PDF der Predigt
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Predigt zur Konfirmation 2015 über Psalm 91, Vers 11, gehalten von Pfarrerin Elisabeth Müller, am 10. Mai 2015 in der Kirche am Heierbusch in Bredeney Liebe Gemeinde, liebe Konfis, auch in diesem Jahr haben einige von euch den derzeit beliebtesten aller Tauf- und Konfirmationssprüche ausgesucht: Gott hat den Engeln befohlen, dich zu behüten auf allen deinen Wegen. Psalm 91,11 Es ist ein wirklich schöner Spruch, und er steht seit Jahren unangefochten auf Platz 1. Aber ich muss euch dazu eine Geschichte erzählen, die mir neulich passiert ist. Vor einigen Tagen trat ich früh am Morgen aus dem Haus. Ich war noch im Schlafanzug und wollte den Komposteimer in den Garten bringen. Man merkte schon, es würde ein schöner Frühlingstag werden. Da sah ich auf unserer Gartenbank jemand sitzen. In unserer Straße wurde in letzter Zeit oft eingebrochen und ich überlegte blitzartig, ob ich einen Einbrecher vor mir hatte. Aber nein, die Gestalt wirkte nicht gefährlich, zusammengesunken kauerte sie auf der Bank. Jetzt hob sie den Kopf. „Ah, die Pfarrerin!“ „Guten Morgen“, sagte ich, „kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ „Ja. Ich brauche Hilfe, dringend.“ Die Gestalt war seltsam. Sie war da und doch nicht da. Sie wirkte licht. Etwas breitete sich in mir aus, und schlagartig wusste ich: Das ist ein Engel. Ein Engel. Auf unserer Gartenbank. Aber ein ziemlich fertiger Engel. Eine Aura von Erschöpfung umgab ihn, auch von Traurigkeit und da war noch etwas: Unfassbare Müdigkeit. „Ja“, sagte der Engel, „was du spürst, ist richtig: Ich habe Burnout.“ Burnout. Bei einem Engel. In meinem Garten. „Du bist doch Pfarrerin“, sagte der Engel, „du musst mir helfen. Für sowas bist du zuständig.“ „Schon“, sagte ich. „Aber eigentlich bei Menschen. Und für Burnout …“ Ich dachte nach: Können Engel Burnout haben? Mir fiel eine Karte ein, die seit Jahren auf meinem Schreibtisch liegt. Ich schiebe sie hierhin und dorthin. Sie beschäftigt mich, seit ich sie zum ersten Mal sah. Die Karte zeigt ein Gemälde des finnischen Malers Hugo Simberg. Er hat das Bild vor über 100 Jahren gemalt, im Jahr 1903. Es heißt: The wounded Angel – Der verwundete Engel. Sie haben die Karte am Eingang zusammen mit dem Liedzettel erhalten. Der verwundete Engel. Als ich das Bild zum ersten Mal sah, hat es mich verstört. Dieser Engel sieht so ganz anders aus als gewohnt. Und: Wie kann ein Engel verwundet sein? Ist er nicht ein bisschen so wie zum Beispiel Superman? Unverwundbar? Auf Hugo Simbergs Bild wird der Engel von zwei Jugendlichen getragen, sie sind ungefähr so alt wie ihr Konfis. Die Jungs sehen traurig aus und irgendwie auch verstört. Der eine starrt vor sich hin. Der andere schaut uns an, die wir das Bild betrachten. Ich finde, er guckt irgendwie vorwurfsvoll. Als wollte er sagen: Wie kann denn so etwas passieren? Wer hat denn das gemacht? Wie kann das sein? Und wenn wir uns den Engel ansehen, dann ist auch klar, warum der Junge so vorwurfsvoll und traurig guckt. Denn der Engel hat einen Flügel gebrochen. Er trägt außerdem eine Augenbinde. Er kann oder will nichts mehr sehen. Er ist am Ende, dieser Engel, völlig fertig. Die beiden Jungs müssen ihn tragen, und ich habe immer das Gefühl, dass sie sagen: Eine Welt, in der die Engel nicht mehr können, ist eine verkehrte Welt. So etwas darf nicht passieren. Und ja, sie haben Recht, diese beiden Jungs. Was ist das für eine Welt, in der die Engel nicht mehr können? Was sind das bloß für Zustände, wo zwei Jugendliche sich um einen verwundeten Engel kümmern müssen? Es sollte doch genau anders herum sein, so wie es der Spruch aus dem 91. Psalm sagt: Gott hat den Engeln befohlen, dich zu behüten auf allen deinen Wegen. Psalm 91,11 Vielleicht hatten die beiden Jungs diesen Vers als Taufspruch oder als Konfirmationsspruch - oder einer von ihnen. Und jetzt müssen sie sich um diesen Engel kümmern, müssen ihn tragen, weil er offensichtlich absolut fertig ist - und eben auch verletzt. Das alles ging mir durch den Kopf, als der Engel auf unserer Gartenbank sagte: „Ich weiß, dass dich dieses Bild sehr beschäftigt. Ich sah, wie du die Karte betrachtet hast. Du hast den Maler gegoogelt. Du hast Artikel darüber gelesen. Deshalb bin ich hier. Ich komme zu dir, weil du schon mal darüber nachgedacht hast, dass wir Engel vielleicht auch Grenzen haben.“ Okay, dachte ich, das scheint jetzt tatsächlich ein Seelsorgegespräch mit einem Engel zu werden. Dass ich noch immer im Schlafanzug war, schien ihn nicht zu stören. Egal, sagte ich mir, es gibt Situationen, da kommt es nicht drauf an, wie man aussieht. Ich stellte also den Komposteimer auf dem Rasen ab und setzte mich in einen Gartenstuhl, dem Engel gegenüber. „Was“, fragte ich, „was macht dich so fertig?“ „Eure Erwartungen“, sagte er. „Immer muss alles optimal sein. Bestens. Alle sollen Gewinner sein. Nichts darf schief laufen. Und ich soll das alles machen.“ Er schüttelte den Kopf. „Mir reicht’s! Ich bin dafür nicht gemacht. So war das nicht geplant. Ich hör auf.“ „Können Engel denn sozusagen den Dienst quittieren?“ „Keine Ahnung. Vielleicht schaffe ich einen Präzedenzfall. Aber ich werde nicht der letzte Engel sein, der den Einsatz verweigert, das kannst du mir glauben. So wie mir geht es Vielen von uns. Wir können nicht mehr.“ „Ich glaube“, sagte ich, „du hast wirklich Burnout. Zwei Freundinnen von mir hatten es auch. Ich kenne die Symptome. Du strahlst eine unendliche Müdigkeit aus.“ „Ja, ich bin müde.“ „Schade, sagte ich. „Die Menschen schätzen euch sehr. Ihr Engel seid beliebt. Von allem, was wir in der Kirche so im Sortiment führen, schneidet ihr bei weitem am besten ab. Ihr seid richtig IN.“ „Das ist ja das Problem. Die Leute schenken sich kleine Engelfiguren und wir sollen alles richten, was in ihrem Leben so schief läuft. Wenn die Engelfigur einem Kranken geschenkt wird, soll ich ihn gesund machen. Wenn sie einem Kind geschenkt wird, soll ich dafür sorgen, dass dieses Kind ohne Unfälle, ohne Krankheiten und ohne Rückschläge durchs Leben kommt, am besten sorge ich noch fürs Abitur, am besten ein Einserschnitt.“ „Au weia“, sagte ich, „du bist es ja echt Leid. Es sprudelt nur so aus dir heraus!“ „Ja, ich sage doch: Mir reicht’s!“ „Aber sieh mal“, wandte ich ein: „Es ist einfach schön, so eine Engelfigur zu betrachten und sich beschützt zu fühlen. Meine Tante hat mir so einen kleinen goldenen Engelanhänger zur Taufe geschenkt, ein Medaillon. Ich fand es wunderschön. Weil es wertvoll war, ließ meine Mutter es mich nicht so oft tragen. Aber ich nahm es gern aus dem Schmuckkästchen und sah es an. Es machte mir ein gutes Gefühl.“ „Hast du es noch?“, fragte mich der Engel. „Äh, nein, das war eine ganz dumme Geschichte. Eines Tages spielte ich mit meiner Freundin „Schatz vergraben“. Wir nahmen eine leere Käseschachtel und taten alle möglichen kostbaren Sachen hinein. Auch den Engelanhänger schmuggelte ich aus dem Haus und tat ihn in die Schachtel. Dann vergruben wir die Schachtel tief in einem Erdhaufen hinter unserem Haus und spielten, dass wir Piratinnen wären.“ „Und?“ „Naja, eines Tages kam ich von der Schule nach Hause und kriegte einen Riesenschreck: Der Haufen war weg. Ich rannte in die Küche und fragte meine Mutter, wieso der Erdhaufen nicht mehr da wäre. Sie erklärte mir, dass das ein Schutthaufen gewesen war. Mein Vater hatte sich an dem Tag einen Hänger ausgeliehen und alles zur Müllkippe gebracht. Ich kann dir nicht sagen, wie fertig ich war! Und meine Freundin auch. Wir hatten Ringe von unseren Müttern in die Schachtel getan. Alles echter Schmuck! Wenn das herauskam!“ „Kam es denn heraus?“ „Irgendwie nie so richtig. Immer wenn meine Mutter skeptisch wurde und nachfragte, wo dieses oder jenes Schmuckstück wäre, dann verpuffte ihre Aufmerksamkeit oder sie wurde abgelenkt. Sie hat es nie wirklich gemerkt. Ich habe es ihr erst erzählt, als ich erwachsen war.“ „Siehst du!“, grinste der Engel. „Du willst doch nicht sagen, dass ihr das wart! Du etwa?“ Er grinste noch immer. „Nicht ich selbst. Eine Kollegin. Das war eine einfache Sache, deine Mutter abzulenken. Warum solltest du Ärger kriegen? Ihr hattet gespielt.“ „Ja, wir hatten ein Spiel gespielt, und es war echt blöd gelaufen. Das hatten wir verstanden.“ „Siehst du. Warum also hättet ihr noch Ärger zusätzlich haben sollen? Eure Eltern hätten euch verhauen, so war das damals. Da haben wir gern geholfen! Weißt du“, sagte er und stützte den Kopf auf die Hand, „Kinder sind so. Sie machen halt blöde Sachen. Aber sie sind auch sehr unterhaltsam. Sie sind Wundertüten. Man weiß nie, was ihnen noch alles einfällt. Mir gefällt das, und meinen Kollegen auch. Wir mögen Kinder ganz besonders. Aber es wird für uns immer schwerer. Früher mussten wir die Kinder oft davor bewahren, dass die Erwachsenen sie schlagen und misshandeln. Oh, was wurden die Kinder früher viel verhauen! Aber wir ahnten nicht, was noch kommen würde. Heute sehnen wir uns manchmal nach den alten Zeiten zurück.“ „Was“, fragte ich ungläubig, „weil die Kinder nicht mehr geschlagen werden?“ „Nein, so meine ich das nicht. Natürlich nicht. Es ist ganz wunderbar, dass es nicht mehr erlaubt ist, Kinder zu schlagen. Aber ihr quält sie stattdessen mit euren Erwartungen. Warum müssen sie denn immer alles gut oder sehr gut machen? Warum müssen sie dem entsprechen, was ihr „normal“ nennt? Oder gar zu den Besten gehören? Zum Leben gehört es, dass man auch mal daneben haut.“ Und dann erzählte er mir von einem Jungen, der etwas wirklich Schlimmes machen wollte. Nicht, weil er böse war, sondern weil er einfach nur Quatsch im Kopf hatte – wie Jungs in eurem Alter halt so sind. Ich sage auch nicht, was es war, sonst kommt ihr nur auf dumme Ideen. Jedenfalls hatte der Engel ziemlich zu tun, um den Jungen davon abzubringen. Er schaffte es, seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. Statt einer Riesendummheit machte der Junge nur ziemlich mittelmäßigen Blödsinn. Der Engel sagte zu mir:„ Die Mutter betete inständig, dass wir auf ihren Jungen aufpassen. Taten wir auch. Das Problem ist nur: Gedankt hat es uns niemand.“ „Warum nicht?“, fragte ich. „Naja, die Mutter und auch alle anderen haben eben nur gesehen, dass der Junge Blödsinn gemacht hat. Sie haben gar nicht verstanden, was wir an Einsatz gebracht hatten. Und so ist es ganz oft. Weil alle nur ihre Maximalerwartungen im Kopf haben, werden Teilerfolge nicht gewürdigt. Und das ist echt frustrierend. Ich kann die noch ein Beispiel erzählen: Neulich bat mich ein Mädchen um Hilfe. Sie musste am nächsten Tag eine Mathearbeit schreiben. Sie hatte aber nicht dafür gelernt, weil sie lieber diese Sendungen sieht, nach denen sie sich dann hässlich fühlt.“ „Ich weiß, was du meinst“, sagte ich. „Also, jedenfalls hatte sie nicht gelernt. Ich gab mein Bestes, aber mehr als eine Vierminus ließ sich nicht herausholen. Sie konnte echt nichts. Aber auch da wieder: Meinst du, es hat mir jemand gedankt? Die Eltern waren sauer, weil es keine gute Note war. Es gab Riesenärger. Wenn die wüssten, was mich diese Vierminus gekostet hat!“ Ich frage ihn: „Kannst du dich nicht versetzen lassen?“ „Ja, wohin denn? Kannst du mir einen Winkel in der Welt nennen, wo es für jemand wie mich einen leichten Job gibt?“ „Nein“, musste ich zugeben. „Siehst du! Ihr Menschen mutet uns überall eine Menge zu, das kann ich dir sagen! In anderen Teilen der Welt sehen meine Kollegen so aus wie der Engel auf dem Bild, das auf deinem Schreibtisch liegt: Die Gewalt ist dort so schlimm, dass ihre Flügel gebrochen sind und man ihre Augen verbinden muss, weil sie zu viel Schlimmes gesehen haben. Nein, eine Versetzung ist keine Lösung.“ „Was würde dir denn helfen?“ Er denkt nach. „Es wäre wirklich eine Hilfe, wenn ihr nicht immer wolltet, dass alles glatt geht. Das gibt es nämlich nicht. Es geht nicht immer alles glatt im echten Leben. Eine Hilfe wäre auch, wenn ihr ein bisschen mehr darauf vertrauen würdet, dass wir schon unsere Arbeit machen. Wir sind doch da. Wir helfen euch. Aber wir machen nicht alles perfekt. Das können wir nicht. Ihr habt doch keine Ahnung, wie diese Welt aussehen würde, wenn wir die Arbeit einstellen. Und es wäre echt nett, wenn ihr uns dafür mal ein bisschen dankbar sein könntet. Ein bisschen weniger Rumnölen und ein bisschen mehr Anerkennung, das würde mir schon helfen. Und – ganz ehrlich: Stresst euch und eure Kinder nicht so. Mittelmaß ist völlig okay. Sogar völliger Misserfolg kann ein Weg sein. Denn Gottes Wege sind, wie du als Pfarrerin sicher weißt, unerforschlich!“ Ich nickte. Ja, das weiß ich und erlebe es oft genug: Nicht der gerade Weg führt immer zum Ziel. „Und weißt du“, fuhr er fort, „man muss auch nicht ununterbrochen glücklich sein. Das ist alles so ein Mist, den euch irgendwelche komischen Sendungen einreden. Und überhaupt: Kannst du mir erklären, warum sich Leute freiwillig etwas ansehen und ihre Zeit opfern, nur damit sie sich mit ihrem eigenen Leben, mit ihrem eigenen Aussehen und mit sich selbst hinterher schlecht fühlen? Für uns müssten sie das alles nicht tun. Wir haben nur Arbeit damit!“ Liebe Gemeinde, liebe Konfis, wir sprachen noch eine ganze Weile miteinander an jenem schönen Frühlingsmorgen. Ich habe ihm erzählt, wie beliebt der Spruch aus dem 91. Psalm ist, in dem er vorkommt. Und wie viele Menschen den Engeln vertrauen und auf sie hoffen. Und auch dankbar sind. Ich hoffe, es hat ihm geholfen. Ich habe ihm auch versprochen, euch Konfis von unserer Begegnung zu berichten. Deshalb: Nehmt die Postkarte mit. Ich habe lange überlegt, ob ich sie euch mitgeben soll, denn sie ist ja ei- gentlich schon traurig und heute ist ein Festtag. Aber ich habe mich entschieden, sie euch mitzugeben. Seht sie euch manchmal an und denkt daran: Engel haben auch Grenzen. Wir können ihnen nicht alles zumuten und auf sie hoffen, wenn wir Mist bauen. Und: Sie machen unser Leben nicht perfekt. Und das ist auch gar nicht nötig. Ich soll euch von dem Engel in meinem Garten ausrichten: Er und die anderen Engel sind da. Sie helfen euch. Darauf könnt ihr euch verlassen. Ganz sicher. Aber ihr könntet es ihnen ein bisschen einfacher machen, auf euch aufzupassen. Ihr müsst ja vielleicht nicht jeden Blödsinn machen, der sich anbietet. Passt selbst ein bisschen mit auf, dann ist es für die Engel schon leichter. Und das Andere gilt für alle – für euch und für eure Familien, für Kinder, Jugendliche und Erwachsene: Ihr müsst nicht perfekt sein, auch nicht unablässig glücklich, und ihr müsst nicht makellos schön sein, ihr müsst nicht dünn sein, ihr müsst nicht alle Einsen oder Zweier schreiben, ihr müsst nicht bei allen beliebt sein. Dafür sind die Engel nicht da. Und im Leben kommt es letztendlich auf all das nicht an. Als Pfarrerin erlebe ich viele Menschen, wenn ihr Leben zu Ende geht. Und wisst ihr was? Viele begreifen genau das zu spät: Dass es auf all das nicht ankommt. Dass in ihrem Leben etwas anderes wichtig war. Und das ist manchmal richtig bitter. Ich wünsche euch, dass euch das gelingt. Dass ihr so seid und so lebt, wie es für euch richtig ist. Mögen die Engel euch dabei helfen! Und möge Gott euch stärken! Und was die Engel und Gott euch heute noch zu sagen haben, das singen jetzt die Mädchen des Jugendteams für euch!