Materialsammlung - Theater Marburg

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Materialsammlung - Theater Marburg
Ein Sommernachtstraum
Materialsammlung
Spielzeit 2013/14
Inhalt
Einleitung
1
Zum Autor
 Shakespeares Leben
 Biographische Daten
3
8
Das Stück und seine Aufführungsgeschichte







Quellen und Entstehung
Kleine Vers- und Rhetorikkunde
Harold Bloom
Jan Kott
Mit eigenen und mit anderen Augen
Sommernachtstraum: Eine Aufführungsgeschichte
Zu Werk und Wirkung, kompakt
15
22
27
50
70
76
100
Theater unter freiem Himmel


Öffentliche Bühnen
Das Elisabethanische Theater
105
116
Kontexte




Hegemann: Axolotl Roadkill, Auszug
Leadership und soziale Kompetent: Parallelen
ZEIT-Artikel: Wald
Bildmateral
120
129
133
140
Das Titelbild zeigt eine Arbeit von Thomas Hirschhorn, „Eye to Eye Subjecter“, 2010,
Ausstellungsansicht Neuer Berliner Kunstverein
2011 © Neuer Berliner Kunstverein/Jens Ziehe
In der Fremde
»Ein Sommernachtstraum« ist Shakespeares gefährlichstes Stück. Betreten verboten müsste
eigentlich in fetten Lettern über dem Titel stehen: denn es ist gefährlich, noch bevor es überhaupt
begonnen hat. Das hat in erster Linie weder mit dem Autor noch mit dem Text oder der
Inszenierung zu tun, sondern mit uns, den Zuschauern. Die erste und größte Gefahr dieses
Stückes liegt darin, dass wir meinen, es so allzu gut zu kennen. Der »Sommernachtstraum« ist, so
scheint es, die Blaupause aller romantischen Komödien von »About a Boy« bis »To Rome with
Love«. Es geht um die Liebe des Lebens, um Mr. und Mrs. Right; es lieben sich erst die Richtigen
in der falschen Welt, dann die Falschen in der richtigen, dann am Ende die Richtigen in der
richtigen, Elfen und Feen umtanzen das Ganze, und Love is, wie einst schon Woody Allen in
»Hannah und ihre Schwestern« vermutete, am Ende eben doch the only answer.
An diesem Label einer »leicht-luftigen Sommerkomödie« ist Shakespeares Text selbst mit seinen
lyrischen, der Sprache der Sonette verwandten Passagen vielleicht nicht ganz unschuldig. Viel
größere Schuld aber trifft die lange Reihe leicht-luftiger Inszenierungen und Verfilmungen, die
dieser wohl bekanntesten Komödie des alten Barden angediehen wurden – oder sollte man sagen:
angetan? Die Geschichte der Domestizierungen dieses Stückes beginnt schon wenige Jahrzehnte
nach der letzten Aufführung zu Shakespeares Lebzeiten im Jahre 1661 mit »The Merry Conceited
Humours of Bottom the Weaver«, einer Art Best-of Medley, das Shakespeares Stück mehr oder
minder auf die lustigen Handwerkerszenen reduzierte. Der Rest, so lautete die Meinung der
Zeitgenossen, sei ohnehin »schwierig«, wenn nicht gar »unspielbar«. Nach Deutschland kam der
Stoff im 19. Jahrhundert, gekleidet in die zartfühlige Sprache der deutschen Romantiker und auf
dem Rücken der süffigen Klänge von Felix Mendelssohn Bartholdys Musiktheaterversion.
»Shakespeares heitere Fantasy-Romanze«, so der Klappentext einer Verfilmung der Royal
Shakespeare Company aus den Mitt-1990ern, wurde damit zu einem der meistgespielten und
zugleich vielleicht meist-missverstandenen Werke des Impresarios aus Stratford. Und der Spaß
geht weiter: »Rausch, Poesie, Märchenspuk, Liebesverstrickungen, Romantik und Witz« entdeckte
man zum Beispiel 2011 am Theater Erlangen in diesem Stück. Wer hätte das gedacht.
Was wir uns als erstes vor Augen führen müssen, ist daher, wie fremd dieser Text eigentlich ist.
Nehmen wir an – die Mehrheit der Shakespeare-Exegeten vertritt diese Meinung – es gehe
tatsächlich um Modelle von Beziehungen, um den Begriff, die Idee oder das Bild von »true love«.
Sowohl Struktur als auch Handlung des Stückes legen dann nahe, diese Idee mit der Vorstellung
einer Ausgeglichenheit des Gegensätzlichen zu verknüpfen: Die »richtige Liebe« wäre somit
diejenige, in der beide Teile in Harmonie zueinander passen – so wie die im Stück beschriebenen
Ordnungen sich anscheinend am Ende harmonisch zueinander fügen. Was hat es dann zu
bedeuten, dass die Herstellung dieser Harmonie zum völligen Verstummen der Frauen im letzten
Akt führt? Ist es nicht befremdlich, dass die Störung der richtigen Ordnung durch ein Pharmakon
(ob Magie oder Chemie, sei dahingestellt) behoben werden muss, also durch ein Mittel, dem
zumindest eine der Figuren über das Ende des Stückes hinaus für alle Zeiten ausgesetzt bleiben
1
soll? Ist es nicht ebenso befremdlich, dass eine Figur wie Hermia, die im Laufe einer Nacht nicht
ein, sondern zwei Mal die völlige Verkehrung der Gefühle ihres Geliebten erlebt, hierzu nichts zu
sagen hat? Dass Helena, die sich erst erniedrigt, dann verspottet, dann plötzlich vom Verursacher
ihres Leids und ihrer Leidenschaft in den Himmel gehoben wähnt, dies alles über sich ergehen
lässt und am Ende brav und stumm ihren Platz neben dem Gemahl einnimmt?
Nicht nur das Frauenbild des Elisabethanischen Zeitalters ist uns heute fremd. Auch die
Konzeption einer Ordnung, in der das, was wir gemeinhin als intimstes unserer Gefühle verstehen,
kurzerhand zum mathematisch verkehrbaren Vorzeichen wird, könnte geeignet sein, uns zu
befremden. Shakespeares so leicht-luftig erscheinende Sommerkomödie ist in Wahrheit ein
hochkomplexer Text; dennoch geht es beinahe ausschließlich um Oberflächen, um das Sichtbare,
die äußere Erscheinung, die sinnliche Wahrnehmung. Wie sollen wir das verstehen, die wir doch
gelernt haben, unsere »wahren« Gefühle als »tief« zu betrachten? Was ist das eigentlich, ein
»tiefes Gefühl«? Ist die Intensität einer Gemütsbewegung Ausweis ihrer Authentizität? Aber fühlt
denn Lysander nicht ebenso intensiv für Helena, was er zuvor für Hermia empfand?
Vielleicht ist das zentrale Thema dieses Stückes eben doch nicht die romantische Idee der
»wahren Liebe«, sondern vielmehr ihr Gegenteil bzw. ihre Außenseite; vielleicht geht es hier
weniger um die Suche nach Harmonie als um die insistierende Störung dessen, was bei dieser
Suche »außen vor« bleibt. Menschen leben vermittels symbolischer Ordnungen, die die
Kontingenz der Welt, das tobende Chaos der Instinkte und Entgleisungen, auf ein beherrschbares
Etwas reduzieren. Das ist auch bei der Partnerwahl nicht anders: Die emotionalen Narrative
unserer Kultur machen uns glauben, dass sich durch die Reduktion, die Festlegung auf »Mr. and
Mrs. Right« Befriedung und Befriedigung zugleich finden lassen. Das mag alles sein. »Ein
Sommernachtstraum« zeigt uns, dass es auch alles anders sein könnte – und das es auch anders
gar nicht schlimm wäre. AL
2
William Shakespeare
William Shakespeare wird 1564 als Sohn des Handschuh- und Sattelmachers John Shakespeare in
Stratford-upon-Avon in der Grafschaft Warwickshire geboren, einem kleinen Marktflecken mit
Bedeutung vor allem für die Schafzucht und den Lederhandel. Das Taufregister der Holy Trinity
Church verzeichnet den 26. April als Tag der Taufe; die Geburt fand mit einiger Wahrscheinlichkeit
drei Tage zuvor statt. Shakespeares Familie kommt ursprünglich aus einfachen Verhältnissen, aber
dem Vater gelingt eine beachtliche Karriere bis hinauf zur Position des Alderman und Bailiff
(Ratsherren und Bürgermeisters) der Stadt. Seine schulische Ausbildung erhält Shakespeare an der
Stratford Grammar School, für die der Vater als Alderman nicht bezahlen muss. 1578, im Alter von
vierzehn Jahren, geht Shakespeare von der Schule ab. Was folgt, ist uns heute als das erste der
großen Rätsel der Shakespeare-Forschung bekannt: die sogenannten “lost years”.
Die ersten verlorenen Jahre: 1578 bis 1582
Für einen Autoren vom Format Shakespeares, dessen Leben und Werk von Generationen von
Wissenschaftlern, Künstlern, Philosophen und Liebhabern auf’s Genaueste studiert wurde, ist es
bemerkenswert, dass eigentlich bis heute nur wenig über ihn bekannt ist. Zu den großen Lücken in
jeder Shakespeare-Biographie zählen die vierzehn Jahre zwischen seinem Schulabgang und seiner
Hochzeit. Verbürgt ist zumindest, dass es mit den beruflichen Geschicken des Vaters in dieser Zeit
bergab geht: John Shakespeare kann 1578 seine Steuern nicht bezahlen und nimmt zugleich den
ältesten Sohn von der Schule. Es ist daher naheliegend, anzunehmen, dass der junge Shakespeare
zunächst im Geschäft aushilft. Die Geschäftsinteressen des Vaters sind recht breit gefächert, und so
hat der Sohn möglicherweise nicht nur mit der Handschuhmacherei, sondern auch mit dem
Handel von Malz, Getreide, Leder und — zu damaligen Zeiten ein extrem anrüchiger Beruf! —
unter dem Ladentisch mit dem Verleih von Geld zu tun.
Die wirkliche Spekulationsarbeit — Gegenstand unzähliger Pub-Diskussionen in Cambridge, Oxford,
Dublin1 und der ganzen englischsprachigen Welt— beginnt an diesem Punkt aber erst. Für
elisabethanische Begriffe ist der Bürgermeistersohn mit
fünfzehn Jahren ein junger Erwachsener. Lange wird er also nicht im Kontor des Vaters geblieben
sein — schon allein deshalb nicht, so argumentieren die Shakespeare-Exegeten, weil seine
späteren Werke gründliche Kenntnisse der Astronomie, des Rechtswesens, der Seefahrt und des
europäischen Auslands voraussetzen. Folglich muss Shakespeare also gereist sein, oder studiert
haben, oder beides. Vielleicht war er Seemann oder Soldat. Möglicherweise hat er als
Büroangestellter in einer Rechtskanzlei gearbeitet, oder er war ein Lehrer. Die Antwort lautet: wir
wissen es nicht.
Die zweiten verlorenen Jahre: 1582 bis 1592
Im Jahre 1582 stoßen wir im Nebel der “verlorenen Jahre” immerhin auf ein wichtiges Faktum: im
Alter von achtzehn Jahren heiratet Shakespeare die acht Jahre ältere Anne Hathaway. Wie und wo
sich die beiden kennengelernt haben, bleibt ein Rätsel, nicht jedoch der Grund der Hochzeit: am
26. Mai 1583 wird Shakespeares erstes Kind getauft, eine Tochter. Sechs Monate nach dem
Eheschluss; zweifellos ein Skandal im kleinen Städtchen Stratford und in der mittlerweile wieder
wohlangesehenen Familie Shakespeare. Weitere zwei Jahre später vermeldet das Taufregister die
Geburt von Zwillingen. Und noch ein dritter Schnipsel an Beweismaterial liegt uns vor: 1589 wird
Shakespeare, zusammen mit seinen Eltern, urkundlich im Zusammenhang mit einem Rechtsstreit
über einen Flecken Land in der Nähe Stratfords erwähnt. Mehr ist auch über die zweite Periode der
verlorenen Jahre nicht bekannt. Blieb Shakespeare während dieser Zeit bei Frau und Kindern, die
zeitlebens Warwickshire nicht verließen? Reiste er, wie manche behaupten, mit Sir Francis Drake
3
um die Welt? Nahm er Arbeit an, wo er konnte — so eine weit verbreitete Erklärung — um Haus
und Hof in Stratford, zu denen er zeitlebens immer wieder zurückkehrte, erhalten zu können?
Fest steht, dass Shakespeare 1592 bereits seinen Beruf gewechselt und diejenige Laufbahn
eingeschlagen hatte, die ihn schließlich zum berühmtesten Dramatiker der Weltliteratur machen
sollte: der englische Autor Robert Greene schreibt in diesem Jahr sein bekanntes Pamphlet
Greene's Groats-Worth of Wit. Hier erwähnt Greene einen Schauspieler namens “Shakescene”2
und attackiert diesen als eine ”upstart crow”, einen Emporkömmling, der es wage, erfolgreiche
Stücke zu schreiben, während akademisch gebildete Schriftsteller wie Greene selbst doch dafür um
ein Vielfaches besser qualifiziert seien. Dabei bezieht sich Greene auf ein Stück, dass am 3. März
1592 am Londoner Rose-Theater durch die Lord Strange’s Men uraufgeführt worden war: Heinrich
VI. Shakespeare war also in London angekommen, war den Lord Strange’s Men beigetreten, hatte
ein Stück geschrieben und ausserdem offenbar auch noch Erfolg damit gehabt. Warum er die
beschauliche Ruhe Stratfords verliess und in der Metropole den Beruf eines Schauspielers annahm
— damals eine Branche, die kaum besser angesehen wurde als Prostitution und Hehlerei — gehört
mit zu den Rätseln der verlorenen Jahre.
Lord Chamberlain’s Men
Das London der elisabethanischen Zeit ist ein raues Pflaster. In der zum Stadtteil Southwark
gehörenden Bankside auf der südlichen Seite der Themse direkt an der London Bridge tummeln
sich Trinker, Schausteller, Gauner, Huren, Hafenarbeiter und reiche Londoner auf der Suche nach
Abenteuern. Inmitten des Treibens liegt hier auch das Zentrum der Londoner Theaterwelt — nicht
von ungefähr, denn die meisten Londoner der Zeit sind Puritaner, denen das gottlose Treiben auf
der Bühne zumindest offiziell ein Graus ist. Shakespeares Stücke allerdings kommen zunächst nicht
im wilden Süden, sondern
nördlich der Themse zur Aufführung, und zwar in Shoreditch, einer nur unwesentlich vornehmeren
Gegend vor den Toren der City. Wenn wir Robert Greenes empörter Attacke glauben dürfen, ist
Shakespeare der Urheber von Heinrich VI. und somit auch von Richard III., das zusammen mit den
drei Teilen der Heinrich-Historie eine Tetralogie bildet. Alle vier Stücke müssen Kassenschlager
gewesen sein, und das, obwohl die Umstände gerade im Jahre 1592 für die Londoner
Theaterbranche nicht besonders günstig sind. Wieder einmal wird die Stadt von der Pest
heimgesucht, und wieder einmal werden in der Folge zahlreiche Theater geschlossen.
Shakespeares Produktivität tut dies keinen Abbruch. Der Versuch einer genauen Datierung ist bei
den meisten seiner Werke ein hoffnungsloses Unterfangen, aber es ist anzunehmen, dass er in
dieser ersten Zeit zwischen ca. 1590 und 1595 insgesamt acht Stücke schreibt. Dies sind, neben
Heinrich VI. und Richard III., die Komödien Der WiderspenstigenZähmung, Ende gut, Alles gut, Die
Komödie der Irrungen, Verlorene Liebesmüh sowie wahrscheinlich auch Die beiden Veroneser und
die weniger bekannte Historie König Johann (The Life and Death of King John). Währenddessen war
Shakespeare aber nicht nur Schriftsteller, sondern auch selbst Schauspieler, Regisseur und vor
allem Geschäftsmann. 1594 wechselt er zusammen mit Richard Burbage, dem Star seiner Richard
III.-Produktion, von den Lord Strange’s Men zu den Lord Chamberlain’s Men. Als Mitstreiter,
Spieler, Autor und später auch Miteigentümer sollte er dieser Truppe zeitlebens treu bleiben.
Die Herrschaft der Königin Elisabeth I. neigt sich langsam dem Ende entgegen, in Irland tobt der
Neunjährige Krieg, und Shakespeare, immer am Puls der Zeit, schreibt und spielt eifrig weiter. In
den folgenden Jahren entstehen Romeo und Julia, Richard II., Heinrich V., Viel Lärm um Nichts, Ein
Mittsommernachtstraum, Der Kaufmann von Venedig und Die Lustigen Weiber von Windsor. Im
Jahre 1599 erwerben die Lord Chamberlain’s Men mit dem Kapital ihrer besser gestellten
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Mitglieder ein Grundstück in Southwark unweit der Themse, das Globe Theater. Als Baumaterial
verwenden sie kurzerhand die Balken und Bretter des alten Theaters in Shoreditch, das sie ab- und
am neuen Ort wieder aufbauen. Auch Shakespeare ist als Eigentümer eingetragen.
Der Bürgermeistersohn aus der Provinz ist zu diesem Zeitpunkt fünfunddreißig Jahre alt. Frau und
Kinder sind in Stratford, vor ihm in London liegt die Theaterkarriere. Zum ersten Mal in seinem
Leben hat er eine eigene Bühne und eine Truppe von Schauspielern, um seine Stücke aufzuführen.
Und das Geschäft läuft ausgezeichnet. Im Jahre 1596 sucht Shakespeare für seinen Vater beim
College of Arms um ein Familienwappen an — ein Privileg, für das man entweder ein Ehrenmann
oder wohlhabend, besser aber noch beides sein musste. Dem Antrag wird stattgegeben. Im Jahr
darauf kauft er das stattliche New Place in Stratford, sozusagen das elisabethanische Äquivalent
einer Villa mit Swimming Pool und Golfplatz, in dem seine Familie fortan leben wird. Daneben
entstehen Meisterwerke wie Julius Cäsar, Wie es Euch gefällt und Was Ihr Wollt, das oft als
Krönung der Shakespeare’schen Komödiendichtung bezeichnet wird. Besser könnte es kaum
gehen: Shakespeare hat sich zum Theaterimpresario ersten Ranges gemausert.
Der Zorn der Königin
Im Jahre 1601 soll sich dies alles jedoch schlagartig ändern. Unverhofft bestellen zu Beginn des
Jahres die Gefolgsleute des Earl of Essex, eines jugendlichen Günstlings der Königin, am Globe
Theater eine Vorstellung zu dessen Ehren. Sehr zur Überraschung der Theaterleute wird die
Wiederaufnahme von Richard II. verlangt. Doch Shakespeare und seine Geschäftspartner sagen zu
einem Beutel Geld nicht leichtfertig nein. So wird das Stück also am 8. Februar 1601 für die übliche
Summe zuzüglich eines kleinen Aufschlags von 40 Schillingen aufgeführt (nach heutiger Kaufkraft
wären das in etwa 200 britische Pfund oder 235 Euro).
Am folgenden Tag greift der Earl of Essex zusammen mit einigen Verbündeten in offener Rebellion
gegen die Königin zu den Waffen. Unter den Aufrührern befindet sich auch der Earl von
Southampton, ein bekannter Shakespeare-Gönner und
Beschützer. Die Königin schäumt vor Wut: die Wahl von Richard II., in dem es um die Entthronung
eines Herrschers zum Wohle der Nation geht, erscheint schlagartig als Propagandatrick. Mit den
Aufrührern macht sie kurzen Prozess, und am 25. Februar wird der Earl of Essex wegen Hochverrats
geköpft. Viel fehlt nicht, und Shakespeare und seine Männer wären neben ihm auf dem
Scharfrichterpodest gelandet. Mit Mühe und Not überzeugen sie die Beauftragten der Königin,
dass sie nur bezahlte Unterhalter waren.
The King’s Men
Shakespeare widmet sich wieder dem Schreiben und führt vielleicht schon ein Jahr vor der
unglückseligen Episode, spätestens aber im Folgejahr 1602 sein wohl berühmtestes Stück auf:
Hamlet, Prinz von Dänemark. Maß für Maß, eine der sonderbarsten “Komödien” Shakespeares,
gehört in dieselbe Zeit des ausgehenden elisabethanischen Zeitalters.
Am 24. März 1603 verstirbt Elisabeth I. in ihrem Palast in Richmond. Die elisabethanische Ära,
diese erste Blütezeit englischer Kultur und englischen Einflusses auf der ganzen Welt, ist vorüber,
und die Regentschaft der Stuarts beginnt. Einige Stunden nach dem Versterben der Königin wird
James VI. von Schottland unter dem Namen James I. als neuer König von England und Irland
ausgerufen. Damit befinden sich Schottland, Irland und England, obgleich politisch nach wie vor
getrennt, zum ersten Mal in ihrer Geschichte unter ein- und demselben Herrscher. Dunkle Wolken
ballen sich am Horizontzusammen: Staatsruin, Beulenpest, Bürgerkrieg. Doch zunächst bejubeln
die Einwohner Londons ihren neuen König bei seinem Einzug in die Hauptstadt.
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An der Bankside hört man die Neuigkeiten gerne: James ist für seine Vorliebe für Maskenspiele
und andere Unterhaltungen bekannt. Der Earl von Southampton wird aus dem Tower befreit, und
aus den Lord Chamberlain’s Players werden per königlichem Patent The King’s Men. Neben der
Ehre und dem entsprechenden Werbeeffekt bringt dies vor allem mit sich, dass Shakespeares
Truppe nicht mehr von jedem örtlichen Würdenträger belästigt werden kann, dem die
Darbietungen etwa missfallen sollten. Die Zukunft strahlt den frisch gebackenen King’s Men wieder
hell entgegen, und daran kann selbst ein erneuter Ausbruch der Pest nichts ändern.
In den nächsten Jahren von 1604 bis 1608 ist Shakespeare auf der Höhe seiner Schaffenskraft. In
dieser Zeit schreibt er Othello, König Lear, Macbeth, Antonius und Kleopatra und Corolianus, sowie
daneben die weniger beachtete Tragödie Timon von Athen und die Romanze Pericles.
Rückzug
Während Shakespeares Stücke Erfolg um Erfolg feiern, expandiert das Theaterimperium der King’s
Men in den Wintersaisonbetrieb und erweitert seine Entwicklungsabteilung. Die typischen Theater
der elisabethanischen Zeit ähnelten in ihrer Struktur offenen Arenen, deren Holzbühnen im
Halbrund von Zuschauerrängen umgeben waren. Diese waren zwar
überdacht, aber nicht geheizt; im Winter wurde daher in anderen Gebäuden gespielt. Im Jahre
1608 erweitern die King’s Men ihr Immobilienportfolio um eben eine solche Winterspielstätte im
Londoner Stadtteil Blackfriars. Die aufwändigere Bühnentechnik der Winterbauten erlaubt
Shakespeare, effektvolle Auftritte voller Blitz und Rauch in seinen Stücken vorzusehen. Bald
danach treten Francis Beaumont und John Fletcher, zwei junge Männer aus bestem Hause, als
Verstärkung dem Schriftstellerpool der Truppe bei. Fletcher beginnt schon bald, mit Shakespeare
selbst zusammenzuarbeiten, vor allem an der letzten Historie der Lancaster-Tetralogie, Heinrich
VIII. Cymbeline und Ein Wintermärchen entstehen in dieser Zeit, und schließlich im Jahre 1611 das
wahrscheinlich letzte Werk Shakespeares, Der Sturm.
Am 29. Juni 1613 erstrahlt das Globe Theater wieder einmal in prachtvollstem Glanz: es wird eine
spektakuläre Inszenierungvon Heinrich VIII. gegeben. Als in der vierten Szene des ersten Akts der
König auftritt, verdunkelt auf einmal Rauch das Bild auf der Bühne. Beinahe augenblicklich bricht
im vollbesetzten Zuschauerraum Panik aus: das reetgedeckte Dach des Theaters steht lichterloh in
Flammen. Innerhalb einer einzigen Stunde stehen von Shakespeares Theater nur noch rauchende
Trümmer. Wie durch ein Wunder kommt niemand zu Schaden. Die Schauspieler der King’s Men
haben außerdem gerettet, was zu retten war: Shakespeare Manuskripte wurden allesamt den
Flammen entrissen. Aber auch dies ist wieder eines der Rätsel der Shakespeare-Forschung. Waren
es wirklich alle? Wie viele von Shakespeares Stücken gingen am 29. Juni 1613 verloren? Von wie
vielen werden wir nie erfahren?
Der Brand an sich ist nichts Ungewöhnliches, denn Brandschutzmaßnahmen gibt es zu
Shakespeares Zeiten kaum; nur knappe sechzig Jahre später sollte halb London abbrennen, weil ein
Bäcker in der Pudding Lane aus Versehen den Ofen anließ. Beinahe unverzüglich beginnen die
Bauarbeiten an einem neuen Theater für die King’s Men, dieses Mal mit Tonziegeln auf dem Dach.
Shakespeare selbst jedoch scheint zutiefst getroffen. Hat ihm der Verlust des geliebten GlobeTheaters die Lust am Schreiben genommen? Hat der Brand doch unersetzliche Manuskripte
zerstört? Oder war Shakespeare, mit beinahe fünfzig Jahren, einfach nur etwas müde geworden?
Hat er die Gelegenheit genutzt, sich aus dem Rampenlicht zurückzuziehen? Fest steht, dass der
Stardichter der King’s Men an den Bauarbeiten und den weiteren Geschicken der Truppe keinen
Anteil mehr nimmt. Er zieht zurück nach Stratford zu der treuen Anne und den Kindern Susanna
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und Judith (ihr Zwillingsbruder Hamnet, Shakespeares einziger Sohn, war im Alter von elf Jahren
verstorben). Dort beginnt Shakespeare ein Leben zu führen, das er sich neben seiner Londoner
Theaterkarriere schon seit vielen Jahren durch geschickte Landkäufe aufgebaut hat: das eines
wohlhabenden Grundbesitzers.
Wenn man den Erzählungen Glauben schenken darf, ließ der Barde es sich in diesen letzten Jahren
in seiner alten Geburtsstadt durchaus gut gehen. Finanziell hatte er ausgesorgt. Der Familienname
würde zwar mit ihm aussterben, dürfte aber — so wird er vielleicht damals schon geahnt haben —
nicht so bald in Vergessenheit geraten. Zudem war er von illustren und geistreichen Freunden
umgeben, unter ihnen der hochgebildete Dramatiker Ben Johnson und der Poet Michael Drayton.
Johnson und Drayton waren es denn auch, mit denen Shakespeare im März 1616 ein fröhliches
Zechgelage veranstaltet haben soll — so lesen wir zumindest in einem Bericht von John Ward,
damals Pfarrer in Stratford-upon-Avon. Als Folge der Sauferei, so Ward, zieht sich Shakespeare ein
“Fieber” zu. Seine Gesundheit verschlechtert sich schnell. Am 25. März macht er sein Testament, in
dem er seiner Tochter Judith 300 Pfund (heute ca. 33,000 Euro) und eine Silberschale vermacht,
seiner Tochter Susanne den gesamten Rest einschließlich des Hauses, und seiner Frau “das
zweitbeste Bett im Haus” — ein weiteres, letztes Rätsel der Shakespeare-Forschung.
William Shakespeare verstirbt am 23. April 1616 in Stratford-upon-Avon. Er wird in der Holy Trinity
Church in Stratford begraben, wo man noch heute seinen Grabstein besuchen kann. AL
1 Siehe hierzu zum Beispiel James Joyce, Ulysses - Kapitel “Scylla und Charybdis”
2 den Szenen-Erschütterer - ein Wortspiel
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Reitemeier, Frauke, and Sonja Fielitz. A midsummer
night's dream. Bochum: Kamp, 2005
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Reitemeier, Frauke, and Sonja Fielitz. A midsummer
night's dream. Bochum: Kamp, 2005
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EINE KLEINE VERSKUNDE 1: ALLGEMEINES
Vers und Prosa unterscheiden sich nicht so sehr durch Rhythmus und Reim, – denn auch die
(künstlerische) Prosa kann rhythmisiert sein und reimartige Elemente enthalten. Der Unterschied
liegt beim Vers vielmehr in der Wiederkehr eines Gleichen. Dieses Gleiche kann entweder nur
durch denselben Rhythmus oder durch dieselbe Länge der Verseinheit oder durch den Reim
getragen sein; zumeist erscheint dieses Gleiche jedoch in der Verbindung zweier oder aller drei
genannten Elemente. Nur in der Wiederholung durch ein Gleiches wird ein Vers zum Vers, eine
Strophe zur Strophe, – wie ja auch ein Reim sich erst im Paar bildet, d.h. durch die Wiederkehr des
Gleichen.l Selbst wenn wir mitten in der Prosa einen einzigen fünffüssigen Jambus, einen
Hexameter oder einen Alexandriner finden, so erkennen wir ihn, weil er den Kundigen sofort an
andere seinesgleichen bzw. an das zugrundeliegende Schema erinnert. Der erinnernde Vergleich ist
die wesentliche Funktion bei der Erkennung von Vers, Reim, Rhythmus und vielem mehr. Zerhackte
Prosazeilen, die, um bedeutender zu erscheinen, in die Blattmitte gesetzt wurden, sind daher noch
lange keine Verse, zumindest nicht im traditionellen Sinn, denn es fehlt ihnen jenes Gleiche.
Der Reim gehört nicht wesentlich zum Vers, obwohl etymologisch Reim (wahrscheinlich)
von Rhythmus kommt und dieser den Vers zumeist definiert. Selbst in den romanischen Sprachen
ist der Reim nicht notwendiger Versteil, obwohl rime I rima dort auch Vers / Gedicht bedeuten,
weil der Reim in romanischer Dichtung ein Rhythmus-Ersatz ist. – Unter Reim versteht man heute
gewöhnlich Endreim (blüht/glüht, Herz/Schmerz, wieder/Flieder). Doch der Endreim kam erst über
die kirchliche Hymnendichtung aus dem Orient in die europäische Dichtung (erstes Zeugnis etwa
270 n. Chr., sodann bei Ambrosius von Mailand im 4. Jh.). Die antike Dichtung kennt den Reim als
solchen nicht, wiewohl sie sich reimartiger Elemente überall bedient, nämlich der Assonanz, des
Homoiotéleuton,2 der Alliteration, der Anapher (Definitionen später). Auch in der alten
germanischen Dichtung war der Reim nicht als Endreim, sondern als Stabreim bekannt.
Durch den Vers erhebt sich Sprache über ihre Funktion als Alltagsinstrument hinaus. Sprache dient
dann nicht mehr einer banalen Mitteilung ("Kommunikation"), sondern wird Spiel, Beschwörung,
kultische Gebärde (Gebet) und macht sich auf den Weg in Richtung Musik. Durch den Vers vor
allem und am deutlichsten wird Sprache Kunst.
Daher sollte man Verse nicht wie Prosa lesen, denn noch im erregtesten Dramendialog hat der Vers
mit Rhythmus, und das heisst mit Musik zu tun (auch wenn moderne Regisseurs das nicht mehr
wissen). Andererseits ist ein Skandieren der Zeilen (mit steter Pause nach dem Reim) für die
Dichtung ebenso tödlich wie das prosaische Sprechen, weil im Skandieren allein das metrische
Skelett blossgelegt, die sprachliche Form indes abgewürgt wird.3 Die Antike, so scheint es, trennte
sehr deutlich zwischen der Aussprache normaler Prosa und der des Verses. Moderne europäische
Sprachen tun sich darin schwerer. Ja, der Vers gilt seit Rationalismus und Naturalismus (und bei
manchem Regisseur) gar als Hindernis. Für Heusler sind Lessings und Kleists Verse "eine
Einrichtung mehr fürs Auge"; er behauptet, die Schauspieler schrieben sie sich in ungebrochene
Prosa-Zeilen ab, um beim Studium nicht gestört zu werden. An anderer Stelle berichtet er von
einem Berliner, der 1890 an der Theaterkasse auf die besorgte Frage, ob das Stück nicht etwa in
Versen geschrieben sei, zur Antwort erhalten habe: "Doch, aber man merkt es nicht." 4
1 Wohlgemerkt hier des Gleichen , nicht des Selben , denn wenn in einem Schlager zehn Zeilen auf Herz enden, so ist dies noch lange kein Reim; erst
mit Schmerz/ Scherz/ -wärts erhält Herz Reimqualität. Als Wiederholung hat nur ein bedeutendes Wort Reimwert; man spricht dann von identischem
Reim.
2 Das Homoioteleuton (griech. = gleiches Ende) ist ein durch grammatische Formen erreichter einfacher Reim in antiker Prosa und Dichtung: non re,
sed spe; laceravtt,... violavit; gementes etflentes. Eingrossartiges Homoioteleuton findet sich in Voltaires Candide, am Ende des ersten Kapitels: "[...]
leurs bouches se rencontrerent, leurs yeux s'enflammerent, leurs genoux tremblerent, leurs mains s'egarerentH. (Man beachte dazu weiter unten
die Anmerkung zu Trikolon und Tetrakolon.) Manche unterscheiden das Homoioteleuton vom Homoiöptoton.
3 Skandieren bedeutet: nur den Takt des Verses betonen (wie der Klavierschüler am Anfang den Takt beim Spielen laut zählt). Heusler bezeichnet
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mit Skandieren auch den <gekönnten> metrischen Vortrag, die Deklamation (op.c. I, pp. 11 u. 42 (§§ 15 u. 55). Generell jedoch versteht man unter
Skandieren eine schülerhafte, parodistische Form des Vers-Vortrags.
4 Zu den Versen bei Lessing und Kleist: Andreas Heusien Deutsche Versgeschichte mit Einschluss des altenglischen und altnordischen
Stabreimverses. 3 Bde., Berlin/Leipzig 1925-29, dort: III, p. 175; zum Berliner: ibidem, I, p. 42.
Quelle: Blank, Hugo. Kleine Verskunde: Einführung in den deutschen und romanischen Vers. Heidelberg, 1990.
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EINE KLEINE VERSKUNDE 2: EINZELBEGRIFFE
Metrik
griech. metrike techne: die das Silbenmaß / Metrum betreffende Kunst
Unter Metrik versteht man die Lehre vom Versmaß. Sie umfaßt nicht nur die Bestimmung der
einzelnen Versfüße, vielmehr schreitet sie vom Versfuß als kleinster Einheit fort und untersucht
deren Abfolge und Anzahl innerhalb eines Verses und fragt nach Zäsuren, um so schließlich das
Versmaß eines ganzen Verses bestimmen zu können.
Ein Vers von Gryphius aus dem Gedicht Es ist alles eitell beispielsweise lautet:
"DU sihst / wohin du sihst nur eitelkeit auff erden." (S. 268f.)
Eine metrische Beschreibung dieses Verses könnte etwa so aussehen: Es handelt sich um einen
auftaktig alternierenden, d.h. jambischen, Sechsheber, der durch eine deutliche Zäsur nach der
dritten Hebung unterteilt ist. Dieses Versmaß nennt man Alexandriner. Nachdem man einen
einzelnen Vers analysiert hat, untersucht man den Aufbau einer strophe. Die antiken Oden
beispielsweise zeichnen sich durch strenge metrische Vorgaben für jeden einzelnen Vers aus, so
daß man das dem jeweiligen Gedicht zugrundeliegende Odenmaß erst bestimmen kann, wenn
man sämtliche Verse einer Strophe genau beschrieben hat.
Vers
lat. versus: Linie, Zeile sowie lat. vertere: kehren, wenden, drehen
Die einzelnen Zeilen eines Gedichtes nennt man Verse. Die im allgemeinen Sprachgebrauch
übliche, der literaturwissenschaftlichen Praxis entgegenstehende, synonyme Verwendung von Vers
und Strophe entstammt der Tradition des Kirchenlieds, in dem ein vertonter Bibelvers einer
Strophe entspricht. Den Vers kennzeichnet ein mehr oder weniger strenges Metrum sowie eine im
Schriftbild durch das Zeilenende repräsentierte Endpause.
Man unterscheidet verschiedene Versformen, so etwa die antiken Verse Hexameter und
Pentameter, die der romanischen Tradition entstammenden Versformen des Alexandriners und des
Elfsilblers, den volkstümlichen deutschen Knittelvers und den englischen Blankvers.
Strophe
griech.: Wendung
Die aus mehreren Versen bestehende, sich mehrfach wiederholende metrische Einheit eines
Gedichts heißt Strophe. Die einzelnen Strophen sind durch eine Leerzeile voneinander getrennt.
Von Strophen im strengeren Sinne spricht man, wenn diese sich durch strukturelle
Übereinstimmungen in Metrum, Rhythmus und / oder Reim wiederholen. Anderenfalls, wie häufig
in der modernen Lyrik, nennt man die deutlich voneinander abgesetzten Einheiten präziser
Abschnitte.
In den traditionellen lyrischen Formen sind Strophen durch ein streng geregeltes Metrum oder
zusätzlich durch ein bestimmtes Reimschema charakterisiert. Wichtige Strophenformen sind: die
antike Odenstrophe, die in der italienischen Lyrik entwickelten Terzine und Stanze, die
konventionelle Volksliedstrophe und die aus der englischen Balladendichtung stammenden Chevy
Chase-Strophe.
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Blankvers
Der in England entstandene Blankvers ist weniger ein Lyrik- als vielmehr ein Dramenvers.
Shakespeare schrieb seine Dramen vorzugsweise in Blankversen, in Deutschland entdeckten die
Dramatiker des 18. Jahrhunderts im Zuge der allgemeinen Shakespeare-Euphorie diesen Vers für
sich. So verfaßte Gotthold Ephraim Lessing sein Drama Nathan der Weise nicht in den durch Martin
Opitz eingeführten Alexandrinern, sondern in Blankversen.
Der Blankvers ist ein jambisch fünfhebiger, reimloser Vers, der, je nachdem ob er betont (männlich)
oder unbetont (weiblich) endet, aus zehn oder elf Silben besteht. Im Gegensatz zum sechshebigen
Alexandriner verfügt der Blankvers nicht über eine feste Zäsur, und wurde schon vom späten
Shakespeare selbst relativ frei, mit Nähe zur Prosa, gehandhabt (Wegfallen der Eingangssenkung,
Doppelsenkungen, Hebungsprall durch eine fehlende Senkung, einzelne Vier- oder Sechsheber).
Die Flexibilität des Blankverses erweist sich für die dramatische Dynamik als Vorteil.
Knittelvers
Der Knittel ist im 15. und 16. Jahrhundert nicht nur in der Lyrik, sondern auch in Dramatik und Epik
der gebräuchlichste Vers. Er ist vierhebig und in Paaren gereimt. Man unterscheidet den
sogenannten strengen vom freien Knittel. Der strenge Knittel ist ein meist alternierender achtoder neunsilbiger Vierheber, wie ihn am kunstvollsten Hans Sachs verwandte. Im freien Knittel
hingegen herrscht Füllungsfreiheit, d.h. es können mehrere Senkungen aufeinander folgen, oder
auch ganz wegfallen (= Hebungsprall), so daß der freie Knittel aus bis zu 15 Silben bestehen kann.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der freie Knittel im Rahmen der Rückbesinnung
auf altdeutsche Traditionen (Herder) wiederentdeckt und beispielsweise von Goethe im
Eingangsmonolog des Faust eingesetzt
Prosodie
Der Begriff "Prosodie" bezeichnet einen Teilbereich der Phonologie, die sich mit den lautlichen
Strukturen von Sprachen beschäftigt.
Die prosodischen Eigenschaften einer Sprache umfassen die Bereiche Betonung, Rhythmus und
Intonation (Sprechmelodie). Durch die Prosodie wird beispielsweise Kommunikation strukturiert
("Signalisiere ich, dass ich weiterreden möchte oder überlasse ich jemand anderem das
Rederecht?"), Intention ausgedrückt ("War das eine Feststellung oder eine Frage?") und eine
Aussage differenziert ("Ist dies das Neue, das ich dem Gesprächspartner mitteilen möchte oder
etwas, das ich als bekannt voraussetze?").
Im Deutschen beispielsweise signalisiere ich das Ende meines Redebeitrags durch eine deutliche
Tonbewegung auf der letzten betonten Silbe meiner Aussage, durch eine Verlängung der letzten
Silbe und durch eine darauf folgende Pause. Ob die Wortfolge "Du gehst heim" als Aussage oder
Frage verstanden wird, bestimmt eine fallende oder steigende Tonhöhenbewegung auf "heim".
Und Elemente einer Aussage, die im bisherigen Gesprächsverlauf neu sind, werden mit einer
Betonung markiert, während bereits bekannte Elemente weniger markiert sind.
Sprachen unterscheiden sich jedoch darin, ob und wie sich betonte und unbetonte Silben
abwechseln, wie viele Pausen den Redefluss strukturieren und welche Tonhöhenbewegungen eine
Aussage haben kann. Lerner einer Fremdsprache müssen die prosodischen Regeln also erwerben,
damit sie keinen »prosodischen Akzent« haben.
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Dramatische Ironie
Mit dramatischer Ironie wird ein spezieller Ironiebegriff nach Sophokles bezeichnet, welcher
besagt, daß eine Aussage eines Sprechenden eine von ihm nicht intendierte und nur für das
Publikum erkennbare Nebenbedeutung erhält.
Dramatische Ironie wirkt durch eine dramaturgisch genutzte Differenz zwischen
Situationsbeschreibung und ihrer Bewertung und besteht in dem Ingangsetzen eines
Informationsgefälles zwischen dem Mehrwissen der Zuschauer und dem Minderwissen des oder
der Protagonisten, das häufig noch durch entsprechende Dialoganteile unüberhörbar zum
Ausdruck gebracht wird.
Das nicht unerhebliche Rezeptionsvergnügen, das entsteht, wenn die Zuschauer mehr über
mögliche Komplikationen und Gefahren im Fortgang der Handlung wissen als der Protagonist
Couplet
In der Dichtung ist das Couplet ein Paar gereimter Vers-Zeilen. Ausgehend vom lateinischen copula
für „Verbindung“ sind die altfranzösischen Worte cople oder couple (spanisch copla) seit dem
ausgehenden 12. Jahrhundert für die Verbindung von Reimpaaren zur Strophe eines Gedichtes
oder Liedes belegt; in der Troubadour-Lyrik ist Couplet die Bezeichnung für „Strophe“ schlechthin.
Zwei aufeinanderfolgende Verszeilen, die sich reimen.
Quelle: https://www.uni-due.de/einladung/Vorlesungen/lyrik/main.htm
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Bloom, Harold. Shakespeare: die Erfindung des Menschlichen.
Berlin: Berliner Taschenbuch-Verl., 2002
Der Yale-Professor Harold Bloom gilt als einer der bedeutendsten ShakespeareForscher der anglo-amerikanischen Welt. Selbst ein streitbarer Geist, trifft er mit seinen
Thesen vor allem unter jüngeren Literatur- und Theaterwissenschaftlern in den letzten
Jahren häufig auf energischen Widerspruch. Bloom mag ein eher konservativer und
zuweilen exzentrischer Interpret sein; seine profunde Kenntnis der Werke Shakespeares
ist allerdings über jeden Zweifel erhaben.
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Kott, Jan, und Peter Lachmann. "Titania und der
Eselskopf." Shakespeare heute. 4. - 5. Tsd. ed.
München u.a.: Langen Müller, 1964
Der polnische Theaterwissenschaftler und politische
Aktivist Jan Kott betonte als einer der ersten
Interpreten die Rolle der Sexualität in Shakespeares
"Sommernachtstraum". Seine Lesart eröffnete eine
neue Sicht auf das bis dato in der Rezeption eher
verharmloste Werk. Kotts gegenwartsbezogene
Analysen sowie sein persönlicher Schreib- und
Denkstil nahmen auch Einfluss auf die künstlerischpraktische Auseinandersetzung mit Shakespeares
Werken; namhafte Künstler wie Peter Brook oder
Roman Polanski bezogen sich auf ihn.
Titania und der Eselskopf
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Der aus Gießen stammende Anglist Klaus Reichert hat in Marburg
studiert und lange Zeit in Frankfurt gelehrt. Wie Jan Kott 1964 wendet
sich auch Reichert gegen verharmlosende Lesarten des
"Sommernachtstraum" und betont die Ambivalenzen des Werkes.
Mit eigenen und mit anderen Augen – Ein Sommernachtstraum
aus: Reichert, Klaus. Der fremde Shakespeare. Carl Hanser Verlag, München, 1998. S. 177–184.
Die Zeichen sind von Anfang an zweideutig. Theseus, der Herr von Athen, kündigt seine
Hochzeit an mit der besiegten Amazonenkönigin Hippolyta. Er umwarb sie, sagt er, mit
dem Schwert und habe ihre Liebe gewonnen, indem er ihr Schlimmes (Schmerzen,
Beleidigungen, Unrecht, alles das steckt in dem Wort »injuries«) zufügte. Was ist von einer
solchen Liebe wohl zu halten? Gewalt, Sadismus, Unterwerfung als ihre Motive sind nicht
zu überhören, auch nicht, daß das begehrte >Objekt< gar nicht erst gefragt wird. Hippolyta
hat denn auch, vorläufig, nichts dazu zu sagen. Sie kennt die Vorgeschichte dieses
Theseus, der den Minotaurus mit Ariadnes Hilfe schlug, die er dann auf Naxos sitzen ließ;
von zwei weiteren Frauen ist die Rede, die er betrog, von einer, die er vergewaltigte. Vor
solchem Hintergrund – das wußte auch das Publikum – spielen die
Hochzeitsvorbereitungen in der Stadt. In »einem anderen Ton« soll jetzt – »jetzt« ist das
erste Wort des Stücks – die Vermählung gefeiert werden. Aber – es kommt etwas
dazwischen.
Ein zornbebender Vater schleift seine unbotmäßige Tochter, Hermia, auf die Bühne, die
den Mann nicht nehmen will, den er für sie bestimmt hat. Darauf steht der Tod oder,
ersatzweise, die erzwungene Keuschheit durch Einsperrung in ein Kloster. Aber trotz der
Drohung fügt Hermia sich nicht. Von einer Macht, die sie nicht kennt, erkühnt, bekennt sie
sich zu ihrer Liebe zu Lysander, protestiert gegen die Fremdbestimmung, auch wenn sie
Gesetz ist, besteht auf dem Menschenrecht der eigenen Augen. Hippolyta bleibt stumm
während dieser Einstimmung in das, was Recht ist in Athen. Ihr Stummsein aber ist lauter,
als wenn sie spräche, denn sie hat durch Hermia erfahren, was wahre Liebe von der
erpreßten, auf Gewalt gegründeten unterscheidet.
Wahre Liebe? Die romantisch Liebenden schwören sich unverbrüchliche Treue, in
Wendungen, wie das dabei so üblich ist, mit denen sie sich übernehmen, und fliehen in
den Wald. Der von Hermia verschmähte Demetrius läuft hinterher, und die von diesem
wiederum verschmähte Helena läuft hinter ihm her: Liebe als Verfolgungsjagd und alles
andere als romantisch. An beiden unglücklich Verliebten führt Shakespeare vor, welche
ungeheuerlichen Triebenergien die Liebe und ihr schwarzer Bruder, der Haß, entfesseln
können. Kein Hauch von Selbstachtung ist mehr in Helena, wenn sie wie ein Hund,
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getreten und verachtet, in seiner, des Demetrius, Nähe zu sein begehrt, der ihr »die ganze
Welt« bedeutet. Umgekehrt wird es ihm schlecht bei ihrem schieren Anblick, verabscheut
er sie aus ganzer Seele, will er sie den wilden Bestien zum Fraß überlassen. Und so
steigern sich Selbsterniedrigung und Selbsthaß (»ich bin nicht schön«) auf der einen
Seite, Sadismus, Hohn, Verachtung auf der anderen in einem Duett strindbergscher
Zerfleischung. Solche Sprache wäre in Athen, der Stadt des zivilen Gehorsams, unerhört –
sie bricht heraus, haltlos, unzensiert, als die von ihr ausgelösten, freigesetzten
Traumatisierungen. Aber wir sind inzwischen ja auch im Wald, dem Anderen der Ordnung
der Dinge.
Der Wald ist ein Ort des Schreckens für die Elisabethaner. Wie die Nacht. Die Gesetze
von Raum und Zeit sind auf den Kopf, aus dem die Träume kommen, gestellt. Hier herrschen Elementargeister und Dämonen, bedrohlich, abgründig, unberechenbar, unerkannte
Mächte, die für die Elisabethaner ebenso real waren wie für die Heutigen das Unbewußte,
erfahrbar an den Wirkungen, deren Ursachen sich im Dunkeln verlieren. So sind die
Athener in Nacht und Wald Getriebene von Mächten, die sie nicht kennen.
Man sieht das Feenkönigspaar Oberon und Titania heute häufig als die andere, die
verdrängte Seite von Theseus und Hippolyta und besetzt sie mit den gleichen
Schauspielern.
Der oberflächlich stillgestellte Kampf der Geschlechter kann sich hier voll austoben. Die
Frau erhält auf einmal eine Stimme und ist genauso von Lüsten und Begierden getrieben
wie der Mann, schamlos und ohne Rücksicht auf alles, was sie an Anstand und Passivität
einmal gelernt hatte. Der Mann, promiskuös wie sie, doch gleichwohl eifersüchtig und
voller Besitzgier, sinnt mit sadistischer Wut auf Rache für die ihm angetane Schmach (das
Wort heißt »injury«, wie bei Hippolyta). In seiner perversen Phantasie will er sie sich
prostituieren und von Löwe, Bär, Wolf, Stier, Affe oder Pavian (später kommen Kater,
Luchs, Eber und Fuchs hinzu) begatten lassen. Aber die horrenden Wunschträume aus
Wiener Schlafzimmern sind vielleicht nur die eine noch verbliebene Möglichkeit, den
Verlust an mythischem Denken zu kompensieren und heutigem Verstehen zugänglich zu
machen. Denn natürlich bedeutet das Feenreich etwas anderes. Die Welt ist voll von
geheimen Wirkkräften und Potenzen, die, wie die Sterne, die Menschen vielleicht tiefer
beeinflussen und in ihrem Handeln bestimmen als sie mit ihren Naturgesetzen erkennen
können oder in ihrer Schulweisheit sich träumen lassen. Hinter der Oberfläche der
Erscheinungen ist die Welt mythisch-magisch geordnet, alles hängt mit allem zusammen,
und wenn Oberon und Titania sich streiten, gerät die ganze Natur in Aufruhr, läuft der
Jahreszeitenzyklus verkehrt herum, läßt der weibliche Mond, das Gestirn Titanias und
Hippolytas, Flüsse und Meere über die Ufer treten und bringt Krankheiten über die Welt.
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Und hinter dem verdeckten Konflikt in Athen tut sich möglicherweise der Abgrund
zwischen den Geschlechtern auf, den die Entwicklung der Menschheitsgeschichte hat
überspringen, aber nicht schließen können. Es zeigt sich am Hereinreichen des
Mythischen ins Gegenwärtige aber auch, daß in ihm etwas vorstellbar war (und ist), das
erst allmählich >rational< greifbar wird: die Vielförmigkeit der Welt, zum Beispiel in Gestalt
der Relativität, der Größe des Kleinen, der Kleinheit des Großen. Wenn Titania ihre Elfen
für eine Drittelminute ausschickt, mit Fledermäusen Krieg zu führen (auch hier wieder:
Krieg) und ihnen die Bälge abzuziehen, um daraus Röcke für die kleinen Elfen zu nähen,
dehnt sich die Zeit wie unter dem eben erfundenen Mikroskop, das eine ganze Arbeitswelt
im kleinsten sichtbar macht; wenn Puck auf der Suche nach der magischen Liebesblume
in vierzig Minuten die gesamte Erde zu umkreisen verspricht, nach kaum einem Viertel der
Zeit zurückkehrt (denn die Erniedrigungs- und Haßtirade zwischen Helena und Demetrius
dauert nicht länger), dann schrumpft die Raum-Zeit unter dem eben für möglich
befundenen, von Bacon unter die drei nicht die Natur nachahmenden Techniken
gerechneten, Teleskop. Da werden Mythos (als Sicht des Gleich-Möglichen) und neue
Wissenschaft ununterscheidbar.
Zwischen der streng geregelten Welt Athens und der anderen, nicht weniger strengen
Gesetzen folgenden mythischen, deren Märchenschimmer ihre Dämonie kaum verbirgt,
dazwischen stehen Figuren, die die Ordnungen unterlaufen oder in ihrem Zerrspiegel dem
Gelächter preisgeben, Puck und die Handwerker. Puck kommt aus dem Volksaberglauben
– ein Kobold, Trickster und Schadenzauberer, der den Mägden die Milch sauer werden
läßt, alten Frauen den Stuhl wegzieht, Wanderer nachts in die Irre führt, quicklebendig,
spielerisch, ein Bewegungskünstler im Unvorhersehbaren, nie ernst, ein Geist, der stets
bejaht, auch wenn ihm etwas schief gegangen ist – eine Lösung wird sich schon finden,
und Unordnung ist wenigstens ein Spaß. Ganz anders die Handwerker, diese Meister des
Schiefen, Langsamen und Unverstandenen. Nichts scheint näherzuliegen, als sie als reine
Lachnummern zu verstehen, und sei es als Einbruch einer subversiven Volkskultur (wie
Puck) in die Ordnungen der Welt dieses Stücks. Sieht man anders hin, ergeben sich
Entsprechungen, denn indem die Handwerker sich für ein Stück bei Hofe zu disziplinieren
versuchen, stellen sie weniger sich selbst bloß, als die Künstlichkeit und Gewaltsamkeit
der Regeln in Frage; indem sie ein Stück über Liebe und Zufall nach den Metamorphosen
des Ovid herrichten, verweisen sie auf ein Grundmotiv des Stücks, die Verwandlung.
Bottom, der Weber, ist wie Puck eines der beiden Zentren des Stücks – wie dieser hat er
teil an beiden Welten, der menschlichen und der der Geister. Puck inszeniert
Verwandlungen – Bottom ist die Verwandlung selber. Den Liebhaber Pyramus soll er
spielen, die Geliebte, Thisbe, will er gleich mitspielen; besser als das Fach eines
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Liebhabers läge ihm das des Tyrannen, und den Löwen könnte er auch spielen – nicht
anstatt, sondern auch – und dabei eine brüllende Rolle für Herren und eine
nachtigallenhafte für erschreckte Damen bieten. Ein Schlüsselsatz heißt: »Ich, Pyramus,
bin nicht Pyramus«, und ganz bei sich zu sein scheint er nur als Esel. Bottom führt vor,
daß, wer >ich< sagt, eine Rolle spielt und daß diese oft kaum mehr als Schmiere ist, die
schiefe Selbstillusion über das, was einer zu sein glaubt.
Und wer glauben die anderen zu sein? Hermia und Lysander haben sich ewige Liebe
geschworen; Helena liebt Demetrius, und der wiederum liebt Hermia. Aber mit einem
Schlag ist alles anders, nachdem Puck den beiden Herrchen das Liebesadrenalin in die
Augen geträufelt hat. Jetzt verfolgen sie die verachtete Helena mit ihren Schwüren, jetzt
erst – sagen sie, >wissen< sie – haben sie die wahre Liebe gefunden, die frühere war
Trug, Wahn und Verblendung, und nur der Zuschauer – wie Puck und Oberon ein Voyeur
– >weiß<, daß das eine Illusion ist. Aber ist es eine? Was Shakespeare hier vorführt, läßt
sich kaum als Komödie der Irrungen leichthändig entwirren. Denn die Sprache der
Liebhaber ist jetzt ebenso falsch wie sie es vorher war – oder aber ebenso wahr. Die
>Wahrheit<, nach >Liebe< das häufigste Wort im Stück, ist eben, was einer dafür hält. Im
Augenblick. Denn nachher ist alles wieder ganz anders. Im Exhibitionismus der Gefühle
kommt Liebe als der brutale Egoismus derer, die sie zu empfinden vermeinen, zum Ausdruck. Die Andere, das geliebte Wesen, spielt dabei keine Rolle, oder nur in der
Erniedrigungsform des Lustobjekts. »Wer bist du?« ist keine Frage, die sich stellt. Und
ebenso unmäßig, wie sie Helena verhimmeln, schlagen die Herrchen verbal auf die eben
noch geliebte Hermia ein, in einer haßverzerrten Wut, die einen das Fürchten lehrt über
die Abgründe in liebenden Seelen. Und die Frauen? Sie sind gleichermaßen entsetzt von
den Sprachen der Liebe wie des Hasses. Sie fühlen sich verhöhnt, mißhandelt und setzen
sich zur Wehr mit einer Vehemenz, die zeigt, welche ungeheuren Energien bis hin zur
Tätlichkeit wie Furien aus ihnen ausbrechen können. Diese Frauen passen in kein
elisabethanisches Weiblichkeitsbild und sind wohl nur vorstellbar unter der Voraussetzung
eines Traums, der die einstudierten Ordnungen der Geschlechter wieder auflöst und im
Träumenden den unheimlichen, ungekannten Anderen ans Licht bringt. Das Tempo der
Liebes- und Haßszenen ist von einer so atemberaubenden Geschwindigkeit, die die
Bilderfluchten in Träumen suggeriert.
Die zärtlichsten Liebesworte auf der Bühne findet Tita-nia – unverstellt, ohne weibliche
Scham, ohne den Lustaufschub der Liebesrhetorik – für einen Esel. Hier sind alle
Spannungen gelöst, das Häßlichste verwandelt sich unterm Blick der Liebe zum
Schönsten, Tierlaute werden als mendelssohnsche Musik vernommen und das Paar
vereinigt sich in holdem Einverständnis. Und diese einzige >echte< Liebesszene im Stück
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ist ihre eigene Parodie, die bösartige Zurschaustellung der Gefühle einer verblendeten
Frau durch einen in seinen Besitzansprüchen nicht befriedigten Ehemann. Nur: Was durch
diese bestialische Vermischung hindurchscheint, ist der aufs Animalische reduzierte
Sexualtrieb, der in den Träumen jede Grenze überschwemmt, sogar die der Gattungen.
Als der böse Zauber endlich von Titanias Augen genommen ist, glaubt sie geträumt zu haben: »What visions have I seen«. Aber Oberon zeigt nur auf den schlafenden Bottom: »Da
liegt deine Liebe«, was heißen soll: es war kein Traumgespinst, sondern war (und ist) so
real wie der, der da liegt, dieses Bild für die inneren Urwälder. Der andere Blick ist nur der
verleugnete eigene. Daß >Wirklichkeit< und >Traum< sich nicht (mehr) trennen lassen,
zeigt sich auch auf der anderen Spielebene. Theseus und Hippolyta samt Gefolge
erscheinen im Wald, »von Hunden rings umheult«, auf daß das Jagd- und Verfolgungsthema, das Reißen einer Beute, nicht vergessen werde, vom »harmonischen
Zwist« des Gebells ist die Rede, von klangvoller Dissonanz. Vor diesem Hintergrund erscheint die Ordnung wieder hergestellt, den unbotmäßigen Liebenden ist vergeben, wie in
einer Komödie zu erwarten. Der Zauber ist von Lysanders Augen genommen, so daß er
wieder >seine< Hermia liebt; der Zauber ist von Demetrius' Augen nicht genommen, so
daß er dabei bleibt, Helena zu lieben: als er mit eigenen Augen sah, sah er falsch – jetzt,
da er mit anderen, mit bezauberten Augen sieht, sieht er richtig und >wahr<. Größer kann
die Verwirrung über richtig und falsch, wahr und verblendet kaum sein, die von Shakespeare nicht aufgelöst wird. Hermia hat noch eine ferne Ahnung, daß etwas geschah, was
sie anders sehen läßt: »Mir ist, ich sah dies mit geteiltem Auge, / Dem alles doppelt
scheint ...« Und auch Helena hat etwas gelernt über die Fremdheit zwischen Liebenden;
Demetrius ist ihr »Mein und auch nicht mein eigen«. Die Männer haben nichts begriffen.
Nur Bottom. Bottom wacht auf, als alle davon sind aus dem Wald, und begreift, daß er
nichts begriffen hat: »Ich hatte einen Traum. Es geht über Menschenwitz, zu sagen, was
für ein Traum es war. Der Mensch ist ein Esel, wenn er sich einfallen läßt, diesen Traum
zu deuten.« Aber der Esel war ja er, und er hatte die Wirklichkeit des Traums, die
Sichtbarkeit des Verborgenen, gerade vorgelebt. Deutbar nicht, aber beschreibbar,
besingbar. »Zettels Traum« soll die Ballade heißen, die Peter Squenz darüber schreiben
könnte, »>Bottom's Dream<, because it hath no bottom«, über die Grund- und
Bodenlosigkeit eines, der zu lange in sich hineinschaut, zu singen »at her death«. Aber bei
wessen Tod? Merkwürdig, eigenartig, fremd, alles das bedeutet »strange«, und mit diesem
Wort eröffnet Hippolyta den letzten Akt, in sonderbarer grammatischer Fügung: »'Tis
strange, my Theseus, that these lovers speak.« Aber Theseus hat die Antwort parat mit
dem in allen Tönen der Lüge durchdeklinierten, gebeugten Wort für >wahr< – »More
strange than true« – und erläutert in schönsten Versen die mehr als symbolische, die
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politische Ordnung: da ist die kühle Vernunft, die wir brauchen, die Welt zu begreifen, und
da ist die Phantasie, das Reich der Irren, der Verliebten und der Dichter, die aus nichts
etwas schaffen, das sie für wirklich ausgeben. Damit wäre die Grenze gezogen und der
»Einbildung«, wie Schlegel übersetzt, ihr Ort angewiesen, das »luft'ge Nichts«. Aber es ist
die Frau, Hippolyta, die darüber nicht zur Tagesordnung übergeht: was war, sagt sie, war
mehr als bloßes »Spiel der Einbildung«, denn nichts wird mehr sein, was es einmal war.
Der Traum ist Wirklichkeit, so wie die Wirklichkeit vielleicht nur Einbildung und
Konstruktion ist.
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Reitemeier, Frauke, and Sonja Fielitz. A midsummer
night's dream. Bochum: Kamp, 2005
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A Midsummer Night's Dream (Ein Sommernachtstraum)
aus: Schabert, Ina. Shakespeare-Handbuch. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 1992. S. 459–465.
aa) Text und Datierung
A Midsummer Night's Dream wurde 1600 in einem guten Quartodruck veröffentlicht, der
wohl direkt auf Shakespeares Manuskript zurückgeht, 1619 in einem weiteren »good
quarto« und 1623 unter gleichem Titel im First Folio. 1598 von F. MERES in Palladis Tamia
erwähnt, dürfte das Stück schon um 1595/96 entstanden sein, also nach Love's Labour's
Lost und in zeitlicher Nachbarschaft zu Romeo and Juliet und The Merchant of Venice. Mit
diesen drei Dramen verbindet A Midsummer Night's Dream der ausgeprägt lyrische Stil.
Das Werk gilt als ein erster Höhepunkt innerhalb von Shakespeares Komödienschaffen. In
neu gewonnener Meisterschaft werden Situationen und Motive seiner frühen
Komödienversuche variiert und miteinander verknüpft – etwa das Motiv des »Spiels im
Spiel« aus The Taming of the Shrew und Love's Labour's Lost, die choreographisch
stilisierten Identitätsverwirrungen der Comedy of Errors oder die Gestalten des
wankelmütigen Liebhabers und der verlassenen Geliebten aus The Two Gentlemen of
Verona. Im Gegensatz zu jenen früheren Versuchen, in denen er jeweils mit nur einem der
herkömmlichen Komödientypen experimentierte, gelingt ihm hier zum erstenmal die
ebenso originelle wie beziehungsreiche Synthese der unterschiedlichsten dramatischen
Grundformen und Sprachstile. Eine genauere Datierung wird dadurch erschwert, daß sich
der konkrete Anlaß, für den diese Komödie verfaßt wurde, nicht mehr eindeutig ermitteln
läßt. Die zentrale Stellung der Fürstenhochzeit von Theseus und Hippolyta, die formalen
Anklänge an die Dramaturgie höfischer Maskenspiele (etwa die große Bedeutung von
Musik und Tanz, von schaubildhafter Personengruppierung und Szenerie, die wichtige
Rolle übernatürlicher Symbolgestalten und die Funktion der Rüpelszenen um Bottom als
einer Art grotesker »anti-masque«) und der größere szenische Aufwand legen die
Vermutung nahe, daß A Midsummer Night's Dream – ähnlich wie das »interlude« von
Pyramus und Thisbe in dieser Komödie selbst – für eine private Festaufführung zur
Vermählungsfeier eines aristokratischen Paares angelegt war. Eine völlig überzeugende
Identifizierung dieses Anlasses ist jedoch bisher noch nicht gelungen. Die frühe
erfolgreiche Übernahme ins Repertoire der öffentlichen Theater und die große Beliebtheit
auch beim modernen Publikum zeigen jedoch, daß sich seine Sinnstruktur und sein
poetischer Reiz auch abgelöst von einem konkreten Anlaß dem Betrachter eröffnen.
bb) Vorlagen
Mit Love's Labour's Lost und The Tempest bildet A Midsummer Night's Dream die kleine
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Gruppe Shakespearescher Komödien, für die man bisher keine direkte Vorlage gefunden
hat. Dafür greift Shakespeare hier mannigfaltige Anregungen aus den verschiedenen
literarischen Traditionen auf. So geht etwa die Rahmenhandlung um Theseus und
Hippolyta auf Plutarchs Parallel-Biographien und auf die Erzählung des Ritters in
Chaucers Canterbury Tales zurück, wo sich schon die Verknüpfung dieser Geschichte mit
dem Motiv des Konflikts von Freundschaft und Liebe findet. Der Stoff der Tragödie von
Pyramus und Thisbe, in der Shakespeare die primitive Dramaturgie des älteren
Volksschauspiels und das hohle Pathos der Seneca-Übersetzer und -Nachahmer
karikiert, war dem elisabethanischen Publikum vor allem aus Goldings Übersetzung der
Metamorphosen OVIDS vertraut. Besonders deutlich zeigt sich jedoch Shakespeares
Kunst der Verknüpfung heterogener Elemente zu einem neuen und originellen Ganzen in
der Feenwelt dieser Komödie. Hier überschneiden sich Einflüsse der englischen
Nationalliteratur (Spensers Epos The Faerie Queene und Greenes Lustspiel James IV
hatten die Feen in der Dichtung heimisch gemacht), der französischen
Romanzendichtung (Huon de Bordeaux, 1534 von Lord Berners ins Englische übersetzt,
ist die Quelle für den Elfenkönig Oberon), der antiken Literatur (die Feenkönigin Titania
hat ihren Namen von Ovids »Titanen-geborener« Diana, die schon vor Shakespeare mit
der Feenkönigin identifiziert wurde) und der mündlich überlieferten Volkssage, der vor
allem der Kobold Puck und die Elfen entstammen.
cc) Analyse und Deutung
Schon in der äußeren Verknüpfung der vier so unterschiedlichen Handlungsstränge zeigt
sich Shakespeares reifer Kunstverstand. Das Hochzeitsfest von Theseus und Hippolyta
bildet den Rahmen und den zentralen Zielpunkt für alle Fäden der Handlung: an diesem
Festtag soll sich das Schicksal Hermias entscheiden, der Todesstrafe oder ewiges
Klosterleben drohen, wenn sie sich nicht dem Willen ihres Vaters beugt und ihrer Liebe zu
Lysander abschwört; für dieses Fest bereiten Quince (Squenz), Bottom (Zettel) und ihre
Gesellen die Theateraufführung vor, und auch der Ehezwist des Herrscherpaars der
Feenwelt ist mit diesem Fest verknüpft, da sich Oberon und Titania gegenseitig frühere
Liebschaften mit Theseus und Hippolyta vorwerfen und die Hochzeit ihrer Günstlinge
durch ihre Anwesenheit segnen wollen. Die einzelnen Handlungsstränge sind aber auch
untereinander verflochten. Puck (Droll) als Zaubergehilfe Oberons inszeniert die
Liebesverwirrungen der beiden jungen Paare im Athener Wald und stiftet mit seinem
Zaubertrank auch die Liebe Titanias zu Bottom, in der sich die beiden Extreme dieser
Spielwelt treffen. Freilich sind diese Beziehungen nicht allen Figuren in gleichem Maße
bewußt: so wird allein dem einfältigen Bottom Einblick in die Welt der Feen gewährt,
während den jungen Liebenden und dem fürstlichen Hochzeitspaar – entgegen
Shakespeares sonstiger Gepflogenheit – auch am Schluß noch die Begebenheiten im
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Zauberwald rätselhaft wie ein Traum bleiben. In den beiden Schauplätzen werden zwei
gegensätzliche Bereiche sinnfällig miteinander kontrastiert: am Hof von Athen herrscht die
männlich klare Vernunft des Theseus, während im naheliegenden Wald Narrheit, Traum
und Phantasie die Geschicke von Menschen und Elfen regieren. (Von hier aus erschließt
sich auch der Titel dieser Komödie: »midsummernight« – unsere Johannisnacht – wurde
zu Shakespeares Zeit mit phantastischem Mummenschanz und ausgelassenen Liedern
und Tänzen gefeiert und mit jener »midsummer madness« in Verbindung gebracht, die
gemäß dem Volksglauben den Menschen nach der Glut heißer Sommertage ergriff.)
Wenn in diesem Bereich auch die Gesetze der Alltagsvernunft und der normalen
Wirklichkeit aufgehoben scheinen, so offenbart sich hier doch der schöpferischen
Phantasie eine höhere Wirklichkeit und entwirren sich menschliche Konflikte in ferienhafter
Gelöstheit. Dies zeigt sich etwa in den Geschicken der Liebenden im Wald von Athen, die
durch zauberische Wirrungen hindurch zu sich selbst und zueinander finden. Aber auch
Theseus' Vernunft erweist sich als doppelgesichtig: sie erlaubt ihm zwar, Athen klug zu
regieren, versperrt ihm aber auch den Zugang zu der Traumwahrheit des nächtlichen
Geschehens und zu der Wahrheit, die dichterische Phantasie zu stiften vermag. So findet
sich schließlich ein ganzes Spektrum perspektivischer Beurteilungen des phantastischen
Traumgeschehens: von Theseus' Ablehnung als irrealer Hirngespinste über Hippolytas
verwunderte Betroffenheit bis zu Bottoms Deutung seiner Eselsmetamorphose und seiner
Begegnung mit der Feenkönigin als einer alle menschliche Vernunft übersteigende Vision.
Wenn Puck dann im Epilog auch die Komödie selbst als Vision deutet, potenziert er noch
das Spiel mit den verschiedenen Ebenen der Realität und der Illusion und bezieht das
Kunstwerk selbst in die Ambivalenz von irrealer Erfindung und einer höheren Wirklichkeit
ein, die nur der schöpferisch intuitiven Phantasie zugänglich ist.
Auch die Liebesthematik ist auf diese zentrale Antinomie bezogen. »Fancy« bedeutet ja
nicht nur Phantasie, sondern auch Verliebtheit, und diese Verliebtheit findet sich in
vielfältigen, miteinander kontrastierenden Spielformen. Die Liebe Oberons und Titanias
etwa erscheint als Grundlage der Harmonie und Ordnung der Natur, und die Störung
dieser Liebe durch eine irrationale Eifersucht liefert das ganze Reich der Natur dem Chaos
aus. Ebenso ist die reife, durch Erfahrung geläuterte Liebe von Theseus und Hippolyta der
Garant der staatlichen Ordnung in Athen und wird wiederholt mit dem Symbol
musikalischer Harmonie in Verbindung gebracht. Die Verliebtheit des Lysander und
Demetrius dagegen ist ein unreifes, wandelbares und irrationalen Einbildungen
ausgeliefertes Gefühl, wie schon Demetrius' Liebesverrat an Helena zeigt, noch ehe Puck
mit seinem Zaubersaft die Manipulierbarkeit dieses Gefühls in grotesker Übertreibung
demonstriert. Titanias Verliebtheit in den zum Esel verwandelten Bottom schließlich wird
vollends zum Emblem der Irrationalität dieses Gefühls.
102
Schon von ihrem Stoff her ist auch die Tragödie von Pyramus und Thisbe auf die
Liebesthematik bezogen. Hier wie in den Konflikten der beiden Liebespaare geht es um
eine Liebe, die durch elterliches Verbot verhindert werden soll. Wie Shakespeare mit A
Midsummer Night's Dream und Romeo and Juliet beziehungsvoll die komische und
tragische Lösung desselben Motivs nebeneinander gestellt hat, so kontrastiert er die
beiden Aspekte auch innerhalb jener Komödie selbst, wobei freilich das Handwerkerspiel
zur unfreiwillig komischen Persiflage einer Tragödie entartet. Denn Bottom und seine
Gesellen verkennen völlig das Wesen der dramatischen Illusion, indem sie die
Überzeugungskraft ihrer ganz unzulänglichen Aufführung grotesk überschätzen und
glauben, die Wirkung der gräßlichen Ereignisse auf die Phantasie ihres aristokratischen
Publikums durch Kommentare abmildern zu müssen, die auf das Illusionäre ihres Spiels
hinweisen. Durch diese Potenzierung der Illusion im »Spiel im Spiel« wird dem
Theaterpublikum der Scheincharakter der ganzen Komödie bewußt gemacht; die linkische
Unbeholfenheit des Handwerkerspiels parodiert so nicht nur die primitive Dramaturgie
älterer Volksschauspiele, sondern zeigt die Unzulänglichkeit aller Bühnendarstellung und
damit die Notwendigkeit phantasievollen Mitschaffens der Zuschauer auf.
Die euphuistisch künstliche Rhetorik der athenischen Liebespaare, die sich alle der
gleichen Stilmittel wie Antithesen, Wortspiele, syntaktischer Parallelismen und
Stichomythien bedienen, erlaubt kaum eine Individualisierung dieser Charaktere. Dies ist
jedoch nicht notwendig als Zeichen unreifen Frühstils zu deuten, sondern es betont den
Eindruck der Auswechselbarkeit und Beliebigkeit der jeweiligen Partnerwahl, der die
Liebeswirren im Wald bei Athen kennzeichnet. Mit dieser Sprachebene kontrastiert
deutlich die lyrische Poesie der Elfen, in der die zauberische Atmosphäre der
mondbeglänzten Waldnacht dichterisch verklärt wird. Die drastisch-komische Prosa der
Rüpelszenen zerstört keineswegs diese zarte Poesie, sondern hebt sie in kontrapunktischem Kontrast noch deutlicher hervor. Vor allem in der Bildersprache zeigt sich die
Kunst der Verknüpfung dieser verschiedenen Stilebenen: so durchziehen leitmotivische
Gegensatzpaare wie Träumen und Wachen, Nacht und Tag, Vernunft und Narrheit,
Ordnung und Chaos alle Wirklichkeitsbereiche der Komödie, während im immer
wiederkehrenden Bild des Mondes zentrale Themen zusammengefaßt und variiert
werden.
dd) Wirkungsgeschichte
Die zahlreichen Bearbeitungen, die Shakespeares Text von der Restorationszeit bis zur
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Bühne verdrängten, bezeugen sowohl die
Beliebtheit dieses Werks als auch das mangelnde Verständnis, auf das es immer wieder
103
stieß. So stehen neben Neubearbeitungen und Opernfassungen wie Andreas Gryphius'
Peter Squentz (1663) oder John Richs The Comic Masqiie of Pyramus and Thisbe (1716),
die die drastische Komik der Rüpelszenen aus ihrem Zusammenhang herauslösten,
andere Versionen, die wie die Barockoper The Fairy Queen (1692; Musik von Henry
Purcell) D. Garricks The Fairies (1755) mit großem szenischen Aufwand romantischen
Aspekte betonten und die possenhaften Elemente unterschlugen. L. Tieck 1843 die
deutsche Erstaufführung als ein romantisch-poetisches Märchenspiel, wobei ihm F.
Mendelssohns ühnenmusik entgegenkam. Dieser Auffassung stellte 1905 M. Reinhardt
erstenmal seine antiromantische Interpretation entgegen, wie sie dann auch den
Inszenierungen von O. Falckenberg G. R. Sellner , die – von C. Orffs unterstützt – den
Sommernachtstraum eine Komödie der panischen Verzauberung und die Elfen als
dämonische Elementargeister deuteten. In der englischen Bühnentradition stellt H.
Granville-Barkers gene Inszenierung auf einer requisitenarmen Shakespeare-Bühne
(1914) einen bedeutenden Neuansatz dar. Die wichtigste neuere Inist wohl die P. Brooks
(Stratford-upon-Avon, 1970), die in ihren antiromantischen Tendenzen über Sellner und
das Zauberwesen in virtuose Artistik umsetzt.
E.WELSFORD, The Court Masque, , 1927. - M.W. LATHAM, TlteElizabethan Fairies, York,
1930. - R. A. LAW, »The >Preconceived Pat-tern< of A Midsummer Night1 s Dream«,
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Moonlight at the Globe, , 1946. - K. MUIR, »Pyramus and Thisbe: A Study in Sh.'s
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deutscher Übersetzung von Wieland bis Flauer«, SJ, (1956). - H. NEMEROV, »The
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Hegemann, Helene. Axolotl Roadkill Roman.
Berlin: Ullstein, 2010
Die Tochter des bekannten Dramaturgen Carl Hegemann
machte mit diesem Roman vor einigen Jahren sehr von
sich reden - nicht zuletzt, weil Teile von ihm aus dem Blog
Axolotl Roadkill
des Berliner Clubbers Airen stammten. Was passiert in
einer Parallel-Welt, in der (scheinbar, oder tatsächlich) die
Helene Hegemann
Gesetze von Alltag und Gesellschaft an Kraft verlieren?
Eine gegenwärtige literarische Gestaltung des
Auszug: S. 24–38
"Zauberwaldes" von Oberon und Titania.
Ich bin sechzehn Jahre alt und momentan zu nichts anderem mehr in der Lage, als mich
trotz kolossaler Erschöpfung in Zusammenhängen etablieren zu wollen, die nichts mit der
Gesellschaft zu tun haben, in der ich zur Schule gehe und depressiv bin. Ich bin in Berlin.
Es geht um meine Wahnvorstellungen.
Unfassbar, wie ich mich hier schon wieder auf cognacfarbenen 9-cm-Absätzen dem
ganzen Scheiß aussetze, Industriegebiet natürlich, von weitem sieht man ein ehemaliges
Heizkraftwerk, in dem es sich in spätestens einer halben Stunde diesem Zwang zur
Selbstvergessenheit auszusetzen gilt. Ich bewältige einen von Neonröhren umzäunten
Weg, der als der geilste der Welt gilt und mich aus einem mir unerfindlichen Grund nie
interessiert hat. Ich finde meine dissoziative Identitätsstörung interessanter als alles, was
diese Stadt mir ununterbrochen ins Gesicht kotzt. Vor einem Securitychef, der Syd heißt
und drei Meter groß ist, tue ich so, als würde ich auf der Gästeliste eines Barkeepers
stehen, der tagsüber mit zeitgenössischen Kohlezeichnungen die verwirrenden Ansichten
unserer urbanen Welt darzustellen versucht. Damit umgehe ich eine kilometerlange
Schlange von overstylten Dreiundzwanzigjährigen aus geregelten familiären
Zusammenhängen, in deren Augen ich kein Mensch bin, sondern ausschließlich
underdressed und wankelmütig. Orale Inkontinenz. Mir wird Scheiße in die Fresse
gefeuert. Ich bin eine motherfucking unmoralisch handelnde Fotze und soll auf mein
Leben klarkommen, Alter.
Die Frage des Abends: »Ey, was geht 'n hier?« Die Antwort des Abends: »Ey, hier geht
doch nichts.«
Das Resultat des Abends: »Geil, keine Schlange, Taxi steht dahinten, überall Definitionen
der Weltgesundheitsorganisation, so.«
Vom DJ-Pult aus gesehen links befinden sich hinter einer großen Glaswand ein langer
Bartresen und diverse Sitzmöglichkeiten; rechts davon liegt hinter der Tanzfläche einer der
unübersehbaren Darkrooms. So weit das Auge reicht versuchen sich diese
pseudovergewaltigten Mittzwanziger die Seele aus dem Leib zu dancen. Ich sitze zu
120
irgendeiner absurden Musikrichtung unbeeindruckt auf einem Lederpolster und bekomme
bereits nach zehnminütiger, unspektakulärer Ausgelassenheitsscheiße die wichtigste Frage des
Abends gestellt. Achtzehn Meter Deckenhöhe, zweitausendfünfhundert Menschen und die
HIV-positive Ophelia, mit der ich im Eingangsbereich verabredet bin. Sie sieht gleichermaßen
umwerfend und magersüchtig aus, trägt eine halboffene Bomberjacke ohne was drunter zu
schwarzen Leggins und Satinsandalen von Lanvin, mit verspiegelten Absätzen, und ich rede
echt nur Scheiße zur Begrüßung.
»Hauptsache, irgendeine schlichte Silhouette wird mal wieder in ein unverzichtbares Musthave
verwandelt, nicht wahr, Schatz? Traditionelle klassische Eleganz.«
»Ich würde jederzeit für dich in irgendeine Bresche springen, Mifti.«
»Und der geraffte Fall eines Seidenvorhangs verbirgt den größten Teil deines Körpers.«
»Ich wäre so gerne lustig heute.«
»Aber es ist einfach zu heiß hier drin.«
Sie fragt dann also irgendwann mit so einer Geste Richtung Damentoilette:
»Siehst du den Typen da vorne?«
Es ist der Typ, dessen Anwesenheit mich davon abgehalten hat, souverän an ihm vorbei zum
Zigarettenautomaten zu rennen. Da werden mal zur Abwechslung keine sexuellen Gelüste
wachgerufen, sondern nur ein paar emotionale Zuneigungsattacken, weil er so süß ist, weil
er so bauchfrei ist und total gewaschen wirkt im Gegensatz zu all den aus der Form
geratenen Chauvinistenhippies hier. Ich labere sowieso nur noch uninspirierte Scheiße.
Ophelia sagt: »Der hat Ecstasy.«
Ich gehe ungeachtet der Tatsache, dass sie auf eine schlagfertige Antwort wartet, in seine Richtung.
»Kannst du uns eventuell zwei Teile klarmachen?«
»
»Ähm ...«
N
»Seit wann sind wir gute Freunde?«
e
»Ähm?«
i
»Achte mal bitte ganz kurz auf die Absätze von den Flechtoptikschuhen, die meine
n
Freundin da anhat. Krass verspiegelt sind die.«
.
»Und modeinteressiert bist du also auch?«
«
»Seh ich so aus?«
»Allein dieser Mantel, das ist wirklich – mit dem Gürtel dazu nämlich. Gehört das
zusammen?«
121
»Das hast du also zusammengebastelt.«
»Ja, also, nein. Ich mag das ja auch bei Männern, wenn die so Anzüge anhaben und so
was. Ausrangierte englische Minister zum Beispiel, ich finde das irgendwie geil.«
Der Typ guckt sich meinen kaputten Polyesterrock an und erwartet zwei Fünfer von mir.
Ich hole Geld aus meinem Schuh und wirke währenddessen gleichermaßen
geistesgestört wie aufgeregt. Er gibt mir die Pillen unauffälliger als unbedingt nötig und
mustert mich wie den dünnhäutigsten Menschen der Welt.
Ich frage: »Hast du Lust auf Oralsex?«
Er antwortet: »Wie alt bist du? Dreiundsechzig?«
Damit werde ich zurück in diese nicht enden wollende Zeit der Traurigkeit entlassen.
Ophelia ist äußerst attraktiv und eine phlegmatische Actionheldin. Wenn ich Ophelia
suche, finde ich sie grundsätzlich gemeinsam mit einer Rasierklinge vor einem
Ganzkörperspiegel, und da sitzt sie dann vollkommen fertig. Sobald sie länger als sechs
Stunden keine Drogen konsumiert und deswegen einen hysterischen Anfall hat, der sie
töten will, versucht sie sich dort ihrer Gesichtsmuskulatur zu entledigen. Wir haben uns
kennengelernt, weil sie trotz Höchststeuersatz aus so einem halbherzigen Bedürfnis nach
Wirklichkeitsnähe heraus manchmal in Schulkantinen jobbt.
»Ich hätte hier gerne diese Rahmpolenta mit Spinat und kann ich statt Kartoffeln die
Nudeln aus dem anderen Topf dazu haben, bitte?«
Sie: »Aus was für einem Topf?«
Ich: »Aus dem zweiten oder dritten von links da gegenüber.«
»Es hätte auch gereicht, wenn du einfach draufgezeigt hättest.«
»Und Nachtisch?«
122
»Du hattest schon einen Nachtisch.«
»Ich hatte definitiv noch keinen Nachtisch, ich bin hier eben gerade erst reingekommen,
weil ich vorhin noch Gesellschaftswissenschaften im dritten Stock hatte.«
»Trotz deiner motherfucking Gesellschaftswissenschaften hast du dir hier gerade schon
einen Nachtisch genommen, Baby!«
»Nein!«
»Ich kann hier nicht einfach so rumrennen und jedem Teenager vierzig
Scheißvanillepuddings ins Gesicht schleudern, für die niemand bezahlt hat. Wie soll ich
dich jetzt nennen? Impotenter Wichser?«
»Was reden Sie da?«
»Halt deine Fresse, du scharfsinniges Dreckskind.«
»Steh auf Fotze und verbeug dich.«
»Wie bitte?«
»STEH AUF FOTZE UND VERBEUG DICH!«
Ophelia hat mich mit einer großen Kelle Buchweizenauflauf beworfen. Ich habe sie mit
dem Vanillepudding meiner Klassenkameradin Olivia Stüter beworfen, sie hat eine für
zweihundert Siebt- bis Zehntklässler gedachte Portion Blattspinat über meinem Kopf
ausgeleert, und dieser ganze Exzess plätscherte so vor sich hin mit einem konsequent
gehaltenen Augenkontakt. Wir beschwörten da einen Kanal zwischen uns herauf, durch
den es möglich war, uns gegenseitig anzustarren, als würden wir uns lieben.
Sie teilte mir mit, dass sie der perfekte Spiegel meiner wahren Gelüste sei. Und ich habe das
einfach so hingenommen, ihre Telefonnummer gewählt, ihr zugehört, als sie sagte, dass ich
dringend einige Kleidungsstücke, die sie nicht mochte, wegwerfen müsse, und geantwortet,
dass sie eine Tote sei.
»Du kannst damit rechnen, in dieser Welt seelisch und körperlich verletzt zu werden.«
Das klingt zwar alles ziemlich unglaubwürdig, aber so war das halt damals.
(…)
Ich steige jetzt also neben Ophelia irgendeine Stahltreppe hoch, sie geilt sich währenddessen
unaufdringlich an ihrer patentierten Fotografinnenexistenz mit eigener Vision und Angeboten
auf und dem ganzen schwarzweißen Scheiß. Sie sagt immer, dass sie keine Farben mehr kennt,
seit sie so krank ist. Sie ist einfach farbenblind geworden. Ich habe irgendwann mal ein
123
Interview mit David LaChapelle gelesen und gecheckt, dass diese
Farbenblindheitsgeschichte von ihm ist. Fragt man sie nach ihren Inspirationsquellen, wird es
meist abstrakt. Die afrikanische Steppe, kalte Schlangen der Luft und sich mit CheeseburgerTelefonen im Parkett spiegelnde Jil-Sander-Anzüge, aus denen dann ein mit Schweineblut
übergossener Plüschschakal hervorgeht oder so was. Sie ist also eine Künstlerin. Und sie
hasst langweilige Leute, von denen sie auf der Straße angehalten und belästigt wird. Noch
abscheulicher als Reichtum sind diese heuchlerischen Halbkünstler, die für sich
beanspruchen, der absolute Dreck zu sein und sich über alle Erbstücke, die ich besitze,
lustig machen. Seidenservietten, Halsketten, nicht mal Silberbesteck, sondern nur zwei
Silberlöffel. Kein Kritiker weiß, was es bedeutet, Tag für Tag vergilbten Leuten die eigene
Förderungswürdigkeit in die Fresse zu feuern, für Geld, weil man schlicht und ergreifend
mal zur Abwechslung Geld braucht. »Das Problem von denen, von diesen Kritikern«, sagt
sie immer, »ist ja nicht mal die Arroganz, Arrogantsein ist ja auch was Aristokratisches und
so, das Schlimme ist eher diese Dummheit, oder nicht mal die Dummheit ist das
Schlimmste, das Schlimmste ist die Faulheit. Man macht ein Statement und das wird
neutralisiert und entkräftet, indem es irgendwie, ich weiß auch nicht, pathologisiert wird
oder psychologisiert oder als unbeabsichtigt abgestempelt, aus purer Faulheit. Dabei ist
diese ganze Anarchie ja kein Versehen, sondern ganz genau so gemeint, verstehst du?«
Wir gehen grundsätzlich nur dann nebeneinander irgendwohin, wenn wir nicht dazu
verpflichtet sind, miteinander zu sprechen.
Wir teilen uns Mixgetränke, und das ist so ein super Moment, ich weiß gar nicht warum,
ich fühle mich plötzlich von der Liebe überschüttet, die ich vor wenigen Stunden in einer
SMS an sie thematisiert habe. Von einer Betoncouch winken uns zwei hysterische
Schatten zu, deren Anwesenheit von meiner Seite aus als bedrohlich eingeordnet wird. Ein
über fünfzigjähriger Hardcoregastronom überdurchschnittlichen Einkommens wird mir von
Ophelia als ihr bodenständigster Freund vorgestellt. Ich wiederhole noch einmal:
Betoncouch. Er begrüßt mich mit einem Bananenfleck auf seinem schwarzen Hemd und
bunten Sportschuhen und einer Zwanzigjährigen an der Hand, die Gloria heißt und
entweder geistig behindert oder auf einen Pelzmantel scharf ist.
»Sag dieser Scheißabiturientin da auf gar keinen Fall, dass der Typ, mit dem sie hier ist so
aussieht, als würde er übermorgen sein komplettes Gastronomieimperium beim Pokern
verspielen. O.k., Mifti?«
»Hä?«
124
»Die heiraten in vier Wochen, Mann, und Thomas setzt jeden Abend, ohne vorher seine
Karten anzugucken, alles aufs Spiel, wofür sie ihn liebt. Bei irgendeinem von dieser
Tierkrallenkettentranse veranstalteten Spielscheiß am Schiffbauerdamm. Blind All In, so
nennt man das. Dieser Totenkopf da vorne ist übrigens der Verlobungsring.«
Ich werde zwangsläufig ausgeschlossen und laufe den zweieinhalb superetablierten
Scheißikonen pflichtbewusst hinterher, übersensibel und unausgeglichen in das
Raucherséparée hinein.
Gloria drückt mir ihre echte Hermès-Tasche aus hellblauem Kalbsleder in die Hand, rückt
ihren Margiela-Cardigan zurecht, wechselt ihre Acne-Jeans gegen einen Flanellminirock
von Marc Jacobs und Ophelia flüstert mir zu: »Wie kann man sich nur so einfallslos
anziehen, Mifti?«
Dann tauschen wir uns plötzlich alle über die von Ophelia vor wenigen Stunden auf ihren
Küchenboden gekotzte Falafeltasche aus und schlucken ganz beiläufig, aber parallel
zueinander, unsere Teile runter. Thomas bietet uns zwei Lines Ketamin an, das in der
Tiermedizin zur Narkose eingesetzt wird und in kleinen Dosen bewusstseinsverändernd
wirkt. Er sagt: »Weißt du, was du später deinen Mitschülern sagen wirst, Mifti? Dass
Ketamin die totale Auflösung der eigenen Existenz bedeutet, vier Jahre Koma und übelste
Hirnspiralen, und außerdem bedeutet das hammergeil TANZEN, die ganze Zeit, egal, wer
und wo du bist.«
Gloria sagt: »Es ist ja so krass grotesk, wie abgrundtief bescheuert ihr seid! Das hier ist voll der
Notfall, es geht hier um ein Narkotikum, das kann einen, wie ihr euch vielleicht denkt, narkotisieren! Und wenn ihr narkotisiert seid, atmet ihr nicht mehr. Und wenn ihr nicht mehr
atmet, geht euch irgendwann der Sauerstoff aus. Und das ist schlecht.«
Das Zeug brennt höllisch in der Nase.
Und das ist mein Leben.
Es weist eine feinkristalline Struktur auf, ist farblich durchscheinend und von einer stark
temperaturabhängigen Konsistenz, es ist verschwommen, es ist ein undichter
Unterwassertank, dem es schnellstmöglich zu entkommen gilt und plötzlich taucht man
fünfhundert Meter unter dem Meeresspiegel durch eine Gruppe gefährlicher
Raubfischarten in Übergröße. Ich beschließe, fortan jeden klaren Moment mit Ketamin
oder dem Satz »Fünfzig Whisky Soda bitte!« zu beseitigen. Zwischenwelten sind mein
einziger Bezug zur Wirklichkeit, zur Wahrheit will ich fast sagen, ach, und nach einer
125
jahrelangen Duldungsstarre der absolute Zugriff aufs Leben. Ich sehe nichts anderes mehr
als dunkelblaue Wellen, Seetang und ockerfarbene Pottwale mit weit geöffneten Fressen.
Immer, wenn ich kurz davor bin, in den Zahnzwischenraum eines dieser Pottwale
hineinzugeraten und deswegen plötzlich der festen Überzeugung, in wenigen Sekunden
tot zu sein, wird mir kurzzeitig schwarz vor Augen. Ich weiß nicht, ob ich liege oder stehe
oder noch immer auf dem Schoß dieses langhaarigen runtergewirtschafteten Penners
sitze, der mit freiem Oberkörper in irgendeiner zum Ficken gedachten Sofanische
eingeschlafen ist. Zuallererst sehe ich eine bedrohliche Vielzahl schwarzer Silhouetten.
Danach kommt mir eine übergewichtige Frau in Latexganzkörperanzug entgegen, die drei
angeleinte, halbwegs geschlechtslose Personen durch die Räumlichkeiten spazieren führt
und mir eine Serviette reichen will.
Ich frage: »Können Sie mir eventuell kurz die Boa constrictor rüberreichen?« Mein
Blickfeld ist von einer offenen Entzündung im Rachen des Fisches ausgefüllt, durch
dessen Mundhöhle ich schwimme. Ich schließe die Augen, öffne sie wieder und befinde
mich mit Ophelia und zwei Fremden in einer quadratischen Klokabine. Sobald ich mir
meines Körpers bewusst werde und darüber, dass ich eigenständig denken kann, sind
mein Kurz- und mein Langzeitgedächtnis plötzlich nicht mehr aufeinander abgestimmt. Die
Vergangenheit und die Gegenwart zerfließen, der Raubfischrachen und mein hysterisches
Umfeld überblenden sich gegenseitig, aus meinem Zeitempfinden wird ein großes Feld
aufeinandergestapelter Erinnerungen. Es ist ein Nahtoderlebnis, ich werde panisch, ich
rede mir ein, dass dieser Zustand nicht mit meinem kurz bevorstehenden Tod, sondern mit
neurochemischen Vorgängen in den Temporallappen meines Gehirns zusammenhängt.
Ophelia steht auf dem Klodeckel, um drei Lines Speed auf der Trennwand zur
Nachbartoilette zurechtzumachen. Währenddessen schmeißt sie lachend zuerst ihren
Gürtel und dann einen ihrer Schuhe über die Kabinentür. Ich kann die aus dem besten
Soundsystem Europas hervorgehenden Bässe nicht mehr von den Schlägen der
Draußenstehenden gegen die Tür unterscheiden, mir bleibt nichts anderes übrig, als auf
engstem Raum in meinem gewohnt abstrusen Tanzstil abzuspasten und jede Sekunde
unter qualvollen Umständen erneut herauszufinden, auf welchen Beat es sich unmotiviert
seine linke Schulter auszukugeln gilt. Ich habe eine eigene Hand, eigene Beine und einen
eigenen Gleichgewichtssinn. Ich kämpfe mich durch Wände aus Stahl und die
überdimensionale Neutralität einer Situation, die objektiv als »unangemessen«
einzuordnen ist. Wie gesagt: Stahl. Wodkapfützen, Körperteile, Münder, Haare, Schweiß,
126
Leberflecken in Achselhöhlen, auf den Oberarm einer PR-Volontärin tätowierte deutsche
Jagdterrier, rohes Fleisch und Stroboskoplicht.
»Ey, scheiße, guck dir mal deine Pupillen an bitte!«
»Ja, danke für das Gespräch und so.«
Der Ecstasymensch von vorhin steckt mittlerweile in einem blauen Nickipullover und presst mich
kaugummikauend wie in so einem Rockballaden-Musikclip gegen die Wand.
Ich schreie: »Ey, Tyyhyyp, geh mal weg, bitte!«
»Darf ich die mal fotographieren?«
»Verpissen Sie sich!«
Lass mich mal bitte kurz deine Pupillen fotographieren!«
»Nein, weg, weg!«
»Kennst du nicht diesen einen Film da, Romance? Warum können wir uns nur lieben, wenn
ein Tisch zwischen uns steht?«
»Ich kenne Der letzte Tango in Paris, wo dieses Girl plötzlich Marlon Brando erschießt,
und er klebt dann so, kurz bevor er stirbt mit diesem Loch im Bauch, sein Kaugummi unter
das Balkongeländer. Yes, yes, yes.«
»How do you like the music?«
»I love this club but I don't love Berlin!«
»Right answer!«
»Sprichst du immer Englisch, wenn du dich schämst?«
»Ja, Mann.«
Er hat kurze Wimpern und starrt mir triumphierend ins Gesicht. Seine Augen glänzen, als
würden sie in ein Gewässer reingucken, in dem sich alle verfügbaren Lichtquellen Berlins
gleichzeitig spiegeln. Es macht sich da etwas breit, was nur er sehen kann, eine andere
Welt. Mit einer die Umstände in Grund und Boden stampfenden Ernsthaftigkeit versuche
ich, meinen Körper davon abzuhalten, in den Zahnzwischenraum eines mir gegenüberstehenden Menschen zu geraten. Zweitausendfünfhundert Personen haben in der heutigen
Nacht Pepp zum Wachbleiben und Narkotika zum Fliegen verwendet.
Um 8 Uhr 26 ist Ophelia gleichzeitig zu Tode gelangweilt und froh darüber, dass sie mich
zwar schlafend, jedoch unversehrt am hinteren Ende eines der Tresen wiederfindet. Sie
fragt mich allen Ernstes, ob wir uns kurz hinsetzen wollen. Geh auf die Knie, Sweetheart,
und küsse den Boden. Es wird nicht geredet auf dem Lederpolster ihrer Wahl, sondern
ernsthaft und stilsicher aneinander vorbeigeguckt und so getan, als könne Kommunikation
127
auch hervorragend über die grenzenlose Toleranz für das Schweigen des jeweils anderen
funktionieren.
»Sollen wir gehen? Es ist so langweilig hier.«
»Ja.«
»Was hattest du eigentlich an, als du Alice zum ersten Mal geküsst hast?«
Ich bewältige den vierundzwanzigtägigen Fußweg nach Hause nur, indem ich mir bei jedem
Schritt vorstelle, erschossen zu werden.
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Dieser (leider aus urheberrechtlichen Gründen unvollständige) Auszug
aus einem Management-Lehrbuch demonstriert anschaulich, wie eine auf
das rein Heutige reduzierte Lesart Shakespeares Werk zugleich egalisiert
und banalisiert.
aus: Peter J. Scheer, Leadership und soziale Kompetenz: mit
Erlebnisberichten von Führungskräften. Linde Verlag Ges.m.b.H., 2011
129
130
131
132
DIE ZEIT
DER BAUM
Es geht um die Zukunft für die nächsten Generationen. Dazu
gehört, daß der Wald erhalten wird. Der Forstwirt Hermann
Hatzfeldt versam-melte Persönlichkeiten, um mit ihnen die Frage
zu diskutieren, was der Wald für unsere Kultur bedeutet. Wir
drucken Teile dieses Gespräches.
Ellenberg: Nicht nur der Wald unterliegt einem ständigen Wandel, sondern auch das,
was die Menschen vom Wald wahrnehmen. – Unser heutiges Verhältnis zum Wald – wie
überhaupt unser Verhältnis zur Natur – ist erst in den letzten Generationen entstanden. In
Goethes „Reise nach Italien “ findet sich kein Wort über die Schönheit der Alpen ; diese
mußten „überwunden“ werden – das war alles.
Wulffen: Ich meine doch, daß die „Waldgesinnung“ der Deutschen eine längere Geschichte
hat. Es gibt schon im Mittelalter Äußerungen von Thomas Kempis:
„Ich habe nirgendwo mehr Ruhe gefunden
als in den Wäldern und Büchern“
und Bernhard von Clairvaux:
„Glaub mir, ich hab’s erfahren,
Du wirst ein Mehreres in den Wäldern finden
als in den Büchern;
Bäume und Steine werden Dich lehren,
was kein Lehrmeister
Dir zu hören gibt.“
Zu erinnern sei aber auch an Walther von der Vogelweide , Oswald von Wolkenstein, an
große Walddichtungen, an „Parzival“, „Tristan“ – hier ist der Wald mehr der Gegenbereich
zum höfischen Leben.
In der neueren Dichtung gibt es bei Ernst Jünger einen ganz wichtigen Gedanken – der
aber auch eine Vorgeschichte hat –: der Wald als Gegenort, als Ort des Protestes, nicht des
Räubers und Wilderers, sondern des Menschen, der aussteigt in eine geistige Dimension.
Dabei weiß Ernst Jünger genau, daß man nicht mehr in den Wald gehen und dort utopisch
leben kann. In seiner Schrift „Der Waldgang“ finden wir aber den Wald als geistigen
Gegenort zur modernen, verwalteten, rationalisierten Welt.
1
133
DIE ZEIT
Bosch Neben dieser starken und offenkundigen Veränderung in unserer Vorstellung vom
Wald gibt es mindestens eine Ader, die gleichmäßig durchgeht: der Wald als Ort der Buße.
Das beginnt im Mittelalter mit dem im Wald lebenden Einsiedler. Die Zitate von Clairvaux
und Kempis zeigen, daß der Wald eine positive Qualität besaß, als der „andere Ort“, in dem
der Mensch zur Umkehr gelangen kann.
Daß wir heute solche Angst um den Wald haben, hängt vielleicht auch damit zusammen,
daß wir alle ein Bedürfnis der Buße haben – wegen unserer Art, zivilisiert zu sein – das
Gefühl also, daß uns der Wald dazu eine Chance läßt. Er ist das Große, in dem wir uns auf
eine Weise finden können wie nirgends sonst.
Sieferle: Der Einsiedler, der im Mittelalter in den Wald oder, wie in Kleinasien, in die
Wüste geht, will weg von der Welt, weg auch vom Leben, weg? von den Irritationen,
er will sich zurückziehen in die reine Spiritualität. Der Romantiker dagegen, der im 19.
Jahrhundert in den Wald geht, will hin zum Leben, zum Gewachsenen.
Becker: Ich meine, ein zeitgenössisches Bewußtsein für den Wald ist gar nicht vorhanden
– trotz der zitierten Beispiele –, am wenigsten in der Literatur. Eher ist Brecht in unseren
Köpfen gewesen:
Was sind das für Zeiten,
in denen ein Gespräch über Bäume
fast ein Verbrechen ist,
weil es ein Schweigen
über soviel Untaten einschließt?
Grass Das Brecht-Gedicht beginnt mit einer Frage: „Was sind das für Zeiten?“ Vielleicht
sollten wir uns einmal die Frage stellen, ob sich die Zeiten geändert haben. Jüngere Leute,
die sich, verletzt, verängstigt, auf ihre Art und Weise politisch engagieren, sprechen
nahezu gleichzeitig – mit der entsprechenden Wirrnis in der Argumentation – über das
Atomkraftwerk Brokdorf über Mittelstreckenraketen und über die Zerstörung des Waldes
wie auch über Nicaragua und . Afghanistan . Das fließt alles zusammen, es ist nicht mehr
das Abgehobensein wie bei Brecht, wo das Gespräch über Bäume ein Abwenden von der
Welt ist und ausschließt, über anderes zu sprechen. Es sind andere Zeiten, wobei der Wald,
dessen Beschädigung, Verletzung und Zerstörung augenfälliger ist als das Stationieren von
Mittelstreckenraketen, den leichteren Einstieg erlaubt in Gespräche, die von den Bäumen
zu anderem führen. Über vergleichbare Zerstörungsabläufe kommt man dann auch zu
grundsätzlichen Problemen, die unsere Kultur und unsere Zivilisation in Frage stellen.
Becker: Ich meine, Bewußtsein kann bei uns nur über eine ökonomische und ökologische
Bedrohung geweckt werden, nicht über eine Bedrohung der Kultur, nicht damit, daß für die
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Poesie unter Umständen ein paar Metaphern verlorengehen. Dabei bin ich sicher, daß es die
Metapher „Wald“ auch dann noch geben wird, wenn es den Wald nicht mehr gibt, vielleicht
als Metapher für „Verlust“.
Grass Es stimmt sicher, daß von vielen unserer Kollegen der Wald als Metapher auch
„vernutzt“ worden und dadurch beliebig geworden ist. Für mich wird der literarische Bezug
zum Wald in den Märchen viel stärker deutlich, weil in den Märchen eine Realität waltet,
weil Geschichte durchscheint und geschichtliche Veränderungen, ohne daß Fakten oder
Daten genannt werden.
Wenn der Wald weg ist, wird eine insbesondere in Deutschland breite Kulturäußerung –
und das trifft auf die Märchen weit mehr zu als auf die Lyrik – hintergrundlos. Das Bild
von Hänsel und Gretel, die sich im Wald verlaufen, ist nach wie vor präsent. Es verliert
aber an Bedrohung und Dimension, wenn der Hintergrund weg oder gefährdet ist.
Meyer-Abich: Zu den Zeiten, als „das Ganze“ weit außerhalb unserer Macht stand, als der
Mensch in kleinen, kultivierten Bereichen lebte, war der Wald Wildnis und bedrohlich. In
der Aufklärung, als das Ganze sich zum großen, kosmisch geordneten Uhrwerk bildete,
gab es Ansätze, auch den Wald so zu verstehen. In der Romantik ging man in den Wald,
um wieder das Gegenteil zu erleben: Er ist kein Uhrwerk, sondern er ist lebendig, etwas
Gewachsenes, er hat den ganzheitlichen Charakter von Leben.
Heute sehen wir das elementare Problem, daß alles, was der Mensch anfaßt, sich sogleich
in „Industriegesellschaft“ verwandelt. Daher die Sorge, daß der Wald, der früher ein
Gegenpart war, in den man gehen konnte wie in eine Wüste, wie in etwas, das nicht wir
sind, zu dem wir aber doch gehören, das nicht. in unserer Macht steht, das vielmehr größer
ist als wir, daß dieser Wald verlorengehen könnte.
Hentig: Nach dem, was ich lese, nimmt uns das Ausland die Intensität übel, mit der
wir den Wald und unsere Seele in ihm wiederentdecken. Es heißt, die Heftigkeit der
Friedensbewegung wie der Aufschrei über das Waldsterben seien sehr deutsche und sehr
gefährliche Regungen.
Grass: Ich glaube, jene Befürchtungen haben auch damit zu tun, daß Umwelt- und
insbesondere Waldzerstörung an keiner ideologischen Grenze haltmachen. Die
westdeutsche Bevölkerung, betroffen durch das riesige Waldsterben, riskiert einen
Blick über die Grenze und nimmt den Thüringer Wald wahr, das Erzgebirge und andere
Regionen, die in der jüngeren Generation als Waldgebiete zum ersten Mal im Bewußtsein
auftauchen.
Durch den drohenden Verlust wird auf einmal wieder eine gesamtdeutsche Geographie
deutlich; ganz unprogrammiert, ganz jenseits der politischen Absicht beginnt ein Gespräch
über solche Zusammenhänge. Das verstärkt Befürchtungen im Ausland, weil hierdurch –
auch wenn das gar nicht beabsichtigt ist – Wiedervereinigungsängste wach werden.
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Becker: Wo der Wald bedroht ist, ist auch ein Stück Geistesgeschichte bedroht, aber
welche Art von Geistesgeschichte? Können wir ganz naiv versuchen sie zu retten, oder
müssen wir dieses Stück Geistesgeschichte revidieren, um uns ein zeitgenössisches
Bewußtsein von Wald zu verschaffen? Wald ist ja nicht einfach der Ort der Innerlichkeit:
Wer von uns geht schon in den Wald, um umzukehren oder Buße zu tun? Das sind doch
alles literarische Zitate, keine konkreten Bewußtseinserfahrungen, sondern vermittelte
Geschichte. Stiftet der Wald denn heute noch eine Legende, eine Sage, ein Märchen, eine
Melodie, einen Mythos? Er tut es nicht, wir erinnern uns nur daran. Eigentlich haben wir
nur ein geschichtliches Verhältnis zum Wald.
Wulffen: Nein, die hier angegriffene Metaphorik spielt eine große Rolle, die Metaphern
sind ein Teil unserer Sprache: Der Begriff das „Schweigen im Walde“ zieht sich durch die
ganze Lyrik, von Goethe über Claudius („Der Wald steht schwarz und schweiget“) bis in
die neueste deutsche Dichtung: „Die Wälder schweigen in Erwartung der Wüste, die auf
Reisen ging“ (Kunert). Hier bei Kunert sieht man eine sehr krasse und sehr moderne Form
der Umwelttrauer.
Grass: Das trifft auch auf die Malerei zu: Die jüngere Generation von Malern beschäftigt
sich im Angesicht des drohenden Verlustes sehr intensiv mit diesem Thema. Insofern
ist die Frage: „Bietet der Wald in dem jetzigen, bedrohten Zustand noch Anlaß für neue
Mythenbildung?“ nicht einfach mit Nein zu beantworten.
Dönhoff: Ich glaube, wir sind eine Stufe weiter, als Herr Becker meint. Es ist doch deutlich
geworden, daß nicht nur die Geschichte ein Prozeß ist, sondern auch die Kultur- und
Geistesgeschichte: So wie die Romantik die Reaktion auf die Aufklärung war, sehen wir
heute die stärkere Betonung des Geistigen an Stelle des rein Materiellen. Die Reaktion
auf das Sterben der Wälder ist deshalb eine ganz natürliche Haltung auf das positivistischmaterialistische Industriezeitalter.
Becker: Das Hörspiel „Wald – ein deutsches Requiem“ ist der erste und gerade im Bereich
der Medien deutliche literarische Versuch, auf jenes Phänomen zu reagieren mit Mitteln
der konkreten Poesie, mit Dokumentation, Zitat und der entsprechenden Musik. Es ist
der Entwurf einer Gegenwelt, alle Mitteilungsmöglichkeiten fließen da zusammen. Das
erscheint mir persönlich viel interessanter als die Erinnerung an Geistesgeschichte.
Grass: Es ist vielleicht verständlich, daß unmittelbar nach der Zeit des Nationalsozialismus
und ihren Folgen bestimmte Themen tabuisiert wurden, daß in einer Generation, in der
das Singen Zwang war, auch Volkslieder neben vielem anderen auf den Müll geschmissen
wurden. So daß Blut-und-Boden-Rausch von damals heute noch Hemmungen schaffen,
sich auf das Thema Wald einzulassen.
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Meyer-Abich: Was Herr Becker sagte, hat mich zunächst eher verblüfft, aber ich sehe,
daß die Gegenwart da eine Chance bietet, den braunen Mief endlich loszuwerden, der sich
sofort einstellt, wenn jemand vom deutschen Wald und von deutschen Eichen spricht.
Die Industrialisierung in Deutschland war von vornherein mit großen Problemen
verbunden: mit der Zerstörung von Landschaft und Heimat und gleichzeitig mit dem, was
man damals die soziale Frage nannte. Diejenigen, die sich in erster Linie der sozialen
Frage annahmen – und sie war damals das Wesentliche –, versöhnten sich mit der Tatsader
der Industrialisierung in der Hoffnung, daß der durch sie entstehende Wohlstand später
datiert allen zugute kommen werde. Von daher datiert die unheilige Allianz von Arbeit und
Kapital zu Listen der Umwelt, die wir bis heute haben.
Heute ist jedoch die Umweltzerstörung wichtiger als die soziale Frage. Ich sage nicht, daß
jene verschwunden ist, aber die Prioritäten haben sich eindeutig umgekehrt. Deshalb haben
diejenigen, die damals die Landschafts- und Heimatschützer in den Hintergrund gedrängt
haben, heute eine historische Verpflichtung, sich endlich dieser Themen anzunehmen.
Grass: Man glaubt immer noch, durch weitere Industrialisierung auf Kosten der
Umwelt die soziale Frage lösen zu können. Dabei könnte man durch einen verstärkten
Umweltschutz wahrscheinlich einen Teil der sozialen Frage lösen.
Sieferle: Wenn mir vor fünfzehn Jahren jemand gesagt hätte, die Wälder in Deutschland
sterben, hätte ich wie Brecht geantwortet: Was interessieren mich die Bäume? Soziale
Dinge sind einfach wichtiger. Warum hat sich das geändert? Es hängt, glaube ich, mit einer
allgemeinen Bewußtseinsveränderung zusammen, die Anfang der siebziger Jahre begonnen
hat. Während früher Wald wahrgenommen worden ist vor dem Hintergrund einer globalen
Einschätzung von dem, was Natur oder was Leben überhaupt ist, hat man in den letzten
zehn, fünfzehn Jahren zu der Vorstellung gefunden, daß die Welt eng geworden ist, daß die
Geschichte gewissermaßen zurückkrebst, daß man von einer Verlängerung der industriellen
Trends wenig Positives zu erwarten hat.
Das Wäldersterben könnte das Symbol dieser historischen Richtungsänderung sein, eine
Metapher dafür, daß die Geschichte des Fortschritts an Grenzen stößt; daß man das Gefühl
hat, der ästhetische Preis dafür sei zu hoch und die Güter, die man dafür bekommt, seien
nicht mehr so attraktiv, daß sie für den Verlust entschädigen können.
Hatzfeldt: Ja, der Wald wird zu einem Symbol für ein aus den Fugen geratenes
Industriesystem, das seine Grenzen überschritten hat. Es kommt aber noch eine andere
Dimension hinzu: die Ahnung daß dieselben Kräfte, die zur Zerstörung des Waldes
führen, auf der nächsten Stufe – mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung – noch größere
Katastrophen heraufbeschwören: CO2-Probleme, globale Klimaveränderungen. In der
Reaktion auf das Waldsterben steckt schließlich auch etwas von der Furcht, daß wir es
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nicht schaffen werden, diese nachfolgenden Umweltkatastrophen zu verhindern, wenn es
uns nicht einmal gelingt, mit dem Waldsterben fertig zu werden.
Ellenberg: Ich glaube, wir alle sind davon überzeugt, daß das Waldsterben für denkende
Menschen zum Symbol geworden ist, für die Erkenntnis, daß sich die zunehmende
Industrialisierung – auch die „Industrialisierung“ des persönlichen Lebens mit Hilfe des
Auto und allen möglichen Apparaten – viel schädlicher und viel umfassender auswirkt,
als man sich je hat vorstellen können. Man kann heute in den Städten nicht einfach sagen:
Wir sind es hier leid, wir fahren einfach ’raus in ein Waldgebiet. Man kann nicht mehr so
einfach ausweichen wie bisher: Gefährdung und Zerstörung sind allgegenwärtig. Es ist der
Erholungswald, der verlorengeht: Da eben liegt die seelische Bedeutung des Waldes.
Bosch: Die einzigen Kulturen, die ohne Wald lange gelebt haben, finden wir in Flußtälern,
weil dort die fruchtbare Erde von den Wäldern angeschwemmt wurde. Wenn man sieht,
wie kurz Rom als „Selbstversorger“ geblüht hat, wie bald es abhängig wurde von Ägypten ,
von Afrika , von Sizilien , weil es seine eigene Umgebung zerstört hatte, und wie kurz auch
die kleinasiatischen Kulturen geblüht haben, dann ist es doch sehr wahrscheinlich, daß die
vorangegangene Zerstörung der Wälder den Niedergang der geistigen Kultur mitbewirkt
hat.
Dönhoff: Die Industriegesellschaft, das darf man nicht übersehen, hat durch technischen,
sozialen und medizinischen Fortschritt Grundfaktoren geschaffen, die absolut
unversöhnlich sind mit dem Bild, das wir hier beschwören. Man muß sich doch die
Frage vorlegen, ob es angesichts der Erwartungen der Menschen in bezug auf ihren
Lebensstandard überhaupt möglich ist, auf eine soviel niedrigere Umdrehung des
wirtschaftlichen und industriellen Lebens herunterzuschalten, ohne daß dies zu sozialen
Revolutionen führt. Über Gesetze ist dies nicht zu erreichen; die Parlamengreifen, die nötig
wären, um unsere Welt wieder so werden zu lassen, wie wir sie an diesem Tisch schön
fanden.
Grass: Wir haben zwar gewählte Volksvertreter, die in der Lage wären, radikale Eingriffe
vorzunehmen – vielleicht sogar mit Hilfe eines Notstandsgesetzes –, aber da gibt es die
Lobby, die dies verhindert. Es müßte eine Art demokratische Revolution stattfinden: Die
Bannmeile um das Bundeshaus, die wir für Demonstranten haben, müßte für IndustrieLobbyisten aller Art, wozu natürlich auch die Gewerkschaften gehören, gelten und ihre
Verletzung unter Strafe gestellt werden.
Dönhoff: Es gibt zwei Möglichkeiten: Man verbietet den Einfluß der Lobbyisten – was aber
nicht möglich ist – oder man organisiert selbst eine Lobby, vielmehr eine pressure group.
Ich meine, daß die besorgten Freunde des Waldes als pressure group in sehr kurzer Zeit
schon sehr weit gediehen sind. Es scheint wirksamer zu sein, diese zu verstärken, als den
ganzen Lobbyismus beschneiden zu wollen.
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Becker: Unser Dilemma ist, daß wir alle beteiligt sind: Ich bin gegen diese Autobahnen
– und doch jeden Tag froh, daß ich mit meinem Auto über die Autobahn sehr schnell an
meinen Schreibtisch komme. Hier ist keiner, der asketisch oder zurückgezogen lebt und die
Alternative praktiziert. Wir sind alle Teilhaber dieses Komforts und dieser Möglichkeiten.
Wir durchschauen es vielleicht nur ein wenig mehr – aber vielleicht ist das nur eine Art
intellektueller Schizophrenie.
Hatzfeldt: Ich meine auch, daß ein fairer, gleichgewichtiger Austausch von Lobby und
„Gegen-Lobby“ bei der Entscheidungsfindung heute nicht besteht. Hier kann man nicht
kurzfristig radikale Veränderungen erreichen, aber man müßte darüber nachdenken.
Ellenberg: Als ich 1966 erstmals die ethische Begründung für den Naturschutz
in einer Vorlesung brachte, wurde ich von den Studenten ausgelacht – bei meiner
Abschiedsvorlesung im gleichen Hörsaal habe ich dafür besonderen Applaus bekommen.
Gerade bei der Jugend hat es inzwischen eine Entwicklung hin zu tieferem Verständnis für
diese ethische Haltung gegeben. Das kann man verstärken.
Schütze: Das emotionale Potential ist weitgehend mobilisiert und äußert sich in
Baumschutzaktionen – „Startbahn West“ –, die einen gewissen symbolischen Charakter
haben. Das Problem liegt aber darin, daß sich zwar gegen das Umsägen einzelner Bäume
als erkennbare Frevelhandlung eine spontane Aktion bildet, die schleichende Vergiftung
durch Industrieabgase aber ist viel weniger anschaulich. Ich bin sehr skeptisch, wenn man
meint, man könne die Lobby über publizistische Mittel und Emotionen beeindrucken.
Meyer-Abich: Ich meine, wir können vielleicht sogar damit überzeugen, daß wir einen
gewissen Primat der Ethik vor der Ökonomie feststellen. Denn warum engagieren sich
Menschen für die Bäume oder für die Frösche im Moor? Doch nicht aus Eigennutz, aus
ökonomischen Motiven, sondern weil sie meinen, es nicht verantworten zu können, daß
zum Beispiel den Fröschen ihr Lebensraum genommen wird, daß ein weiteres Moor
trockengelegt wird. Dieses Argument der Verantwortlichkeit des Menschen für die Natur
ist viel stärker, als wir alle glauben.
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ZEIT ONLINE
ADRESSE: http://www.zeit.de/1984/39/der-baum
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Hessisches Landestheater Marburg, 2014
Materialsammlung zur Produktion »Ein Sommernachstraum«
Zusammengestellt von Alexander Leiffheidt und Katharina Plum
Die in dieser Sammlung zitierten Texte dienen ausschließlich
der künstlerischen und wissenschaftlichen/didaktischen
Vorbereitung und Begleitung der Produktion nach §51 UrhG.