur in der Liebe.“30
Wir können uns nicht vorstellen, wie sie sich liebten: ganz rein und in
der Hingabe füreinander und für die anderen Menschen. In dieser Hingabe
haben sie sich durch Jesus Gott liebevoll aufgeopfert und alles, was sie
taten, miteinander geteilt: ihre Freude und ihre Leiden, ihre Arbeit und
Ruhe, ihr Lächeln und ihre Tränen, alles haben sie mit Jesus freudig Gott
geschenkt für das Heil der Menschen. Sie waren einig in der Erfüllung des
Willens Gottes. So waren sie eine einige Dreifaltigkeit.
Die Ehe zwischen Maria und Josef
In der Trauungsmesse beten wir im Tagesgebet: „Gott, unser Schöpfer
und Vater, du hast die Ehe geheiligt und durch sie den Bund zwischen
Christus und seiner Kirche dargestellt.“31 War die Ehe Marias und Josefs
nicht eine solche wunderbare Darstellung dieser Zeichen der Liebe Gottes
zu uns? In einer der Präfationen dieser Messe wird hinzugefügt: „Die du
aus Liebe geschaffen und unter das Gesetz der Liebe gestellt hast, die verbindest du in der Ehe zu heiliger Gemeinschaft und gibst ihnen Anteil an
deinem ewigen Leben.“32
In einem Mariale von Baltasar Sorio, OP33 findet sich folgendes Gebet:
„O heilige Ehe Josefs mit der erhabenen Jungfrau! Nach den Zeugnissen
war sie frei von jeder Verfehlung und erbte nicht die alte Schuld, die verschwand; so hat der neue göttliche Spross den Teufel besiegt.“ Die Frucht
29
30
31
32
33
Siehe Apostoliches Schreiben Redemptoris custos, vom 15.8.2007, n. 21.
AUGUSTINUS, De nuptiis et concupiscentia, L. I, c. 11.
Siehe MESSBUCH, Trauungsmesse A, in der Auflage von 1975, S. 977.
Ebd. S. 989.
B. SORIO, Mariale, Tortosa 1538, 276 Folien: O sacrum matrimonium Joseph et
almae Virginis: cuius est testimonium conceptus expers criminis; redit ad
patrimonium antiquae stirpis propaginis: et laetet sic daemomino divini partus
germinis.
52
German Rovira
dieser Ehe ist der jungfräulich geborene Sohn Gottes, der „für uns und zu
unserem Heil vom Himmel gekommen“34 ist und „da er die Seinen, die in
der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung.“
(Joh 13,1)
In einem Breviarium35 von einem unbekannten Autor der Stadt Lérida
findet man das Gebet: „Gott, durch die jungfräuliche Geburt deines eingeborenen Sohnes durch die Jungfrau Maria hast du die Ehe mit ihrem
Bräutigam Josef, einem Gerechten, erhöhen wollen; gewähre uns, dass wir
dieses Geheimnis hier auf Erden würdig feiern und der himmlischen
Hochzeit teilhaftig werden.“
Nur das Lukasevangelium erwähnt ausdrücklich die Verkündigung der
Empfängnis Jesu an die Jungfrau, die in Nazaret stattgefunden hat (Lk
1,26/38/39-86). Dort haben wahrscheinlich auch nach der Empfängnis die
Verlobung und die Heimführung Marias durch Josef stattgefunden. Die
drei Synoptiker verweisen darauf, dass Jesus in Nazaret aufwuchs, sodass
man glaubte, er stamme aus Nazaret. Matthäus beginnt sein Evangelium
mit der Geburt Jesu in Betlehem und erwähnt, dass sich die Heilige Familie
nach dem Tode des Herodes in Nazaret niederließ.36
Das erste, was wir von dieser Ehe erfahren, ist also, dass Josef der Mann
Marias war: „…und nahm seine Frau zu sich.“ (Mt 1,24) Das tut Josef
aufgrund der Botschaft eines Engels des Herrn, der ihm im Traum erscheint (Mt 1, 20). „Die Braut und ihr Gemahl, die Mutter und der Vater
Jesu, bilden gemeinsam den Raum, in dem das Göttliche Wort Heimstatt
nimmt.“37 Josef liebt Maria und das Kind mit menschlicher und übernatür34
35
36
37
Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel.
Breviarium quod marianum inscribitur, eo quod festa bb. Virginis übi locorum celebrata
referat. Hocce breviarium partim pluribus antiquis conflatur, Ilerdae 1859, LXIV-960 S.
24ff. Darüber R. GAUTHIER, La fête liturgique du mariage de Marie et de Joseph,
Montréal 2000, S. 60 : „Deus, qui unigeniti Filii tui genitricem Mariam, ut virginalis
partus ejus viri honestaretur consortio, Joseph viro justo desponsari voluisti; da nobis conjugii
mysterium digne celebrare in terris, et coelestium participes fieri nuptiarum.“
Vgl. Mt 1,18-26/2,19-23/13,54-58 („Ist dieser nicht des Zimmermanns Sohn?“ Mt
13,55); („… und ließ sich in einer Stadt namens Nazaret nieder. Denn es sollte sich
erfüllen, was durch die Propheten gesagt worden ist: Er wird Nazoräer genannt werden.“ Mt
2,23); sowie Mk 6,1-6 ( „Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria...?“ Mk
6,3), und Lk 2,39/51 bzw. 4,16-30 („So kam er auch nach Nazaret, wo er
aufgewachsen war...“ Lk 6,16).
BENEDIKT XVI., Grußwort des Heiligen Vaters an die Teilnehmer des IX.
Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie
53
licher Liebe, das heißt, er empfindet die Größe der Heiligkeit der Mutter
Jesu und sogar die Messianität des Kindes.
Die Zweifel des hl. Josef vor der Heimführung Marias in sein Haus sind
nicht mit Vermutungen zu deuten, die abstoßend wären. Wenn wir uns
von der Heiligkeit und der Gerechtigkeit Marias eine Vorstellung machen
könnten, würden wir sofort denken: Josef, der „gerecht war“, konnte sich
nichts Böses von Maria durch den Kopf gehen lassen; Josef, „der gerecht
war“, konnte keinen Fehler seiner reinsten Frau, die ohne Sünde
empfangen war, entdecken. Sie strahlte immer Gottes Gerechtigkeit und
Heiligkeit in ihren Worten und Taten aus.
Man könnte annehmen, dass Maria nach der Verkündigung und ihrem
Ja zum Willen Gottes, weil sie eine „Magd des Herrn“ (Lk 1,38) war, das
Geheimnis ihrer Schwangerschaft Josef anvertraute: weil der hl. Josef ihr
Mann war und weil sie ihn liebte. Sie hat ihm später von der Vision oder
Audition des Engels erzählt und dass sie vom heiligen Geist ein Kind
empfangen hat; Josef glaubte seiner Braut völlig!
Josef stand vor einem göttlichen Geheimnis und dachte nach (Mt 1,20).
Er hat von Maria, seiner Frau, schon in ihrer bräutlichen Zeit das Beten
und vieles andere gelernt. Er hat von seiner Braut gelernt, sich Gott anzuvertrauen und um Klarheit über Gottes Willen zu bitten. Das Evangelium
sagt von dem Gebet Marias zuerst nach der Geburt Jesu, als die Hirten
nach der Engelserscheinung auf dem Hirtenfeld zu dem neugeborenen
Kind gekommen waren: „Maria bewahrte alles, was geschehen war, in
ihrem Herzen und dachte darüber nach.“ (Lk 2,19); und dann, als Josef
und Maria den zwölfjährigen Jesus im Tempel wiedergefunden hatten:
„…sie verstanden nicht, was er damit sagen wollte. ... Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen.“ (Lk 2,50-51)
Von diesem Lernen Josefs aus der Haltung Marias sagt der Heilige
Vater: „Maria, die Mutter Jesu, ist die auserwählte Seele, die in völliger
Hingabe an den Willen des Höchsten das Ewige Wort empfängt, um es der
Welt zu schenken. So wird sie zur Mutter der Kirche, die ihre geistlichen
Kinder zu Christus führt. Von ihr lernen wir Vertrauen; mit ihr lernen wir
glauben und beten.“38 Maria dachte im Gebet nach, wenn sie die Offen-
38
Internationalen Symposiums über den Heiligen Josef, vgl. J. HATTLER/G. ROVIRA, Die
Bedeutung des hl. Josef in der Heilsgeschichte I., Kisslegg 2006, S. 17.
Ebd.
54
German Rovira
barung Gottes nicht verstand, und bewahrte Taten Gottes in ihrem
Herzen. So handelte auch der hl. Josef.
Ausdrücklich berichtet uns das Evangelium über dieses Nachdenken
Josefs: wie er nachdachte über die Möglichkeit einer solchen Geburt durch
das Eingreifen der Kraft des Höchsten, der Maria überschattet hatte (Lk
1,35). Dann beschloss er, Maria zu verlassen, weil er sich unwürdig fand,
die Auserwählte Gottes zu sich zu nehmen. Gott, der immer das Gebet des
Gerechten hört (Ps 5,13; 37,29-31; 55,23 etc.), sandte einen Engel, der ihm
den Willen Gottes offenbarte und bestätigte, was Maria ihm gesagt hatte:
Er verstand jetzt die Worte Jesajas (Mt 1,20.23), und so verstand Josef,
dass es von Gott vorgesehen war, dass er, Josef, an die Stelle des
himmlischen Vaters treten sollte (Mt 1,19-20).
Uns bleibt nur festzustellen, dass „zwischen der »Verkündigung« bei
Matthäus und jener bei Lukas eine enge Übereinstimmung besteht. Der Bote
Gottes weiht Josef in das Geheimnis der Mutterschaft Mariens ein. ... Der Bote
wendet sich an Josef als den »Mann Mariens«, der dem Sohn, der von der
mit ihm angetrauten Jungfrau aus Nazaret geboren wird, diesen bestimmten Namen geben soll. Er wendet sich also an Josef und überträgt ihm für
den Sohn Mariens die Aufgaben eines irdischen Vaters.“39
Maria ist die Mutter der Kirche, wie Paul VI. lehrte40, und die Heilige
Familie ist die Mutterzelle oder die Keimzelle41 der Kirche, die von Maria
lernen soll. Als solche ist die Heilige Familie das Sinnbild der Kirche und
dementsprechend aller christlichen Familien. Wie in der Heiligen Familie
alle voneinander lernten, so sollen auch wir es in der Kirche tun; dies ist
eine der Aufgaben der Kirche: Wir sind alle dazu berufen heilig zu sein,
zum Aufbau des Volkes Gottes.
Was wir bisher gehört haben, lässt vermuten, dass Maria und Josef eine
ganz normale heilige Ehe führten, bei der die Jungfräulichkeit wegen der
göttlichen und wunderbaren Ereignisse bei der Geburt Jesu, des Sohnes
Gottes, als ein großes Geschenk erachtet wurde. So ist es logisch, dass alle
glaubten, Jesus sei der leibliche Sohn Josefs. Dem widerspricht die Kirche
von Anfang an. Neben den Evangelisten waren die ersten christlichen
Schriftsteller, Ignatius von Antiochien42, Justin43, Irenäus44 oder
39
40
41
42
JOHANNES PAUL II., Redemptoris custos vom 15.8.1989, n. 3
Paul VI., Ansprache vom 21.11.1964 beim II. Vatikanischen Konzil.
Leo XIII., Brevis Neminem fugit, vom 14.6.1892, ASS XXV (1892-1893).
IGNATIUS VON ANTIOCHIEN, PG 5,659.
Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie
55
Tertullian45, sehr darauf bedacht, die Jungfräulichkeit Marias zu verteidigen, und erwähnen den hl. Josef als den „vermeintlichen“ Vater Jesu,
um den Gläubigen das Geheimnis der jungfräulichen Geburt zu entschleiern. Origenes, den man als den ersten Bibelkommentator betrachten
kann, bringt noch dazu ein neues Argument, damit man ,,erkennt, dass
Jesus der Sohn Davids ist, dank Josef“.46
Bald erkennen alle Autoren, die über den hl. Josef schreiben, dass er
wahrer Vater Jesu ist. Wie Johannes Chrysostomus47, Hieronymus48 und
Augustinus49 nehmen sie das alle an und bejahen, dass Josef als Vater Jesu
anzuerkennen ist, obwohl er das Kind nicht gezeugt hat, was durch das
Wirken des Heiligen Geistes (Mt 1,18) geschehen ist. „Der Bote Gottes
weiht Josef in das Geheimnis der Mutterschaft Mariens ein. ... Er wendet
sich also an Josef und überträgt ihm für den Sohn Mariens die Aufgaben
eines irdischen Vaters.“50
So beten wir in der Votivmesse zu Ehren des hl. Josef: „Allmächtiger
Gott, in deiner Vorsehung hast du den heiligen Josef zum Bräutigam der
seligsten Jungfrau erwählt ... (und) ihn bestellt, deinen Sohn auf Erden an
Vaters Statt zu behüten.51 Da müssen wir einiges an geistlichen Gaben
voraussetzen und folgern, dass sie dem heiligen Josef von Gott für diese
Aufgabe geschenkt wurden, damit er sie in Treue erfülle. Hier gilt auch die
Meinung des hl. Bernhardin von Siena, die man am Fest des hl. Josef in der
Lesehore findet: „Bei allen besonderen Gnaden, die einem vernunftbegabten Geschöpf mitgeteilt werden, herrscht die allgemeine Regel:
Immer, wenn Gott in seiner Güte jemanden zu einer besonderen Gnade
oder zu einem hohen Stand beruft, dann gibt er alle Hilfen, die für eine so
43
44
45
46
47
48
49
50
51
JUSTIN, PG 6, 657/887.
IRINÄUS, PG 7, 951-955/1175-1176.
TERTULLIAN, PL 2,782.
ORIGENES, Kommentar im Evangelium nach Matthäus; PG 13, 1814 f./18321840/1852-1854; und Contra Celsum, PG 11,783-786.
In Math. Homiliae, PG 57, 21-28/46-47/85-86.
De perpetua virginitatis Beatae Mariae adversus Helvidium, PL 23, 186-197.
De Consensu Evangelistarum, PL 34, 1071 f.
JOHANNES PAUL II., Redemptoris custos, n. 3.
MESSBUCH KLEIN-AUSGABE, Deutsche Ausgabe 1981, Tages- und Gabengebet, S.1111.
56
German Rovira
erwählte Persönlichkeit und ihre Aufgabe erforderlich sind. Sie zeichnen
diesen Menschen dann in reichem Maße aus.“52
Um die Heiligkeit Jesu und Maria zu beschützen, musste der hl. Josef
wenigstens eine Ahnung, noch mehr, die Sicherheit haben, dass die Heiligkeit seiner Frau und die des Kindes etwas Besonderes war. Heute
formulieren wir es im Glauben so: Maria ist heilig seit dem ersten Augenblick ihrer Existenz und deswegen unbefleckt empfangen. Papst Alexander
VII., der Nuntius in Köln und Delegierter bei den Verhandlungen um den
Frieden von Westfalen in Münster war, ließ am 8. Dezember 1661 diese
Frage ganz klar lösen, wenn er sagte, was auch Scheeben zitiert53: „Die
Seele der seligen Jungfrau Maria sei bei ihrer Erschaffung und Eingießung
in den Leib mit der Gnade des Heiligen Geistes beschenkt und von der
Ursünde bewahrt worden.“54 Die Lehre der Kirche war damit klar, obwohl
Alexander VII. diejenigen nicht verurteilte, die anderer Meinung waren,
sofern sie diese begründeten.
Scheeben setzt voraus, „dass im Vergleich mit den übrigen Menschen
bei Maria in irgend einer Weise eine antizipierte Heiligung stattfand. ... Ob
Maria durch dieselbe, wie alle anderen Menschen, von dem bereits
eingetretenen Makel der Erbsünde nachträglich befreit oder in ihrer
Empfängnis vor dem Eintritt dieses Makels bewahrt worden ist“, ist
weniger wichtig als ihre tatsächliche Heiligung; daraus folgt, dass sie in
allen ihren Handlungen sich nur am Willen Gottes orientierte. Wenn
Johannes, der Vorläufer Jesu, vor seiner Geburt schon geheiligt wurde,
dann war die außerordentliche Heiligkeit Marias viel mehr: Sie ist „bis in
den ersten Augenblick ihres Daseins und mithin bis in ihre Empfängnis
zurückzuverlegen.“55
„Diese Heiligkeit Marias und ihres Sohnes muss daher von ihrem Gemahl erkannt worden sein. Er wurde deswegen in einzigartiger Weise ein Hüter
des Geheimnisses, das »von Ewigkeit her in Gott verborgen war« (vgl. Eph 3,
9), so wie es Maria in jenem entscheidenden Augenblick wurde, den der
52
53
54
55
BERNHARDIN VON SIENA, Sermo 2: In vigilia nativitate Domini de sancto Josef,
Gesamte Werke, Band 7, Quaracchi 1959 S. 16.
M. J. SCHEEBEN, Handbuch der Katholischen Dogmatik, Tomo V/2, n. 1667.
Breve „Sollicitudo omnium ecclesiarum“, DH 2015-2017.
SCHEEBEN, § 1666. Scheeben weist darauf hin, dass Johannes schon im
Mutterschoße geheiligt wurde, wie viele Theologen und Kirchenväter
annehmen, gemäß dem Wort des Propheten Jeremia (Jer 1,5). Siehe die Note 1
del § 279.
Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie
57
Apostel die »Fülle der Zeit« nennt, ... Der erste Hüter dieses göttlichen
Geheimnisses ist Josef, zusammen mit Maria. Zusammen mit Maria – und
auch in Beziehung zu Maria – hat er, und zwar von allem Anfang an, teil
an diesem entscheidenden Abschnitt der Selbstoffenbarung Gottes in
Christus.“56
Fray Luís de Granada erklärt in seinem Buch „Jesus Christus, der Erlöser“, was Josef empfunden haben mag, als er vor einem solchen Wunder
der Heiligkeit stand, als er von der Heiligkeit Marias und der Frucht ihres
Leibes durch den Heiligen Geist erfahren hat: „Wenn ein reines und
heiliges Herz sich von solchen Mysterien umgeben, oder noch besser berührt fühlt, was empfindet es, was täte und wie fühlte es sich dann? Würde
es nicht erstaunt, entzückt und sprachlos sein über solche Wunder und
Größe, die der Heilige Geist den Gerechten gibt, und über die Geheimnisse, die er ihnen offenbart?“57
Als Anekdote kann man den Dialog zwischen Pius IX. und dem Maler
Barti hinzufügen: Nach der Definition der Unbefleckten Empfängnis
Marias 1854 hatte man einem der besten Maler Roms die Darstellung der
Proklamation dieses Dogmas anvertraut. Eines Tages kam Pius IX. zum
Künstler und fragte nach der Betrachtung des Gemäldes: „Wo ist der hl.
Josef?“, worauf der Maler antwortete: „Hier, Heiliger Vater“, und wies auf
eine Gruppe Auserwählter. „Das ist nicht sein Platz“, sagte sofort der
Papst; „Sie müssen ihm den gleichen Rang einräumen, den Gott ihm auf
der Erde gab: sehr nahe an Jesus und Maria“. Und so wurde er gemalt!
Man muss sich diese grandiose und phantastische Malerei, die sich im
Vatikan befindet, ansehen. Josef ist ein wenig hinter der heiligsten Maria,
aber vor allen anderen Heiligen stehend, zu sehen.58
Die Verdienste des hl. Josef sind nach Meinung der letzten Päpste nach
den Verdiensten Marias die größten: „Eben an diesem Geheimnis «hatte»
Josef von Nazaret «teil», weil er wie kein anderes Geschöpf erhaben ist,
ausgenommen Maria, die Mutter des menschgewordenen Wortes.“59
Das alte Formular für die Messe zur Hochzeit des Heiligsten Paares am
23. Januar hatte nach jedem Gebet die Commemoratio ad memoriam des hl.
56
57
58
59
JOHANNES PAUL II., Redemptoris custos, n. 5.
L. DE GRANADA, Jesucristo Redentor, Madrid 1947, S.748.
Siehe R. GAUTHIER, Saint Joseph notre intercesseur le plus puissant aprés la Vierge
Marie, Montrèal 2004, S. 10.
JOHANNES PAUL II., Apostolisches Schreiben Redemptoris custos, n. 1.
58
German Rovira
Josef, die im allgemeinen die Verdienste des Heiligen nennen; so sagt die
Memoria im Tagesgebet dieses Festes: „Gib uns, wir bitten Dich, Herr,
durch die Verdienste des Bräutigams deiner seligsten Gebärerin, dass Du
uns gewährst, was uns ohne Deinen Beistand nicht möglich ist zu erreichen.“60
„Die Liebe der Ehegatten gründet sich auf den «ehelichen Glauben», auf
den Glauben, den einer in den anderen hat, wie die christliche Liebe sich
auf den Glauben an Gott gründet“.61 Glaube, Hoffnung und Liebe sind
immer die höchsten Tugenden eines Heiligen; diese zeichneten Maria und
Josef aus. Sie gaben ihrem Sohn, dem Sohn Gottes, in der Familie, wozu
sie sich verpflichtet fühlten.
„Während ihres ganzen Lebens, der ein Pilgerweg im Glauben war,
blieben Josef und Maria dem Ruf Gottes treu. Das Leben Mariens war die
äußerste Erfüllung jenes ersten fiat, das sie bei der Verkündigung gesprochen hatte, während Josef, wie bereits gesagt wurde, bei seiner «Verkündigung» kein Wort hervorbrachte: er «tat» einfach, «was der Engel des
Herrn ihm befohlen hatte» (Mt 1,24). Und dieses erste «Tun» war der Anfang
von «Josefs Weg».“62
Die Liebe in der Heiligen Familie
„Die Ehe ist nicht nur ein Heim der Liebe. Sie ist auch eine Gemeinschaft oder eine Gesellschaftsform, in der jeder eine bestimmte Rolle
spielt.“63 Dies ist ein sich immer wiederholendes Prinzip der menschlichen
Gesellschaft. Auch in der Kirche, angefangen bei den Kirchenvätern und
bei allen christlichen Schriftstellern, ist dieses Prinzip das Argument, mit
dem sie die Ehe zwischen Maria und Josef begründen: Der Schöpfer der
Familie, Jesus, wollte wie jeder Mensch in einer Familie aufwachsen. Da er
die Familie in das Göttliche aufgenommen hat, konnte er der Ehe die
Würde eines Sakramentes geben.64
60
61
62
63
64
MISSALE ROMANUM, Commemoratio S. Joseph, Ratisbonae 1941, S. [139].
A.-M. HENRY, Die Ehe, in: Die katholische Welt, Band III., Freiburg 1961, S.
658.
JOHANNES PAUL II., Redemptoris custos, n. 17.
A.-M. HENRY, a.a.O., S. 680.
Vgl. JOHANNES PAUL II., Redemptoris custos, vom 15.8.1989, n. 21
Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie
59
In der Tradition der Kirche und auch in einer längeren Tradition des
jüdischen Volkes ist das Hohelied ein Bild für die Liebe Gottes zu seinem
Volk und in übertragenem Sinn für die Liebe auch unter den Menschen.
„Im ganzen Alten Testament nimmt eine Heilsgeschichte Gestalt an, bei
der sowohl männliche als auch weibliche Gestalten mitwirken. Die Begriffe
von Bräutigam und Braut und auch von Bund, durch die sich die Dynamik
des Heiles auszeichnet, haben gewiss eine offenkundig bildliche Dimension, sind aber doch viel mehr als bloße Metaphern.“65
Mag sein, dass das Hohelied nach dem Hagiographen vielleicht eine
Nachahmung bzw. eine mehr oder weniger bewiesene Anlehnung an ein
Hochzeitslied der Ägypter ist. Das kann möglich sein, aber zweifelsohne ist
dieses Liebesgedicht ein Liebeslied Israels. Welcher Vorlage der Dichter
sich bediente, ob des Mythos der Liebe zwischen der Göttin Inanna
(Mesopotamie) oder Istarch (Ägypten) und Dumuzi-Tamuz66, ist für den
hohen Wert dieses Buches der Heiligen Schrift nebensächlich. Die Interpretation der meisten modernen Autoren bleibt eine historisch-kritische
Auslegung schuldig, wie Christoph Uehlinger aufweist.67
Der Targum und Talmud geben dem Hohelied eine allegorische Interpretation: Gott ist der Bräutigam und das Volk Israel die Braut, und es
„besingt die mystische Vermählung des Herrn mit dem auserwählten Volke.“ 68
Wichtig ist, dass „im Gebrauch dieser Weise der Offenbarung das
Hohelied zweifelsohne von herausragender Bedeutung ist. In den Worten
einer ganz und gar menschlichen Liebe, welche die Schönheit der Leiber
und das Glück der gegenseitigen Suche besingt, kommt auch die göttliche
Liebe für sein Volk zum Ausdruck. Die Kirche ist deshalb nicht in die Irre
gegangen, wenn sie in der kühnen Verbindung des ganz und gar Menschlichen mit dem ganz und gar Göttlichen durch die Verwendung derselben
Ausdrücke das Mysterium ihrer Beziehungen zu Christus erkennt.“69 „Seit
den ersten christlichen Generationen betrachtet sich die Kirche als Ge-
65
66
67
68
69
GLAUBENSKONGREGATION, Schreiben über Das rechte Verständnis der aktiven
Zusammenarbeit von Mann und Frau, vom 31.5.2000, n. 9.
M. SIGRIT und O. KOEL, in: Welt und Umwelt der Bibel, S. 15-20 bzw. 27-31,
n° 21, 3. Quartal 2001.
Vgl. Anthologie oder Dramaturgie, in: Welt und..., o.e., S. 35-39.
H. LUSSEAU, Die übrigen Hagiographen, in: A. ROBERT u. A. FEUILLET, Einleitung
in die Heilige Schrift, Band I, Wien 1966, S. 654 – 657.
GLAUBENSKONGREGATION, Schreiben vom 31.5.2000, n. 9.
60
German Rovira
meinschaft, die von Christus gezeugt wurde und durch eine Beziehung der
Liebe an ihn gebunden bleibt.“70
Johannes vom Kreuz macht daraus eine schöne Abwandlung der Liebe
Gottes zur einzelnen Seele, besonders derjenigen, die das Mystische
sucht.71 Alle anderen geistlichen Schriftsteller, wie Bernhard von Clairvaux72, Luis de León73, Luís de la Puente74 und viele mehr, deuten das
Hohelied in spirituellem Sinn als ein Gedicht über die Liebe Gottes zu den
Menschen, insbesondere zu der Jungfrau Maria. Das weicht zwar sehr ab
von der Auslegung des Hagiographen, aber ist in allegorischem Sinn möglich. Dieses Gedicht besingt dann auch die Liebe in der Heiligen Familie.
Hb ist das meist gebrauchte Schriftwort der Bibel für Liebe im Allgemeinen, nicht nur, wie man als Resultat einer oberflächlichen Betrachtung deuten könnte, für die Liebe zwischen Mann und Frau. Es drückt
genauso die Liebe in der Familie, die Liebe der Eltern zu ihren Kindern
und dieser zu ihren Eltern aus.75 In dieser Hinsicht verwendet man den
Ausdruck auch für die Beziehungen Gottes zu seinem Volk, das seine
Tochter oder seine Braut ist.76 Dementsprechend wird auch das Wort Hb
in der Heiligen Schrift benutzt für die Liebe im übernatürlichen Sinn: für
die mystische Erfahrung und den Ausdruck der Zuneigung oder sogar
Anhänglichkeit an Gott77: „Das biblische Denken (verwechselt) die Liebe
nicht mit dem Zeugungsakt.“78 „Menschliche Sexualität ist für das Alte
Testament eine positive, kreative, lebendige und manchmal auch instabile,
potentiell chaotische Kraft.“79 Und in diesem Sinne war die Ehe von Gott
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
GLAUBENSKONGREGATION, Ebd. n. 16.
K. KAVANAUGH, Die Ursprünge der karmelitischen Bewegung, in: L. DUPRÉ u. a.,
Geschichte der christlichen Spiritualität, III. Band, Würzburg 1997, S. 104-107.
Siehe B. PENNINGTON, Die Zisterzienser, in: B. MCGIN u.a., Geschichte der
christlichen Spiritualität, Band I., Würzburg 1993, S. 225 f.
L. DE LEON, El Cantar de los cantares, Obras Completas I, BAC, Madrid.1957, S. 71218.
Siehe J. O’MALLEY, Frühe jesuitische Spiritualität, in: L. DUPRÉ, a.a.O., S. 42-49.
Siehe R. DE VAUX, Les institutions des L’Ancien Testament, Band 1, Paris 1961, S.
37-43 und 71-87.
Siehe z. B. Jes 49,18; 61,10; 62,5.11; Jer 14,17; Klgl 2,13.15 usw.
Jer 2,32; 33,11; Sach 1,16-17;Ps 109,4-5; Hos 11,4; usw.
M.-C. HALPERN, Die Frau in der Bibel, in: G. STERBERGER U. M. PRAGER, Die
Bibel, Band 5, Salzburg 1984,, S. 2317.
A. BERLEJUNG, Liebe und Eros im Kulturraum des Vorderen Orient, in: Welt und
Umwelt der Bibel, a. a. O., S. 3-7.
Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie
61
gewollt, anders als bei den Griechen, wo sie eher eine Liaison war, die auch
eine „religiöse“ Komponente haben konnte wie die kultische oder rituelle
Prostitution. Bei den Juden war auch die Prostitution vorhanden, und davon geben die Propheten und sogar die historischen Bücher Zeugnis,
wurde aber immer als eine Verfehlung oder widrige Tat angesehen.
Die Ehe war gleichzusetzen mit Familie. Und darum geht es bei Maria
und Josef: Sie bildeten eine Familie, auch bevor das Kind kam. „Das im
Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen den Menschen am
tiefsten und reichsten erfüllende Leben in der Liebe ist das in der Familie
und in der Wirklichkeit der dieser wesenseigenen Werte. ... (Es) gibt keine
beglückendere Wesenserfüllung des Menschen als das durch das Liebesverlangen des Menschen zum Menschen am allseitigsten erfüllende Leben
der Liebe in der Familie.“80
Das war von Gott gewollt: Die Eltern Jesu sollten sich lieben, und von
dieser Liebe sollte der menschgewordene Gott lernen und die ersten Erfahrungen der Liebe als Mensch machen. „Dies ist die Urerfahrung des
Menschen: Als Kleinkind ist er ganz abhängig von den Eltern, erfährt deshalb die sorgende Liebe derselben. ... Nicht Angst und Hass, sondern die
Liebe und Geborgenheit in ihr (der Mutter) bilden das das Daseinsgefühl
zuerst bestimmende Erlebnis des Menschen. ... Durch die Liebe in der
Familie lernt der Mensch auch über die Liebe, die er dem Mitmenschen
überhaupt schuldet.“81
Die Verbindung zwischen Maria und Josef war also von der Vorsehung
gewollt; der Grund dafür ist auch evident, aber die Umstände sind es nicht.
Leo XIII. vertritt die Meinung: „Weil aber zwischen Josef und der seligen
Jungfrau das Eheband bestand, reifte er selbst zweifellos wie sonst niemand mehr zur vorzüglichsten Würde heran, in der die Gottesgebärerin
alle geschaffenen Naturen bei weitem überragt. Die Ehe ist nämlich die
engste Gemeinschaft und Beziehung, die ihrer Natur nach mit der gegenseitigen Gütergemeinschaft verbunden ist. Wenn deshalb Gott der Jungfrau Josef zum Bräutigam gab, gab er ihr sicherlich nicht nur einen
Lebensgefährten, einen Zeugen der Jungfräulichkeit und einen Beschirmer
80
81
J. MESSNER, Kulturethik, Innsbruck 19542, S. 306; diesbezüglich vgl. vom
gleichen Autor, Die soziale Frage, Innsbruck 19566, S. 553-570.
J. MESSNER, a.a.O., S. 113 f.
62
German Rovira
der Tugend, sondern kraft des Ehebundes selbst auch einen Teilhaber an
ihrer hervorragenden Würde.“82
Der Terminus bêt, mit dem die Familie in der Bibel bezeichnet wird,
deutet gleichzeitig das „Haus“ oder besser noch das „Zuhause“ des
Mannes an, in das die Frau aufgenommen wird: Das Haus ist von dem
Augenblick der Heimführung an ihr Zuhause.83 „In der biblischen
Tradition wie auch nach dem Zeugnis anderer profaner Schriften war in
der patriarchalisch organisierten Familie der Mann der Eigentümer (ba‘al)
seiner Frau.“84 Heute gründet die Autorität des Mannes weder auf Verdienst noch auf Tugend, und so war es wahrscheinlich auch bei Josef und
Maria. „Die Autorität des Mannes ist keine Auszeichnung, kein Zeichen
persönlichen Wertes, sondern eine bloße soziale Funktion.“85
Die Ehe war bei den Hebräern etwas, worüber Gott waltete. Die Polygamie war ihnen fremd, im Prinzip heidnisch, vom verworfenen Stamm
Kains stammend.86 Die Tatsache, dass die Polygamie auch bei den
Patriarchen vorkommt, gilt nicht für die Zeit Jesu. „Die Einehe war als
Ideal angesehen; in Israel kam man sehr bald zu dieser Auffassung.“87 Eine
ernste Betrachtung der Institution Ehe in hebräischen Kreisen, verglichen
mit der Institution Ehe in der römischen Welt scheint die Worte Christi zu
bestätigen: „Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch erlaubt, eure
Frauen aus der Ehe zu entlassen. Am Anfang der Schöpfung aber war das
nicht so.“(Mt 19,8) „Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und
bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch.“ (Gen 2,24)88
„Theoretisch konnte in Israel wie bei seinen Nachbarn (außer in
Assyrien) auch die schwer beleidigte Frau die Scheidung verlangen. Doch
erlaubte das Verfahren – das für den Mann im Allgemeinen ziemlich leicht
war – der Frau nur in den seltensten Ausnahmen einem grausamen oder
ungerechten Gatten zu entrinnen. ... In allen Ländern des Nahen Ostens
bestrafte man den Ehebruch – besonders den der Gattin – mit äußerster
Härte.“89
82
83
84
85
86
87
88
89
LEO XIII., Quamquam pluries vom 15.8.1889, n. 3260 DH 3260.
R. DE VAUX, a.a.O. S. 39/48.
M.-C. HALPERN, Die Frau in der Bibel, a.a.O., S. 2318.
A.-M. HENRY, a.a.O., S. 682.
R.DE VAUX, a.a.O., S. 45-48.
M.-C. HALPERN, a.a.O., S.2318.
J. FELTEN, Neutestamentliche Zeitgeschichte, Band 1, Regensburg 1925, S. 472.
M.-C. HALPERN, Die Frau in der Bibel, a.a.O., S. 2318 f.
Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie
63
In Elefantine, das im 6. Jahrhundert vor Christus eine wichtige
hebräische Kolonie am Nil war, kamen die Israeliten ziemlich früh zu dem
Entschluss, die Frauen könnten auch die Scheidung erreichen; es blieb aber
eine „theoretische“ Frage, etwas für Schriftgelehrte. Dies erklärt, dass nach
Markus, der sich mit Petrus in Rom aufhielt, wo die Frau die Scheidung
erreichen konnte, Jesus vor seinen Jüngern erklärt: „Wer seine Frau aus der
Ehe entlässt und eine andere heiratet, begeht ihr gegenüber Ehebruch.
Auch eine Frau begeht Ehebruch, wenn sie ihren Mann aus der Ehe entlässt und einen anderen heiratet.“ (Mk 10,11-12) Dass aber eine Frau den
Mann aus der Ehe entlässt, war für die Juden unverständlich, wie sich bei
den anderen Sypnotikern erweist (vgl. Mt 5,31-32 bzw. Lk 16,18).
Das römische Recht erlaubte aber die Scheidung vonseiten der Frau. Es
scheint der Frau mehr Rechte zu gewähren und präjudiziert eine Gleichheit
der Geschlechter. „Die Braut trat durch das Verlöbnis in dasselbe rechtliche Verhältnis zu ihrem Bräutigam wie die Ehefrau zu ihrem Ehemann.“90
So hat die Kirche nach dem Wort des Herrn und zum Wohle der
Familie das römische Recht als Richtschnur des kanonischen Rechtes
übernommen. Die Ehe von Maria und Josef war von einer viel erhabeneren Qualität als die rechtliche Ehe bis dahin; aber sie stützte sich auf
das Gebot Gottes von Anfang an (Gen 1,27/2,24), so wie Jesus es später
verkündete: Menschlich hatte er immer seine Familie vor Augen, wenn er
in seiner Verkündigung über die Familie sprach.91
Das Kind in der Familie
Bevor diese Überlegungen enden, müssen wir betrachten, wie das Kind
in der Heiligen Familie aufgenommen wurde.
90
91
J. FELTEN, Neutestamentliche Zeitgeschichte, Band 2, Regensburg 1925, S. 472-473
und 456-458: 4 Arten von Eheschließung, „die vierte und zu Anfang der
Kaiserzeit gewöhnlichste Form der Eheschließung, welche später die ausschließliche wurde, war eine freie Ehe ohne Übergabe der Frau ... Eine Frau,
welche eine solche Ehe einging, blieb auch während derselben in der Gewalt
ihres eigenen Vaters“ (S. 458).
J. PLESSIS, El Mesias anunciado en el Antiguo Testamento, in: Christo, Enciclopedia
popular de la Doctrina Cristológica, Madrid 1951, S. 75. Siehe auch P. VIGUÉ,
La psicología de Cristo, in: ebd, S. 299-301.
64
German Rovira
Die Tradition des Ochsen und des Esels an der Krippe geht auf Jesajas
Prophezeiung (Jes 1,3) zurück: „Der Ochse kennt seinen Besitzer und der
Esel die Krippe seines Herrn“. Maria und Josef – so sehen wir sie an der
Krippe – haben danach bei der Geburt des Herrn nur diese beiden
stummen Zeugen. Was macht es uns: Wir glauben trotzdem. Die Heilige
Tradition und das Evangelium sind unsere Zeugen. Wir sind von der jungfräulichen, wunderbaren Geburt unseres Herrn in Betlehem überzeugt
trotz der Aussagen einiger Pseudowissenschaftler, die das bestreiten.92
Gott und seine Engel sind uns glaubwürdiger.
Es fehlt nicht an allegorischen Deutungen für die Anwesenheit dieser
beiden Tiere an der Krippe. Die geläufigste besagt, dass der Ochs, der als
Vertreter der reinen Tiere gilt, für die Treuen und „Armen“ des Volkes
Israel steht, die Awarim, die ecclesia ex Iudeis; während der Esel als unreines
Tier die bekehrten Heiden vertritt, die ecclesia ex gentibus. Beide hätten
Christus als den Messias oder Erlöser erkannt und ihn als den Sohn Gottes
bekannt: Vom Geist geleitet, seien sie zur Krippe gekommen und hätten
ihn angebetet. Ochs und Esel hätten Jesus ihre Dienste erwiesen und ihn
mit ihrem Hauch in der kalten Nacht dieser Welt erwärmt. So vertreten sie
uns, wenn wir dem Werk der Heiligung der Menschen assoziiert werden.
Eine zweite Deutung sieht eine Parallele der Krippe mit dem Kreuz:
Holz, Nacktheit, Armut sind die Umstände der beiden Lebensabschnitte,
des Anfangs und des Endes. Durch den Ochsen würde das Heil angedeutet, weil er als Opfertier bevorzugt wurde; und der Esel stünde da als
Zeichen der Störrischkeit des Volkes Israel oder auch für den Schächer,
der mit Christus gekreuzigt wurde und sich weigerte, Jesus um Verzeihung
für seine Untaten zu bitten.
Eine dritte Erklärung für die Präsenz des Ochsen an der Krippe weist
wiederum auf das Kreuz hin, auf das Opfer Jesu für uns; und der Esel,
damals wie heute Lasttier, auf das Tragen unserer Schuld mit Christus, dem
Menschensohn, der auf seinen Schultern die Sünden aller Menschen trägt
und am Kreuze für uns stirbt.
Der hl. Josefmaria, der Gründer des Opus Dei, hat einen sympathischen
Vergleich des Esels mit den apostolischen Männern hergestellt: „Wunderbare Beharrlichkeit des Esels am Schöpfrad des Brunnens! – Immer im
gleichen Schritt. Immer die gleichen Runden. – Ein Tag und noch einer,
alle gleich. Ohne das würden die Früchte nicht reif, der Garten nicht
92
Vgl. z. B. M. KOSCHORKE, Jesus war nie in Bethlehem, WBG 2007.
Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie
65
üppig, und seine Beete blieben ohne Duft. Nimm diesen Gedanken für
dein inneres Leben.“93 Danach sollen die Christen wie gute Cyrenäer das
Kreuz mit dem Herrn tragen und die Last des Alltags erdulden: „Wenn du
ein armes Holzkreuz siehst, einsam, erbärmlich, wertlos und ohne Gekreuzigten, dann wisse, dass dieses Kreuz dein Kreuz ist: das Kreuz jeden
Tages, verborgen, ohne Glanz und ohne Trost. Es wartet auf seinen Gekreuzigten. Dieser Gekreuzigte musst du sein.“94
Deshalb ist die Krippe mit Ochs und Esel der Lehrstuhl der Demut95
wie auch des Kreuzes. Wenn wir die Lehre Christi, die er uns in Betlehem
erteilt hat, erfassen wollen, sollen wir trotz unserer Störrischkeit und
Schwerfälligkeit vom Kind Jesus lernen.
Die Frage ist dann: Warum ist Gott ein Kind geworden?96 Gott wollte
uns erlösen und uns den Weg des Heiles zeigen, und deswegen ist er einer
von uns geworden. Der eingeborene Sohn Gottes ist Kind geworden, um
die für unsere Erlösung „notwendige“ Echtheit seiner Menschennatur zu
beweisen; notwendig insofern der Sohn Gottes „ ... mit menschlicher
Natur ... gearbeitet, mit menschlichem Geist gedacht, mit menschlichem
Willen gehandelt, mit menschlichem Herzen geliebt hat. Geboren von
Maria, der Jungfrau, ist er in Wahrheit einer von uns geworden, in allem
uns gleich außer der Sünde.“97
Gerade deshalb, weil Gott uns gleich geworden ist, ergeben sich viele
Konsequenzen und Antworten aus der gestellten Frage: Wir lernen zum
Beispiel, was es heißt ein Kind zu werden (Mt 18,3/19,13). Die Abhängigkeit erscheint für Menschen entwürdigend; nicht aber die Abhängigkeit
von Gott und von den Menschen, die in der Liebe besteht.
So großzügig ist Gott in seiner Heilspädagogik, mit der er uns ein Beispiel gibt – wie bei der Fußwaschung und der Ankündigung des Neuen
Gebotes (Joh 13,1-20.34) oder in Betlehem, wo er seine Unmündigkeit aus
Liebe zu uns vorlebt, in der Abhängigkeit von Maria und Josef. Diese
Bilder sollen uns lehren, sich nicht davor zu fürchten, aus Liebe auf unsere
93
94
95
96
97
J. ESCRIVÁ DE BALAGUER, Der Weg, Köln 19822, n. 998.
Ebd. n. 178.
Ebd. n. 432 und Christus begegnen, Köln 19785, n. 14, S. 54 ff.
Siehe F. HOLBÖCK, Warum ist Gott ein Kind geworden ? - Gründe, Vorbilder und
Gebete der Jesuskind-Verehrung, Christiana Verlag, Stein am Rhein 1982 (3.
Auflage).
2. VATIKANISCHES KONZIL, Gaudium et spes, 22,2. Siehe auch KKK, n. 470.
66
German Rovira
vermeintliche Würde und beanspruchten Rechte zu verzichten, um gehorchen zu können.
Gott ist ein Kind geworden, damit wir lernen, von Maria, der Jungfrau98,
alles empfangen zu wollen. Wir sollen es als schön und kindlich empfinden, auf ihre Mütterlichkeit angewiesen zu sein. Diese Abhängigkeit ist
wiederum eine Lehre der Krippe, die auch verglichen werden kann mit der
am Kreuz: „Siehe, deine Mutter!“ (Joh 19,27).
Jesus, der Sohn Marias und, wie auch Johannes Paul II. ihn anerkannte,
der Sohn Josefs99, hat Vieles von seinen Eltern gelernt: die Sprache, die
Sitten seines Volkes, das Menschsein bzw. wie ein Mensch zu leben und
sich zu benehmen; und so sollen wir von Maria und Josef lernen, für das
alles bereit zu sein, was Gott von uns erwartet und zwar mit Demut und
Dankbarkeit.
Wir müssen als Kinder Gottes und der Kirche auch bereit sein, die richtige Antwort auf die uns gestellten Fragen bezüglich des Evangeliums und
der Tradition gemäß der Lehre der Kirche zu geben. So lernen wir die
wahre Armut, die Reinheit des Herzens, die Friedfertigkeit, die gesamte
Botschaft der Seligpreisungen.
Die Botschaft der Krippe und des Kreuzes können wir an der Haltung
Marias erlernen, gemäß der Worte Johannes Pauls II.: „Gerade an dieser
»sich erbarmenden« Liebe, die vor allem bei der Begegnung mit dem
moralischen und physischen Übel wirksam wird, hatte das Herz derer, die
dem Gekreuzigten und Auferstandenen Mutter war, in außergewöhnlicher
Weise Anteil. In ihr und durch sie offenbart sich die erbarmende Liebe in
der Geschichte der Kirche und der Menschheit.“100 „Wir sehen Maria, die
das Haus des Zacharias betritt, aus ganzer Seele den Herrn preisen für »sein
Erbarmen von Geschlecht zu Geschlecht über denen, die ihn fürchten«. Gleich
darauf erwähnt Maria Gottes Huld für Israel und rühmt die Erwählung
Israels, »das Erbarmen«, an das er, sein Erwähler, eh und je »denkt«. Später,
im selben Haus, lobpreist bei der Geburt Johannes des Täufers dessen
Schon von Anfang an pflegen die Kirchenväter immer diese Eigenschaft dem
Namen Marias hinzuzufügen. Vgl. Ignatius von Antiochien.
99 JOHANNES PAUL II., Apostolisches Schreiben Redemptoris Custos, vom 15.
8.1989, n. 21.
100 Johannes Paul II., Enzyklika Dives in misericordia, n. 9
98
Die Heilige Familie als Vorbild für die christliche Familie
67
Vater Zacharias den Gott Israels und verherrlicht »sein Erbarmen mit
unseren Vätern«, und dass er »seines heiligen Bundes gedachte«.“101
Das Lukasevangelium sagt: „Als sie (Maria und Josef) dort waren (in
Betlehem), kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft, und sie gebar ihren
Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine
Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.“ (Lk 2,6-7) Diese
Worte enthalten ein Geheimnis: Weil sie keinen anderen Platz gefunden
haben, gebar sie im Stall und hüllte das Kind in Windeln. Wir brauchen
keine andere Erklärung oder Spekulation: Maria handelte wie eine Mutter!
Das Matthäusevangelium ist noch nüchterner: „Als Jesus … in Betlehem
in Judäa geboren worden war“ (Mt 2,1), und dann beginnt sofort die
Erzählung über die Magier. Eines aber fügte Matthäus bei der Anbetung
dieses „hohen“ Besuches bei der Heiligen Familie hinzu: „Sie gingen in das
Haus und sahen das Kind und Maria, seine Mutter“ (Mt 2,11). Auch eine
Kleinigkeit, die aber Vieles über die Sorgfalt Marias und die Ehrfurcht vor
Jesus sagt.
Danach folgt die Flucht nach Ägypten, die von der Fürsorge des hl.
Josef für die Familie spricht: Er ist ein Mensch des Gebetes und erhält die
Anweisungen vom Herrn. Er kümmert sich sorgfältig um das Kind und
seine Mutter: „Da stand Josef in der Nacht auf und floh mit dem Kind und
dessen Mutter nach Ägypten.“ (Mt 2,14)
Dies sind die wenigen Texte der Evangelien, die sehr beredt von der
Liebe Marias und Josefs zu dem Kind sprechen: auch von der Angst, mit
der sie Jesus gesucht haben“ (Lk 2,48). Alles ist natürlich. Wir können hier
abgewandelt ein Wort Goethes an die Herzogin Louise verwenden, um zu
erklären, was natürlich ist: Die Naturwerke sind immer ein zuerst ausgesprochenes Wort Gottes.
101
Ebd. n. 5.
Die Heilige Familie
Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen1
Stefan Samerski
Ausgehend von den grundlegenden Aussagen der Bibel möchte ich die
verschiedenen ikonographischen und historischen Stationen der Frömmigkeitsform Heilige Familie beleuchten. Der Schwerpunkt meiner Beobachtungen liegt auf den beiden unzweifelhaften Höhepunkten des Kultes:
auf der Barockzeit und dem 19. Jahrhundert. Dabei möchte ich mit den
exegetischen Grundlagen beginnen, um dann in einem Streifzug durch die
östliche und westliche Kunstgeschichte bis zur Moderne hin Entwicklungslinien aufzuzeigen. Im dritten, frömmigkeitsgeschichtlichen Teil
soll der Heilige-Familie-Kult in seiner Funktionalität und Verortung in der
Kirchen- und Gesellschaftsgeschichte herausgestellt werden. Diese Ausführungen erheben nicht den Anspruch auf inhaltliche und thematische
Vollständigkeit.
An dieser Stelle sei betont, dass diese Beobachtungen zur Hl. Familie
nicht einem historiographischen oder folkloristischen Selbstzweck dienen
sollen, sondern dass diese Thematik von brennender Aktualität für das
Hier und Jetzt ist. Im gesellschaftlichen Diskurs ist man sich weitestgehend
darüber einig, dass die virulenten Probleme von Staat und Öffentlichkeit
wie Drogenkonsum, negative Pisa-Ergebnisse, Jugendkriminalität und
Kindstötungen auf ein nicht intaktes oder weitgehend fehlendes Familienleben zurückzuführen sind. Die Familie ist und bleibt nicht ohne Grund
nach christlichem Verständnis die Kernzelle der Gesellschaft, was bei jeder
sich bietenden Gelegenheit herausgestrichen werden muss! Wo die Familie
nicht mehr verteidigt wird oder gar nicht mehr existent ist, wird am Ende
Anarchie an ihre Stelle treten.
1
Ich danke herzlich Herrn David Brähler/München für seine freundliche
Unterstützung bei der Recherche für diesen Vortrag.
70
Stefan Samerski
1. Exegese
In einem ersten Blick auf die Bibel wird sofort erkennbar, dass nur die
Evangelisten Matthäus und Lukas die Geburt und Kindheit Jesu thematisieren.2 Matthäus, dessen Evangelium das wichtigste der alten Kirche war,
berichtet über die Geburt Jesu – ohne ausführlicher auf die Verkündigung
einzugehen –, die Huldigung der drei Weisen (Mt 2,1-12), die Flucht nach
Ägypten (Mt 2, 13-15) und den Kindermord durch Herodes.3
Dem gegenüber setzt Lukas andere Schwerpunkte: Er schreibt nichts
über die Episoden um die drei Weisen, die Flucht und Rückkehr aus
Ägypten mit dem zwischengeschalteten Kindermord in Bethlehem, sondern betont stattdessen die Verkündigung (Lk 1,26-38) und deutet die für
die volksfromme Kultur so wichtige Herbergssuche (Lk 2,7). Weiter finden
wir bei ihm die Huldigung der Hirten (Lk 2,8-20), die Darbringung im
Tempel (Lk 2,21-38) und die Auffindung des zwölfjährigen Jesus im
Tempel (Lk 2,41-50). Es fällt auf, dass die gerade für den späteren Kult der
Hl. Familie so bedeutsamen Szenen um die Flucht nach Ägypten im
Lukasevangelium nicht erwähnt werden, sondern die Hl. Familie lässt sich
nach Lukas ohne nähere Begründung direkt nach der Darbringung im
Tempel in Nazareth nieder (Lk 2,39).
Joseph, Maria und das Kind Jesus bilden eine Familie, eine Gemeinschaft, die in einem Haus zusammenlebt. Maria und Joseph sind durch die
Ehe miteinander verbunden (Mt 1,20; Lk 2,4). Sinn und Zweck dieser Ehe
aber ist das Kind Jesus, das Maria nicht auf natürliche Weise, sondern vom
Heiligen Geist empfangen hat (Mt 1,18.20). Die Familie entsteht durch die
Geburt des Kindes. Jesus wird in der Öffentlichkeit für den Sohn Josephs
gehalten (Lk 3,23) und Joseph gilt vor dem Recht als Vater Jesu, was in
den aufgezeichneten Stammbäumen der Evangelisten deutlich wird (Mt
1,2-16; Lk 3,23-38). Lukas benennt weiterhin Joseph und Maria zusammen
ohne Bedenken als „Eltern” Jesu (Lk 2,27.41.43), weil er über die jungfräuliche Empfängnis ausführlich gesprochen hat (Lk 1,26-38). Dass Joseph in
2
3
Alle folgenden Stellenangaben aus: Die Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und
Neues Testament, Freiburg 1980.
Vgl. zum folgenden Abschnitt: A. STÖGER, Art. Familie, Heilige, I. Exegese, in: R.
BÄUMER/L. SCHEFFCZYK (Hg.), Marienlexikon, Bd. 2, St. Ottilien 1989, 438f.;
Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hg. von G. FRIEDRICH, Bd. 5,
Stuttgart 1965, 132-136; H. ERLEMANN, Die Heilige Familie. Ein Tugendvorbild der
Gegenreformation im Wandel der Zeit. Kult und Ideologie, Münster 1993, 23.
Die Heilige Familie - Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen
71
einem anderen Verhältnis zu Jesus steht als Maria, drückt Matthäus aus,
wenn er die Redewendung „das Kind und seine Mutter” gebraucht
(2,11.13.14.20.21). Doch übt Joseph selbstverständlich die Rechte des
Vaters aus, da er, als Haupt der Familie, von Gott Offenbarungen und
Aufträge erhalten hat, wie z. B. dem Kind seinen Namen zu geben (Mt
1,21 anders als bei Lk 1,31). Er ist es, der die Flucht, die Rückkehr und
Ansiedlung in Nazareth leiten soll (Mt 2,13f., 19-23), was er auch getreu
ausführt.
2. Ikonographie
Ein erster Zugang zur kultgeschichtlichen Entwicklung der Hl. Familie
bietet sich uns über die Kunst. Die christliche Kunst entwickelte ihre
Motive zunächst aus den Erzählungen des Matthäus- und Lukasevangeliums sowie aus den apokryphen Kindheitsevangelien.4 Die Knappheit dieser schriftlichen Quellen lassen auch für uns heute noch vieles aus
den ersten Lebensjahren Jesu im Dunkeln. In der Geschichte sah man zu
allen Zeiten in dem 30 Jahre währenden – verborgenen – Leben Jesu in der
Heiligen Familie ein bedeutungstiefes Mysterium, das besonders die frühen
Schriftsteller dazu anregte, ergänzende Berichte, Erzählungen und Legendentexte, wie sie uns z. B. in den apokryphen Evangelien vorliegen, zu
verfassen.5
Betrachtet man die Genese der Darstellung der Hl. Familie, so wird
deutlich, dass sie sich in dem Maße entwickelte, in dem sich für den
Glauben der Kirche neue Einsichten ergaben. Man kann eine Entwicklung
vom Christusgeheimnis, also der Geburt des Gottessohnes, über das
Mariengeheimnis hin zur Darstellung der Hl. Familie beobachten. Seit den
Illustrationen in den Katakomben im 3. Jahrhundert bis weit in die
Renaissance wurde die Geburtsszene mit der Verkündigung an die Hirten
und der Anbetung der Magier verbunden. Der Stall kommt im 4. Jahrhundert hinzu. Sehr früh schon ist die besondere Beziehung Jesu zu Maria
Thema der Bilder, z. B. das erste Bad oder die das Jesuskind stillende
4
5
H. SACHS, Art. Familie, Heilige, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2,
Freiburg/Br. u.a. 21994, 4-7.
Vgl. A. ADAM, Art. Heilige Familie, I. Verehrung, in: Lexikon für Theologie und
Kirche, Bd. 4, Freiburg/Br. ³1995, 1276f.
72
Stefan Samerski
Mutter, wobei über Maria ein Stern steht (Domitilla- und PriscillaKatakomben, spätes 3. Jahrhundert).6
Erst als Maria 431 auf dem Konzil zu Ephesus als „Gottesgebärerin“
anerkannt wurde7, begann ihre häufigere Darstellung. In den kommenden
Jahrhunderten war sie mit dem Jesuskind das Hauptmotiv der christlichen
Kunst, und zwar im Abendland wie im Morgenland. Erste Ansätze einer
sich herauskristallisierenden Darstellung der Hl. Familie finden sich im 12.
Jahrhundert.
Das Spätmittelalter versuchte verschiedene Aspekte zusammenzuziehen
und so mehrere Elemente der Kindheitsgeschichte Jesu in einem Bild zu
vereinigen.8 Dies ist besonders in der Illustration der Anbetung der Könige
festzustellen, bei denen die Hl. Familie häufig isoliert unter einer Muschelbedachung steht, durch Säulchen von den heranreitenden Königen getrennt ist und Maria mit dem Kind thront. Allein der neben ihr stehende
Joseph stellt eine Verbindung zu den Königen her, indem er auf sie zeigt.9
Joseph wird regelmäßig wesentlich älter dargestellt, steht im Hintergrund
und bewacht die Szene. Manches Mal wird er auch schlafend dargestellt.
Frühchristliche und byzantinische Bilder von der Geburt sind wesentlich
seltener als die mit Magiern und Hirten, also der Epiphanie. Typisch für
den byzantinischen Einfluss in Italien ist das Bild von Duccio di
Buoninsegna aus dem frühen 14. Jh.10 Der Unterschied zur rein byzantinischen Darstellung liegt in der Darstellung der persönlichen Beziehungen der Personen auf dem Bild zueinander.
Die wachsende Marienfrömmigkeit der Hochgotik, die Krippenfrömmigkeit des hl. Franziskus und der Frühhumanismus vermittelten
neue Impulse und Inhalte11, so dass die frühere, etwas distanzierte Dar6
7
8
9
10
11
N. SCHMUCK, Art. Katakombenmalerei, in: R. Bäumer/L. Scheffczyk (Hg.),
Marienlexikon, Bd. 3, St. Ottilien 1991, 523-526.
Kurz: H. JEDIN, Kleine Konziliengeschichte, Freiburg/Br. 21978, 25-27.
B. BRAUN-NIEHR/K. NIEHR, Art. Kindheitsgeschichte Jesu, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, Stuttgart 1999, 1154.
E. V. WITZLEBEN, Art. Familie, Hl., in: R. BÄUMER/L. SCHEFFCZYK (Hg.),
Marienlexikon, Bd. 2, St. Ottilien 1989, 439f.
DUCCIO DI BUONINSEGNA, Die Geburt Christi, mit den Seitenflügeln der Propheten
Jesaja und Ezechiel, 1308-1311, (National Gallery of Art, Washington D.C).
K. SCHREINER, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, Köln 2006, 310-323; CH.
BENKE, Kleine Geschichte der christlichen Spiritualität, Freiburg/Br. 2007, 7579.
Die Heilige Familie - Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen
73
stellung zwischen Maria und dem Jesuskind einer innigeren, natürlicheren
Verbindung zwischen beiden wich. Damit änderte sich auch die bildliche
Umsetzung des Joseph, der eine aktivere Rolle zugewiesen bekam. Typisch
für die neue Darstellungsweise ist z. B. die berühmte Anbetungsszene von
Giotto di Bondone.12
Zu einem eigenständigen Bildthema wurde die Dreiergruppe aus Joseph,
Maria und Jesus schließlich in der sich ausdifferenzierenden italienischen
Malerei des 14. Jahrhunderts13 – im Anschluss an Mt 2,13-23 und Lk 2,4152, also Geburt, Flucht nach Ägypten und Rückkehr nach Nazareth. Aus
den Motiven der Kindheit Jesu schält sich ikonographisch die Darstellung
der Eltern mit dem Kind heraus. In der Reduktion und der bereits teilweisen Lösung vom biblisch-szenischen Umfeld auf diesen Typus der
Darstellung wird das Eigentliche und Zentrale des Glaubens deutlich.
Durch die von Franziskus erstmals praktizierte Krippenfrömmigkeit
beginnen die Künstlerschulen dem ein- bis dreijährigen Jesus und Jesus als
dem halbwüchsigen Knaben in ihren Darstellungen größere Aufmerksamkeit zu widmen. Hier ist z. B. die berühmte Lorenzetti-Schule in Siena um
1400 zu nennen. Besonders die italienischen Maler Mantegna und Andrea
del Sarto ergänzen die Kerngruppe der Hl. Familie um Johannes den
Täufer. Darstellungen mit weiteren Nebenpersonen wie Elisabeth, Anna
und Joachim sind dagegen als Ausschnitte aus dem Motiv der „Heiligen
Sippe“, also der Großfamilie Mariens, zu verstehen, welche sich ab dem
15. Jahrhundert entwickelte.
Am Ende des 14. Jahrhunderts fließen genrehafte, idyllische Züge in die
Motive ein: Josef bereitet für Mutter und Kind ein Essen, oder er wärmt
sich die Hände an einem Ofen. Auch das Herstellen von Windeln oder ihr
Trocknen durch Josef wird darstellenswert. Dies bedeutet, dass die
Künstler als Ausgangspunkt ihrer Darstellungen zwar noch die apokryphen
Berichte heranzogen, sich aber insgesamt von diesen erzählenden Vorgaben lösten und eigene Inhalte zur Menschwerdung abbildeten.
Es entwickelt sich hier der Typos des Andachtsbildes: die Heilige
Familie im Gemach oder beim Lesen aus der Hl. Schrift. Die Abbildungen
strahlen noch größere Harmonie, Idylle und familiären Frieden aus. Der
12
13
GIOTTO DI BONDONE, Die Anbetung der Könige, 1304 (Fresken der Arenakapelle
in Padua).
Vgl. K. RICHTER, Art. Familie, Heilige, in: Realenzyklopädie für Geschichte und
Gegenwart, Bd. 3, Tübingen 2001, 25.
74
Stefan Samerski
Anbetungstypus entwickelt sich bis zum 16. Jahrhundert zum vorherrschenden Motiv. Ein besonderer Höhepunkt ist das theologischspekulativ ausgestaltete Geburtsbild von Matthias Grünewald auf der
zweiten Schauseite des Isenheimer Altars.14
Die Hl. Familie-Bilder der Neuzeit zeigen gravierende Unterschiede zu
den mittelalterlichen Darstellungen.15 Im Gegensatz zu diesen ist die
Gruppe meist nicht mehr in einen geschlossenen Raum, sondern in die
freie Landschaft gesetzt. Die Haus- und Gartenmetaphern (Zeichen der
Jungfräulichkeit Mariens) werden mit der Renaissance aufgegeben. Sie
pflegt die allgemeinen Schöpfungs- und Paradiesessymbole, besonders die
des Baumes: Maria als Braut Christi und ecclesia-Personifikation ist hierbei
meistens an den Baum als arbor vitae, als Paradies- oder Christussymbol
gelehnt. Außerdem treten weiterhin die persönlichen Beziehungen der
Figuren zueinander in den Vordergrund, die in den Darstellungen mehr
auf ein menschliches Nachempfinden als auf eine strenge Bibelexegese
abzielen.
Im Barock wird zugunsten der Hauptpersonen auf immer mehr Zutaten
verzichtet.16 Alle großen christlichen Maler widmen der Hl. Familie zahlreiche Bilder. Rubens z. B. bevorzugt die Auffassung eines lebensstarken,
repräsentativen Familienbildes, wohingegen Rembrandt oft die stimmungsvolle häusliche Genreszene wählt. Das Hl. Familie-Portrait erhält nun eine
typische Variante: den Typus der „Ruhe auf der Flucht“. Die Darstellung
der Heiligen Familie in einer idyllischen Rastsituation auf ihrem Weg nach
Ägypten fand weite Verbreitung. Die Szene des beschatteten Plätzchens,
an dem Maria mit dem Kind und dem hl. Joseph lagert, verweist auf die
Heilserwartung der Gläubigen und ihre Realisation im Erlösungswerk
Christi, Marias und der Heiligen: eine Vorstellung, die für die Bilderwelt
der nachreformatorischen katholischen Kirche sehr bezeichnend ist, da
nach den Beschlüssen des Konzils von Trient (1545- 1563) die besondere
Bedeutung der Heiligen für die Heilsvermittlung festgehalten und bekräftigt wurde. Dabei wurde besonderer Wert auf die Geborgenheit und
die Intimität der Hl. Familie-Gruppe gelegt, die häufig durch eine Baumgruppe gegenüber einer weiten Landschaft künstlerisch erreicht wurde.
14
15
16
MATHIS GOTHART NITHART (Matthias Grünewald), Isenheimer Altar, etwa 1513,
(Musée d’Unterlinden, Colmar).
ERLEMANN, Die Heilige Familie, 43.
Vgl. zu diesem Abschnitt: WITZLEBEN, Art. Familie, Hl., 440f; ERLEMANN, Die
Heilige Familie, 43f.
Die Heilige Familie - Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen
75
Bereits hier zeigt sich, dass mit der Frühneuzeit, also nach den
Reformationen und dem Konzil von Trient, etwas ganz Neues beginnt.17
Alle Darstellungen des Mittelalters, auch wenn sie exklusiv die Dreiergruppe zeigen, sind in Komposition und Symbolik eigentlich als
Variationen des Madonnenbildes zu verstehen. Maria in ihrer Beziehung zu
Jesus ist dabei der Mittelpunkt aller Abbildungen. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts, im Zeitalter der Konfessionalisierung, in der sich die einzelnen
Bekenntnisse gegeneinander religiös, politisch und auch künstlerisch abgrenzten18, findet nun eine neue Komposition im Auftrag der Jesuiten
Verbreitung, die in der Folgezeit als „Heiliger Wandel“ populär wurde. Sie
enthält die frontale Darstellung der Hl. Familie, deren Symmetrie sie zu
einer Einheit verschmilzt, sowie die Darstellung von Gott-Vater und dem
Heiligen Geist in den Wolken. Die beiden so entstehenden Achsen mit
dem Kind als Schnittpunkt zeigen gewissermaßen die Trinität zwei Mal:
eine himmlische und eine irdische Trinität. Das Licht des Hl. Geistes,
welches auf die Wandernden fällt, symbolisiert die enge Verbindung
zwischen den beiden Trinitäten. Damit nimmt die Familie als solche
sakrosankte Züge als Abbild des Himmels und der göttlichen Dynamik an.
Die theologische Bedeutung der Familie im irdisch-gesellschaftspolitischen
Kontext wird damit ganz klar entwickelt und unterstrichen. Die Bezeichnung „Wandel” wurde neben der biblischen Szene des Auf-demWeg-Seins vor allem im Sinne des indiviuellen Lebenswandels und der
menschlichen Pilgerschaft verstanden und damit als Idealbild der Lebensführung in der persönlichen Spiritualität reflektiert. Familie in ihrem Weg
durch die Zeit und in ihren lebensräumlichen Veränderungen steht damit
unter dem Schutz Gottes. Und Familie bedeutet immer: Vater, Mutter,
Kind. Ein zweiter Betrachtungspunkt liegt im Vorgang „Wandel” als Gespräch zwischen den Heiligen, das sich der Gläubige selbst ausmalen
konnte, was häufig in der Praxis als ein pastorales Instrument genutzt
17
18
A. ANGENENDT, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen
Christentum bis zur Gegenwart, München 21997, 242-248; ST. SAMERSKI, „Wie im
Himmel, so auf Erden“? Selig- und Heiligsprechung in der Katholischen Kirche 1740 bis
1870, (= Münchener Kirchenhistorische Studien, 10), Stuttgart 2002, 374f.
Dazu: A. OHLIDAL/ST. SAMERSKI (Hg.), Jesuitische Frömmigkeitskulturen. Konfessionelle Interaktion in Ostmitteleuropa 1570-1700, Stuttgart 2006, 7-13. W.
REINHARD/H. SCHILLING (Hg.), Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus
Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993, Gütersloh/Münster 1996.
76
Stefan Samerski
wurde. Der Schwerpunkt der Verbreitung dieser doppelten Trinität liegt in
der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In
diesem Zeitraum erlebten auch die sog. Jesus-Maria-Joseph- und Hl.
Wandel-Bruderschaften ihre Blüte. Die Darstellung des Hl. Wandels
finden wir vor allem in der Katechese als Kult-, Votiv- und Altarbild sowie
auf vielfältigen Gegenständen des Prozessionswesens. Sie war also als
sozialpolitisches Exempel in allen Bereichen des kirchlichen Lebens
präsent und wurde besonders von den Reformkräften der katholischen
Erneuerung, den Jesuiten und später auch den Kapuzinern, eingesetzt. Der
Gedanke, die Heilige Familie als „trinitas terrestris“ zu verstehen, wurde in
dieser Zeit vom Hl. Franz von Sales weiter ausgedeutet und fand großen
Anklang bei den Lehrorden. Bereits hier wird deutlich, wie stark die Zeit
der Konfessionalisierung Kunst, religiöses Leben und auch die Politik
beeinflusste. Glauben war nun nichts Selbstverständliches mehr, sondern
musste in der Konkurrenzsituation verschiedener Bekenntnisse häufig
erkämpft und verteidigt werden. Unverkennbar ist bereits an dieser Stelle
ein stark pädagogischer Zug in Kunst und Verkündigung, den es im
Mittelalter so ausgeprägt und gewollt nicht gegeben hat. Dieser
pädagogische Zug erstreckte sich nicht nur auf die Katechismuswahrheiten, sondern auch auf das soziale und politische Leben.
3. Frömmigkeitsgeschichte
Zu einem ersten Aufblühen des Hl. Familie-Kults kam es, wie wir bei
der Ikonographie bereits gesehen haben, in der Zeit des Barock. Nach dem
Konzil von Trient führten die Bestrebungen der katholischen Kirche in
Abgrenzung von den Reformationen dazu, sich auf mittelalterliche
Traditionen zu besinnen, die Reinheit der Lehre herauszustellen und sich
vom konfessionellen Gegner abzusetzen.19 Die Reformen, die alle Bereiche
des kirchlichen Lebens betrafen, wurden in den einzelnen Diözesen erst
nach und nach umgesetzt. Als Gegenpol zum bilderfeindlichen Calvinismus oder dem verkopften Luthertum baute die Katholische Reform auf
die Kraft der sinnlichen Erfahrung des Religiösen im Kultus, in der Katechese wie auch in der frommen Einzelbetrachtung. Die Jesuiten verfassten
19
Immer noch ausführliche und beste Abhandlung: H. JEDIN, Geschichte des Konzils
von Trient, 4 Bde., Freiburg/Br. 21951-1975; vergl. auch: H. SMOLINSKY, Kirchengeschichte der Neuzeit I, Düsseldorf 2003, 68-75.
Die Heilige Familie - Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen
77
Dramen und Lieder mit familienthematischen Schwerpunkten. Gerade hier
wird der pädagogische Effekt ganz deutlich.20
Die Verehrung der Hl. Familie fand nun Eingang in alle katholischen
Bräuche und Frömmigkeitsformen, da man die Heiligenverehrung als
genuin katholisches Charakteristikum neben einem prägnanten Eucharistie- und Trinitätskult dem Protestantismus entgegenstellte. In diesem
Rahmen war die Verehrung der Hl. Familie also vor allem als etwas
Personalisiertes, Persönliches zu verstehen. Es darf dabei aber nicht übersehen werden, dass diese neue Frömmigkeitsform eine Konstruktion aus
den verschiedenen Einzelkulten und daher inhomogen war: Wir haben hier
eine starke Marienfrömmigkeit vor uns wie auch eine das Menschliche
unseres Erlösers betonende Andacht und die nun erst aufkommende
Josephsverehrung.
Das zweite Phänomen ist die große Verbreitung der Andachtsform der
Hl. Familie: Kirchen- Kapellen- und Altarpatrozinien nahmen ab der
zweiten Hälfte des 17. Jahrhunders deutlich zu. Mit der Erhebung des hl.
Joseph zum Landespatron verschiedener deutschsprachiger Diözesen und
Länder seit 1654 mehren sich diese Patrozinien. Für das 18. Jahrhundert
ergeben sich 56 Belege von Patrozinien der Hl. Familie im deutschsprachigen Raum. Mit der Säkularisation kam die Errichtung von Kirchen,
Kapellen und Altären zu Ehren der Hl. Familie fast völlig zum Erliegen,
nahm aber in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wieder zu,
wie wir später noch näher sehen werden.
Nach diesen zusammenfassenden Beobachtungen zur frühneuzeitlichen Hl. Familie-Devotion möchte ich verschiedene neue bzw. neuverstandene Elemente der Volksfrömmigkeit herausgreifen: a) Joseph,
b) Maria, c) Loreto, d) Guter Tod.
a) Der reformierte Karmel hatte seit seinen Anfängen den hl. Joseph zu
seinem wichtigsten Patron gewählt.21 Bekanntlich hatte die hl. Theresia fast
20
21
Zur Praxis der frühen Jesuiten: J. O’MALLEY, Die ersten Jesuiten, Würzburg 1995;
DERS., u.a., The Jesuits. Cultures, Sciences and the Arts, 1540-1773, Toronto u.a.
1999.
B. MIKUDA-HÜTTL, Vom „Hausmann“ zum Hausheiligen des Wiener Hofes.
Zur Ikonographie des hl. Josef im 17. und 18. Jahrhundert, Marburg/L. 1997;
ST. SAMERSKI, Wie Joseph über die Alpen kam – die Karmeliten und die Anfänge der
Josephsverehrung im deutschsprachigen Raum, in: Die Bedeutung des hl. Josef in der
Heilsgeschichte. Akten des IX. Internationalen Symposions über den heiligen
Josef, 25. September bis 2. Oktober, Kevelaer, Bd. 2, hg. von J. HATTLER/G.
78
Stefan Samerski
alle ihre Neugründungen dem Nährvater Jesu geweiht. Mit dem Einzug der
Unbeschuhten Karmeliten in nordalpine Gebiete wurde auch hier der
Josephskult heimisch. Vor allem die Habsburger nahmen sich seiner an,
ernannten Joseph 1653 zum Landespatron und 1675 zum Reichspatron.
Auf Bitten des Habsburger-Kaisers wurde Joseph 1726 in die Allerheiligenlitanei aufgenommen. Spielte Joseph im Mittelalter in bildlichen Darstellungen (wie gesehen) nur eine Nebenrolle und trat allenfalls als Patron
des guten Todes in den Vordergrund, so gibt es seit der Frühen Neuzeit
erstmals Abbildungen, die ihn individuell zeigen. Meist hat er dann das
Handwerkszeug des Zimmermanns in Händen, was in der Barockzeit als
Hinweis auf die Gewissensdisziplin verstanden wurde: Winkelmaß und Lot
etwa als Zeichen der Buße und Beichte. In Andachtsschriften entwickelt
sich das Bild vom keuschen Joseph. Es wird also deutlich, dass der Nährvater Jesu nun mit einem indiviuellen Rollenverständnis im Rahmen der
Sozialdisziplinierung in Zusammenhang gebracht wird. Außerdem ist er
seit Kaiser Leopold I. (Mitte des 17. Jahrhunderts) der dynastische Patron
der Habsburger, der über Politik und Schlachtenglück der Habsburger
wacht. Jede Josephsverehrung war also in der Barockzeit eine Loyalitätserklärung an die Habsburger-Herrscher. Kaisertreue Städte errichteten
daher auf den Marktplätzen Josephssäulen und –brunnen.
b) Ähnliches lässt sich von der Marienverehrung nördlich der Alpen berichten. Hatte sie bereits eine viel längere Tradition als die Josephsverehrung, so lässt sich doch seit der Katholischen Reform um 1600 auch hier
ein gewandeltes Verständnis erkennen. Auch sie geriet in den Bereich
politisch-dynastischer Interessen von katholischen Fürsten, allen voran
Bayern und Habsburg, die Darstellungen von Maria auf ihren Fahnen mit
in die Schlacht führten und ihr ihre Länder weihten.22 Die Muttergottes
22
ROVIRA, Kisslegg 2006, 725-37; Ders., Hausheilige statt Staatspatrone. Der misslungene Absolutismus in Österreichs Heiligenhimmel, in: Die Habsburgermonarchie
1620 bis 1740. Leistungen und Grenzen des Absolutismusparadigmas, hrsg.
von PETR MAT’A/TH. WINKELBAUER (= Forschungen zur Geschichte und
Kultur des östlichen Mitteleuropa 24), Stuttgart 2006, 251-78; DERS. (im
Druck), „…in allen Stücken als Nothelfer kennengelernt“. Die Anfänge des globalen
Josephskults als Wechselwirkung zwischen karmelitischer Spiritualität und dynastischem
Interesse der Habsburger, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische
Geschichtsforschung 116, 2008.
SCHREINER, Maria, 393-409; Zuletzt: ST. SAMERSKI, Maria zwischen den Fronten.
Bayerische Einflüsse auf die Pietas Austriaca und die ungarische Eigentradition in der
zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Ungarn-Jahrbuch 27, 2004, 359-371; DERS.,
Die Heilige Familie - Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen
79
wurde auch in anderen Ländern wie Polen und Frankreich zum Zeichen
der siegreichen katholischen Konfession und der politischen Souveränität
des jeweiligen Landes verehrt. Kaiser Ferdinand II. bezeichnete sie als
Generalissima und “oberstes Kriegshaupt”. Er und seine Nachfolger
pilgerten zu ihrem Regierungsbeginn nach Altötting, um ihre Herrschaft
unter den Schutz der Gottesmutter zu stellen. Vergleichbares lässt sich
etwa aus Polen berichten, wo die Muttergottes von Tschenstochau nach
dem Abwehrkampf gegen die Schweden zur Königin Polens erhoben
wurde. Auch bei Maria drückte sich politischer Erfolg z. B. in Form von
Mariensäulen aus, die die reine Lehre und die siegreiche Kirche versinnbildlichten. Nicht umsonst entstand in jenen Jahrzehnten europaweit die
Verehrung der Immakulata als die Personifikation der makellosen Braut
Christi, der römischen Kirche.
c) Die Loreto-Verehrung lässt sich sicherlich als ein spezieller Ausdruck
des Hl. Familie-Kultes verstehen.23 Verbunden ist sie mit Wallfahrten, die
stark marianisch geprägt sind. Darüber hinaus ist die Loreto-Verehrung
aber auch ein Motor der Hl. Familie-Devotion. Die konkrete Verehrung
der Heiligen Familie ist überhaupt nachweisbar, seit das Haus von
Nazareth in Loreto/Italien verehrt wird. Schon im 11. Jh. führte eine
Vision zur Errichtung des Hauses der Heiligen Familie in Walsingham in
England. Seit 1315 ist eine Kirche auf dem Hügel von Loreto in den
Marken Italiens erwähnt, in der eine Madonna mit Jesuskind verehrt
werde. Seit dem 14. Jahrhundert nimmt der Strom der Pilger aus ganz
Europa aufgrund der Wundererzählung zu, wonach Engel das Haus
Mariens in Nazareth zuerst 1291 nach Tsat an der illyrischen Küste und
dann am 10. Dezember 1294 auf den Hügel von Loreto getragen hätten.
Diese Legende vom wunderbaren Ursprung der Kirche wurde durch
Pietro Tolomei aus Teramo (gest.1473) im frühen 15. Jahrhundert verbreitet. Um die großen Pilgerströme zu fassen, errichtete man daraufhin
1468 über der Kapelle eine große Basilika. Vermutlich wurde das Haus der
Hl. Familie in Nazareth von den Kreuzfahrern abgebaut und in den
Marken nach ihrer Flucht aus Palästina Ende des 13. Jahrhunderts wieder
errichtet.
23
Hausheilige statt Staatspatrone, 251-278.
M. LUPI, Art. Loreto, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6, Freiburg/Br.
³1997, 1052f.; ERLEMANN, Die Heilige Familie, 121f.; G. MELZER, Loreto. Der erste
und ehrwürdigste Marienwallfahrtsort, Lauerz 22003.
80
Stefan Samerski
Die religiöse Bedeutung des Hl. Hauses – auch casa santa genannt – liegt
in der Lokalisierung mehrerer heilsgeschichtlich wichtiger Begebenheiten
in dieses Gebäude, wie z. B. Geburt Mariens, Verkündigung und
Empfängnis. Außerdem soll die Casa Santa der Legende nach auch die
Wohnung der Hl. Familie nach ihrer Rückkehr aus Ägypten und die Heimstatt der Apostel nach der Himmelfahrt gewesen sein. Deutlich werden
hier der Aspekt der Erlösung, die an Jesus Christus gebunden ist, und die
bereits erwähnte Ausrichtung auf die Gottesmutter. Aber auch Joseph ist
hier kultisch vertreten: Sein Grab war ursprünglich in einer benachbarten
Grotte verehrt worden, bis der Leib des Nährvaters Jesu schon von den
Kreuzfahrern nach Betlehem überführt wurde.
Mit der Herausbildung der Überlieferung, die im Laufe des 16. Jahrhunderts durch mehr und mehr Einzelheiten und Daten präzisiert wurde,
entstehen Schriften, die die Legende und den Wallfahrtsort Loreto und
damit die Marienverehrung gegen die Reformation verteidigen. Kämpfte
man im 15. Jahrhundert in Loreto gegen die Bedrohung türkischer Piraten,
so wurde im 16. Jahrhundert gegen die geistige Bedrohung der Reformationen Stellung bezogen. Erst in der Gegenreformation begann man
nördlich der Alpen mit Architekturkopien, die im 17. Jahrhundert detailgetreu dem Original entsprachen.24 Solche Kopien, die über Tirol und
Bayern in den habsburgischen und norddeutschen Raum eindrangen,
waren als Großreliquien zu verstehen, die das Heilige Land greifbar
machten, in das man nicht mehr pilgern konnte. Die Casa Santa wurde für
die katholische Kirche zu einem Bollwerk gegen die Reformation, was sich
im 16. und 17. Jahrhundert durch die Wallfahrt berühmter Persönlichkeiten zeigte: Der hl. Petrus Canisius besuchte Loreto mehrfach, so z. B.
1558 mit Bischof Otto Truchsess von Waldburg, um von dort aus die
Lauretanische Litanei zu verbreiten. Auch der Wittelsbacher Herzog Albert
V. kam schon 1555 dorthin, so wie die Gemahlin Herzog Wilhelms V.,
Renata von Lothringen, die 1575 die Litanei in der Frauenkirche in München singen ließ. Der nachmalige Kaiser Ferdinand II., der zum großen
Gegenreformator in den deutschsprachigen Landen wurde, gelobte hier
1598 die Bekämpfung des Protestantismus in seinem österreichischen
Herrschaftsgebiet.
24
F. MATSCHE, Gegenreformatorische Architekturkopien. Casa-Santa-Kopien und Habsburger Loreto-Kult nach 1620, in: Jahrbuch für bayerische Volkskunde 1, München
1978, 81-118; W. PÖTZL, Art. Loretokapellen, in: Marienlexikon, Bd. 4, St.
Ottilien 1992, 155; SAMERSKI, Hausheilige statt Staatspatrone, 275.
Die Heilige Familie - Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen
81
Der Marienkult und die
Verehrung der Hl. Familie
waren für diese Herrscher von
besonderem Interesse bei dem
Bemühen, ihre Gebiete nach
außen und nach innen zusammenzuhalten und den
zentrifugalen Kräften der
Glaubensspaltung Einhalt zu
gebieten. Durch diese Elitenfrömmigkeit
wurde
die
Marienverehrung
an
die
Staatsfrömmigkeit angebunden. In Österreich verband
sich die Loreto-Frömmigkeit
mit der Pietas Austriaca, mit
der Frömmigkeit des Habsburger-Herrschers.25 Ahmten
die Gläubigen diese nach, galt
das gleichsam als Loyalitätsbekundung gegenüber dem
Fürsten. Die genauen Architekturkopien in Bayern und
den Habsburgerländern symbolisierten im 17. und 18. Jahrhundert den
Sieg des Katholizismus nicht nur über die Irrlehren, sondern auch über die
militärischen Gegner der katholischen Fürsten (etwa im Dreißigjährigen
Krieg). Dieser militärische Aspekt trat ganz deutlich nach dem Sieg der
Katholischen Allianz in der Seeschlacht von Lepanto 1571, die bekanntlich
dem Rosenkranzgebet zugeschrieben wurde, hervor, wie auch nach der
Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620, in deren Gefolge die Erbländer
bis 1918 kompromisslos rekatholisiert wurden. Im marianisch determinierten Loreto-Kult als Hl. Familie-Frömmigkeit wurden die
Gläubigen auch emotional in das katholische Weltbild eingebunden, das
Verhaltensmaßregeln auf sehr anschauliche Weise vermittelte. Ganz deut25
Zur Pietas Austriaca immer noch grundlegend: A. CORETH, Pietas Austriaca.
Österreichische Frömmigkeit im Barock, Wien 21982; TH. WINKELBAUER, Ständefreiheit und Fürstenmacht. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen
Zeitalter, Teil 2, Wien 2003, 185-203; SAMERSKI, Hausheilige statt Staatspatrone.
82
Stefan Samerski
lich wird dies in Bayern und den habsburgischen Erbländern, wo das
gesamte Herrschaftsgebiet mit Loreto-Kapellen und Mariensäulen überzogen wurde. Das weltliche Territorium wurde so zu einer Sakrallandschaft, der Boden gewissermaßen überall geheiligt.
d) Als viertes Element der barocken Volksfrömmigkeit sei das „GutTod-Patrozinium“ erwähnt.26
Das größte Risiko für den zeitgenössischen Christen bedeutete ein
plötzlicher, unvorbereiteter Tod, d. h. ohne Sakramentenempfang und mit
persönlicher Sündenlast. Man fürchtete langandauernde Qualen im Fegefeuer
oder sogar die ewige Verdammnis. Hier hatten die Fürbittfunktionen der
Heiligen mit ihren Verdiensten ihren Platz, um nämlich die kommenden
26
ERLEMANN, Die Heilige Familie, 158-163.
Die Heilige Familie - Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen
83
Strafen zu mildern etc. So war beispielsweise der hl. Christophorus ein beliebter Heiliger in mittelalterlichen Westwerken von Kirchen, der vor einem
jähen Tode schützen sollte. Nun übernahmen diese Aufgabe die drei höchsten heiligen Personen: Jesus, Maria und Joseph. Bei der Anrufung dieser
hervorragendsten Heiligen musste die Bitte um Beistand und Hilfe erfolgreich sein, zumal sich die Gläubigen als ‚Kinder‘ der Muttergottes und des
Vaters der Gläubigen, Joseph, auf einer persönlichen Ebene mit ihnen
verbunden fühlten. Zudem galt Joseph seit dem Mittelalter als Patron des
Guten Todes. Ab dem beginnenden 17. Jahrhundert sind Kupferstiche,
Totenzettel und Votivbilder erhalten, die den nahen Tod, aber auch die
fürbittenden Joseph und Maria darstellen. Zur weiteren Aufwertung der
Dreiergruppe gehörten zahlreiche Lieder dieser Zeit, die immer wieder die
drei Namen Jesus, Maria und Joseph wiederholten. Auch zu diesem Patrozinium entstanden in der Folgezeit Gut-Tod-Bruderschaften.
Mit der Aufklärung änderten sich die Grundbedingungen des religiösen
Lebens nachhaltig.27 Man beobachtet einen Bruch mit den barocken
Frömmigkeitstraditionen in Form, Ikonographie und Inhalt. Die historisierende Deutung der Heilsgeschichte des 19. Jahrhunderts hatte schließlich für Wunder kaum noch Platz. Das Verbot der Jesuiten 1773 versetzte
der Barockfrömmigkeit vielfach in der Praxis den Todesstoß.28 Nun verschwanden sogar die Loreto-Kapellen wie in München oder Wien, wo der
aufgeklärte Joseph II. sie in der Wiener Hofkirche (Augustinerkirche) 1784
abbrechen ließ. Die Säkularisation tat im Entzug der materiellen Basis ein
übriges, um viele angestammte Formen der Volksfrömmigkeit zu unterdrücken. Die Beschlagnahmung des Bruderschaftsvermögens und die zahlreichen Klosteraufhebungen führten zur Stilllegung vieler Fraternitäten
und Kongregationen, die bisher den Kult der Hl. Familie gepflegt hatten.
Der neue Aufstieg des Katholizismus nach den napoleonischen Wirren
wurde aber bereits in der erwachenden Romantik erkennbar, die die
Frömmigkeit unter mittelalterlichen Vorzeichen wieder entdeckte.
Einen zweiten Aufschwung erhält die Verehrung der Heiligen Familie in
der Frömmigkeit des 18. Jahrhunderts.29 Diese Blüte ist beheimatet in der
27
28
29
ANGENENDT, Heilige und Reliquien, 261-273; SMOLINSKY, Kirchengeschichte der
Neuzeit, 163-179; ERLEMANN, Die Heilige Familie, 167.
Dazu zuletzt: CH. VOGEL, Der Untergang der Gesellschaft Jesu als europäisches Medienereignis (1758-1773). Publizistische Debatten im Spannungsfeld von Aufklärung und
Gegenaufklärung, Mainz 2006.
Kurzer Überblick: K. SCHATZ, Kirchengeschichte der Neuzeit II, Düsseldorf 2003,
84
Stefan Samerski
sich überschwänglich entwickelnden Verehrung von Maria und Joseph als
Einzelgestalten. Hier wie auch im 17. Jahrhundert erkennt man den Aufschwung des Josephskultes als Schrittmacher der Hl. FamilieFrömmigkeit.30 Der hl. Joseph spielte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
als Vorbild bei der religiösen Arbeiterbildung in Frankreich eine zentrale
Rolle. Seine weit verbreitete und ebenfalls euphorische Verehrung hätte
fast zu seiner Aufnahme in die Anrufungen des Schuldbekenntnisses und
des Suscipe-Gebetes der Gabenbereitung geführt. 1870 erfolgte die Erhebung Josephs zum Gesamtpatron der Kirche. Es überrascht nicht, dass
diese religiös so intensive Zeit mit ihrer populären Frömmigkeit auch den
Kult der Hl. Familie reaktivierte. Er nahm besonders in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts, vor allem von Kanada ausgehend, unter Papst Leo
XIII. einen weltweiten Aufschwung. Es ging nun darum, die hl. Familie in
ihrer Vorbildfunktion zur Stärkung der gefährdeten christlichen Familien,
aber auch zur Abwehr familienfeindlicher Strömungen einzusetzen.31 Die
industrielle Revolution, die Verstädterung und Verelendung ganzer
Regionen hatte die innere Struktur der Familien zerrüttet: Kinderarbeit,
Aushöhlung der christlichen Werte und die Entfremdung der Arbeiterschaft von der Kirche etc. waren die Folgen.
Der Kult der Hl. Familie war im 17. Jahrhundert durch den ersten
Bischof der Diözese Quebec, Francois de Montmorency-Laval, nach
Kanada gelangt.32 Dort verbreitete er sich rasch und wirkte intensivierend
auf Europa zurück. Aber auch in Belgien gab es neue Kraftquellen dieser
Devotion: die in Lüttich neu gegründete „Bruderschaft von der Heiligen
Familie“ (1844), sowie der durch Leo XIII. besonders geförderte „Verein
der christlichen Familie“ (1861) boten wichtige Impulse für den Aufschwung im 19. Jahrhundert. Das Ideal der christlichen Familie wurde
dabei auf die Lebensführung des Einzelnen hin konkretisiert und vermittelte ein ganz bestimmtes soziales Rollenverständnis: Aufgaben und
Pflichten einer jeden Person im familiären und gesellschaftlichen Gefüge
30
31
32
48-86.
O. KÖHLER/G. BANDMANN, Formen der Frömmigkeit, in: H. JEDIN (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 6/2: Die Kirche in der Gegenwart. Die Kirche
zwischen Anpassung und Widerstand (1878 bis 1914), Freiburg/Br. u.a. 1985,
265-315, hier: 272f.
ADAM, Art. Heilige Familie, 1276f.
J. GRÜHN, JENS, Art. Montmorency-Laval, in: Lexikon für Theologie und Kirche,
Bd. 7, Freiburg/Br. ³1995, 446.
Die Heilige Familie - Kunst- und kirchenhistorische Beobachtungen
85
wurden beschrieben und danach festgelegt. Vergleicht man den Funktionsradius der spezifischen Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts mit dem der
Barockzeit, muss man festhalten, dass hier im Laufe der Zeit eine Verarmung und Engführung erfolgt ist. Die barocke Devotion ließ inhaltlich
mehr Spielraum für private Andacht.
Ausdruck der starken Verehrung ist seit 1893 der Antrag verschiedener
Diözesen und Orden, ein Fest zur Ehre der Hl. Familie feiern zu dürfen,
welches lokal für den 3. Sonntag nach Epiphanie gewährt wurde. Erst
Benedikt XV. führte es 1920 für die Gesamtkirche ein und legte das Fest
der Heiligen Familie liturgisch auf den Sonntag nach Epiphanie. Seit der
Reform des römischen Kalenders feiert man das Fest am Sonntag der
Weihnachtsoktav oder, falls die Oktav eines Sonntags entbehrt, am 30.
Dezember. Die liturgischen Texte bitten um die Gnade, „dass auch unsere
Familien in Frömmigkeit und Eintracht leben und einander in der Liebe
verbunden bleiben” (Tagesgebet) und „dass wir das Vorbild der Heiligen
Familie nachahmen und nach der Mühsal des Lebens in ihrer Gemeinschaft das Erbe erlangen...” (Schlussgebet).33
Im Rahmen dieser zweiten Blütezeit der Verehrung der Heiligen Familie
lohnt es sich abschließend, einen Blick auf die Neugründungen religiöser
Genossenschaften jener Jahrzehnte zu werfen, die besonders die Heilige
Familie zu ihrem Vorbild haben. Die Kirche verzeichnet zwischen 1650
und 1986 etwa 105 Ordensgründungen, die der Hl. Familie gewidmet sind
und in allen Bereichen des Apostolates und der Caritas wirken.34 Die
meisten von ihnen wurden zwischen 1820 und 1900 errichtet. Obgleich es
schwer ist, hier einen Überblick zu gewinnen, lassen sich folgende knappe
Eindrücke formulieren: Die Neugründungen sind meist stark marianisch
geprägt, widmen sich neben pastoral-caritativen Zielen häufig auch der
Ausbildung der Jugend und stehen in ihrer Spiritualität nicht selten dem
Franziskanerorden nahe.
Zu nennen sind:
Die „Kongregation der Missionare der Hl. Familie“ (MSF), welche 1895
von J. B. Berthier in Grave (Holland) gegründet wurde und Maria besonders in ihrer Berufung, ihrem Dienst und ihrer Haltung im Geheimnis
der Hl. Familie verehrt. Als priesterliche Missionsgemeinschaft vertraut die
33
34
Vgl. auch für den weiteren Abschnitt: ADAM, Das Kirchenjahr mitfeiern, 121.
Vgl. zu diesem Abschnitt: K.S. FRANK, Heilige Familie, III. Religiöse Genossenschaften, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Freiburg/Br. ³1995, 1278.
86
Stefan Samerski
weltweit verbreitete Kongregation mit etwa 1000 Mitgliedern auf die Hilfe
und das Vorbild Marias für das Leben nach den Evangelischen Räten. Seit
1919 ist die Kongregation auch in Deutschland tätig.
Die „Hijos de la Sagrada Familia“ wurden 1864 in Tremp bei Lérida in
Spanien gegründet, um als Priesterkongregation pastorale und pädagogische Aufgaben zu übernehmen. Sie wurde von Pius IX. insbesondere mit
der Verbreitung der Verehrung der Heiligen Familie betraut.
Unter den vielen italienischen Gemeinschaften wären z. B. zu nennen,
die „Suore della Sacra Famiglia di Nazareth“, welche 1875 von der adeligen
Polin Franziska Siedliska in Rom gegründet wurde. Obwohl sie zunächst
als kontemplative Gemeinschaft geplant war, übernehmen sie bis heute mit
etwa 1700 Schwestern weltweit pastorale und sozial-caritative Aufgaben.
Von den etwa 20 Gemeinschaften französischen Ursprungs, die den
Namen der Heiligen Familie tragen, wären die „Soers de la Sainte-Famille
de Bourdeaux“ zu erwähnen. Sie wurden 1820 von P. B. Noailles innerhalb
einer weit verzweigten Vereinigung zu Ehren der Heiligen Familie gegründet. Zu ihr gehören etwa 2800 Schwestern.
In der in München gegründeten Gemeinschaft der „Schwestern der Hl.
Familie“ leben nach der franziskanischen Drittordensregel etwa 100
Schwestern. Sie wurde 1914 gegründet und lange Zeit durch ihren
Spiritual, den Sel. P. Rupert Mayer, geprägt. Ihre Schwerpunkte sind die
Mädchenbildung, Familienpflege und andere pastoral-caritative Dienste.
Die Heilige Familie und die christliche Familie
Peter von Steinitz
A. Einführung
Die auf den ersten Blick harmlos erscheinende Verknüpfung der beiden
Begriffe Heilige Familie und christliche Familie hat es in sich. Bei näherem
Hinsehen wird nicht jeder sie so ohne weiteres akzeptieren. Und zwar aus
zwei Gründen:
Für den Menschen unserer postchristlichen Zeit bedeutet die Hl.
Familie gar nichts bzw. ein für ihn irrelevantes Relikt aus einer vergangenen Zeit.
Der gleiche „moderne“ Mensch wird den Gedanken mit Skepsis aufnehmen, dass es überhaupt eine „christliche Familie“ gibt, denn sehr viele
Christen leben in allem, auch was Ehe und Familie angeht, so wie die
anderen. (So erklärt sich z. B., dass in den U.S.A. über sechzig Prozent der
Katholiken sich dafür ausgesprochen haben sollen, dass jede Frau ein
„Recht auf Abtreibung“ habe.)
B. Hat die Hl. Familie Vorbildcharakter?
Die Hl. Familie - Jesus, Maria und Josef - wird uns vonseiten der Kirche
seit Jahrhunderten als vorbildlich hingestellt. Warum? Und dann: In welcher
Hinsicht vorbildlich?
Diese Frage, warum gerade diese, ist zunächst einfach zu beantworten:
Es sind der Erlöser, seine heilige Mutter und ein ausgezeichneter heiliger
Mann, Josef, und nicht irgendwelche historischen Persönlichkeiten, die
interessant sind, aber zu denen wir keinen persönlichen Bezug haben.
Wenn es nämlich darum ginge, käme sogleich die Frage: Warum sollte ein
Ehepaar versuchen, sich das Eheleben, sagen wir, von Cäsar und
Kleopatra oder von Ludwig XVI. und Marie Antoinette zum Vorbild zu
nehmen? Abgesehen von den mit diesen Ehen verbundenen Komplikationen, die eine allgemeine Vorbildlichkeit nicht gerade nahe legen,
88
Peter von Steinitz
wären diese historischen Persönlichkeiten in keiner Weise dazu angetan,
uns an ihnen zu orientieren, auch wenn man von ihrem gesellschaftlichen
Umfeld absieht, das für die meisten Menschen nicht nachahmbar ist.
Aber auch ein nach Ansicht der Zeitgenossen vorbildliches Ehe- und
Familienleben historischer Personen, z. B. Johann Sebastian Bachs und
seiner Frau Maria Barbara würde nicht jedem vorbildhaft erscheinen. Maria
Barbara starb nach 13 Ehejahren, und nicht jeder ist musikalisch und
lutherischen Bekenntnisses.
Ja, bei näherem Hinsehen auf Familiengeschichten aus alter oder neuer
Zeit müssen wir feststellen, dass es kaum eine Ehe oder eine Familie gibt,
mit der sich jeder und unter jedem Gesichtspunkt identifizieren kann.
Vielleicht würden uns noch am ehesten die eigenen Eltern in dieser Weise
exemplarisch vorkommen. Dann aber stellt sich die Frage: exemplarisch
für alle Menschen, etwa im Sinne des Kategorischen Imperativs von Kant,
oder nur für mich?
Wenn wir so eine größere Zahl uns bekannter Familien haben Revue
passieren lassen, erscheint es uns gar nicht mehr befremdlich, dass Maria
und Josef mit dem Kind uns als Vorbild vor Augen gestellt werden.
Tatsächlich vereinen diese drei Personen – auch wenn man sie zunächst
nur rein menschlich betrachtet – in sich eine Menge von Vorzügen. Im einzelnen:
Sie sind erfrischend ‚normal’; keiner von den dreien ist irgendwie seltsam oder ‚originell’; bei fast allen anderen Menschen wäre das anders. Man
stelle sich vor, die Mutter wäre wie Maria Stuart oder Eva Herman und der
Vater vielleicht wie Bismarck oder Michael Ballack – einige würden sagen:
großartig, genau so, aber viele andere wären spontan ablehnend. Der hl.
Josefmaria Escrivá spricht von der ‚bendita normalidad’, der gesegneten
Normalität, die wir leicht unterschätzen, denn damit ist ja nicht platte
Durchschnittlichkeit gemeint, sondern etwas, das vielen, wenn nicht sogar
allen Menschen gemeinsam ist. Und Maria und Josef sind so gut wie jedem
sympathisch, weil sie normal sind, dabei aber nicht durchschnittlich.
Sie führen ein äußerlich durchschnittliches Leben, sie gehören weder der
Oberschicht an noch sind sie arme Leute.
Sie leben nicht in der Hauptstadt, sondern in einer Kleinstadt, an der
nichts Besonderes ist, die nicht einmal in den alten Prophezeiungen Erwähnung findet.
Die Heilige Familie und die christliche Familie
89
Beide Eltern üben einen Beruf aus, der häufig vorkommt, so dass viele
Menschen, auch Menschen verschiedener Epochen, sich darin wieder
finden können. Josef ist ein Handwerker. Es bleibt etwas offen, ob
Schreiner, Zimmermann oder sonst ein Bauhandwerker. Jesus wird in der
Vulgata als Fabri filius bezeichnet. Faber heißt Handwerker in einem
weiteren Sinne. Josefs Tätigkeit ist nicht eine, wie sie in Eliteschichten
üblich ist; er ist nicht Professor oder Staatsmann. Nein, sein Handwerksberuf befindet sich in der Mitte zwischen intellektueller Tätigkeit und
Fließbandarbeit. Auch Maria arbeitet wie Millionen anderer Frauen, nämlich im Haushalt. Der einzige Unterschied zu heute: Die Hausarbeit war
damals ohne die heutigen Geräte viel mühsamer. Wenn hier anschließend
von den Tugenden die Rede sein wird, können wir auf das Arbeiten Josefs
und Marias zurückkommen.
Schließlich das Kind. Jesus ist ganz Kind. Nirgendwo im Evangelium
steht, dass Jesus als Kind Wunder gewirkt hat, wie einige Apokryphen,
z. B. das sog. Jakobusevangelium behaupten (Jesus formte aus Ton ein
paar Vögelchen, hauchte sie an, und sie flogen davon). Nicht dass er
das nicht hätte tun können. Er hätte die Macht gehabt, denn er war
schon als Kind der Gottmensch, nicht erst bei der Taufe im Jordan,
aber es lag ihm daran, durch sein normales Leben in Nazareth zu
demonstrieren, dass die Christusnachfolge (die ‚Imitatio Christi’) im
Rahmen ganz alltäglicher Dinge nicht nur möglich, sondern für die
meisten Menschen genau das Richtige ist. Wie in vielen Familien stirbt
der Vater zuerst. Jesus, der bis zu seinem 30. Lebensjahr in Nazareth
verbleibt, begleitet ihn zu einem guten Tod. An dieser Stelle wären
gleich zwei Anmerkungen zu machen. Zum einen: Muss ein junger
Mensch nicht spätestens ab dem 18. Lebensjahr von zuhause ausziehen? Ich würde nicht sagen, dass das heute in jedem Falle falsch ist,
aber zumindest ist es ein Teil einer Auffassung, die man schon als Ideologie bezeichnen muss: Du musst auf jeden Fall dein eigenes Leben leben.
Dabei hat dir die alte Generation überhaupt nichts zu sagen. Nicht immer, aber
in sehr vielen Fällen ist da der junge Mensch überfordert, und die Alten
vereinsamen vor der Zeit. Die Hl. Familie nachahmen heißt dabei
sicher nicht, dass der heranwachsende Mensch bis zu seinem 30.
Lebensjahr zuhause bleiben muss. Zumal in diesem Alter die Frage
nach der möglichen Gründung einer eigenen Familie in den Vordergrund treten kann. Das ist bei Jesus kein Gesichtspunkt, da er selbst
zwar die Ehe hoch schätzt und sie sogar zur Würde eines Sakraments
erhebt, aber für seine eigene Person die Ehelosigkeit ‚um des Himmel-
90
Peter von Steinitz
reichs willen’ vorzieht (auch darin gibt er Vorbild, aber diesmal nur für
einige wenige, nach dem Wort „Wer es fassen kann, der fasse es!“)
Die Hl. Familie, so können wir mit Fug und Recht sagen, bietet für den
Menschen, der sich in einer unruhigen Welt an Werten orientieren möchte,
auch schon unter bloß menschlichen Gesichtspunkten in der Tat ein
ideales Vorbild. Denn – und das sei an dieser Stelle eingeschoben – der
Mensch kann sich viel leichter an Personen orientieren als an Ideen. Nur
die wenigsten sind so sehr an abstraktes Denken gewöhnt, dass es ihnen
genügt, einige theoretische Richtlinien zum Thema Familie zu hören, um
genau zu wissen, wie ‚man es macht’.
C. Orientierung der christlichen Familie aus der übernatürlichen
Sicht des Glaubens
Aber nicht nur unter den erwähnten rein menschlichen Gesichtspunkten, die wahrhaftig nicht gering zu schätzen sind, bietet die Familie
von Josef, Maria und Jesus eine Hilfestellung zur Orientierung.
Im Lichte des Glaubens an die Menschwerdung des Logos, des Gottessohnes im jungfräulichen Schoß Marias, an die Erlösung, die durch ihn für
alle Menschen gewirkt wurde, gewinnt das Thema „christliche Familie“
eine weitere Tiefendimension. Denn wenn der Sohn Gottes von den etwa
dreiunddreißig Jahren seines irdischen Lebens dreißig in einer so auffallend
unauffälligen Familie zugebracht hat, und diese Jahre sicher nicht nur dazu
da waren, die Zeit bis zu seinem öffentlichen Auftreten zu überbrücken,
dann stellen sie offensichtlich eine Botschaft dar. Eine Botschaft, die alle
Menschen angeht, aber im besonderen die große Mehrzahl derjenigen, die
eine Familie gründen und diese im Sinne Gottes gestalten wollen.
Der hl. Josefmaria Escrivá, der Gründer des Opus Dei, der einen Weg
der Heiligkeit nicht nur für zölibatäre, sondern auch für verheiratete
Christen konkretisiert hat, sagt in „Christus begegnen“: „Ich wünsche mir die
Häuser von Menschen, die Christen sind, so hell und freundlich wie das Haus der
Heiligen Familie. ... Jedes christliche Haus müsste ein Haus des Friedens sein, in dem,
über die alltäglichen kleinen Unstimmigkeiten hinweg, jene tiefe und aufrichtige Sorge
füreinander und jene heitere Gelassenheit spürbar werden, die aus einem tief gelebten
Glauben kommen.“ Und er stellt klar: „Die Ehe ist für einen Christen keine bloße
gesellschaftliche Einrichtung und noch viel weniger bloßes Heilmittel für die menschliche
Schwachheit: Sie ist eine wahrhaft übernatürliche Berufung, sacramentum magnum, ...
Die Heilige Familie und die christliche Familie
91
ein Vertrag, den ein Mann und eine Frau für immer schließen, denn – ob wir es wollen
oder nicht – die von Christus eingesetzte Ehe ist unauflöslich.“ Im Folgenden
spricht der Heilige davon, dass die Ehe ein von Gott gegebener Weg ist,
um die christliche Heiligkeit auf Erden zu erreichen. Der Verheiratete kann
nicht an seinem Ehepartner vorbei oder ohne ihn zur christlichen Vollkommenheit gelangen.
„Das Familienleben, der eheliche Umgang, die Sorge um die Kinder und ihre Erziehung, das Bemühen um den Unterhalt der Familie und ihre finanzielle Besserstellung, die gesellschaftlichen Kontakte zu anderen Menschen, dies alles – so menschlich
und alltäglich – ist gerade das, was die christlichen Eheleute zur Ebene des Übernatürlichen erheben sollen.“ Daran ist also nicht zu deuteln: Alle Menschen sind zur
Heiligkeit berufen, auch die, die eine Familie gründen, denn Christus hat
zu allen, nicht nur zu den Priestern und Ordensleuten, gesagt: „Seid heilig
wie euer Vater im Himmel heilig ist!“
Wir deuteten schon an, dass die Heiligkeit des Menschen sich verwirklicht in der Nachfolge Christi. Und nicht eine Gruppe, sondern nur der
einzelne Mensch wird heilig. Wenn also eine christliche Familie sich am
Vorbild der Familie von Nazareth ausrichtet, so heißt das, dass sie verschiedene Verhaltensmuster von dieser ‚Modellfamilie’ übernimmt, aber
nicht nur in der Absicht, gut durchs Leben zu kommen wie jene, sondern
um auch das Ziel zu erreichen, das jene schon erreicht haben, nämlich die
Vollendung in der Ewigkeit, also die Heiligkeit. Wenn wir also das Leben
von Jesus, Maria und Josef in Nazareth studieren, sehen wir, dass diese
Familie selbst um ihre Heiligkeit bemüht ist, die sie von dem in ihrer Mitte
lebenden Sohn empfängt. Mit anderen Worten: Im Umgang mit dem
Gottessohn (er selbst nennt sich mit Vorliebe ‚Menschensohn’) wachsen
Maria und Josef und gelangen zur Fülle ihrer Persönlichkeit, denn Heiligkeit ist ja nichts anderes als die volle Entfaltung der Person. Heilig ist man
dann, wenn man DER Mensch geworden ist, den Gott im Sinn hatte, als er
uns erschuf. Anders ausgedrückt: Maria und Josef leben mit Jesus nicht
einfach ‚so vor sich hin’. Vielmehr hat ihr Leben das Ziel, die Vollkommenheit zu erreichen, die den Menschen sozusagen ‚himmelsfähig’
macht.
Betrachten wir kurz, wie die drei heiligen Personen einer normalen
christlichen Familie konkrete Hilfestellung geben. Hier taucht das schon
angedeutete Stichwort ‚Tugenden’ auf.
92
Peter von Steinitz
D. Die Tugenden im Leben der christlichen Familie
Der hl. Josefmaria gibt uns noch einmal einen Hinweis: „Tag für Tag das
Zuhause zu heiligen und in feinfühliger Liebe eine durch und durch familiäre
Atmosphäre zu schaffen: darum geht es. Diese Heiligung eines jeden Tages erfordert
viele christliche Tugenden.“
Escrivá ist unter den modernen christlichen Schriftstellern derjenige, der
nach meinem Dafürhalten in einmaliger und äußerst konsequenter Weise
die Rede von den Tugenden aufnimmt und ins Milieu des heutigen
Menschen hineinstellt. Das Wort Tugend ist heute für viele, auch viele
Christen, fast ein Fremdwort geworden. Ein geistreicher französischer
Schriftsteller (Jerome Lejeune) sagte einmal: „Tugend kommt eigentlich
heute nur noch vor im Wörterbuch der Académie Francaise und in der
Operette.“ Dabei sind es die Tugenden, die für die Beurteilung der Heiligkeit eines Menschen den Ausschlag geben, wenn Rom in einem Selig- oder
Heiligsprechungsprozess darüber befindet, ob ein Mann oder eine Frau
selig bzw. heilig zu nennen ist. Da werden nicht die außerordentlichen
Gnadengaben wichtig – wie Wunder wirken, spektakuläre Krankenheilungen vollbringen, Prophezeiungen verkünden oder gar die Fähigkeit
der Seelenschau. All dies wird registriert, spielt aber bei der Beurteilung der
Heiligkeit einer Person kaum eine Rolle. Denn das sind ja nur gratiae gratis
datae, d. h. Gnaden, die ohne Verdienst gegeben werden, und die hauptsächlich zur Heiligung der anderen da sind. Vielmehr sind das entscheidende Kriterium die Tugenden des ‚Kandidaten’, die unter die Lupe
genommen werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Rolle des
advocatus diaboli zu sehen, der alles ins Feld führen muss, was am Tugendleben des Betreffenden evtl. auszusetzen ist.
Was ist eine Tugend? Die großen Theologen des Mittelalters, Thomas
von Aquin, aber auch schon die Generation vor ihm, haben gedanklich
den Unterschied zwischen einer Tugend als bleibender Haltung und einem
Tugendakt als einer konkreten aktuellen Handlung herausgearbeitet. Der
Unterschied wird noch deutlicher am Beispiel des Gegenspielers der
Tugend – des Lasters. So besteht ein häufiger Verständnisfehler darin, dass
man sagt ‚die sieben Hauptsünden’, wo es eigentlich heißen müsste ‚die
sieben Hauptlaster’. So wie die Tugend der habitus ist, die bleibende Einstellung, und der Tugendakt die verdienstvolle Tat, ebenso ist das Laster
der habitus und die Sünde die aktuelle schlechte Tat. Diese muss man
beichten, einen habitus, eine Veranlagung o. ä. kann man nicht beichten. Sie
ist da, wird aber erst zu etwas Schlechtem, wenn aus ihr eine aktuelle
Die Heilige Familie und die christliche Familie
93
Sünde hervorgeht. Beispiel: Jemand, der zur Unwahrheit neigt, nimmt sich
aber immer wieder zusammen und kämpft dagegen an – er hat nicht nur
nichts zu bekennen, sondern er erwirbt im Gegenteil ein geistliches Verdienst durch seinen asketischen Kampf. Ähnlich bei der Tugend: Mit der
Gnade Gottes erwirbt der Mensch einen guten habitus, eine positive
Haltung. Aber verdienstvoll wird das erst, wenn daraus tugendhafte Handlungen resultieren.
Dann aber wird bei den Tugenden deutlich, dass sie etwas anderes sind
als eine natürliche Veranlagung. Die Gelassenheit ist eine Tugend (man hat
darum gekämpft), die man unterscheiden muss von einer bloß natürlichen
phlegmatischen Veranlagung. Interessant für das ewige Leben wird es,
wenn die Tugend eine nicht bloß menschliche Tugend ist (die findet man
oft auch bei den Heiden), sondern eine übernatürliche. Es ist ein Unterschied, ob jemand die Tugend der Armut, d. h. der Loslösung, lebt, weil er
weiß, dass ihm das eine innere Freiheit und souveräne Überlegenheit vermittelt, oder ob er sich von den Dingen innerlich loslöst um der Liebe
Christi willen (Beispiel: der hl. Franz von Assisi).
Hören wir noch einmal den heiligen Escrivá, wie er die Tugenden benennt, ohne allerdings eine erschöpfende Aufstellung zu geben: „Da sind
zuerst die theologischen Tugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe) und dann
all die übrigen: die Klugheit, die Treue, die Ehrlichkeit, die Einfachheit, die
Arbeitsamkeit, die Freude...“. (Ich möchte hinweisen auf den Internetauftritt zum Thema Familienlehre des hl. Josefmaria:
www.josemariaescriva.info)
Nach der klassischen Tugendlehre können wir zur Klugheit die Tapferkeit, die Mäßigkeit und die Gerechtigkeit hinzufügen. Dann haben wir die
so genannten Kardinaltugenden, die auch schon die Heiden kannten
(Aristoteles legt eine ausgearbeitete Tugendlehre vor, die bei ihm allerdings
nur irdisch und nur menschlich, also nicht übernatürlich aufgefasst wird).
E. Die Tugenden im Leben der Heiligen Familie
Tugenden, die nur natürlich gesehen werden, lassen die Menschen nicht
selten blass und langweilig erscheinen. Man denke an die Dramenfiguren
eines Racine oder Corneille oder an die Tugendbolde in den Dramen
Senecas. Sobald aber die Tugend übernatürlich fundiert ist, hebt sie das
menschliche Niveau um ein Beträchtliches. Das sehen wir in vollendetem
94
Peter von Steinitz
Maße bei der Heiligen Familie. Wie bezaubernd ist die junge Mutter, die
die Tugenden der Reinheit, der Selbstvergessenheit, der Ergebenheit in den
Willen Gottes verkörpert. Sie ist die ganz Treue, die Kluge; und wie klar
zeigt sie, dass die echt gelebte Tugend der Demut Anmut verleiht. Wenn
sie im Magnificat von ihrer Demut spricht, weiß sie um den Wert ihrer
Tugenden.
Beim heiligen Josef bewundern wir ebenfalls die Treue, nicht nur zu
seiner Gattin, sondern in erster Linie zum Willen Gottes, seinen Gehorsam, der nichts Serviles an sich hat, seine Arbeitsamkeit. Wo Mann und
Frau sich um die christlichen Tugenden bemühen, sind sie im vollen Sinne
männlich und weiblich. Sollte das denn den modernen Menschen nicht
anziehen, wenn er sich darum bemüht, die heiligen Personen realistisch zu
betrachten?
Selbst in dem einen Punkt, der bei der Familie von Nazareth anders aussieht als bei den übrigen christlichen Familien, nämlich in der Art, wie die
Tugend der Reinheit gelebt wird, erscheint keinerlei Bruch oder Absonderlichkeit. Dass Maria und Josef die eheliche Liebe ohne Ausübung der
Geschlechtlichkeit pflegen, ist ein Hinweis darauf, dass beides vor Gott
wertvoll ist: die Ausübung der Sexualität in der Ehe und der Verzicht auf
die Sexualität um des Himmelreiches willen. Maria und auch Josef haben
jungfräulich leben wollen. Darüber liegt ein Geheimnis Gottes, das wir
respektieren müssen. Andererseits ist die von Gott geschaffene Sexualität
in der Ehe, wo sie nach dem Willen Gottes hingehört, nicht nur erlaubt,
sondern heilig. Die Ehegatten gehören einander, und ein Verzicht auf die
Sexualität ist nur mit beiderseitigem Einverständnis in Ordnung.
Josef ist zwar nicht dem Fleische nach, aber doch in vollem Sinne Vater.
Auch hier finden wir für unsere Zeit, die als ‚vaterlos’ charakterisiert wird
und tatsächlich auf der Suche nach einem neuen, haltbaren Vaterbild ist,
ein wunderbares Vorbild. Neue wissenschaftliche Forschungen zur Rolle
des Vaters in der Familie finden heraus und bestätigen, was wir immer
schon wussten: dass nämlich die Liebe des Vaters zu seinen Kindern, die
anders ist als die mütterliche Liebe, dem Kind wesentliche Elemente in
seinem Heranwachsen zu geben hat. Eine amerikanische Studie über dieses
Thema (‚Why fathers count: the importance of fathers and their
involvement with children’ von Sean E. Brotherson) kommt zu dem
Schluss, dass sich der Einfluss der Väter bei der ethisch moralischen Entwicklung der Kinder auf verschiedene Weise zeigt. Es könne etwas so
Simples sein wie das Einhalten von Versprechungen, die man seinem Kind
Die Heilige Familie und die christliche Familie
95
gemacht hat, oder das Setzen von bestimmten Grenzen, indem man klar
macht, welches Verhalten akzeptabel ist und welches nicht.
Herzerfrischend ist es sich vorzustellen, wie Jesus als Kind in ein Leben
der Tugenden hineingewachsen ist. Wie er von seinen Eltern gelernt hat. Ja
atemberaubend der Gedanke, dass ein Geschöpf, Josef, dem Schöpfer
beibringt, wie er mit den von ihm geschaffenen Dingen umzugehen hat.
Wie er mit Werkzeugen und Werkstücken arbeitet. Jesus lernt von Josef
das Arbeiten mit all seinen vielen Einzelheiten, er, der in seinem Sechstagewerk alles aus dem Nichts geschaffen hat. Es würde zu weit führen, an
dieser Stelle von dem Wert der Arbeit zu sprechen und davon, wie bei der
Arbeit die Ausübung der Tugenden einen entscheidenden Anteil hat.
Im Haus von Nazareth wird viel und ernsthaft gearbeitet. Aber auch das
Ausruhen, die Heiligung des Sabbats und überhaupt das geistliche Leben,
nicht zuletzt die Freude, spielen eine Rolle in diesem so harmonischen
Milieu.
Der zweite Einwand, der gegen das Exemplarische der Familie von
Jesus, Maria und Josef scheinbar gilt, ist der, dass der Sohn etwas derart
Besonderes ist, dass ein Kind oder Kinder sich kaum daran orientieren
können. Jesus ist wirklich Mensch, aber er ist auch wahrer Gott. Das ist
sonst niemand. Aber auch dieser Einwand ist nicht stichhaltig – aus einem
besonders beglückenden Grund heraus. Die Tatsache nämlich, dass Jesus
‚unerkannt unter den Menschen war’, wie es die Liturgie ausdrückt, ist ja
unser ganzes Glück. Er hat seine Gottheit verhüllt, damit wir uns ihm
ungeniert nähern können. Das aber führt dazu, dass etwas geschieht,
wovon der Mensch eigentlich in seinen kühnsten Fantasien nicht zu
träumen wagen würde, dass nämlich, wie die Kirchenväter sagten ‚Gott
menschlich wurde, damit der Mensch göttlich werden könne’.
Halten wir fest:
Die Hl. Familie ist keineswegs unnahbar, wie große Persönlichkeiten
sonst, sondern sie ist nachahmbar, und zwar buchstäblich für alle
Menschen. Alle können sie nachahmen, sogar sich mit ihr identifizieren,
gleich welcher Rasse oder Nation. Ja, auch diejenigen, die aus irgendeinem
Grunde keine Familie gründen, finden in der Hl. Familie Orientierung.
Gestatten Sie mir, meine Ausführungen mit einem Wort des Hl. Vaters,
Papst Benedikt XVI. zu beschließen, mit dem er in einer Ansprache am 13.
September 2007 erneut auf die Bedeutung der Familie hingewiesen hat:
96
Peter von Steinitz
„Die Familie ist der Kernbereich, in dem eine Person zuallererst
menschliche Liebe kennen lernt und Tugenden wie Verantwortung, Großzügigkeit und brüderliche Anteilnahme entwickelt.“ Dann fuhr er fort:
„Starke Familien gründen auf dem Fundament starker Ehen. Starke Gesellschaften gründen auf starken Familien.“
Maria und Josef
Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute
Christa Meves
Als Grundlage dieses Vortrages sollen die Kachelbilder der spanischen
Künstlerin Palmira Laguéns dienen, die sich im Eingang des spanischen
Wallfahrtsortes Torreciudad und auch schon in meinem Buch „Ein neues
Vaterbild“ befinden. Von diesen Bildern habe ich zehn ausgewählt.
Die Bilder und ihr biblischer Hintergrund sind ganz besonders symbolträchtig und bieten deshalb sowohl für das Verständnis der Heilsgeschichte
als auch für das Verständnis der Beziehung von Vater und Mutter zu ihren
Kindern wie auch als Hilfe zur Bewältigung von Konflikten in der
modernen Familie gute Möglichkeiten.
Das ist eine Behauptung. Sie bedarf der kritischen Nachfrage:
Geben diese beiden biblischen Gestalten, Maria und Josef, wirklich
etwas Positives im Hinblick auf den Erziehungsstil von Eltern heute vor?
Auf den ersten Blick scheint es wenig wahrscheinlich: Ist die Welt, in der
Jesus Christus aufwuchs, nicht der unseren absolut fern – unserem Leben,
das von der Technik geradezu beherrscht wird? Und sind nicht allein
unsere Landschaft, unser Klima und unsere verstädterte Lebensform so
anders als das damalige Israel? Ist ein Vergleichen damit nicht irgendwie an
den Haaren herbeigezogen? Und geben denn die kargen biblischen Texte
über den Erziehungsstil, mit dem der kleine Jesus erzogen wurde, überhaupt irgendetwas her?
So lässt sich fragen. Aber diese Skepsis verschwindet rasch, wenn man
sich in die entsprechenden Texte – die meisten bei Lukas, einige auch bei
Matthäus – vertieft und sie in Bezug auf dieses Thema abzuklopfen
beginnt; denn dann zeigt sich, dass man als moderne Eltern heute wohl
beraten ist, wenn man sich bei der Erziehung seiner Kinder an die großen
Vorbilder hält.
Ich werde jetzt in der zeitlichen Reihenfolge an den entsprechenden
Texten entlanggehen. Als erstes ist da Lukas 1 mit der Verkündigung zu
nennen. Dieser Text enthält geradezu DIE entscheidende Voraussetzung
98
Christa Meves
dafür, dass Erziehung gelingen kann. Das große „Ja“ – dieses: „Mir geschehe, wie Du, Gott, es für mich bestimmt hast.“ – kennzeichnet bei
Maria ihr absolutes Gottvertrauen.
Was lässt sich für unsere Moderne daraus an Erkenntnis gewinnen?
Es ist ratsam, dass sich jede junge Frau, die schwanger geworden ist, in
Marias Nachfolge, in die Unbedingtheit dieser Akzeptanz stellt; denn diese
Einstellung ist ein Schutz gegen jegliche Grenzüberschreitung, die wir
Mütter uns gegenüber unseren leiblichen Kindern leicht einmal herausnehmen können. Schon die Vorstellung, dass diese unsere „Leibesfrucht“
unser Eigentum sei, über das wir willkürlich verfügen könnten, ist eine
erhebliche Grenzüberschreitung.
Wie bei Maria ist es den Müttern heute förderlich, Mutterschaft als ein
Geschenk Gottes und als einen Auftrag zu verstehen, etwa so: „Mein
Leben darf auf diese Weise großen Sinn bekommen. Ich bin zum Muttersein für dieses Kind berufen. Indem ich mich dieser Aufgabe stelle, diene
ich unmittelbar dem Willen Gottes.“ Es lohnt sich, eine solche Einstellung
– wie Maria – als das erste große „JA“ zum Kind zu gewinnen und diese
allezeit „im Herzen zu bewahren“, sodass sich diese Einstellung wie ein
roter Faden durch den Erziehungsprozess des Kindes hindurch zu ziehen
vermag; es ist sogar statistisch nachgewiesen, dass eine solche gläubige
Einstellung wesentlich bessere Erziehungsfrüchte zeitigt als die von
Atheisten.
Eine Entscheidung des Vaters von ähnlicher Art ist aber nicht minder
wichtig und nicht weniger einfach als die der Mutter des ungeborenen
Kindes. Ob leiblicher Vater oder – wie Josef – Ziehvater: Vaterschaft ist
grundsätzlich weniger unmittelbar als Mutterschaft. Vaterschaft ist schließlich zunächst wesentlich weniger durch die Natur unterlegt. Das Kind als
Ergebnis der intimen Beziehung zur Frau besteht ja keineswegs von Anfang an als selbstverständliche Absicht des Mannes, ein Kind zu zeugen.
Auch moderne Väter können – wie Josef – von der Schwangerschaft ihrer
Frau überrascht werden, ja nicht wenige – so beweisen es zahlreiche Vaterschaftsprozesse – haben Zweifel, dass sie überhaupt die Erzeuger des ungeborenen Kindes seien. Wenn das bei den üblicherweise gezeugten
Kindern gar ein solches Geheimnis ist wie bei der Schwangerschaft von
Maria, braucht der Vater geradezu so etwas wie himmlischen Zuspruch,
um die Kraft zu entwickeln, das Kind und damit seine Vateraufgabe annehmen zu können. Josef erschien deshalb ein Engel. Und dergleichen ist
in der Tat nötig, um ihn – und damit jeden modernen Vater heute auch –
99
Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute
davon zu überzeugen, dass es so etwas wie ein Befehl Gottes ist, das Kind
durch seine Vaterschaft unter seinen Schutz zu stellen.
Für den Mann ist es von höchster Dringlichkeit, dass er diesen Zusammenhang begreift: Vaterschaft ist Gottes Geschenk und fordert zu
höchster Verantwortlichkeit für seinen Nachwuchs heraus; denn nur eine
Einstellung von Vaterschaft dieser Art kann es ermöglichen, dass der Vater
durch sein Tun und Sein für das Kind während dessen langer Kindheit zu
einem Vorbild hin zum himmlischen Vater zu werden vermag; ein Vater,
der sich damit als im Dienst vor Gott versteht, der ein Langmütiger,
Liebender, Weitherziger, aber doch auch Grenzen Setzender ist, der den
Sinn des Lebens, Statthalter Gottes auf Erden zu sein für seine Kinder und
mit ihnen, ihnen so Orientierung gebend, im Auge behält.
Diese überzeitlichen Vorgaben Gottes sind wunderbar eindringlich in
dem Matthäustext 1,18-24 enthalten. Als Josef von der Schwangerschaft
Marias erfuhr, wollte er sich von ihr trennen, doch der Engel übermittelte
ihm im Traum seinen großen Auftrag, sodass Josef ihn annehmen konnte.
In wunderschönen Kachelbildern ist diese Szenerie von der spanischen
Malerin Palmira Laguéns zur Darstellung gebracht worden. (Bild 1 und 2)1
Aber auch die weiteren Stationen der Heilsgeschichte können für
moderne Eltern Erziehungshilfe sein. Als nächstes kann da die so knappe
Schilderung der Begegnung der schwangeren Maria mit der ebenfalls
schwangeren aber sehr viel älteren Elisabeth dienen. Die Bedeutung dieser
Begegnung hat viele geheimnisvolle Facetten, aber für die moderne Frau
auch folgende: Mutterschaft steht grundsätzlich in einer Kette, die das
tradierte Wissen und mütterliche Weisheit als durch Generationen hindurch überlieferte Erfahrung enthält. Schwangerschaft, mit all ihren
nirgendwo festgeschriebenen Verhaltensanweisungen in der Verantwortung für das wachsende neue Wesen in ihrem Leib ist Frauensache, ja,
es war einst Geheimwissen zwischen den alten und den jungen Müttern.
Die Großmütter und die Mütter stehen durch die Nähe der Blutsverwandtschaft zueinander in einer das Leben weiterreichenden Verbindung.
Gemeinsame Freude ist die Kennzeichnung dieses Geheimnisses.
Wir Modernen haben in dieser Hinsicht einen gefährlichen Abbruch mit
der Tradition vollzogen, indem wir die Geburtsvorbereitungen ausschließlich in die Hand der Medizin gegeben haben. Die Lebensklugheit er1
Die Betrachtungen zu den beiden ersten Bildern und die Bilder selbst sind hier
ausgelassen. Die Bildnummerierung entspricht der im Buch.
100
Christa Meves
fahrener Frauen aus früheren Generationen kann sie aber nicht ersetzen.
Die Medizin kann nichts vom Mysterium der schwangeren Frau verstehen.
Erst in allerjüngster Zeit musste die pränatale Hirnforschung neu darüber
belehren, wie wesentlich es für die seelische Kraft des Kindes ist, dass
dessen Mutter – am besten in Gemeinschaft mit Schicksalsgefährtinnen –
die unbedingte, jubelnde oder auch stille, glückliche Freude über das
„hüpfende“ neue Leben in ihrem Leib durch diesen hindurch erfahren
kann. Wir sollten – an Elisabeth und am Magnifikat erfahren – uns
schnellstens wieder dem Mysterium der Schwangerschaft annähern. Stress
und Angst können schon hier das ungeborene Kind unruhig machen. Die
Verantwortung der jungen Eltern, aber auch des Umfeldes und der Gesellschaft für das Kind während der Schwangerschaft ist also riesengroß, wie
wir dem Besuch Marias bei Elisabeth entnehmen können.
Bild 3
Herbergssuche
In jenen Tagen erließ
Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Landes in Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum
ersten Mal; damals war
Quirinius Stadthalter von
Syrien. Da ging jeder in
seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. So zog
auch Josef von der Stadt
Nazaret in Galiläa hinauf
nach Judäa in die Stadt
Davids, die Betlehem heißt;
denn er war aus dem Haus
und Geschlecht Davids. Er
wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete. (Lk
2,1-5)
Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. (Joh
1,11)
Dieses Bild zeigt Josef als den Vorangehenden, den Aktiven, den Anklopfenden. Wieder sind beide Aufgaben sehr verschieden. Maria ruht in
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Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute
passiver Selbstverständlichkeit, wie es sich für eine geborgene Schwangere
gehört, auf einem Reitesel. Sie steht unverrückt im „Fiat“, der großen
glücklichen Ergebenheit des Gottgehorsams. Aber Josef braucht eine
Herberge. Er trägt die Verantwortung, er braucht eine Stätte für die Geburt dieses Kindes Gottes.
Den jungen Vätern irdischer Kinder ergeht es heute (wenn auch nicht
ganz so drastisch) oft ähnlich. In welchen Wohnungen sind noch Familien
mit kleinen Kindern erwünscht? Sie gelten als lästig, als Störfaktoren. Man
lässt – schrecklicher Weise – hierzulande die Familie „im Wind stehen“.
Sollen sie doch sehen, wie sie mit ihrem Nachwuchs zurechtkommen!
Diese falsche Einstellung ist eine der Ursachen unseres gefährlichen Geburtenschwunds.
Bild 4
Die Geburt Jesu
Als sie dort waren,
kam für Maria die
Zeit ihrer Niederkunft, und sie gebar
ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und
legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für
sie war. In jener Gegend lagerten Hirten
auf freiem Feld und
hielten Nachtwache
bei ihrer Herde. Da
trat der Engel des
Herrn zu ihnen und
der Glanz des Herrn
umstrahlte sie. Sie fürchteten sich sehr, der Engel aber sagte zu ihnen: Fürchtet euch
nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden
soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr.
Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln
gewickelt, in einer Krippe liegt. Aber plötzlich war bei dem Engel ein großes
himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach: Verherrlicht ist Gott in der Höhe und
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Christa Meves
auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade. Als die Engel sie verlassen hatten
und in den Himmel zurückgekehrt waren, sagten die Hirten zueinander: Kommt, wir
gehen nach Betlehem, um das Ereignis zu sehen, das uns der Herr verkünden ließ. So
eilten sie hin und fanden Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag. Als sie
es sahen, erzählten sie, was ihnen über dieses Kind gesagt worden war. Und alle, die es
hörten, staunten über die Worte der Hirten. (Lk 2,6-18)
Was kann uns die Geburtsszene in Betlehem vermitteln? Nicht die
Texte des unendlich reichhaltigen Schrifttums zu diesem Thema sollen hier
wiederholt werden, sondern lediglich einige Fakten, wie sie unnachahmlich
sinnträchtig für moderne Eltern in der Darstellung der Geburtsszene von
Palmira Laguéns enthalten sind: Vom ersten Schrei des Kindes an sollte es
von beiden Eltern gehalten werden. Näher, unmittelbarer von der Mutter,
aber in einer Doppelfunktion auch vom Vater: Als der unvermittelt in die
Verantwortung groß hineinwachsende Mann nimmt der junge Vater, hier
also der heilige Josef, Mutter und Kind in seinen Schutz. Die teilnehmenden Personen im Umfeld, hier die Hirten, fügen sich in das so
zentral wichtige Ereignis ein.
Beide, Mutter und Vater, sind auf das Kind bezogen, was im Halten des
Tuches durch beide von der Künstlerin so sinnträchtig dargestellt ist. Und
auch dieses ist bedeutsam: Das Kind ist der Mutter unmittelbar zugeordnet. Es ruht auf ihrem Schoß, während der Vater es mit der Spitze
des Tuches nur – und damit eben mittelbar – berührt und sich eher, aber
mit seinem ganzen Leib eine mächtige Schutzwand bildend, dennoch im
Hintergrund hält. Die Verschiedenheit von Mutter und Vater in ihrer Aufgabe als Eltern wird auf diese Weise herrlich einfach und wahr dargestellt –
eine Wahrheit, die eine tumbe Gesellschaft heute gar nicht mehr wahrhaben will und statt dessen von austauschbaren Eltern–„ROLLEN“
spricht.
An Weihnachten wird Familie festgeschrieben. Betlehems Stall ist das
unsterbliche Bild dafür, dass ein liebender Gott-Vater die Familie als die
Keimzelle vorbereitender Zukunft vorgesehen hat. Dieses Fest ist deshalb
derartig durchschlagend, dass die Menschen von heute noch so sehr vom
Atheismus verführt sein können, sie sitzen am Weihnachtsabend dennoch
millionenfach auf den Kirchenbänken und sind von diesem Geschehen bis
in die tiefsten Winkel ihres Herzens hinein angerührt. Weihnachten will
symbolisieren, dass die Familie als Vorgabe Gottes verstanden sein will
und deshalb unaufgebbar ist, dass sie ein ermutigendes Fanal ist, durch
alles verführerische Unverständnis unserer Zeit hindurch. Vom Licht der
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Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute
Weihnacht her werden noch heute Eltern gekräftigt, zusammenzuhalten
und für ihre Kinder persönlich einzustehen. Wir müssen das in unser
Bewusstsein nehmen: Der atheistische Sozialismus hat das anmaßende
Ziel, Familie ganz abzuschaffen und Kindererziehung zu einer Angelegenheit des Staates zu machen. Viele neue Gesetze in jüngster Zeit beweisen
das.
Und wie zentral, wie umwerfend ist dieses Gefühl erst für die junge
Mutter selbst, wenn diese ihr Kind in den Armen hält. Nichts geht über die
Unfasslichkeit dieses Glücks, selbst wenn die Hütte noch so karg ist, in der
dieses Wunder geschieht. Das Neugeborene erweckt ein sprachloses
Staunen und das Verlangen, das Kind an die Brust zu nehmen, sich diesem
Wunder ganz und gar – mit aller Verschwendung der eigenen Lebenskraft
– hinzugeben. Es gibt für die seelisch gesunde Frau nichts Vergleichbares
an Glück mit diesem Erleben von schwerer Qual und höchstem Berührtsein in unmittelbarer Abfolge wie das Geburtserleben.
Das überzeitliche Bild der Heiligen Familie spiegelt die Wahrheit des
von Gott so und nicht anders Gedachten. Durch die Liebe der Eltern für
ihr Kind verwirklicht sich Gottes Wille mit der Menschheit.
Die Hirnforschung belegt das mit einer erstaunlichen Entdeckung:
Mutter und Kind – aber auch, nur in etwas geringeren Dosen der Vater –
werden im Augenblick der Konstituierung ihrer, einer neuen, Familie mit
dem Glückshormon Oxytocin geradezu überschüttet, um durch diese
emotionale Erschütterung das Band der neuen Dreiheit geradezu zu vernieten. Das ist eine schöne Bestätigung dafür, WIE WICHTIG GOTT die
Familie als Nest für die Kinder nimmt, und wie nötig es ist, dass jedes
Elternpaar dieses als einen unumstößlichen Auftrag annimmt, weil er von
Gott selbst so immens wichtig genommen wird. Jetzt werden Mann und
Frau in die Pflicht genommen. Von jetzt an müssen sie zusammenhalten.
Also nichts da mit Scheidung, Fremdgehen, Ehe-zu-Dritt – oder was
unsere hochmütige Generation sich alles sonst noch ausgedacht hat. Das
Postulat der Ehe auf Lebenszeit, wie Christus es festschreibt, ist deshalb
eine Bekräftigung dieses Willens unseres Gottes und damit die maßgebliche Voraussetzung für das Gedeihen des Kindes. Die Hirnforschung
bestätigt: Das GEFÜHL DES GELIEBTSEINS lässt die Synapsen
sprießen. Es ist DIESES Gefühl, das den Herangewachsenen menschlich
und das heißt bindungs- und arbeitsfähig werden lässt!
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Bild 5
Christa Meves
Die Beschneidung
Als acht Tage vorüber
waren und das Kind beschnitten werden sollte, gab man ihm
den Namen Jesus, den der
Engel genannt hatte, noch ehe
das Kind im Schoß seiner
Mutter empfangen wurde. (Lk
2,21)
Palmira Laguéns schließt in ihren Kachelbildern jetzt zunächst die
Bechneidungsszene an, bei der der Vater Josef im Vordergrund steht – ein
Ereignis, das die Dominanz Gottes im Leben des Kindes versinnbildlicht.
Sie bezieht sich dabei auf den Text Lk 2,21. Einiges dazu muss zum Verständnis dieses religiösen Brauches eingefügt werden: Seit der Festlegung
der mosaischen Gesetze galt und gilt im Judentum die Beschneidung für
jeden männlichen Angehörigen des jüdischen Volkes als ein Kennzeichen
der Auserwählung Israels durch Gott, ein Zeichen des Bundes, den Gott
Jahwe in mosaischer Zeit mit Israel schloss. Symbolisiert durch die Entfernung der das Glied umhüllenden Vorhaut, ist sie ein Zeichen dafür, dass
das Kind, seiner rohen Natur entkleidet, der Zugehörigkeit Gottes anheim
gestellt wird. Pars pro toto soll ein Stück des rohen Naturtriebes zwecks
einer Bindung zwischen Gott und Mensch geopfert werden.
Das ist eine sehr männliche Angelegenheit, und deshalb steht Maria
betend mit leidendem Gesichtsausdruck im Hintergrund. Josef hat hier in
tapferer Behutsamkeit Vateraufgabe. Er tut es in zarter Beugung seines
Hauptes. Er ist in das Ritual der Opferung einbezogen. Er durchleidet es
mit wie das Kind in seinem Arm, das nun den Namen Jesus erhält.
Der Vater steht bei diesen rituellen Handlungen in Israel sehr im
Vordergrund. Er bringt auf diese Weise auch seine eigene Macht Gott dar;
er nimmt sie zurück. Wie nötig hätte unsere moderne Männerwelt generell
eine solche Einstellung der Väter zu ihren Kindern! Wenn man auch heute
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Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute
die Vateraufgabe in die Ver-Antwortung vor Gott stellen würde, dann wäre es undenkbar, dass man die Kinder nach eigener Maßgabe zu manipulieren und zu dressieren versuchen würde. Bewusste Frömmigkeit, wie
Josef sie hier vollzieht, könnte auch die Mächtigen davor bewahren, die
junge Männergeneration auf Angriffskriege vorzutrimmen und sie
millionenfach als Kanonenfutter zu missbrauchen, wie etwa Hitler es tat,
oder sie zu terroristischen Zwecken zu missbrauchen.
Bild 6
Vaterglück
Er wird groß sein und
Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der
Herr, wird ihm den Thron
seines Vaters David geben. Er wird über das
Haus Jakob in Ewigkeit
herrschen und seine Herrschaft wird kein Ende
haben. (Lk 1, 32-33)
Dran schließt sich mit einem Lukaszitat (Lk 1,32-33) eine Szene an, bei
der abermals der Ziehvater Jesu im Vordergrund steht. Glückliches
Familienleben ist das Thema. Die Unterschiedlichkeit im Verhalten von
Vater und Mutter mit ihrem Kind kommt hier sehr hübsch zum Ausdruck.
Mit einer leichten Gebärde der Abwehr schaut die Mutter dem Treiben des
Vaters mit dem Baby zu. Mütterliches Verhalten ist eben auch Behutsamkeit, auf Einfühlung aus; das entspricht ihrer Hirnausstattung, die in dieser
Weise darauf angelegt ist, dem neugeborenen verletzlichen Kind gerecht zu
werden. Das ist dem Vater fern. Er schwingt das Kind in die Höhe und
verbindet bereits damit eine Art Mutprobe. Es ist Vateraufgabe, in seinem
Kind den Mut zu wecken, Ermutigendes einzuüben und es auf diese Weise
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Christa Meves
zu lehren, das Risiko nicht zu scheuen. Sichtbar wird schon hier: Kinder
brauchen nicht nur die Mutter, sondern auch den Vater, der weiß, dass er
selbst persönlich gefordert ist, wenn ihm ein Kind geschenkt ist. Er
empfindet es deshalb auch nicht als eine Last, sondern als Möglichkeit der
Verwirklichung einer sehr unmittelbaren, höchst wichtigen Lebensaufgabe.
Bild 7
Begegnung mit Simon
Dann kam für sie der Tag
der vom Gesetz des Mose vorgeschriebenen Reinigung. Sie
brachten das Kind nach Jerusalem hinauf, um es dem
Herrn zu weihen, gemäß dem
Gesetz des Herrn, in dem es
heißt: Jede männliche Erstgeburt soll dem Herrn geweiht
sein. Auch wollten sie ihr Opfer darbringen, wie es das
Gesetz des Herrn vorschreibt:
ein Paar Turteltauben oder
zwei junge Tauben. In Jerusalem lebte damals ein Mann
namens Simeon. Er war gerecht und fromm und wartete auf die Rettung Israels, und
der Heilige Geist ruhte auf ihm. Vom Heiligen Geist war ihm offenbart worden, er
werde den Tod nicht schauen, ehe er den Messias des Herrn gesehen habe. Jetzt wurde er
vom Geist in den Tempel geführt; und als die Eltern Jesus hereinbrachten, um zu erfüllen, was nach dem Gesetz üblich war, nahm Simeon das Kind in seine Arme und
pries Gott mit den Worten: Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in
Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern
bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk
Israel. (Lk 2,22-32)
Dieses Thema wird in der Darstellungsszene im Tempel und bei der Begegnung mit Simeon vertieft. Die Texte sind bezogen auf Lk 2, 22-35.
Zunächst steht auch hier Josef im Vordergrund und übergibt – wie es bei
der Darstellung im Tempel 40 Tage nach der Geburt eines männlichen
Kindes notwendig ist – die beiden vorgeschriebenen Tauben.
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Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute
Bild 8 Die Prophezeiung
Sein Vater und seine Mutter staunten
über die Worte, die über Jesus gesagt
wurden. Und Simeon segnete sie und
sagte zu Maria, der Mutter Jesu: Dieser
ist dazu bestimmt, dass in Israel viele
durch ihn zu Fall kommen und viele
aufgerichtet werden, und er wird ein
Zeichen sein, dem widersprochen wird.
Dadurch sollen die Gedanken vieler
Menschen offenbar werden. Dir selbst
aber wird ein Schwert durch die Seele
dringen. (Lk 2, 33-35)
Aber durch das Verhalten des alten Simeon ändert sich diese
Konstellation: Simeon erkennt visionär in diesem Kind den Erlöser und
wendet sich der nun im Vordergrund knienden Maria direkt zu. Eine tiefe
Mystik beginnt die Szene zu durchziehen, denn der alte Simeon umfasst
bereits das auf Maria wartende Leidensmysterium: „Dir selbst wird ein
Schwert durch die Seele dringen“, heißt seine Prophetie, nachdem er das
Kind in tiefer Erschütterung als den Messias gesegnet hat.
Bild 9 Flucht nach Ägypten
Als die Sterndeuter wieder gegangen
waren, erschien dem Josef im Traum ein
Engel des Herrn und sagte: Steh auf,
nimm das Kind und seine Mutter, und
flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich
dir etwas anderes auftrage; denn
Herodes wird das Kind suchen, um es
zu töten. Da stand Josef in der Nacht
auf und floh mit dem Kind und dessen
Mutter nach Ägypten. (Mt 2,13-14)
In der Gestalt des hl. Josef auf der Flucht nach Ägypten wird deutlich,
dass Vaterschaft und Mutterschaft unterschiedliche Eigenarten sind, die
Christa Meves
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sich keineswegs einfach willkürlich austauschen lassen: Josefs führende
Vaterschaft ist eine zentrale Ur-Aufgabe des Mannes. Deshalb sollten wir
nicht so leichtfertig und dumm sein, sie heute einfach nicht mehr für nötig
zu erachten. Wir sollten uns deshalb auch als Frauen nicht von der Gleichheitsideologie verführen lassen und meinen, wir bedürften der Führung
und des Schutzes weder durch den Mann noch durch Gott nicht mehr.
Diese Funktionen sind dem Mann sowohl durch seinen körperlichen wie
durch seinen seelisch-geistigen Habitus vorgegeben. Es taugt deshalb auch
für die Kinder nicht, wenn diese seine Wesenheit von den Müttern leichtfertig ausgeschaltet und durch eigene Machtansprüche ersetzt wird. Der
Vater ist der das Ziel Vorgebende! Der Vater hat auf dem Weg zu GottVater voranzugehen! Dem Vater fällt es zu, seinen Kindern geistliche
Orientierung vorzugeben und vorzuleben, indem er sich an der Bibel und
am Lehramt der Kirche orientiert. Denn Gott-Vater selbst – in der Einheit
mit Christus und dem hl. Geist – ist der eine Einzige, der jedem einzelnen
Menschen seinen Weg zuweist und ihn unmerklich führt. Wir müssen –
um das zu spüren – lediglich auf ihn hören. Es ist auch dieser Schutz, den
die zerbrechliche Fracht, den die Mutter mit einem Säugling nun einmal
darstellt, braucht, um in jener Gelassenheit und Sicherheit zu ruhen, wie sie
in Maria mit dem Jesuskind auf dem Schoß auf diesem Bild zur Darstellung gebracht wird. Genau diese Stimmung ist es, die das hilflose Kind
am allerdringlichsten für sein Gedeihen braucht. Diese beschützte Gelassenheit seiner Mutter bewirkt, dass das Kind sich geborgen fühlt. Und
aus dieser Geborgenheit wächst später die Lebenskraft, ohne die es grundsätzlich schwer ist, das Leben zwischen Dornen und Disteln zu bestehen.
Bild 10
In Ägypten
Dort (in Ägypten) blieb er (Josef) bis zum
Tod des Herodes. Denn es sollte sich
erfüllen, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Aus Ägypten habe ich
meinen Sohn gerufen. (Mt 2,15)
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Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute
Die Heilige Familie in Ägypten! Das Bild der Künstlerin lässt vermuten,
dass Josef für sich und die Seinen eine Bleibe gefunden hat, in der es ihm
auch möglich war, seinem Zimmermannshandwerk nachzugehen, um das
Brot für sich und die Seinen zu verdienen. Das scheint zufrieden stellend
möglich zu sein; denn im Gegensatz zum Fluchtbild sind die Gesichtszüge
des hl. Josef hier nicht nur entspannt, sondern gemeinsam mit Maria von
tiefer Freude erfüllt über das lebhafte Kind in den Armen der Mutter, in all
dem Glück über sein Wachsen und Gedeihen.
Das Bild bringt ein außerordentlich bedeutsames Ereignis im Erleben
zwischen Mutter und Säugling zum Ausdruck: Der kleine Jesus schaut der
Mutter unverwandt in die Augen, was sie mit inniger Zuwendung erwidert.
Heute wissen die Hirnforscher: Dies ist das Kennzeichen dafür, dass sich
im Gehirn des Kindes der Gesichtssinn entfaltet hat, und das ist das Zeitfenster für eine noch festere Verbindung zwischen dem Kind und seiner
Mutter. Jetzt ist es, solange es seine Mutter braucht, intensiv an sie gebunden, noch einmal wie mit unsichtbarer Nabelschnur mit ihr verknüpft.
Es ist mehr als eine Tragödie, dass diese Voraussetzung zu seelischer
Gesundheit im Erwachsenenalter heute nicht nur nicht bekannt, sondern
in sträflicher Weise missachtet wird. Deshalb wird Kleinkindern heute
durch viel zu viele Trennungserlebnisse von der Mutter Unbekömmliches,
nämlich die Einprägung von Angst und Unsicherheit zugemutet, die seinen
Charakter bestimmt und es in seinen Fähigkeiten beeinträchtigt.
Aber auch Josef, der Vater, wird dadurch, dass er seine Hand auf das
linke Ärmchen von Jesus legt, in das Geschehen mit einbezogen. Mit
einem glücklichen Lächeln nimmt das Kind wahr, dass es nicht nur von
der Mutter, sondern auch von der breiten Gestalt des Vaters wie von
einem hohen Wall umgeben ist. Sicher ist es auch nicht einfach Zufall, dass
der Kopf des Jesuskindes mit seinem großen hellen Heiligenschein genau
vor Josefs Herz liegt. Das göttliche Kind ist dem hl. Josef ans Herz gewachsen, so möchte man die Symbolik des Bildes verstehen.
Dies ist anscheinend die Voraussetzung, um die ägyptische Fremde aushalten zu können. Ägypten – dieses Land steht bereits im Alten Testament
für Versklavung, für Entfremdung des auserwählten Volkes. Es ist schwer,
Fremde zu ertragen, und ohne Hinwendung zu Gott nicht möglich. In
jedem Menschenleben gibt es ein „Ägypten“ von Entfremdungen, von
Emigrationen äußerer und manchmal auch innerer Art, z. B. von
Vereinnahmt-Sein vom eigenen Egoismus, vom Gefesselt-Sein an fremde,
entfremdende Einflüsse. Die Liebe und die Verantwortung für das Kind
110
Christa Meves
erst machen Josef und Maria hingegen zu Menschen, die von sich absehen
können und so die Möglichkeit mit vorbereiten, dass das ganze Menschengeschlecht die Verhaftung an die triviale Fremdherrschaft allein irdischer
Belange im Glauben an Jesus Christus überwindet. Auch hierin sind Josef
und Maria Vorbilder. Die bergende Vaterliebe Gottes ist es letztlich, die
den Menschen das Gefühl von Fremdsein auf dieser Welt überwinden
lassen kann.
Abermals wird diese Bildaussage durch die Gestaltung des Raumes und
des Hintergrundes untermalt und vertieft. Die Fremde wird durch zwei in
der Ferne emporragende Pyramiden gekennzeichnet, die Grabmale der
Pharaonen, Kennzeichen einer Religion, in der die Naturgöttin Isis und ihr
Sohn, der Naturgott Osiris, im Zentrum standen, Fremdherrschaft, die
durch die Inkarnation des Christus überwunden sein will.
Nichts weniger als diese Fremde ist es, aus der Josef und Maria bald mit
ihrer kostbaren Fracht in eine hochbedeutsame Zukunft starten werden!
Diese Zukunft erwirkt das heilige Elternpaar mit, indem Josef – wie der
Arbeitstisch und die Geräte an der Wand verdeutlichen – sich für die
Menschen einsetzt und Maria lactans als die stillende Mutter die Erlösung
der Menschheit vorbereitet.
Bild 12
In Josefs Werkstatt
Als Herodes gestorben
war, erschien dem Josef in
Ägypten ein Engel des
Herrn im Traum und
sagte: Steh auf, nimm das
Kind und seine Mutter und
zieh in das Land Israel;
denn die Leute, die dem
Kind nach dem Leben
getrachtet haben, sind tot.
Da stand er auf und zog
mit dem Kind und dessen
Mutter in das Land Israel.
Als er aber hörte, dass in
Judäa Archelaus anstelle
seines Vaters Herodes
regierte, fürchtete er sich, dorthin zu gehen. Und weil er im Traum einen Befehl erhalten
111
Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute
hatte, zog er in das Gebiet von Galiläa und ließ sich in einer Stadt namens Nazaret
nieder. Denn es sollte sich erfüllen, was durch die Propheten gesagt worden ist: Er wird
Nazoräer genannt werden.“ (Mt 2,19-23)
Nun ist Nazareth als Heimatstadt des göttlichen Kindes gewählt, die
Werkstatt ist eingerichtet, offenbar haben sich Aufträge eingestellt – so
jedenfalls vermittelt uns das ein weiteres Bild der Künstlerin. Josefs Nachdenken hat sich bewährt: Abermals wurde ihm die Qual der Entscheidung
durch eine himmlische Weisung abgenommen; abermals hatte er ein
Traumgesicht. Viermal ist das dem nüchternen Zimmermann nun bereits
geschehen, und immer bezog es sich auf das so ganz besondere Kind. Das
ist wirklich eine kräftige Bestätigung dafür, dass Josef eine ganz besondere
Gnade zuteil wurde, indem er als Schutz für dieses Kind und sein gesundes
Aufwachsen ausersehen ist.
Dieses Bild ist ganz von der Elternfreude über das Kind und sein
weiteres Gedeihen gekennzeichnet. Josef geht seiner Zimmermannsarbeit
nach, und Jesus sammelt die zur Erde fallenden Späne ebenso sorgsam wie
spielerisch in seinen Korb. Das Kind ist gewissermaßen im Windschatten
der Mutter mehr dem Vater und seiner Arbeit zugewandt. Es ist offenbar
bereits im Begriff, seinem Kleinkindstatus zu entwachsen: Die Identifikation des männlichen Kindes mit seinem Vater und die Lockerung der
Nähe zur Mutter ist bereits in vollem Gange. Der Vater ist für ihn der
Große, der ihn liebevoll Leitende; noch ist das Jesuskind selbst der kleine,
der dem Vater untergeordnete Sohn, schon ein wenig in seine Arbeit einbezogen, schon ein wenig mit in einen ordnenden Dienst gestellt. Aber bei
aller Beachtung des Kindes durch den Vater bewegt sich der kleine Jesus
doch bereits selbstständig. Josef ist gewiss zu sehr mit Ehrfurcht gegenüber Jesus erfüllt, als dass er sich anmaßen würde, ihm seine Freiheit einzuschränken. Er hobelt nicht an der Kinderseele herum, sondern bleibt bei
seinem Leisten, dem Tischlerhandwerk.
Vorbildliche Vaterschaft und Mutterschaft in der Familie heute
demonstriert uns das Heilige Paar auch mit diesem Bild. Kinder brauchen
nicht nur die Gegenwart ihrer Mütter, sondern, je älter sie werden und
ganz besonders, wenn sie Söhne sind, zunehmend diejenige ihrer Väter,
wenn sie auch von anderem Charakter ist als die der Mütter. Söhne wollen
beim Vater mittun, sie wollen mit seiner Tätigkeit vertraut werden, sie
wollen zu ihm aufblicken, um durch den Vormacher einen Entwicklungsanreiz zu bekommen: einst so zu werden wie Vater, später so etwas zu
machen wie Vater! Die großen Füße des Vaters müssen den kleinen des
112
Christa Meves
Sohnes nahe sein, wie auf unserem Bild, damit es ihm zur Freude wird, in
seine Fußstapfen zu treten.
Von unermesslicher Wichtigkeit ist es dabei, die Kinder diese Nachahmungsfreude selbst entdecken zu lassen und sie nicht hineinzunötigen.
Stille, freudige Zustimmung, ein „Interesse“, ein „Dazwischen Sein“ im
wahrsten Sinne des Wortes ist als wirksames erzieherisches Verhalten von
beiden Eltern, bei älteren Kindern besonders des Vaters, wichtig und
besser als gängelndes Sich-Aufdrängen. Das Kind, das Vertrauen in seine
Eltern hat, beginnt von selbst, Interesse für deren Tun zu entwickeln.
Wenn der Vater z. B. freudig auf die freiwillige Hilfsbereitschaft seines
Sohnes eingeht, ist dies für den Sohn sicher eine wirksamere Anregung
zum Mitmachen als barscher Zwang und Androhung von strafender Gewalt. Besonders hübsch ist es auch, dass dieses Bild auf eine Geschlechterdifferenz hinweist, die jetzt erst durch die Hormonforschung wissenschaftlich bewiesen wurde: Der Mann ist durch das Testosteron mehr für
Grobmotorik begabt (Josef hobelt), die Frau für Feinmotorik (Maria handarbeitet), ein Geschlechterunterschied, der die Mutter bei der Pflege kleiner
Kinder die Begabtere sein lässt.
Für die Moderne ist das Bild insofern eine schöne Belehrung, als es auch
den Größenunterschied von Vater und Sohn betont. Unsere Zeit trachtet
nur allzu gern danach, das Kind dem Vater gleichzusetzen. Aber das Kind
kann nicht vom Vater lernen, es kann nicht zu ihm aufblicken, es kann sich
ihn nicht zum Vormacher erwählen, wenn dieser sich künstlich klein macht
und Kindlichkeit heuchelt. Das Kind pflegt eine solche ideologische Lüge
mehr oder weniger bewusst bald zu durchschauen und die Achtung vor
einem solchen unmännlichen Vater zu verlieren. Wahrhaftigkeit des Vaters
seinen Kindern gegenüber, wie der heilige Josef sie zeigt, führt zu GottVater; denn Josef lebt mit dem Kind eine es freilassende Liebe, wie sie
auch zur Einstellung Gottes gegenüber seinen Menschenkindern gehört.
Dennoch hat der irdische Vater die Aufgabe, als der Große, als der Erfahrene, dem Kind die Unterscheidung von Gut und Böse zu vermitteln,
und das heißt: negatives Verhalten des Kindes zu tadeln und gegebenenfalls zu bestrafen; denn der Mensch ist nicht einfach von Natur gut. Er
bedarf der Kultivierung seiner wilden Schösslinge. Die Autorität des Vaters
ist dazu nötig.
Darüber hinaus: Jedes Kind sollte die Demut seines leiblichen Vaters
gegenüber Gott-Vater erleben. Es ist dem Kind dienlich, wenn es dieses
natürliche hierarchische Verhältnis: Kind – leibliche Mutter – leiblicher
113
Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute
Vater bez. Ziehvater – Gott-Vater erlebt. Der hochmütige, Gott spottende,
sich gar glaubenslos an die Stelle Gottes setzende Vater vorenthält seinen
Kindern die wesentlichste Voraussetzung für ein gelingendes Leben. Und
dann ist auch alles weitere erzieherische Tun in der Tiefe fragwürdig, ja,
wie es in der Moderne nur allzu oft geschieht, u. U. sogar vergeblich.
Noch etwas Weiteres lässt sich aus der Josef-Analogie lernen: Auch
Gott ist der Schaffende. Er ist, wie es im Handwerk des Zimmermanns
zum Ausdruck kommt, einer, der die Natur (das Holz) verwandelt, der sie
schöpferisch formt, künstlerisch und unendlich einfallsreich gestaltet.
Bild 14
Wiedergefunden im Tempel
Die
Eltern
Jesu gingen jedes
Jahr zum PaschaFest nach Jerusalem. Als er zwölf
Jahre alt geworden
war, zogen sie
wieder hinauf, wie
es dem Festbrauch
entsprach. Nachdem die Festtage
zu Ende waren,
machten sie sich
auf den Heimweg.
Der junge Jesus
aber blieb in
Jerusalem, ohne
dass seine Eltern
es merkten. Sie
meinten, er sei irgendwo in der Pilgergruppe, und reisten eine Tagesstrecke weit; dann
suchten sie ihn bei den Verwandten und Bekannten. Als sie ihn nicht fanden, kehrten
sie nach Jerusalem zurück und suchten ihn dort.
Nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter den Lehrern, hörte
ihnen zu und stellte Fragen. Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis
und über seine Antworten. Als seine Eltern ihn sahen, waren sie sehr betroffen, und
seine Mutter sagte zu ihm: Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich
haben dich voll Angst gesucht. Da sagte er zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht?
114
Christa Meves
Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört? Doch sie
verstanden nicht, was er damit sagen wollte. (Lk 2,41-50)
Auf diesem letzten Bild der Künstlerin – Jesus spricht mit den Gelehrten im Tempel – befindet sich das Elternpaar Maria und Josef fast
schon im Hintergrund. Es steht von dem Knaben entfernt. Aber ihre Gesichtszüge sind von einer entlasteten Freude gekennzeichnet. Gott sei gelobt; dem Kind ist nichts Übles zugestoßen. Kein Ärger über Jesu Eigenmächtigkeit prägt noch weiter ihre Gesichtszüge. Deutlich wird erkennbar:
Sie werden Jesus keine weiteren Vorwürfe machen.
Im Gesicht der Eltern ist etwas ganz anderes als das Bedürfnis, das ungehorsame Kind, das den Eltern durch seinen eigenwilligen Alleingang
Sorgen bereitet hat, zu bestrafen. Es steckt in ihrer Haltung und Mimik auf
diesem Bild mehr als der Lukas-Text uns direkt vermittelt. Schließlich passt
diese Szene – die ungewöhnliche Haltung der Schriftgelehrten dem
Knaben Jesus gegenüber – in die Kette aller Wunder, die die Eltern von
Anbeginn an mit Jesus erlebt haben. Dieses Kind, das spüren sie hier einmal mehr, ist durch und durch ungewöhnlich. Immer wieder wurde ihnen
neu erkennbar, dass sich hier eine sehr direkte himmlische Offenbarung
vorbereitet, die durch Jesus geschehen soll.
Und der Sohn weist hier zum ersten Mal auf seinen Dienst für den
himmlischen Vater hin, dem sein Leben als Erwachsener gelten wird. Und
wenn auch der weitere Text sagt, dass Jesus ohne Widerstand mit den
Eltern nach Nazaret zurückkehrte und sich in Liebe und Gehorsam in das
Familienleben einpasste (Lk 2,51-52), so weisen Jesu Worte im Tempel
doch bereits darauf hin, dass der elterliche Auftrag über kurz oder lang zu
Ende sein wird. Josef hat seinen Auftrag erfüllt. Sie haben Jesus so lange
beschützen müssen, als er noch nicht zur Selbstständigkeit und zur Reife
seiner Sendung gekommen war. Josef darf nun bald von seinem so verantwortungsschweren Amt im Leben des Erlösers im Gegensatz zu Maria
ganz zurücktreten; denn der heranwachsende Jesus hat seine Bestimmung
erkannt. Der Gärtner Josef darf den erblühten Baum nun an den Eigner
zurückgeben. Erntezeit ist Gotteszeit.
Die Bibel entlässt Josef mit dieser Aussage. Es erfolgt keine weitere Erwähnung mehr. Josef darf heraus aus dem Rampenlicht der irdischen
Geschichte des Erlösers der Menschheit. Vielleicht hat er sich das geradezu so gewünscht: nun fernerhin anonym bleiben zu dürfen. Das Fehlen
weiterer Erwähnungen Josefs im Evangelium kennzeichnet wohl auch
etwas Typisches in Josefs Charakter: seine Bescheidenheit, seine Selbst-
115
Maria und Josef – Elterliche Vorbilder bei der Erziehung der Kinder heute
losigkeit und seine Gott vertrauende Demut. Auf Josef trifft zu, was
Johannes der Täufer bekundet, nachdem er Christus begegnet war: „Er
muss wachsen, ich aber muss kleiner werden.“ (Joh 3,30).
So heilig wie Josef und Maria werden sich viele Eltern angesichts des
Ablösungsprozesses eines Sohnes, einer Tochter gewiss nicht verhalten;
und dennoch ist Erhebliches und Beachtenswertes von ihnen zu lernen;
denn das bleibt keinem Vater erspart zu erleben, wie die Kinder gegen die
Wünsche und vernünftigen Absprachen mit den Eltern ihren eigenen Weg
gehen.
Aber ein Zurücktreten hinter den eigenständigen Lebensauftrag ihrer
Kinder – dieses Schicksal bleibt keinen Eltern erspart, die liebevoll an
deren Glück und an deren seelischer Gesundheit interessiert sind.
Josef und Maria sind gewiss auch deshalb heilige Vorbilder, weil ihnen
dies anscheinend ohne übermäßige Zerreißproben mit dem Jesusknaben
gelang. Kein heranwachsendes Kind, ganz gewiss auch keine heranwachsende Tochter, ist Besitz der leiblichen Eltern – auch wenn sie noch
so viel Geld, Zeit und Kraft in die Nachkommen investiert haben. Sie
haben keine Besitzansprüche an ihre Kinder zu stellen. Sie haben auch hier
ihren Kindern eine Vorahnung vom Wesen Gott-Vaters zu vermitteln:
Gott-Vater lässt seine Menschenkinder frei! Deshalb dürfen auch leibliche
Eltern z. B. die Berufe ihrer Kinder nicht eigenmächtig bestimmen. Sie
dürfen Sohn (oder Tochter) nicht egoistisch vor ihren eigenen Lebenskarren spannen. Manche Söhne und Töchter sollen werden, was Vater
oder Mutter gerne geworden wären, oder sie werden verplant, um ihr
Lebenswerk in Betrieb, Geschäft, Praxis etc. fortzusetzen.
Eltern, die sich an das heilige Vorbild halten und ihm nacheifern, haben
sehr viel mehr Chancen, dass sich später eine harmonische Beziehung
zwischen ihnen und den erwachsenen Kindern ergibt; denn diese erleben
eine solche Einstellung als wahrhaft liebevoll. Sie erfahren sie in der Tiefe
als ihrer Würde angemessen. Es zahlt sich aus, wenn Eltern Jugendliche bei
der Verselbständigung mit weiser Nachdenklichkeit und behutsam erteiltem Rat selbstlos unterstützen. Die Heranwachsenden brauchen dann
nicht in Kraft verschleißender Weise an unbilligen Fesseln zu zerren, die
ein autokratisches Elternpaar ihnen anlegt.
Die schöne Bildfolge über die ersten Lebensjahre des Christuskindes, in
der die Eltern den Auftrag erfüllen, dem Jesuskind ein sorgsamer Vater
und eine umhüllende Mutter zu sein, kann uns einen Vorgeschmack vom
Wesen der Beziehung zwischen Gott und Mensch geben. Wenn mehr
116
Christa Meves
moderne Eltern in ähnlicher Weise wie Josef und Maria auf Stolz und
Selbstherrlichkeit verzichten, so wird es gewiss zunehmend mehr Jugendliche geben, die unbeschädigt und sorgfältig gefestigt in ihr Erwachsenenleben eintreten, um – durch ein positives Vorbild vorbereitet – den Weg zu
ihrem eigentlichen Vater, nämlich zu Gott zu finden.
Die Heilige Familie kann uns verdeutlichen: Ein neues konstruktives
Elternsein der Moderne bedarf als Voraussetzung des Gottvertrauens; es
bedarf einer persönlichen Beziehung der Eltern zu Gott und einer Bereitschaft, auf ihn zu hören. Ohne eine solche, sehr wirklichkeitsbezogene
Frömmigkeit der neuen Eltern wird es keine Hoffnung auf Zukunft geben
können. Eine solche Frömmigkeit kann dazu führen, dass Eltern – wie
einst Josef und Maria – alles als Heilsgeschehen und damit Gott als den
überschwänglich liebenden Vater erahnen, sodass – als Reaktion darauf –
der Dienst für die Ihren in erzieherischer Festigkeit von dankbarer Liebe
für Gott getragen ist.
Bei dem erwähnten Buch handelt es sich um: Christa Meves, Ein neues Vaterbild Zwei Frauen unserer Zeit entdecken Josef von Nazaret, herausgegeben von
German Rovira, Christiana-Verlag, Stein am Rhein 1989.
Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage
Politische und öffentliche Beobachtungen
Jürgen Liminski
In der veröffentlichten Meinung wird die christliche Familie weitgehend
tot gesagt. Aber es gibt sie natürlich auch heute noch. Sie ist keineswegs
selten geworden. Selten geworden ist das öffentliche Bekenntnis zu ihr.
Die Politik hat die christliche, man könnte auch sagen, die natürliche
Familie vergessen. Dabei begegnen wir ihr auf Schritt und Tritt im
öffentlichen Diskurs. Ja, unsere Gesellschaft lebt von ihr. Böckenförde hat
das mit dem geflügelten Wort so ausgedrückt: Dieser Staat lebt von
Voraussetzungen, die er selber nicht schaffen kann. Richtig, es ist die
christliche Familie, die diese Voraussetzungen schafft. Diese vergessene
Grundlage, diese verdrängte Grundlage der Gesellschaft möchte ich jetzt
aus dem Dunkel des Diskurses herausholen, ich möchte die Aktualität
dieser Grundlage aufzeigen und das anhand von drei Themen oder
Punkten: Zunächst anhand der aufgebrochenen Rentendebatte. Sie eröffnet Ausblicke in die Sozialsysteme und in die Statik der Gesellschaft.
Denn diese Statik hängt wesentlich vom Verhältnis der Generationen, vom
familiären Miteinander ab. Der zweite Punkt befasst sich mit der totalitären
Arbeitswelt, die bald alle Generationen umfasst und ihnen die Menschlichkeit und Würde raubt, und beim dritten Punkt geht es um die Wege aus
dieser inhumanen Gesellschaft, also um Widerstandsformen gegen diese
Entmenschlichung.
Erstens: Der imaginäre Generationenkrieg
Um es gleich vorweg zu sagen: Der Generationenkonflikt findet nicht
statt. Er ist eine Erfindung wirklichkeitsfremder Medienleute. Es ist ja viel
leichter – auflagen- und quotenträchtiger sowieso – zu behaupten, die
Alten beuteten die Jungen aus, als das inkonsequente Verhalten und die
gebrochenen Versprechen der großkoalitionären Regierung darzustellen.
Diese Regierung beutet die Familien aus; man sieht es erneut an der wieder
aufflammenden Diskussion um das Kindergeld für kinderreiche Familien,
118
Jügen Liminski
das der Finanzminister nicht herausrücken will, obwohl es verfassungsrechtlich geboten wäre. Diese Regierung verrät die Familie, ich habe die
Formen des Verrats in meinem Buch aufgezählt, natürlich auch die Maßnahmen, die zu einer vernünftigen Familienpolitik gehören. Der Generationenkonflikt ist eine Erfindung. Denn Tatsache ist: Mit acht oder zehn
Euro mehr wäre die Ausbeute recht mager, die 1,1 Prozent Rentenerhöhung liegen außerdem deutlich unter der Inflationsquote und schließlich: Viele, ja die meisten Rentner und Rentnerinnen sind Familienmenschen, mithin der Jugend und ihren Kindern und Enkeln zugeneigt.
Sie helfen ihren Kindern. Sie schenken Zeit und Geld. Das wird in keiner
Statistik festgehalten, ist also für Politiker und Medienleute nicht erkennbar
und deshalb vielfach auch nicht existent oder relevant. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass von der älteren Generation jährlich 22
Milliarden Euro zur jüngeren fließen. Das ist ein stiller Transfer, ein Transfer der Liebe und Solidarität, ohne den die Zahl der jungen Hartz-4Empfänger explodieren würde.
Hinzu kommt, dass viele Großeltern gern und häufig auf ihre Enkel
aufpassen, sie betreuen und Zeit mit ihnen verbringen. Es gibt sie noch,
die immer wieder totgesagte Familie, auch die mit drei Generationen,
weniger häufig als früher unter einem Dach, aber doch in derselben Stadt.
Im politisch-medialen Establishment allerdings wird sie seltener, schon
weil dort, bei Journalisten und Politikern, nachweislich die Kinder fehlen,
und dieses Establishment schafft die veröffentlichte Meinung und bestimmt so den Eindruck von der Gegensätzlichkeit oder gar einem Krieg
der Generationen. Dieser Gegensatz geht, wenn überhaupt, nur von einer
Gruppe aus: den bewusst und gewollt Kinderlosen. Sie haben wenig
Interesse daran, in eine Zukunft jenseits ihres Lebens, also in die Nachkommenschaft oder Familien zu investieren. Und sie schauen auch argwöhnisch auf jene, die vor ihnen aus der Rentenkasse bedient werden. Es
könnte ja nicht mehr viel übrig bleiben. Für sie gilt das Carpe diem der
Epikureer, das pralle Leben jetzt. Sie nutzen die Sozialsysteme aus, ohne
sich um die anderen, geschweige denn das Gemeinwohl zu kümmern. Für
sie ist der Generationenvertrag, von dem sie so bequem leben, in Gefahr.
Für sie ist „die Mutation der Volksparteien zu Seniorenvereinigungen“
(WamS), der „Rentenpopulismus“, tatsächlich eine Gefahr, weil dann für
sie weniger übrigbleibt. Denn da sie keine Kinder haben, sind sie für ihre
Pflege und Altersversorgung auf die Fähigkeiten der jüngeren Generation
– genauer: auf die Kinder der anderen – und deren Versorgungskraft für
die Alten angewiesen. Diese Versorgungskraft wird geschmälert, wenn die
Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage
119
ältere Generation jetzt „Kasse macht“, wie der Gesellschaftsforscher
Meinhard Miegel befürchtet. Die gewollt Kinderlosen sind meistens auch
die, die über die christliche Familie spotten, obwohl sie gerade von der
Solidarität dieser Familien im Alter leben.
Nun, diese Gruppe der gewollt Kinderlosen ist in Politik und Medien
überproportional vertreten. Der Generationenkrieg lebt in ihrer imaginären
und auch bequemen Welt. Dagegen gibt es auch die ungewollt Kinderlosen, die ein hartes Schicksal tragen und in der Regel auch Familienmenschen sind (im Gegensatz zu ihren gewollt kinderlosen Generationsgenossen), indem sie sich um ihre Eltern, Cousins oder Nachbarn und
deren Kinder kümmern. Meist bekleiden sie auch ehrenamtliche Funktionen. Sie haben in der Regel ein quasifamiliäres Netz, weil sie zwar
kinderlos aber familiär leben. Hier muss man unterscheiden. Kinderlos ist
nicht gleich kinderlos, auf die Absicht und Motive kommt es an.
Die Problematik mit der Rentenerhöhung liegt woanders. Zunächst:
Viele Kleinrentner haben heute nicht genug zum Leben; die steigenden
Lebenshaltungskosten schlagen dramatisch ins magere Haushaltsbudget.
Ihnen ist mit zehn Euro mehr kaum geholfen, mit fünfzig dagegen schon.
Gesellschaftlich sinnvoller wäre eine kräftige Erhöhung für die Kleinrentner und eine Nullrunde für die, die es nicht brauchen. Das verstößt
natürlich gegen den Gleichheitssatz; aber Gerechtigkeit heißt, so wussten
schon die Klassiker wie Thomas von Aquin oder selbst der alte Fritz, Gerechtigkeit heißt jedem das Seine und nicht allen das Gleiche. Es wäre den
Schweiß der Edlen wert, sich von den sozialistischen Gerechtigkeitsbegriffen zu lösen und einen intergenerationellen, man könnte auch sagen
christlich geprägten Ausgleich in der Rentenfrage zu finden, statt einer
Generation kaum zu helfen und dennoch die andere zu belasten. Genau
das strebt der gern als „Arbeiterführer“ und jetzt als „Rentnerführer“ von
wahrscheinlich kinderlosen Journalisten und Politikern verhöhnte
Ministerpräsident von NRW, Jürgen Rüttgers, an. Es geht um die Vermeidung von ungerechter Altersarmut, der Armut jener Menschen, die
lange gearbeitet haben und keine Mark erübrigen konnten für eine private
Altersvorsorge, zum Beispiel deswegen, weil sie Kinder ernähren und erziehen mussten und wollten. Kinder, die jetzt oder in ein paar Jahren die
gewollt Kinderlosen durchfüttern und durchpampern sollen.
Aber hier geht diese Bundesregierung genauso skrupellos vor wie ihre
Vorgänger. Schon unter Kohl wurde die Intergenerationengerechtigkeit auf
die lange Bank geschoben, obwohl die Zahlen aus dem Bericht der
120
Jügen Liminski
Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ eindeutig die künftige
Schieflage belegten. Kohl und Schröder sahen – wie jetzt Merkel und Beck
– in der Rentenfrage nur eine Machtfrage. Sie sehen nur die Zahlen: Heute
sind 18 Prozent der Deutschen älter als 65, in zwölf Jahren werden es 22
Prozent sein. Schon bei der Bundestagswahl 2009 werden mehr als die
Hälfte der Wahlberechtigten über 60 Jahre alt sein; es ist statistisch auch
die Gruppe mit der höchsten Wahlbeteiligung. Eine Rentenkürzung
kommt für Beck und Merkel nicht infrage, vor einer Beitragserhöhung
scheuen sie ebenso zurück. Der kleinste gemeinsame Nenner ist die Null.
Diesmal trifft die Null die Jungen: Der Beitrag zur Rentenversicherung
wird nicht wie versprochen gesenkt.
Alles andere überlässt man den Experten und der Zeit nach der Sintflut.
Die wird kommen. In sechs, sieben Jahren beginnen die Baby-Boomer, die
geburtenstarken fünfziger- und sechziger- Jahrgänge in die Rente zu gehen.
Gleichzeitig schmilzt die Zahl der Erwerbstätigen, also jener, die die Beiträge zahlen, denn von den Baby-Boomern haben 30 Prozent keine
Kinder. Für diese Zeit ist keine strukturelle Vorsorge getroffen. Dabei
könnte sich die Regierung auch hier auf eigene Zahlen berufen, um einen
sozio-generationellen Ausgleich zu schaffen. Im siebten Familienbericht ist
nachzulesen, dass die öffentlichen Ausgaben für Alters- und Hinterbliebenenversorgung sechsmal so hoch sind wie für die Familien. In fast
allen anderen europäischen Ländern ist die Relation wesentlich günstiger.
Bei den Gesundheitskosten sieht es ähnlich aus. Das Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e.V. (www.i-daf.org) hat diesen Zusammenhang in seiner wöchentlichen Nachricht grafisch dargestellt. In
solchen Zahlen drücken sich politische Wertentscheidungen aus. Sie sind
auch Ausdruck einer vergreisenden Gesellschaft, deren politische Führung
sich nicht mehr traut, zukunftsweisende Investitionsentscheidungen zu
treffen.
Es geht bei der Rentenfrage auch längst nicht mehr um ZehntelprozentPunkte. Die innere Statik dieser Gesellschaft wird brüchig. Das zeigt sich
eben an den Gegensätzen innerhalb der Generationen, nicht zwischen den
Generationen. Man könnte auch sagen, das Gemeinwohl wird durch
„Mein Wohl“ ersetzt. Solche Gedanken stoßen auf Kritik. Nicht nur im
politisch-medialen Establishment, sondern auch in familienfreundlichen
Kreisen. Es gebe doch den Generationenkonflikt, heißt es. Die Alten
sahnten ab, vor allem die kinderlosen Alten der Baby-Boomer-Generation.
Deshalb noch einmal: Es geht nicht um einen Konflikt zwischen zwei
Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage
121
Generationen, der in Statistiken herauslesbar wäre, sondern um den
Konflikt innerhalb der Generationen und zwar zwischen jenen, die einen
generativen Beitrag geleistet haben, wie das BVG sagt, und jenen, die
diesen Beitrag nicht leisten wollen. Man muss, ich wiederhole, auch bei den
Kinderlosen differenzieren. Manche Kinderlose leisten ihren generativen
Beitrag nicht durch Zeugung, sondern durch Miterziehen.
Nicht die Alterung ist das Problem der Generationengerechtigkeit,
sondern die Kinderlosigkeit. Dazu ein paar Zahlen. Roland Woldag, Leiter
des Regionalbüros Schleswig Holstein des Familiennetzwerks hat die
Mehrkosten der Alterung für die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV)
2004 einmal ausgerechnet. Das Ergebnis der Rechnung ergab für die GRV
635 Millionen Euro Mehrkosten im Jahr für die steigende Lebenserwartung, das sind 0,27% der 233,9 Milliarden Euro, die 2003 aus der
GRV ausgezahlt wurden. 0,27 Prozent, das liegt im Bereich der Rundungstoleranz. Die künftige Krise der Sozialsysteme hat ihre Ursache nicht in
der höheren Lebenserwartung, sondern in der Kinderlosigkeit, und dafür
ist die Generation, die die Elterngeneration der „Baby-Boomer“ ist, nicht
verantwortlich. Denn sie hatte ja Kinder in bestandserhaltender Zahl.
Der Konflikt besteht zwischen Leuten wie Ihnen und Ihren Kindern
oder mir und meiner Familie auf der einen und der Kinderlosencamarilla
auf der anderen Seite.
Die vergessene Familie ist die Grundlage dieser Gesellschaft; sie schafft
die Voraussetzungen, von denen dieser Staat lebt und die er selber nicht
schaffen kann. Sie lebt in den modernen Katakomben der Mediengesellschaft, in der medialen Verdrängung. Folgt man der wissenschaftlichen
Literatur, so ist bezeichnend, dass „die Erzeugung solidarischen Verhaltens“ als ein Grund für den verfassungsrechtlichen Schutz der Familie
genannt wird. Es sei eine Leistung, die in der Familie „in einer auf andere
Weise nicht erreichbaren Effektivität und Qualität“ erbracht werde.
Wir sind hier mitten im Raum der Kernkompetenz der Familie – denn
die Familie ist ein Raum der Geborgenheit, der Lebensraum der selbstlosen Liebe. Es geht nicht nur um das genetische Bad. Hier kommen
Aspekte und Verhaltensmuster ins Spiel, die sich schwer messen lassen. Es
geht um das Angenommen-Sein um der Person willen, ganz gleich was sie
hat oder leistet, wie sie aussieht oder was sie tut. Es gibt das menschliche
Grundbedürfnis nach dieser selbstlosen Liebe. Das Streben danach ist eine
anthropologische Konstante. Die Liebe ist das Ur-Geschenk, sagt Thomas
von Aquin; alles, was uns sonst noch unverdient gegeben werden mag,
122
Jügen Liminski
wird erst durch sie zum Geschenk. Und, so lässt sich mit Alfred Adler
folgern, alle menschlichen Verfehlungen sind das Ergebnis eines Mangels
an Liebe. All das wird vergessen oder verdrängt, wenn wir die Familie beiseite schieben, wie es die jetzige Bundesregierung tut.
Die Familie hat zwar im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte, also seit der
Industrialisierung und der entstehenden Sozialgesetzgebung mehr und
mehr die Aufgaben der wirtschaftlichen Erhaltung, der Daseinsvorsorge
bei Krankheit, Invalidität, Alter usw. verloren oder an den Staat abgegeben
und sich zunehmend auf die Funktionen der Zeugung des Nachwuchses,
seiner Sozialisation und auf die Pflege der innerfamiliären Intim- und Gefühlsbeziehungen beschränkt. Aber ihre Kernkompetenz hat sie noch nicht
aufgegeben. Diese Kompetenz ist die Pflege und die Stabilität der
emotionalen Befindlichkeit, besonders in den ersten Jahren. Sie ist auch die
erste Quelle des Humanvermögens. Diese Funktion ist nicht zu ersetzen.
Deshalb muss jede Reform hier ansetzen. Genau das Gegenteil jedoch
versucht die Politik mit ihren ökonomistischen Ansätzen, mit ihren Fremdbetreuungskonzepten, die den kalten Hauch der DDR atmen. Dabei weist
der jüngste und siebte Familienbericht deutlich auf die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse der Hirn- und Bindungsforschung hin. Aber aus
Gründen, die man nur ideologisch einordnen kann, wird diesen Hinweisen
nicht Rechnung getragen. Die drohende Verstaatlichung der Erziehung
und Betreuung könnte so dazu führen, dass die Primärquelle für die
Bildung von Humanvermögen versiegt. Denn diese Forschung sagt uns:
Bindung geht vor Bildung. Selbst die positiven Ergebnisse frühkindlicher
Bildung gehen später verloren, wenn die Grundlage der Bindung nicht
vorhanden war. Emotionale Stabilität trägt, sie trägt durchs Leben.
Darüber hört man wenig, auch in der ARD-Themenwoche nicht. Der
Grund ist einfach. Es sind vorwiegend die gewollt Kinderlosen, die diese
Woche gestalten und in ihr die Hauptrollen spielen, in Talkshows und
Filmen. Woldag sagt deshalb voraus, ich zitiere: „Diese Gesellschaft wird
in der Gewalt des Umverteilungskrieges versinken, und danach hat es
wieder keiner gewusst.“
Zweitens: Die totalitäre Arbeitswelt oder die Entmenschlichung
der Gesellschaft
Damit sind wir bei Punkt zwei, den Folgen des intergenerationellen
Konflikts. Da ist zunächst der Druck auf das aktuelle Umlagesystem.
Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage
123
Dieses System muss, so denken die kinderlosen Hedonisten, erhalten
werden für die nächsten dreißig, vierzig Jahre. Danach, wie gesagt, mag die
Sintflut kommen. Um das System zu erhalten, muss in die Sozialkassen
eingezahlt werden, natürlich nicht, wie das BVG es fordert, entsprechend
den Einkommen und generativen Leistungen, sondern nur gemäß den
Einkommen. Deshalb müssen Frauen in sozialpflichtige Jobs und die
Kinder in Krippen. Es spielt auch keine größere Rolle, ob die Kinder ausreichend für die Zukunft qualifiziert werden. In keinem Budget eines
Landes, des Bundes sowieso nicht, ist für die rund hunderttausend Erzieher und Erzieherinnen, die man für die 500.000 Krippenplätze bräuchte,
ein Posten für die Ausbildung vorgesehen. Das heißt, man rechnet nicht
mit einem Schlüssel fünf zu eins und man rechnet auch nicht damit, dass
die Krippenwarte besonders ausgebildet sein müssten. Ein Krippenwart
muss füttern und pampern können, das bedarf keiner pädagogischen Ausbildung auf einer Fachhochschule. Dafür reicht ein Schein von der Handwerkskammer.
Nach diesem Sintflut-Prinzip darf, kann und muss die Abtreibung zu
einem Grundrecht werden, schließlich ist der individuelle Hedonismus
unantastbar. Die Zukunftsvergessenheit, die in diesem Denken liegt, ist
gigantisch. Sie hat historische Dimension. Sie zeigt aber auch, dass Abtreibung für diese Menschen schon ein Gewohnheitsrecht ist. Auf der
Webseite der „Birke“ wird dieser hedonistische Typ in seinem Denken mit
Bezug auf einen Typ neue Frau so beschrieben, einen Typ, nicht den Typ –
es sind keineswegs alle jungen Frauen so, es geht nur um diesen
hedonistischen Typ, ich zitiere:
„Nach der 68er-Revolution geboren, keine existentielle Bedrohung erlebt, immer in materieller Sicherheit gelebt. Verzicht, Verzichten können
unbekannt. Sie ist überzeugt: Für Geld ist alles zu haben. Häufig ohne
sachliche Orientierung, ohne persönliche Vorbilder. Dafür überschwemmt durch Reizfluten der Medien: Pornographie, Gewalt, Horror,
Perversion. Mutter war meist berufstätig, das Kind also fremd betreut mit
wechselnden Bezugspersonen. Oft kommen Trennungen, Scheidungen,
Ein-Eltern-Familie, neue Partnerschaften, Patchwork-Konstellationen
hinzu. Solche Bindungsdefizite schwächen das Urvertrauen und führen zu
Bindungsängsten und Bindungsunfähigkeit. Die „neue Frau“ kann auch
nicht im Geschwisterverband diese Defizite wettmachen, sie ist entweder
Einzelkind, Halbschwester, Stiefschwester, Patchwork-Kind und das alles
nur auf Zeit. Deshalb praktiziert die neue Frau Schmerzvermeidung und
124
Jügen Liminski
Enttäuschungsprophylaxe in Beziehungen, sie lässt sich nicht mehr
tief auf einen anderen Menschen ein. Dennoch hat sie große Ansprüche an den Partner. Er soll ihr alles geben, was sie seit der Kindheit schmerzlich vermisst: Geborgenheit, Wärme, Halt, ständige
Gegenwart, Versorgung. Da sie keine echte Erfahrung dessen hat, was
ihr fehlt, greift sie zu Ersatzgefühlen aus dem Fernsehen – und verwechselt das flüchtige Gefühl der Leidenschaft mit der Haltung des
Liebens. Liebe ist für sie daher kein Zustand von Dauer. Die Folge:
Liebe muss erst mal probiert werden; häufig wechselnde Partnerschaften werden als normal angesehen. Sie will Genuss sofort. Grundlegendes geistiges Muster der neuen Frau ist: Sie kennt nicht den
Unterschied zwischen ‚gut fühlen’ und ‚gut sein’. Orientierung an
objektiven Maßstäben, die zum Gutsein (früher: zur Tugend) führt,
wird abgelehnt. Es gilt der reine Subjektivismus, „Gut-drauf-sein“ ist
letztes Ziel und höchstes Gebot. Eine Schwangerschaft ist in den
Augen der „neuen Frau“ nur störend, „das“ muss weg. Ein Schuldoder Verantwortungsbewusstsein fehlt. Die Beraterin muss praktisch
bei null anfangen.“
Natürlich gilt dieses Denken und Fühlen auch für den neuen Typ
Mann. Aber der geht nicht zur Beratung, obwohl er es manchmal
noch nötiger hätte als der neue Typ Frau. Es geht auch nicht um
Mann oder Frau, es geht um das Denken des hedonistischen Kinderlosen, eine Art Parasit des Gemeinwohls.
Auch die Infrastruktur darf für solche Leute nur notdürftig ausgebessert werden. Alle Kosten für die Allgemeinheit sind den
Hedonisten zuviel. Hans Magnus Enzensberger hat diese Entwicklung
1993 in seinem Essay „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ so beschrieben: „Dieser (gemeint ist der Bürgerkrieg) wird in Europa als
molekularer Bürgerkrieg beginnen. Seine winzigen stummen Kriegserklärungen sind zunächst unblutig und harmlos. Allmählich mehrt
sich der Müll am Straßenrand. Im Park häufen sich Spritzen und zerbrochene Bierflaschen. An den Wänden tauchen überall monotone
Graffiti auf. ... In den Schulzimmern werden die Möbel zertrümmert,
in den Vorgärten stinkt es nach Scheiße und Urin.“ Einige dieser
„Moleküle“ können wir schon beobachten.
Und natürlich gehören auch die Euthanasie und die Altenkrippe zu
diesem Denken, wie überhaupt alles, was, wie in den utopischen
Romanen „1984“ oder „Fahrenheit 451“, der Entsorgung von nicht-
Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage
125
produktiven Elementen dient. Produktion hat Priorität. Diesem ökonomistischen Denken muss sich alles unterordnen. Wir befinden uns
schon zwischen den Mühlsteinen der totalitären Arbeitswelt. Die
Familienpolitik ist de facto Arbeitsmarktpolitik, und die Klein- oder
Kernfamilie hat sich an den Bedürfnissen der Wirtschaft und der
Arbeitswelt, mithin des politisch-medialen Establishments zu orientieren. Denn die Familie dieses Establishments ist das Büro, das
Atelier, die Redaktion, das Parlament. Die Flure sind die Wohnzimmer, die Archive ersetzen die Erinnerung an schöne Stunden, die
Aktenschränke sind die modernen Interieurs, die neue Intimität, das
Fernsehen bestimmt den Gefühlshaushalt, das Herz ist die Stechuhr.
Es ist kafkaesk.
In dieser Welt ist kein Platz für Freiräume der Menschlichkeit. Die
OECD sucht auch entsprechend diese Freiräume zu besetzen oder zu
vernichten. OECD und Regierung sind das Auge des Großen Bruders.
Sie wollen das Ehegattensplitting und die Mitversicherung bei den
Krankenkassen abschaffen und damit die Frauen in die Produktion
zwingen. Dass sie damit auch das ehrenamtliche Engagement abschaffen und der Pflege die Zeit rauben, die jede Beziehung braucht
und so diese Räume der Menschlichkeit einengen und zerquetschen,
das steht nirgendwo in den Aktenschränken vermerkt. Die Produktion
braucht keine Menschlichkeit und keine Liebe und auch keine Würde.
Sie braucht Zahlen und Willfährigkeit. Sie braucht den Konsum.
Die veröffentlichte Meinung, vielfach ein Spiegel, um nicht zu
sagen, Lebedame dieses Denkens, neigt auch dazu, die Beziehungswelt
des Menschen in all ihren Aspekten zu vermarkten und die Privatheit
oder Intimität ins grelle Licht des Voyeurismus, der Neugier und der
Quotenträchtigkeit zu zerren. Treue und Unauflöslichkeit mögen der
heimlichen Sehnsucht des Menschen entsprechen; sie vertragen sich
nicht mit der für notwendig gehaltenen Offenheit und der Vielfalt des
medialen Angebots. Der Markt legt sich nicht fest, er bietet nur an.
Die offene Option ist sein Elixier. Und diese Haltung ist wie durch
Osmose in unser Denken eingedrungen.
Beispiel Handy: Das Instrument ist gut und nützlich. Aber es kann
wie jedes wertneutrale Instrument auch falsch gebraucht werden. In
ihm steckt auch die Möglichkeit, Verabredungen bis zum Schluss
offen zu halten und gegebenenfalls auch abzusagen. So werden heute
Einladungen zwar angenommen aber nicht definitiv zugesagt. Man
126
Jügen Liminski
weiß eben noch nicht, ob man kommt. Man schaut mal. Statt den
eigenen Willen zu bemühen und zuzusagen, wägt man lieber die Einladung mit möglichen künftigen Optionen ab. „Ich ruf an“, heißt es,
und übersetzt bedeutet es: „Mal sehen, was sonst noch geboten wird
...“.
Auch Veranstaltungen mit größerem Publikum sind eine unsichere Angelegenheit geworden. Man weiß selten, wie viele Teilnehmer wirklich
kommen. Die erwünschten Rückmeldungen sind kein Gradmesser mehr,
nur noch ein Mindestmaß. Die Verabredungskultur ist vom Pflichtdenken
zum Marktdenken übergegangen. Zuerst wird die Angebotslage gesichtet,
bevor man sich festlegt. Früher war die Beziehung zu Personen ausschlaggebend, heute ist es der Konsum- und Freizeitwert, manchmal auch nur
der persönliche Nutzen für die Karriere. Hier offenbart sich ein Verlust an
persönlicher Beziehungsfähigkeit, mithin an Menschlichkeit. Unmerklich
hat sich dieses optionale Denken auch in die Unfähigkeit eingeschlichen,
klare Aussagen zu treffen. Man überlässt Entscheidungen, auch kleine und
unwichtige, entweder den Umständen oder den anderen. Sei es aus Angst
vor den Folgen eines Neins, sei es aus Angst, dadurch andere Optionen zu
verlieren. Definitive und definitorische Aussagen legen fest. Das ist eine
Gesellschaft, die permanent nach Konsens und Kompromissen sucht,
nicht mehr gewohnt. Freundschaften dagegen sind keine Optionen, ihre
Subjekte sind Personen. Zwischen Person und Handeln, zwischen Freundschaft und Option unterscheiden zu können, ist Teil der Beziehungsfähigkeit.
Das gilt auch für größere Lebensfragen. Man entschließt sich nicht, ein
Kind zu bekommen, sondern „schafft“ es sich an. Und das möglichst spät.
Natürlich ist jedermann/frau frei, diese Entscheidung nach den persönlichen Umständen zu fällen. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der eine
Liebesbeziehung auch diese Gedanken verfolgte, ist verloren gegangen.
Sicher stellte man sich früher auch die Frage, was ein Kind kostet. Aber die
Frage lautete eher: „Wie schaffen wir das?“ Und in dieser Frage ist das
Beziehungsdreieck Mutter-Vater-Kind schon enthalten. Heute lautet die
Frage eher: Was bringt es, was kostet es, sollen wir überhaupt eins haben?
Und darin schwingt die Abwägung Kind-Konsum-Optionsverlust mit. Wer
kleine Kinder hat, kann nicht mehr so ohne weiteres auf Partys, in die
Oper, ins Theater – auf den Markt der Freizeitgesellschaft. Dass die Beziehung zu einem Menschen auch Glück mit sich bringt, spielt in der
generativen Überlegung oft nur noch eine Nebenrolle. Das Preis-
Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage
127
Leistungs-Verhältnis und das Kosten-Nutzen-Denken haben den Faktor
Kind objektiviert. Besonders deutlich wird das bei einer Scheidung, wenn
die Besuchs-, Sorge- oder Umgangsrechte mit dem Kind wie Claimrechte
abgesteckt, eingeschränkt oder gar verboten werden. Das Kind als Gut
oder Besitzobjekt. Auch hier wieder: Weniger Beziehung, weniger Menschlichkeit, mehr ich.
Oder das Beispiel Gesundheit. Gesundheit ist zum „höchsten Gut“ des
Menschen avanciert. Der Bestsellerautor und Psychotherapeut Manfred
Lütz hat seinem Buch „Lebenslust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult“ ein Wort von Platon vorangestellt. Es
lautet: „Die ständige Sorge um die Gesundheit ist auch eine Krankheit.“
Diese Krankheit behandelt er in seinem Buch. Lütz hält Deutschland im
Sinne Platons für ein krankes Land. Heute gelte Gesundheit als höchstes
Gut und deshalb seien „die Leute von morgens bis abends mit diesen
Fragen beschäftigt, laufen zum Arzt, zum Therapeuten. Es gibt einen
schlimmen Spruch, der heißt: ‚Gesund ist ein Mensch, der nicht ausreichend untersucht wurde.’ Also je mehr Untersuchungen man macht,
desto mehr pathologische Werte bekommt man mit. Es gibt Menschen, die
von morgens bis abends nicht mehr leben, sondern nur noch vorbeugend
leben und dann gesund sterben“.
Der hauptberuflich als Arzt für Psychiatrie tätige Autor hat Theologie
studiert. Für ihn ist der Gesundheitswahn ein moderner Religionsersatz, so
wie vor 200 Jahren etwa die Vernunft die Religion ersetzen sollte. Die
Menschen glauben – so Lütz – „nicht mehr an Gott aber an die Gesundheit“. Der Deutsche Fitness-Studio-Verband beziffere die Zahl seiner Mitglieder für das Jahr 2000 auf 4,59 Millionen Deutsche. Im gleichen Jahr
2000 seien noch 4,42 Millionen Deutsche in den katholischen Sonntagsgottesdienst gegangen. Lütz folgert: „Das Jahr 2000 ist also ein Wendepunkt. Die Gesundheitsreligion hat sozusagen die Macht übernommen
und ich glaube in der Tat, dass alle Formen der religiösen Tradition inzwischen im Gesundheitswesen angelangt sind.“
So könnte man beliebig alle Felder der Politik und der Gesellschaft
durchgehen. Man stieße immer wieder auf den Begriff der Ich-AG oder
der Ich-Gesellschaft. Die sozialen Netze sind gerissen, der Mensch lebt
schon als Kind in einer, wie die Soziologen sagen, insulären Situation.
Schon Romano Guardini wies auf die Gefahr des „unmenschlichen“ oder
des „nicht-humanen Menschen“ hin. In einer Studie, die Hans Urs von
Balthasar Romano Guardini widmete, sieht der große Denker die „Un-
128
Jügen Liminski
menschlichkeit des Menschen“ in einem unmittelbaren Zusammenhang
mit dem Vergessen Gottes und der Anwendung einer nahezu gebieterischen aber auch irreführenden Technologie. Das ist die moderne
Barbarei. Guardini schrieb mit einem Hauch von Prophetie: „Es ist für
mich als ob unser ganzes kulturelles Erbe von den Zahnrädern einer
Monstermaschine erfasst würde, die alles zermalmt. Wir werden arm, wir
werden bitterarm.“
Drittens: Wege aus der Barbarei
Wie kommt eine Gesellschaft aus so einer Situation heraus? Altpräsident
Herzog bietet da eine Lösung an: das Familienwahlrecht. Auch Paul
Kirchhof ist dafür und andere Persönlichkeiten mehr. Wenn die Stimmen
der Kinder treuhänderisch von den Eltern genutzt würden, gäbe es mit
einem Schlag 15 Millionen Stimmen mehr, von den Eltern für die Kinder
in die Waagschale der Macht geworfen. Das würde die Interessenlage der
Parteien schlagartig ändern. Alle, auch in der Politik, sind sich einig, dass
dann ein Run auf familienfreundliche Themen und Projekte begänne. Ein
solcher Schritt würde Energien für die Zukunft freisetzen. Paul Kirchhof
schreibt in seinem Essay über die Erneuerung des Staates in Deutschland:
„Freiheit ist ein Wagnis in Grenzen des Rechts“. Es wäre ein kalkulierbares
Wagnis, das Land hätte wieder Zukunft. Aber das politisch-mediale
Establishment will oder wagt diese Freiheit nicht. Dieses Establishment
der gewollt Kinderlosen führt einen heimlichen Krieg gegen das Gemeinwohl und gegen die Gesellschaft. Einen heimlichen, aber realen Krieg. Die
Familien müssen sich wehren. Wir leben bereits in einer Pseudo-Demokratie. Die alten Griechen wussten das schon. Der Historiker Polybios hat
es im zweiten Jahrhundert vor Christus so formuliert: Ein Staat sei dann
keine Demokratie, wenn in ihm „eine beliebige Masse Herr ist, zu tun, was
ihr beliebt“. Im Gegenteil sei die „Bezeichnung Demokratie da und dann
am Platze“, wo man „Vater und Mutter ehrt, vor einem Älteren Respekt
hat, den Gesetzen gehorcht.“ Freilich müssen die Gesetze gerecht sein.
Das ist in Deutschland nicht immer der Fall. In puncto Gerechtigkeit für
Familien erst recht nicht. Hier muss die Balance neu justiert werden, wenn
man ein solidarisches Gemeinwesen zwischen den und innerhalb der
Generationen schaffen will.
Es ist eine alte Dichotomie. Es geht um die Gestaltung der Gesellschaft
als solidarische oder als repressive. Vor dieser Alternative standen schon
Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage
129
die alten Griechen. Denn prinzipiell gibt es nur zwei Gesellschaftsmodelle:
Das Konfliktmodell und das Konsensmodell. Ein Ahnherr der Konflikttheorie, der Sophist Thrasymachos, sah als alleiniges Kriterium für das
gesellschaftliche Handeln die technische Durchsetzbarkeit. Was geht, wird
gemacht. Keine Rücksicht auf Ethik, Familie oder Würde im Alter. Das
Ergebnis ist der repressive Staat mit Abtreibung, Euthanasie, Instrumentalisierung der Familie, Altenkrippe und der absoluten Vorfahrt für
Profit und Arbeit. Aristoteles, der andere geistige Pol der Antike, sah nicht
im Henker, sondern in der Freundschaft das Band der Gesellschaft. Sie sei
„das Nötigste im Leben“, meinte der große Grieche. Und man kann hinzufügen: In der Familie findet sie, die Freundschaft, ihr Zuhause. Das ist die
Alternative der Zukunft: Eine repressive Gesellschaft mit der Kultur des
Todes und der Ich-Mentalität oder eine solidarische Gesellschaft mit
freundschaftlichen Formen des Zusammenlebens der Generationen. Denn
Freundschaft ist generationenübergreifend und Vorbild gebend und die
Demographie spitzt diese Alternative immer schärfer zu.
Wir stehen auf der Kippe dieser alternativen Entscheidung. Die
Konflikttheorie scheint die Oberhand zu gewinnen. Schirrmacher hat in
seinem Buch „Minimum“ einen prophetischen Blick nach vorn gewagt
und die These aufgestellt: Nur die Familien werden überleben. Darüber
freuen wir uns, aber zunächst müssen wir als Familie erst mal selber überleben. Was Schirrmacher nicht sagt: Die Familien werden überleben, weil
sie die Würde des Menschen leben. Dieses Bewusstsein von der Würde
droht in einer hyper-individualisierten Gesellschaft des Konsums und der
Produktion zugrunde zu gehen. Dieses Bewusstsein von der Würde aber
ist der Dreh- und Angelpunkt einer solidarischen Gesellschaft. Es muss
immer wieder wachgerufen werden. Wenige Jahre nach dem Krieg, 1949,
also zu einer Zeit, da die Brandbilder noch im Gedächtnis loderten und es
klar war wie Quellwasser im Gebirge, wohin der Wahn von Ideologen und
die Feigheit der Guten führen kann, jene Feigheit, von der Don Bosco
sagt, dass sie die häufigste Ursache der bösen Taten ist, zu dieser Zeit verfasste Romano Guardini eine kleine Schrift über das Recht des ungeborenen Menschenlebens, die sich heute noch oder schon wieder lohnt,
in die Hand zu nehmen. Im Abschnitt mit dem Titel „Der entscheidende
Gesichtspunkt“ schreibt er: „Die endgültige Antwort liegt im Hinweis auf
die Tatsache, dass das heranreifende Leben (man könnte auch sagen das
dahinwelkende Leben, A. d. V.) ein Mensch ist. Den Menschen aber darf
man nicht töten, es sei denn in der Notwehr ... und der Grund dafür liegt
in der Würde seiner Person.“ Und dann zieht er die Kausalkette noch
130
Jügen Liminski
etwas weiter: „Nicht deshalb ist der Mensch unantastbar, weil er lebt und
daher ein Recht auf Leben hat. Ein solches Recht hätte auch das Tier,
denn das lebt ebenfalls. … Sondern das Leben des Menschen darf nicht
angetastet werden, weil er Person ist.“ Dann definiert Guardini diesen
Begriff. „Person ist die Fähigkeit zum Selbstbesitz und zur SelbstVerantwortung; zum Leben in der Wahrheit und in der sittlichen Ordnung.
Sie ist nicht psychologischer, sondern existentieller Natur. Grundsätzlich
hängt sie weder am Alter, noch am körperlich-seelischen Zustand, noch an
der Begabung, sondern an der geistigen Seele, die in jedem Menschen ist.
Die Personalität kann unbewusst sein, wie beim Schlafenden; trotzdem ist
sie da und muss geachtet werden. Sie kann unentfaltet sein wie beim
Kinde; trotzdem beansprucht sie bereits den sittlichen Schutz. Es ist sogar
möglich, dass sie überhaupt nicht in den Akt tritt, weil die physischpsychischen Voraussetzungen dafür fehlen wie beim Geisteskranken oder
Idioten. Dadurch aber unterscheidet sich der gesittete Mensch vom Barbaren, dass er sie auch in dieser Verhüllung achtet. So kann sie auch verborgen sein wie beim Embryo, ist aber in ihm bereits angelegt und hat ihr
Recht. Diese Personalität gibt dem Menschen seine Würde. ... Die Achtung
vor dem Menschen als Person gehört zu den Forderungen, die nicht diskutiert werden dürfen. Die Würde, aber auch die Wohlfahrt, ja endgültigerweise der Bestand der Menschheit hängen davon ab, dass das nicht
geschehe. Wird sie, die Würde, in Frage gestellt, gleitet alles in die
Barbarei.“
Josef Pieper geht noch einen Schritt weiter und tiefer. In seinem
Traktat Über die Gerechtigkeit sagt auch er, „weil der Mensch Person ist,
das heißt ein geistiges, in sich ganzes, für sich und auf sich hin und um
seiner eigenen Vollkommenheit willen existierendes Wesen, darum
steht dem Menschen etwas zu, darum hat er ein suum, ein Recht, gegen
jedermann vertretbar, jeden Partner verpflichtend, mindestens zur
Nicht-Verletzung.“ Ja, die Personalität des Menschen, die Verfasstheit
des geistigen Wesens, kraft deren er Herr seines eigenen Tuns ist, verlange sogar, zitiert er den heiligen Thomas von Aquin, dass die göttliche Vorsehung die Person um ihrer selbst willen leite und über uns
mit großer Ehrfurcht verfüge. Aber er fragt auch: Wie kann die
Personalität der letzte Grund sein, zumal sie selbst nicht in sich
gründet? Die Antwort: „Der Mensch hat deshalb unabdingbare Rechte,
weil er durch göttliche, das heißt aller menschlichen Diskussion entrückte Setzung als Person geschaffen ist. Dem Menschen steht letzten
Grundes deswegen etwas unabdingbar zu, weil er creatura ist, und als
Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage
131
creatura hat der Mensch die unbedingte Verpflichtung, dem anderen
das ihm Zustehende zu geben. Diesen Sachverhalt hat Kant so ausgesprochen: Wir haben einen heiligen Regierer, und das, was er den
Menschen als heilig gegeben hat, ist das Recht der Menschen.“
Wir wissen heute, dass die Würde nicht nur im Einzelfall sondern
prinzipiell infrage gestellt ist. Sie wird angetastet – siehe embryonale
Stammzellforschung, siehe Abtreibung, siehe aktive Sterbehilfe –, aber sie
bleibt prinzipiell unantastbar. Denn es ist, so Pieper, „der Creator selbst in
seiner Absolutheit der letzte Grund für die Unabdingbarkeit (also für die
Unantastbarkeit, d. V.) des dem Menschen Zustehenden“. Deshalb ist der
Kampf auch nicht hoffnungslos, selbst wenn es manchmal so scheint und
die Politik beim Thema Abtreibung, Euthanasie in absurder Weise sich wie
die drei Affen verhält: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Nein, Gott
selbst ist der prinzipielle Garant für die Unantastbarkeit.
Wen schert das, könnte man fragen. Alle, heißt die Antwort. Denn die
Natur des Menschen hat sich nicht geändert. Was aber passiert, wenn die
Natur nicht anerkannt wird? Wenn, wie Sartre sagt, „la nature de l’homme
n’existe pas“, wenn die Natur des Menschen nicht existiert? Dann gibt es
kein Humanum und dann ist alles möglich. Und in seinem posthum erschienenen Werk „Die Existenz des Christen“ beobachtet Guardini, wie
dies geschehen kann, dann nämlich wenn der Geist krank wird. „Das geschieht nicht unbedingt nur dann, wenn der Geist sich irrt“, schreibt er,
„sonst wären wir ja alle geistig krank, denn wir täuschen uns alle mal; noch
nicht einmal, wenn der Geist häufig lügt; nein, der Geist wird krank, wenn
er in seinem Wurzelwerk den Bezug zur Wahrheit verliert. Das wiederum
geschieht, wenn er keinen Willen mehr hat, die Wahrheit zu suchen und
die Verantwortung nicht mehr wahrnimmt, die ihm bei dieser Suche zukommt; wenn ihm nicht mehr daran liegt, zwischen wahr und falsch zu
unterscheiden.“
Vor dieser Situation stehen wir. Es ist die Situation des Pilatus.
Resignierend, fast vorwurfsvoll fragt er Jesus – im Film „Die Passion“
fantastisch gespielt –: Quid est veritas? Was ist Wahrheit? Seine Jünger, die
Pilatisten, sind heute zweifellos in der Mehrheit, jedenfalls in der Bewusstseinsindustrie. Es sind die Jünger des Pilatus, die Ende der sechziger Jahre
sämtliche Wertefundamente zertrümmerten, indem sie alles infrage stellten.
Es sind die Jünger des Pilatus, die nur ihre Karriere, ihre Bequemlichkeit,
ihre Ruhe im Sinn haben. Es sind die Jünger des Pilatus, die die Wahrheit
im Stich lassen und sich eine Wirklichkeit nach ihrem Gusto zimmern. Der
132
Jügen Liminski
Verzicht auf die Wahrheit ist der Kern der heutigen Krise, konstatierte
knapp und bündig schon vor zehn Jahren Kardinal Ratzinger. Dieser
Relativismus grassiert auch in der Politik, auch bei den C-Parteien. Angesichts der Debatte über beschränkte Ressourcen oder leere Kassen wächst
zudem der Druck auf potentielle Patienten und ihre Angehörigen, mit der
Einwilligung in teure medizinische Maßnahmen zur Lebensverlängerung
sehr zurückhaltend zu sein. Das ist das Sterben nach Kassenlage, eine Vorstufe zur Euthanasie. Auch dagegen hilft nur die Familie, die vergessene
oder verdrängte Institution.
Ich komme zum Schluss. Vor einigen Jahren trugen Schüler bei einer
Demonstration in Berlin ein Plakat mit folgender Aufschrift durch die
Straßen: So wie ihr uns heute behandelt, so werden wir euch später
pflegen. Es war eine unbewusste Kriegserklärung an die kinderlosen
Hedonisten. Diese werden zwar viel Geld haben, aber wenig Freunde. In
der von ihnen verschuldeten demographischen Krise geht es nicht so sehr
um die Umlagesysteme, sondern mehr noch um die emotionale Verarmung. Die gewollt Kinderlosen und Familienverächter werden einsam
sein. Dagegen helfen auch Generationenhäuser oder Altersheime nicht. Sie
können im Gegenteil bei allem Luxus Stätten organisierter Einsamkeit sein.
Die Freundschaft ist in der Familie zuhause. Die Familie ist als Schutzraum
der Intimität vor dem Wandel der Kultur und der sozialen Strukturen gefeit. Für sie zählt nicht, was der andere hat – Güter, Geld, Besitz – oder
wie er aussieht. Für sie zählt, was er ist: konkrete Person, Vater, Mutter,
Mann, Frau, Bruder, Schwester – alles Personen, Gesichter mit Namen.
Für sie lebt man selbstlos Solidarität. Das ist das Gegenprogramm zur
hyper-individualisierten Gesellschaft, zum kollektiven Egoismus des
politisch-medialen Establishments, zu den Krippenwarten und Altenwarten, zu den Funktionären einer enthumanisierten Gesellschaft.
Wir brauchen eine Rückbesinnung auf die Würde des Menschen, auf die
selbstlose Liebe. Das kann kein Staat, kein Amt leisten. Das Bewusstsein
für Würde und Person wächst in der Familie heran. In ihr ist die selbstlose
Liebe zuhause, die diese Würde pflegt, in den jungen Herzen das Bewusstsein für sie stiftet. Die Familie ist, wie Benedikt XVI. sagt, „der Kern aller
Sozialordnung“. Sie ist, für jung und alt, die Krippe der Menschlichkeit.
Deshalb muss die Familie gestärkt werden, damit die Menschen wieder
Zeit haben füreinander, Zeit für die Beziehung, Zeit für die Liebe und
damit Zeit für die Anerkennung der Würde. Das wird man freilich erst
Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage
133
verstehen, wenn man davon ausgeht, dass es eine Natur des Menschen
gibt, dass der Mensch creatura ist, über die der Creator, wie es im Buch der
Weisheit steht, nur „mit großer Ehrfurcht“ verfügt. Wenigstens einen
Hauch dieser Ehrfurcht, mehr oder weniger stark, erfährt man in der
Familie, der Krippe par excellence.
Früher waren die Deutschen gefürchtet, jetzt fürchten sie sich selbst
und auch vor ihrer Vergangenheit. Diese Furcht ist sprichwörtlich geworden. „The German Angst“ sagen die Angelsachsen, wenn mal
wieder eine Hysterie auf dem Kontinent tobt, sei es wegen der Rinder,
der Vögel oder sonst etwas, das den Appetit verderben könnte. Die
Anfälligkeit der Deutschen für Hysterien verdichtet sich in diesem Begriff. Aber vielleicht sind es gar nicht die Deutschen, sondern nur
deutsche Medien, wenn man sich zum Beispiel die Hysterie um Eva
Herman und auch um Kardinal Meisner anschaut. Und immer wird
gleich die Nazi-Keule geschwungen, obwohl alle wissen, dass weder
Frau Herman noch der Kölner Kardinal irgendetwas mit den Nazis und
deren barbarischen Ideologien zu tun haben. Wir kennen das. Man fragt
sich, was treibt diese Leute außer der Annahme, dass sie mit diesen
Schlagzeilen Auflage oder Quote erhöhen könnten? Natürlich gibt es
den einen oder anderen Gutmensch, bei dem die Empörung auch echt
ist. Er regt sich aber in der Regel ab, wenn er merkt, dass es sich um ein
Missverständnis oder um eine bewusst provokative Äußerung handelte.
Nicht so die Hysterie-Schaffenden. Sie drehen weiter, vor allem wenn
es sich um eine Äußerung handelt, die die Natur des Menschen betrifft.
Das kann das Wort „Gebärmaschine“ sein oder der schlichte Begriff
„Mutter“. Da hört der Spaß der Meinungsfreiheit auf. Reflexartig wird
dann mit allen Rohren geschossen – Missverständnis hin, Kontext her.
Aber hier wird es erst wirklich interessant. Denn Fragen, die mit der
Natur des Menschen zu tun haben, haben auch mit der Wirklichkeit zu
tun, mithin mit der Wahrheit. Daraus ergeben sich Grundsätze. Aus
dem Sein erwächst ein Sollen, nannte es Guardini, und das mögen die
Vertreter einer Denkrichtung nicht, deren Lebenselexier die Beliebigkeit ist, die von Grundsätzen und Ethik also nichts halten, und die sind
eben vor allem in Massenmedien zu finden. Aus dieser Ecke kommen
dann auch Angriffe auf andere Persönlichkeiten, am liebsten Bischöfe,
weil die sozusagen die klassischen Vertreter von Grundsätzen sind oder
sein sollten. Dass solche Menschen auch mal Fehler machen oder sich
ungeschickt äußern, ist nicht das Problem. Ihr Problem ist: Sie sind der
verkörperte Widerspruch zur Beliebigkeit, zum Alles-ist-möglich. Das
134
Jügen Liminski
hat auch mit Pluralismus nichts mehr zu tun. In einer pluralen Gesellschaft wird noch um Werte gerungen, in einer Gesellschaft der Beliebigkeit ist das nur lästig.
Die Gleich-Gültigkeit aller Werte ist heute in den meisten Medien voll
durchgeschlagen. Man sucht nicht mehr nach Wahrheiten und das gilt vor
allem für einige bekannte Massenmedien. Es zählen nur die Konkurrenz
und der profitable Erfolg. Aus diesem Denken entsteht dann auch, was die
amerikanische Publizistik den pack-journalism, den Meutenjournalismus
nennt. Alle jagen einem Thema, einer Beute nach. Diese Meute kennt
keine Werte mehr. Es wird nicht mehr berichtet, nur noch hingerichtet.
Gorgias, eine führende Figur unter den Sophisten der alten Griechen, hatte
nur einen Grundsatz: „Es gibt nichts.“ Er ist der Ahnherr vieler Medienleute. Denn der Nihilismus ist die Zwillingsschwester der Hysterie. Das ist
die Denkweise, die der Lebensweise der Beliebigkeit zugrunde liegt.
Wo aber in den Werten und Grundsätzen keine Ordnung mehr herrscht,
wo nicht mehr gefragt, geschweige denn geforscht wird nach dem, was
richtig und was falsch ist, da ist, wie Guardini sagte, „der Geist im
Wurzelwerk krank“ und die Hysterieanfälligkeit am größten. Da wird jedes
Wort der Vertreter von Wahrheit(en) auf die Goldwaage gelegt. Man überlege nur mal, wie die medialen Reaktionen ausgefallen wären, wenn Alice
Schwarzer oder ein Politiker aus dem linken Spektrum sich so missverständlich ausgedrückt hätte wie Frau Herman oder eine Wortwahl getroffen hätte wie der Kardinal. Man hätte allenfalls milde gelächelt oder
süffisant die Ungeschicklichkeit aufgespießt. Es gibt eine alte Volksweisheit für solche Fälle: Die Kirche im Dorf lassen. Aber das ist es ja gerade,
man will Kirchen und Werte ins Nichts, sozusagen heim ins Reich der
Beliebigkeit führen.
Der Streit ist alt, die Sophisten trugen ihn gegen Aristoteles und Platon
aus. Neu an der geistig-geistlosen Auseinandersetzung ist die Schärfe und
die Wucht, mit der die Jünger des Nihilismus Andersdenkende verfolgen,
sobald diese den Nerv der Lebensweise berühren oder auch schlicht eine
Ordnung wiederherstellen wollen, die den liberalistischen Geistern missfällt. Das heißt: Es wird weiter medial geschrieen werden. Da ist die alte
Kardinaltugend der Tapferkeit gefragt und zwar in ihrem Wesenskern, dem
Standhalten. Standhalten in der Wahrheit und den immer gültigen Werten.
Dafür sehe ich in den großen Parteien kaum Ansätze. Es wird weiter
geschrieen werden, und da ist auch eine weitere Tugend gefragt: Gelassenheit. Das Schreien führt zu nichts. Auch das ist eine Form von Nihilismus.
Die christliche Familie oder die vergessene Grundlage
135
Was aber bleibt, ist die Natur des Menschen. Und, so sagt Robert
Spaemann: „Von der Natur können wir uns nicht emanzipieren.“ Also
warten wir ab, bis die Stunde der Besinnung wieder schlägt. Vielleicht ist
das Volk doch nicht so dumm, wie die Politik glaubt.
BESPRECHUNGEN
WOLFGANG BADER, STEFAN
LIESENFELD, Maria – Vier Wochen
mit der Mutter Jesu, München
2006, ISBN 3-87996-680-X, S.
64 (German Rovira)
Es ist ein Büchlein, das Anregungen für das Gespräch mit
Maria – oder sagen wir besser –
für Betrachtungen über die Beziehung Marias zu Gott (9-22),
zu ihrem Sohn (23-35), zu den
Anderen (36-49) und zu uns (5063) gibt. Dementsprechend ist
das Buch in diese vier Bereiche,
abschnittsweise für jeden Tag der
Woche, eingeteilt.
Bei jeder Meditation sind verschiedene Zitate ausgewählt worden, die unterschiedlich bewertet
werden können, je nach dem ob
man das Büchlein einfach liest
oder für die tägliche Betrachtung
verwendet: Zitate von Boff,
Luther und aus dem evangelischen
Gemeindekatechismus,
von Petra Kelly, Helder Camara
bis hin zu Mutter Teresa und
Johannes Paul II.
Nun, die Intention des Verfassers ist zweifellos gut, vor allem die Einteilung für einen Monat. Man hätte aber mehr und
tiefer über Maria nachdenken
können.
JOSEPH OVERATH, Mann ohne
Worte – Eine Deutung der Litanei
vom heiligen Joseph, Kisslegg 2007,
ISBN 978-3-939684-181-3, S. 80
(German Rovira)
Zur lauretanischen Litanei
sind sehr viele Kommentare erschienen, meistens hilfreich für
die Betrachtung dieser liebenswürdigen Anrufungen zur Mutter Gottes, die auch unsere
Mutter ist. Zur Litanei des hl.
Josef gibt es nur wenige Kommentare. Ich kenne nur einen
Kommentar in französischer
Sprache – und jetzt den von
Overath. Hier kann man das
Gleiche sagen, was man meistens
empfindet, wenn etwas Sinnvolles zu einem Gebet oder einer
Stelle des Evangeliums geboten
wird, das uns das Gespräch mit
Gott erleichtert und das wir mit
Dankbarkeit annehmen. Der
Kommentar zur Litanei des hl.
Josef, den uns Overath anbietet,
besitzt diese Merkmale: Er ist
hilfreich für das Gebet und für
die Betrachtung dessen, was uns
138
Besprechungen
im Evangelium über den hl.
Josef gesagt wird, welcher in die
Geschichte des Volkes Gottes im
Alten Testament (vgl. 10-15)
verwoben ist. Zum Teil dient die
Geschichte des Joseph, des Sohnes Jakobs im AT, zur Erleuchtung der Tugenden des Vaters
Jesu , z. B. der Keuschheit (6164).
Hier sei mir eine Anmerkung
zu den vortrefflichen Ausführungen Overaths erlaubt: Warum hat
er so viel Scheu, den hl. Josef
den Vater Jesu zu nennen (18)?
Anstatt „Vater“ benutzt er die
alten Formulierungen Pflegevater
(z. B. 29 u. 54) oder Nährvater
(71). Maria, die Jungfrau, nannte
ihn einfach Vater (Lk 2,48), wie
auch der hl. Augustinus und
Johannes Paul II. Dieser gibt
auch eine deutliche Erklärung
dafür, den hl. Josef nicht ersatzweise oder als den scheinbaren Vater
Jesu zu bezeichnen, „sondern
(Josef) besitzt die volle Authentizität
der menschlichen Vaterschaft“ (RC n.
21).
Auch bedarf dieser wunderbare Kommentar über die Litanei zum Hl. Josef noch einer
Korrektur. Ich muss nämlich
darauf aufmerksam machen, dass
nicht Leo XIII. 1889 den hl.
Josef zum „Patron der Kirche“
ernannt hat, sondern dass Pius
IX. mit dem Dekret Quemadmo-
dum vom 8.12.1870 den hl. Josef
als Patron der universalen Kirche
anerkannte. Mit dem Apostolischen Schreiben Inclytum Patriarcharum vom 17.7.1871 wurde
dieser Titel des hl. Josef ratifiziert. Pius IX. ist auch derjenige,
der seit dem 10.12.1847 das Fest
des Patroziniums des hl. Josef
feiern ließ und die entsprechende
Liturgie approbierte.
Und noch eines müsste man
meines Erachtens für eine wünschenswerte spätere Auflage des
Buches verbessern: die Bezeichnung Zimmermann (41): War der
hl. Josef Zimmermann oder hatte er eine Werkstätte als Zimmermann in Nazareth? Er war technon, ein Techniker in seiner
Arbeit, die er sich überall suchte
und die ihn häufig mit Schmerzen von Zuhause fernhielt. In
einem Dorf mit maximal 100
Leuten konnte er eine Werkstätte
nicht halten und suchte sich in
der Umgebung, vor allem in
Sepphoris, Arbeit.
Aber das ist Ermessungssache, wie auch manche andere
Deutungen im Buch, wie z. B.
die Behandlung der Anrufung
amator paupertatis (50 f.); man
hätte mehr über die „Armen
Israels“, die Awarim Israels, die
arm im Geist waren, wie der
Herr sie in den Seligpreisungen
(Mt 5,3) nennt, sprechen können.
Besprechungen
Brillant und tapfer dagegen ist
die Verteidigung der Orthodoxie,
der wahren Lehre der Kirche
über den Teufel in Terror daemonum (74 f.). Ja, wir glauben
daran, nicht nur weil die Heilige
Schrift und die Tradition den
Teufel mehrere Male erwähnt,
sondern weil diese Lehre der
Kirche über den Teufel für die
Christen verständlich ist. Wir
selbst können den Hass der Welt
auf Jesus ohne weiteres konstatieren.
Wir müssen Pfr. Overath für
die schönen und tiefen Betrachtungen, die er uns in diesem
Büchlein anbietet, sehr dankbar
sein.
WILLI STEINFORT, In der
Schule Mariens, Kisslegg 2007,
ISBN 978-3-939684-17-6, S. 143
(German Rovira)
Die Lektüre ist eine gute
Schulung für das Rosenkranzgebet: eine Mischung von lehramtlichen Dokumenten, Volksfrömmigkeit und Praxis beim Beten des Rosenkranzes. Sie bietet
auch einige Anregungen liturgischer oder biblischer Art als
Alternative für einzelne Einschiebungen oder Schlussformen, mit
139
denen man den Rosenkranz
beenden kann.
Der Verfasser fängt mit einer
Einstimmung an, indem er Worte
des Prologes verwendet, die
Papst Johannes Paul II. zur Ermutigung, das Gebet des Rosenkranzes zu üben, geschrieben
hat. Das ist ein Lob für dieses
Gebet.
Die lehramtlichen Anweisungen des Buches beziehen sich
fast nur auf das Apostolische
Schreiben Rosarium Virginis Mariae, das Steinfort in Teilen durch
das ganze Büchlein nach trefflicher Auswahl wiedergibt. Er
verwendet nicht die vielen anderen Lehrschreiben, die seit Leo
XIII. immer wieder von den
Päpsten zur Verbreitung und
Förderung des Rosenkranzgebetes erschienen sind. Er beschränkt sich auf das erwähnte
Schreiben Johannes Paul II.
Ein kleines Buch, dem man
eine große Verbreitung wünscht.
Es dient sowohl der Bekanntmachung des Rosenkranzes als
auch der Förderung der Frömmigkeit durch das Beten des
Rosenkranzes.
140
Besprechungen
TARCISIO STRAMARE, San
Giuseppe – Dignità ⋅ Privilegi ⋅ Devozioni, Camerata Picena 2008,
ISBN 978-88-8404-160-9, € 5, S.
298 (German Rovira)
Professor Stramare hat schon
viele Bücher über den hl. Josef
geschrieben. Eines von ihnen mit
dem Titel „Er gab ihm den Namen Jesus“ ist ins Deutsche
übersetzt und veröffentlicht worden. Der Autor ist Vorsitzender
der „Josefinischen Bewegung“
von Italien und Koordinator der
Josefssymposien, die alle vier
Jahre an einem vorher bestimmten Ort der Welt stattfinden.
Jetzt ist ein neues Buch von ihm
erschienen. Für diejenigen, die
die anderen Bücher von Stramare
kennen, bringt es nichts Neues;
aber es fasst alles zusammen, was
über den hl. Josef gesagt werden
kann, und das ist viel!
Er beginnt mit der Würde des
Heiligen, er spricht über die Aufgaben im Leben des hl. Josef,
über seine Berufung und seine
spezielle Rolle im Heilswerk seines Sohnes, der Sohn Gottes ist
und Sohn der jungfräulichen
Mutter Maria. Stramare zeigt den
hl. Josef hier in einem anderen
Licht, denn Josef ist nicht eine
Randfigur an der Krippe, wie er
manchmal von ungläubigen Exegeten dargestellt wird, sondern er
erfüllte neben der Gottesmutter
und im Schweigen die wichtigsten, zusätzlich erforderlichen
Pflichten im Werk der Erlösung,
damit Gott Mensch werden
konnte und als Mensch die natürlichen Etappen seines Erdenlebens durchlaufen konnte; und
so konnte der Menschensohn
das Erlösungswerk vollziehen.
Zur Erfüllung dieser Pflichten
und Aufgaben hat Gott den hl.
Josef berufen. Er sollte der Beschützer des Erlösers und Marias
sein (11-15), der Ehemann der
Gottesmutter (16-33) und der
Vater Jesu (34-51), weshalb der
Sohn Gottes und der Jungfrau
Maria ‚Sohn Davids’ genannt
werden konnte (21-27).
Das Buch ist klein, vergleichbar mit einem Katechismus: die
Lehre der Kirche über den hl. Josef.
Neben den schon beschriebenen Aufgaben im Leben des
hl. Josef spricht Stramare die
schon angedeuteten Privilegien
an (144-207) sowie die Frömmigkeitsübungen, mit denen man ihn
verehren kann (209-296). Diese
Übungen sind parallele Praktiken, die man bei der Verehrung
der allerseligsten Jungfrau Maria
schon kennt, ebenso die Devotion zum Herzen des hl. Josef
(279-284). Die Erwägung „Sklave sein“ für Josef (285-298) ist
Besprechungen
Nachahmung der ähnlichen
Übung bei Maria, die Ildephons
von Toledo zuerst vorgeschlagen
hat und die dann von Ludwig
Maria Grignion von Monfort
verbreitet wurde als Weihe an
Jesus und Maria.
Hinzuzufügen wäre noch, dass
bei der Behandlung der Würde
des hl. Josef nicht nur das Leben
des Heiligen besprochen wird,
sondern natürlich gehören seine
Aufgaben im Himmel für uns
dazu und das wird erörtert: sein
Schutzpatronat über die ganze
Kirche (113-117), sein Vorbild
für die Christen als Arbeiter
(118-122), als Meister des inneren Lebens (125-129) und Ähnliches. Ein Buch, das man ins
Deutsche übersetzen sollte, damit die Person des hl. Josef bekannter gemacht und seine Hilfe
für uns erfahrbar wird.
MANFRED HAUKE, Introduzione
alla Mariologia, Eupress FTL,
Lugano 2008, ISBN 973-8888446-52-3, 447 S., 38 €.
Der Titel ist bescheiden:
Introduzione - Einführung (!),
und der Verfasser schreibt 447
Seiten und behandelt alle Themen der Mariologie: Er schreibt
sogar vier Seiten über die Mariologie im Internet mit der Home-
141
page berühmter Mariologen
(371-374), eine Bibliographie von
36 Seiten (377-413), einen
biblischen Index von 17 Seiten
(415-422) und Fußnoten im Umfang von 24 Seiten (423-447).
Dies ist schon ein Hinweis
darauf, wie großartig die Arbeit
von Prof. Hauke ist, die er „Einführung“ nennt. In Wahrheit
handelt es sich um eine Zusammenfassung der Mariologie oder
zum Teil um einen Versuch, dem
Leser das gesamte Werk der Mariologie in kürzester Form anzubieten.
Natürlich hätte man in einem
mariologischen
Werk
die
Patristik (78-87) stärker berücksichtigen, mehr von der Entwicklung im Mittelalter (87-89)
bringen und dem 2. Kapitel mehr
Bedeutung geben können. Aber
das liegt im Ermessen des Verfassers und ist eine Sache der
Auffassung, ob man so oder so
konzipiert.
Nun, das Buch ist ausgezeichnet und behandelt genau die
Themen, die in der Mariologie
behandelt werden müssen: die
göttliche Mutterschaft Marias
(139-146); ihre Jungfräulichkeit
(147-174); die Heiligkeit Marias
vom Anfang ihrer Existenz an
und deshalb ihre Unbefleckte
Empfängnis (175-217); dann ihre
Assumptio, ihre Aufnahme nach
142
Besprechungen
ihrem Tod mit Leib und Seele in
den Himmel, wo sie uns Menschen hilft, den Kampf gegen
den Teufel zu führen und
Menschen für Gott zu gewinnen
(221-251).
Von dieser Aufgabe Marias im
Himmel her erklärt sich, dass der
Verfasser ein längeres Kapitel ihrer Aufgabe als Mittlerin widmet.
Dabei behandelt er auch das
Thema „Miterlöserin“ (253-308).
Zwar sind wir Christen alle von
Christus zur Miterlösung gerufen: „Geht zu allen Völkern und
macht alle Menschen zu meinen
Jüngern“ (Mt 28,19); aber Maria
ist – als die Mutter des Erlösers –
mit allen ihren Vorzügen Miterlöserin in besonderer Weise
und deshalb auch Vermittlerin
der Gnade.
Vielleicht – und damit sage ich
wiederum meine persönliche
Meinung, nicht zu verstehen als
Kritik an dem Buch – widmet er
zu viele Seiten den Erscheinungen und Prophetien, die man
Maria zuschreibt (303-329), vor
allem aus der letzten Zeit (312329). Im Mittelalter waren es
vielleicht noch viel mehr, vor
allem in den Klöstern. Es ist aber
sehr gut, dass er am Anfang
dieses 9. Kapitels die Kriterien
angibt, mit deren Hilfe man Visionen und ähnliche Phänomene
zu beurteilen vermag (308-312).
Was ich nicht verstehe ist,
dass der Verfasser sich gegen
„Leiden Gottes“ wehrt (324). Ich
verstehe zwar seine Einwände:
dass man im Himmel voll Freude
ist; aber Gott leidet bis zum
Ende der Zeit in jeder Heiligen
Messe und Maria mit ihm. Es ist
ein Geheimnis; aber wir dürfen
von den „Leiden Gottes“ sprechen, z. B. von den Leiden um
jeden Menschen, der freiwillig
verloren geht.
Das letzte Kapitel über den
Kult an Maria (331-370) ist ausführlich und sehr klar. Ich persönlich hätte nicht die Weihe an
Maria – als das Sich-Hingeben
wie Maria, um Jesus zu dienen –
als etwas Spezielles von Grignon
de Monfort heraus gestellt (365368). Eine solche Weihe gab es
schon sehr früh, schon bei Romano Melodus und vor allem bei
Ildephons von Toledo. So ist die
Weihe an Maria seit dem 6. Jahrhundert verbreitet und die Hingabe an ihr Herz seit dem 16.
und 17. Jahrhundert, eine Hingabe an Gott mit dem Vertrauen
auf Maria, die uns helfen wird,
ihm zu dienen, wie sie ihm gedient hat: als eine Magd des
Herrn (Lk 1,38).
Besprechungen
MARIE-LOUISE GUBLER, Maria
– Mutter, Prophetin, Himmelskönigin, Katholisches Bibelwerk,
Stuttgart 2008, ISBN 978-3932203-62-6, 65 S., 4,50 €.
(German Rovira)
Das Büchlein könnte einen
frommen Christen – und ich
meine damit einen normalen
Christen, der betet und an alles
glaubt, was die katholische Kirche verbindlich lehrt –, es könnte
einen solchen Christen ärgern;
nicht dass er Anstoß nehmen
müsste, denn „Anstoß“ würde
bedeuten, dass man ernst nimmt,
was da geschrieben steht: „Zuweilen entwarf die Mariologie in
Maria aber auch ein abstraktes
Hochbild der Frau, das die Mutter Jesu unerreichbar machte.“
(5)
Was versteht die Verfasserin
unter
Mariologie?
Diese
Wissenschaft als solche wurde
im 16. oder 17. Jahrhundert als
neues Fach innerhalb der
Theologie errichtet, wenn man
Francisco Suarez oder Petrus
Nigidi als Begründer dieses besonderen Faches ansehen will.
Demnach entwarf die Mariologie kein willkürliches Bild
der Jungfrau, sondern legte die
wahre Vorstellung der katholischen Theologie dar: Sie ent-
143
nahm die Daten der Offenbarung und systematisierte sie.
Oder will die Verfasserin der
marianischen Frömmigkeit diese Beschuldigung
zuschreiben? Nun, dann könnte man
dazu sagen, dass einige Richtungen, die die Frömmigkeit
des Volkes im Hinblick auf
Maria eingeschlagen
hat,
falsch waren und deshalb von
der Kirche nicht akzeptiert
wurden. Die echte Frömmigkeit hat aber z. B. das Avemaria, wunderbare Antiphonen, den Rosenkranz, die Heiligtümer Marias, den Monat
Mai als Marienmonat gebracht
und die Feste und Mariendogmen gefordert.
Man fragt sich, was die Verfasserin des Buches mit der
Frage „Wer war diese Frau?“
bezweckt (5). Die Antwort, die
Gubler gibt, ist nicht befriedigend: Maria war nicht nur
die Mutter Jesu, über die sie 15
Seiten lang schreibt (7-22),
sondern auch die Mutter Gottes!
Die Deutungen der neutestamentlichen Texte, welche die
Verfasserin vornimmt, sind
danach zu beurteilen, was die
Kirche lehrt, und das tut die
Kirche an Hand der Tradition
und der dogmatischen Entscheidungen, die sie im Laufe
144
Besprechungen
der Geschichte getroffen hat.
Zu sagen: „Die neutestamentlichen Texte zeigen eine erstaunliche Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Mariendeutungen.“ (22) ist falsch,
wenn man die Texte im Licht des
Glaubens versteht und mit dieser
Überzeugung liest, wenn man
nicht unterstellt, die Evangelisten
hätten ihre Worte nicht im Sinne
der Offenbarung gebraucht. Sie
verstanden sie vielleicht nicht in
ihrer ganzen Tiefe; aber sicherlich anders als kritische Exegeten.
Das „Material“ (45-53), das die
Verfasserin anbietet, ist zum Teil
in Ordnung; aber die Gedichte
und die Bilder (54-64) sind sicher
nicht nach jedermanns Geschmack. Und vielleicht hätte sie
nicht so kategorisch von dem
Salve Regina als einem Werk
Hermanns des Lahmen schreiben sollen.
H-O. MÜHLEISEN / H. PÖRNBACHER / K. PÖRNBACHER, Der
Heilige Josef – Theologie – Kunst Volksfrömmigkeit,
Kunstverlag
Josef Fink, Lindenberg 2008,
ISBN 978-3-89870-285-0, 255 S.,
24 €. (German Rovira)
Ein so schönes Buch war dringend notwendig: Es kann die
Frömmigkeit und die Andacht
zum heiligen Josef fördern, die
seit Jahrhunderten in der ganzen
Welt und gerade in Deutschland
lebendig ist, zumindest seit dem
14. Jahrhundert, angeregt durch
Pierre d’Ailly, Jean Gerson, Isoldo Isolani und viele andere. Ein
gutes und schönes Buch! Dem
Kunstverlag Josef Fink sei gedankt!
Nun, es ist schwer ein solches
Buch zu besprechen: Man müsste das Buch selbst sehen. Die
Reproduktionen der Kunstwerke
sind herrlich, und wer sie ausgewählt hat, versteht viel von
Kunst. Es sind Kunstwerke vom
14. Jahrhundert bis in die Gegenwart.
Zuerst stellen die Herausgeber das Buch vor (7-9), und
diese Präsentation ist ein Zeichen der Verehrung des heiligen Josef. Sie endet mit einem
langen Zitat aus einer Predigt
(1992) von Kardinal Ratzinger.
Das Buch ist, wie der Untertitel besagt, in drei Haupteile
gegliedert, zu denen ein 4. Teil
hinzugefügt wird, der eigentlich zur Volksfrömmigkeit gehört. Und natürlich, wenn man
nach Fehlern sucht, wird man
sie finden; so spricht z. B. der
Titel des 1. Teils vom „Bild
des heiligen Josef in der
Bibel“. Ist die Bibel die einzige
Quelle der Offenbarung? Hat
Besprechungen
man nicht bei der Vorstellung
des Buches auch von einer Josefologie, einer Theologie über
den heiligen Josef gesprochen?
Vielleicht hat eine eingeschränkte Auffassung von
Theologie
tatsächlich
zur
Nichtbehandlung der Erkenntnisse der Josefstheologie geführt und zur Nichterwähnung
von Johannes Chrysostomus,
Augustinus, Hieronymus, Bertold von Regensburg, Bernhard von Clairvaux und vielen
anderen bedeutenden Theologen und ihrer Aussagen über
die Gestalt des heiligen Josef.
Aber zu den Quellen der Offenbarung gehört die Tradition
so maßgebend wie die Bibel.
Ein anderer Kritikpunkt
sind die Ausführungen über
Josef in seiner „Stellung des
Zimmermanns“ (37-44), die
zwar sehr schön sind, bei denen aber gefragt werden muss,
ob Josef ein Zimmermann war
oder ein Technon, der nicht
hauptsächlich in Nazareth gearbeitet hat, sondern in den
Städten der Umgebung auf Arbeitsuche ging. Das wird jedenfalls in dem Aufsatz von
Wolfgang Urban angedeutet
(71).
Aber ich will nicht auf die
kleinen Mängel hinweisen. Das
Buch ist großartig, und ich
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hebe besonders den kurzen
Artikel von Gahbauer über die
Apokryphen und die Ostkirche
hervor: kurz, aber bündig! (4551) – und die Artikel, in denen
die Stellung des hl. Josef in der
Liturgie behandelt wird (53-59
und 61-64).
Besonders gelungen ist der
Teil, der von Josef in der
Kunst handelt. Man findet
sogar Darstellungen des Heiligen auf Kelchen und Monstranzen (87-92) und wunderbare Figuren Josefs aus dem
Schwarzwald (93-102). Einen
grundlegenden Überblick über
den „heiligen Josef in der
schönen Literatur“ gibt uns
einer der Herausgeber, Hans
Pörnbacher (113-129).
Der Abschnitt über den
heiligen Josef in der Volksfrömmigkeit und im Brauchtum ist sehr interessant und
man gewinnt einen guten
(wenn auch nicht vollständigen) Überblick darüber, welche Rolle der Heilige in der
Pflanzenkunde (159-165), in
der Philatelie und bei Andachtsbildchen spielt. Auch
über die Verehrung des heiligen Josef in verschiedenen
Gegenden
des
deutschen
Sprachgebiets erfährt man
Wissenswertes und sogar über
seine Bedeutung bei der Feier
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Besprechungen
von Weihnachten in Nordbrasilien (205 f.).
Der 4. Teil gehört – wie
bereits erwähnt – eigentlich
zum Bereich der Volksfrömmigkeit und des Brauchtums
dazu, allerdings mit einigen
Ausnahmen: einer Meditation
in Gedichtform (213), einer
Betrachtung von Erich Läufer
(215-218) und einem kurzen
Gedicht von Ida Friederike
Görres.
Das Buch endet mit einem
ausführlichen Anhang über
den „Namen Josef und seine
Varianten“ (244), „Josef in
Ortsnamen“ (245), Pfarreien,
Kliniken im wiederum deutschen Sprachraum. Nun, ich
wiederhole: ein gelungenes
Buch über den hl. Josef.
Anschriften der Autoren
Marthe-Marie Dortel-Claudot, Lehrerin aus Südfrankreich, Mitbegründerin
von PAX CHRISTI und bis 1950 erste internationale Generalsekretärin
Jürgen Liminski, Neckarstr. 13, 53757 Sankt Augustin, fon: 02241-332717,
fax: 02241-337074
Christa Meves, Albertstr. 14, 29525 Uelzen, email: [email protected],
homepage: www.christa-meves.de
Prof. Dr. Stefan Samerski, Ludwig-Maximilians-Universität, GeschwisterScholl-Platz 1, 80539 München
Msgr. Dr. Peter von Steinitz, Am Kreuztor 8, 48147 Münster, fon: 02513319762, , email: [email protected]
Anschrift der Herausgeber
Dr. German Rovira, Mariologisches Institut, Maasstraße 2, 47623
Kevelaer, fon: 02832-799900, fax: 0049-2832-978202, email: [email protected]
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Wilhering, Österreich, fon: 0043-7226231123
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