Serbien Montenegro

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Serbien Montenegro
Serbien Montenegro
Ost- und Südosteuropa, Geschichte der Länder und Völker. Von
den Anfängen bis zur Gegenwart.
Autor: Katrin Boeckh
Erschienen: 03.2009 im Verlag Pustet Friedrich KG Regensburg
ISBN: 3-7917-2169-0
Seitenzahl: 256
Sprache(n): Deutsch
Kurzbeschreibung: Serbien, bis zur friedlichen Trennung 2006 lange Jahre
politisch verbunden mit Montenegro, nimmt auf dem Balkan eine führende
Rolle ein. Während der Jugoslawien-Kriege geriet es bis zum Sturz von
Milošević im Jahr 2000 ins politische Abseits. Durch die Abspaltung des
Kosovo 2008 schien sich ein erneutes Konfliktfeld aufzubauen. Dass sich nun
politisch die pro-europäische Orientierung durchzusetzen scheint, verleiht
dem historischen Rückblick eine besondere Bedeutung.
Der Band stellt Gemeinsamkeiten und Unterschiede der serbischen und
montenegrinischen historischen Entwicklung vom Mittelalter bis in die
unmittelbare Gegenwart heraus, wobei ein Schwerpunkt auf den
dramatischen Ereignissen im 20. Jahrhundert liegt.
Inhalt:
Einleitung
DIE SERBISCHEN HERRSCHAFTSGEBIETE IM MITTELALTER
Die Zeta
Die Etablierung der Raška
Der Höhepunkt der serbischen Machtentfaltung
Die serbische Sonderstellung auf dem Balkan:
zwischen Ost und West
Architektur und Malerei
Mittelalterliches Bergbauwesen auf dem Balkan
Rechtswesen
Das Ende des serbischen Mittelalters auf dem Amselfeld:
Schlacht und Mythos
DIE SERBEN UNTER OSMANISCHER HERRSCHAFT
Von der osmanischen Eroberung Südosteuropas
bis zu den „Türkenkriegen“
Territorial- und innerer Machtaufbau der osmanischen Herrschaft
Die Serben unter osmanischer Herrschaft
Ethnische Verschiebungen durch Migrationen und die serbische
Nordwanderung
Die Montenegriner unter osmanischer Herrschaft
DIE POLITISCHE FORMIERUNG DER MONTENEGRINISCHEN STÄMME
AB DEM 16. JAHRHUNDERT
DIE „NATIONALE WIEDERGEBURT“ DER SERBEN 1804-1878
Das Pašaluk Belgrad bis 1804
Der Erste Serbische Aufstand (1804-1813)
Der Zweite Serbische Aufstand 1815
Die serbische Autonomie unter Miloš Obrenović (1816-1839)
Die Kodifizierung der serbischen Schriftsprache
Der Landesausbau unter Milošs Nachfolgern
SERBIEN UND MONTENEGRO ZWISCHEN BERLINER KONGRESS 1878
UND ERSTEM WELTKRIEG
1
Der Berliner Kongress und die Anerkennung der Souveränität Serbiens
Die Orientierung an Wien bis zum Ende der Ära der Obrenovići 1903
Die serbische Annäherung an Sankt Petersburg
Montenegro nach dem Berliner Kongress
Serbien und Montenegro in den Balkankriegen 1912-1913
Montenegro nach den Balkankriegen
DER ERSTE WELTKRIEG
Das Attentat von Sarajevo
Die Besetzung Serbiens durch Österreich-Ungarn
SERBIEN UND MONTENEGRO IM JUGOSLAWISCHEN KÖNIGREICH
1918-1941
Die Proklamation des „Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen“
Grenzziehungen und Territorium
Die jugoslawische Bevölkerung
Die serbischen Parteien
De parlamentarischen Jahre 1921-1928
Agrarverfassung und schwache Industriealisierung
Die Königsdiktatur 1929-1941
Die „Liberalisierung“ der Königsdiktatur unter Petar II.
DER ZWEITE WELTKRIEG
Das Ende der ersten Jugoslawien
Die Zerschlagung Jugoslawiens
Serbien unter deutscher Besatzung
Die Verfolgung von Serben in der NDH
Jasenovac
Die Ermordung der Juden in Serbien
Der Widerstand gegen die Besatzung
Die Četnici
Die Tito-Partisanen
Die Diskussion über die Opfer des Zweiten Weltkriegs
JUGOSLAWIEN AB 1945 UNTER TITO
Kommunistische Machtübernahme und Abrechnung mit den Gegnern
Die Machtkonsolidierung Titos
Der Bruch mit der Sowjetunion 1948
Titoismus
Liberalisierung und nationale Bewegungen vs. Staatliche Repression
JUGOSLAWIEN ZWISCHEN TITO UND MILOŠEVIĆ
Serbischer Nationalismus
SLOBODAN MILOŠEVIĆ UND DER ZERFALL JUGOSLAWIENS 1990-2000
Der Aufstieg Miloševićs
Innenpolitik des Milošević -Regmes
Krieg als Herrschaftsinstrument (1991-1999)
10 Tage Krieg gegen Slowenien 1991
Der Krieg in Kroatien ab 1991
Der Bosnien-Krieg 1992-1995
Der Kosovo-Krieg 1998/99
Serbische Zivilgesellschaft in Opposition
Der Sturz Miloševićs und die politische Wende im Oktober 2000
DIE BUNDESREPUBLIK JUGOSLAWIEN NACH MILOŠEVIĆ
Koštunica versus Đinđić
DIE TRENNUNG MONTENEGROS VON SERBIEN
Die montenegrinische Nation
Via „Serbien und Montenegro“ (2003-2006) in die Unabhängigkeit
SERBIEN 2006-2008
Der Kosovo-Konflikt 2007-2008
2
Serbien nach dem Kosovo: die Parlamentswahlen 2008
Der Umgang mit serbischen Kriegsverbrechen
MONTENEGRO NACH DER UNABHÄNGIGKEITSERKLÄRUNG 2006-2008
ANHANG
Zeittafel
Literaturauswahl
Register
Bildnachweis
Themen- und Buchbesprechung
Serbien und Montenegro sind nicht nur in den letzten 20 Jahren, sondern auch in der
gesamten historischen Vergangenheit immer wieder mit negativen Schlagzeilen aufgefallen.
Kriege, Morde, Korruption, Schmuggel und sonstige kriminelle Machenschaften sind leider
schon fast zu Synonymen für Serbien und Montenegro geworden, wobei es Letzterem mit seiner
betont pro-europäischen Ausrichtung gelungen zu sein scheint, seinen Ruf in der Öffentlichkeit
ziemlich gut zurecht zu rücken.
Die seit Längerem erwartete Erstellung einer Geschichte Serbiens und Montenegros ist
ein heikles Unterfangen. Diese überaus schwierige Geschichte ist dermassen mit Mythen
beladen und von Emotionen durchblutet, dass es nur einen möglichen Weg gibt, eine
einigermassen glaubwürdige, sprich objektive Historiographie zu bauen: denjenigen einer
nüchternen, ideologiefreien Darstellung, die auf nackten Fakten beruht und mit moderatem
Kommentar versehen ist. Von einer Geschichte Serbiens wird auch erwartet, dass sie die
Probleme der Gegenwart zu erklären vermag, denn nichts ist wichtiger als ein verlässliches
Hilfsmittel zur Verfügung zu haben, das die aktuelle Lage verständlich machen kann.
Zur Geschichte Serbiens und Montenegros liegt in deutscher Sprache kaum eine grosse
Auswahl moderner Übersichtsdarstellungen vor.1 Das Verdienst des Pustet-Verlags ist, diese
Lücke zu schliessen. Endlich liegt in der Reihe Ost- und Südosteuropa / Geschichte der Länder
und Völker auch ein Band über Serbien und Montenegro vor. Verfasst wurde er von Katrin
Boeckh, die mit einer Dissertation zu Südosteuropa und einer Habilitation über die Ukraine
osteuropakundliche Kompetenz bewiesen hat und nun den Versuch unternimmt, im Rahmen
einer allgemein verständlichen Einführung diese komplexe Materie zu bewältigen.
Von primärem Interesse ist neben der Definition von Konstanten und Metamorphosen
serbischer Geschichte vor allem ihre (Neu-)Bewertung. Serbische Geschichte, dem
gewöhnlichen Zeitgenossen wohl nicht weiter als bis zum Attentat von Sarajevo des Jahres
1914 fragmentarisch im Bewusstsein geblieben, gehört zu den weniger bekannten Episoden
eines Kontinents, in dem die Völker nie zur Ruhe kamen. Länder wie Serbien, die sich auch in
den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts noch Kriege mit genozidalem Charakter leisteten, gehören
zu denjenigen Nationen, die offene Rechnungen mit ihren Nachbarn zu begleichen haben,
obwohl diese Unsitte in Europa als überwunden gilt.
1
Die Bücher Wolfgang Libals, Die Serben. Blüte, Wahn und Katastrophe (Europaverlag 1996) und Malte
Olschewskis, Der serbische Mythos. Die verspätete Nation (Herbig 1998) werden in Boeckhs
Literaturverzeichnis nicht erwähnt. Neben Werken in englischer Sprache sind ergänzend zu dieser
Bibliographie auch die Histoire du peuple serbe von Bataković (2000) und die Geschichte Serbiens von
Sundhaussen (2007) zu erwähnen.
3
Serbiens Geschichte und Staatsphilosophie scheint weitgehend auf einer historisch und
wissenschaftlich fragwürdigen Mythologie und auf dem psychodramatischen Opfermythos zu
beruhen, aber auch auf dem dynastischen und nationalistischen Denken, auf der Xenophobie,
die die Ausgrenzung von Minderheiten und die Dämonisierung innerer und äusserer Feinde
praktiziert, sowie auf dem paranoiden Selbstverständnis der Einzigartigkeit und Superiorität der
eigenen Nationalkultur bei gleichzeitigem Vorherrschen eines Minderwertigkeitskomplexes und
des Gefühls als ‚kleine grosse’ Regionalmacht nicht ernst genommen oder vernachlässigt zu
werden.
Blicken wir zunächst in die entferntere Vergangenheit, mit welcher das Buch Katrin
Boeckhs beginnt. Wie im Falle anderer slawischer Stämme (Bulgaren, Mährer, Polen, Kroaten,
Russen u.a.) begann auch Serbiens Geschichte im Mittelalter mit Glanz und Gloria, um in der
Neuzeit umso tragischer zu enden. Nach Abschluss der Einwanderung slawischer Stämme
(„Serben“ und „Kroaten“) im 7. Jahrhundert auf die südosteuropäische Halbinsel begannen im
9. Jahrhundert serbische Fürsten in Auseinandersetzung zwischen Byzanz und Bulgarien eigene
Herrschaftsbereiche zu begründen. Als Keimzelle Serbiens wird die Gegend von Raška
betrachtet. Dieses „Altserbien“ umfasste die Gebiete zwischen dem heutigen Niš im Osten,
Novipazar, Bosnien-Herzegowina bis Makarska und Kotor an der Adria und Prizren und Ulcinj
an der albanischen Grenze, mit eingeschlossen Kosovo und Metohija. Auch die Zeta auf
montenegrinischem Gebiet zählte zu diesem Reichsverband.2 Somit sind die genuin serbischen
Territorialansprüche markiert und die Grenzen abgesteckt worden, auf die man in Belgrad bis
heute nicht verzichten mag. Mit Stefan Nemanja (+1199), der ersten herausragenden Figur des
serbischen Staates, wurde die serbische Nemanjiden-Dynastie begründet und die Ausdehnung
des Serbenreichs eingeleitet. Erfolgreiche serbische Machtpolitik wurde unter seinen Söhnen
Stefan und Sava betrieben, und unter Stefan Nemanjičs Sohn, Stefan Uroš I., kamen bosnische
Gebiete, unter Stefan Uroš II. Nord-Makedonien hinzu, so ist der serbische Anspruch auf
Skop(l)je zu verstehen. Im 13. Jahrhundert dehnten die Serben ihre Herrschaft auch auf
nördlichere Gebiete aus. Den Höhepunkt seiner Expansion erlebte Serbien unter Stefan IV.
Dušan im 14. Jahrhundert. Ragusa (Dubrovnik) konnte allerdings von den Serben nie erobert
werden. Dafür weitete man das serbische Territorium auf die bulgarische Stadt Ohrid, auf den
Epirus und bis nach Mittelgriechenland aus. Das Ende der serbischen Selbständigkeit, die auf
kulturellem Gebiet bedeutende, heute unter internationalem Denkmalschutz stehende
Kunstdenkmäler (Architektur, Malerei) hervorgebracht hatte und sich mit dem Bergbauwesen
eine solide wirtschaftliche Basis schuf, wurde mit der legendären Schlacht auf dem Amselfeld
am Veitstag des Jahres 1389 besiegelt. Obwohl der Ausgang der Schlacht als unentschieden
galt, übernahmen die Osmanen die Kontrolle über Serbien – bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.
Im 18. Jahrhundert bestand ein Paschaluk Belgrad, das mit der Save-Donau-Nordgrenze
das Gebiet um die Städte Požarevac, Šabac, Sokol, Valjevo, Užice, Požega, Kragujevac, Čuprija
umfasste. Während die berühmten Heldenepen dem serbischen Volk dabei halfen, die
erdrückende Fremdherrschaft zu überstehen, drangen in der Osmanenzeit viele türkische Wörter
in die serbisch-slawische Sprache ein. Im Unterschied zu ihren bosnischen und albanischen
Nachbarn blieben die Serben vom Übertritt zum Islam aber verschont. Als wichtige
Erscheinung dieser Zeit sind die ethnischen Verschiebungen durch Migrationen und die
serbische Nordwanderung (bis Ungarn hinein) anzusehen, die andererseits im Süden die
Bedingung für die umstrittene albanische Einwanderung auf das Gebiet des Kosovo auslösten.
Von diesen Entwicklungen ist parallel die Herausbildung eines montenegrinischen Sonderwegs
zu unterscheiden, der mit den Familienclans des herausragenden Petar I. Petrović Njegoš und
eigenen Bischöfen zum Höhepunkt gelangte. Obwohl Montenegro weiterhin de jure zum
Osmanischen Reich gehörte, gelang es seinen autonomistischen Nachfolgern, dass ihr
Herschaftsbereich vom Ausland als de facto selbständig behandelt wurde. Auf diesem
Unabhhängigkeitsdenken basiert das montenegrinische Selbstbewusstsein bis heute. Fragen zu
2
Karte s. http://vladari.files.wordpress.com/2009/02/raska1.jpg
4
den Eigenheiten der Montenegriner und ihre Verhältnis zu Belgrad werden in einem separaten
Kapitel erörtert.
Bei den Berührungen mit den Nachbarn fällt auf, dass es bis 1848 kaum Kontakte mit
den Kroaten gab, sondern erst als diese unter General Jelačić selbst für die Durchsetzung
eigener Rechte zu kämpfen begannen. Und als mit Vuk Stefanović Karadžić die serbische
Schriftsprache reformiert wurde, sollte der Philologe aus Montenegro auch einen Beitrag zum
Projekt der Normierung des Serbokroatischen geleistet haben, dem sich auch kroatische
Linguisten anschlossen, um auf der Grundlage der štokavischen Variante eine gemeinsame
Schriftsprache zu schaffen. In Bezug auf die (wohl absurde) Abgrenzung zwischen dem
Kroatischen, Serbischen, Bosnischen und Montenegrinischen3 – früher als Serbokroatisch oder
Kroatoserbisch zusammengefasst – entstand unter Linguisten, Philologen, Literaten, Historikern
und Politikern eine heftige Kontroverse.
Mit den serbischen Aufständen 1804-13 und 1815 leitete Serbien seine nationale
Wiedergeburt und eine erneute Expansion gen Süden ein. 1878 erhielten Serbien und
Montenegro auf dem Berliner Kongress die völkerrechtliche Souveränität. Gleichzeitig wurde
den Serben das Gebiet um Niš abgetreten. Bosnien und die Herzegowina sowie der Sandschak
von Novi Pazar wurden unter die Verwaltung Österreich-Ungarns gestellt (Annexion 1908).
Diese Gebiete blieben serbische Irredenta. Serbien beanspruchte aber gerade auch diese Gebiete
und hatte erneut die Adriaküste und Nordgriechenland im Visier. Entsprechende Karten auf den
Seiten 17, 60 und 83 illustrieren diese Expansionen und Grenzverschiebungen. So wurde
Serbien, das unter Garašanin grosserbische Pläne favorisierte, als regionale Herrschaftsstruktur
immer stärker ins internationale Spannungsfeld hineingezogen, zwischen Selbstbehauptung und
Zerreibung. 1882 wurde das Königreich Serbien ausgerufen. Die Skupština läutete den Beginn
des Parlamentarismus in Serbien ein. Pašić wurde zu einem der populärsten Politiker, während
die Rivalität zwischen den Karađorđevići und den Obrenovići die serbische Innenpolitik prägte.
Im Juni 1903 wurde das Königspaar sowie der Ministerpräsident ermordet. Die Bluttat beendete
die Herrschaft der Obrenovići und brachte die Dynastie der Karađorđevići endgültig auf den
Thron. Mit den Balkankriegen 1912-13 wurde das Verhältnis zwischen den Balkanstaaten
komplizierter. Serbien konnte sein Territorium auf Nord-Makedonien ausdehnen, das annektiert
wurde, während ihm hingegen der Zugang zur Adria verschlossen blieb. Zu diesem Zweck
wurde 1912 auch das unabhängige Albanien gegründet. Trotz dieser nicht ganz befriedigenden
Lage fühlte sich Serbien erstarkt, die einst türkischen Gebiete zu serbisieren und die
jugoslawische Föderationsidee zu propagieren, die auch den Gefallen vor allem der Kroaten
fand. Gleichzeitig verübten serbische und makedonische Freischärler ihr Unwesen, die dafür
sorgten, dass auf dem Balkan die Wunden zwischen den serbischen, makedonischen,
bulgarischen, albanischen, muslimischen u.a. Erzfeinden nie richtig verheilten. Das tiefe
Misstrauen zwischen diesen auf einem traditionellen Geschichts- und Gesellschaftsbild
beharrenden Völkern hat bis heute an Lebendigkeit nichts eingebüsst. Die von den
Balkankriegen verursachte Opferzahl war enorm. Allein Montenegro, wo König Nikola 1913
die Unabhängigkeit ausrief, hatte über zehn Tausend Tote zu verzeichnen. Auch innenpolitisch
blieben die Probleme weitgehend ungelöst. Noch ehe die Unierungsversuche zwischen Serbien
und Montenegro, die von Russland unterstützt, aber von Österreich-Ungarn mit Skepsis
betrachtet wurden, eine Chance erhielten, wurde am 28. Juni 1914 mit dem Attentat des
bosnischen Serben Gavrilo Princip auf das ö.-u. Thronfolgerpaar die Lage auf dem Balkan, und
in Europa, schlagartig verändert. Gemäss einer Behauptung soll eine Geheimorganisation
serbischer Offiziere den Auftrag zu dem Attentat gegeben haben. Eine jüngere Untersuchung
ergab, dass die serbische Regierung selbst nicht direkt als Drahtzieher des Attentats in Frage
kam, dass jedoch serbische Behörden und Militärangehörige bei der Beschaffung von Waffen
aus einem serbischen Arsenal beteiligt waren. Im Ersten Weltkrieg wurde das Gebiet Serbiens
und Montenegros von k.u.k.-Einheiten, von der deutschen Armee und von den Bulgaren besetzt.
3
s. http://de.wikipedia.org/wiki/Montenegrinische_Sprache
5
In der Folge wurde 1917 auf Korfu die Errichtung des Königreichs der Serben, Kroaten und
Slowenen beschlossen.
Die restliche Entwicklung ist bekannt: Ausrufung des Königreich der Serben, Kroaten
und Slowenen, nach dem Staatsstreich ab 1929 Königreich Jugoslawien genannt. Je ein Kapitel
ist der komplizierten Grenzziehung und der serbischen Politik unter der Dynastie Karađorđević
gewidmet. Interessant ist die Karte auf S. 114, die die Verwaltungsaufteilung des Königreichs
mit ihren Banschaften darstellt. Damals gab es noch keine ethnischen Republiken, sondern
Einheiten, die nach geographischen Kriterien den Namen Drau-Banschaft (identisch mit
Slowenien), Sawe-Banschaft (Kroatien), Donau- und Morava Banschaf (Serbien), Vrbas- und
Drina-Banschaft (Bosnien), Küsten-Banschaft (Dalmatien), Zeta-Banschaft (Herzegowina und
Montenegro) sowie Vardar-Banschaft (Makedonien) trugen.
Im Zweiten Weltkrieg geriet Serbien unter nationalsozialistische Verwaltung mit einer
umstrittenen Opferzahl zwischen 1 und 2 Millionen Toten und der Vernichtung der Juden. In
Jasenovac kamen viele Serben zu Tode. Usw. Es handelt sich um schreckliche Kapitel der
Geschichte mit unvorstellbaren Massakern auf allen Seiten, die man in keinem Geschichtsbuch
einfach als unter ferner liefen stehen lassen kann.
Dann folgte Josip Broz alias Tito, vom Westen grosszügig unterstützt, und die
Sozialistische Republik Jugoslawien (SFRJ). Auch der südslawische Marschall, Sohn eines
Kroaten und einer Slowenin, setzte wie der Georgier Dschugaschwili seine Ziele zunächst mit
repressiven Methoden nach bolschewistischem Muster durch, bevor er sich 1948 mit dem
Sowjetführer, der die Idee der Balkanföderation mit Bulgarien und Albanien nicht ertrug,
überwarf.
In ihrer Würdigung des Titoismus benennt Boeckh sämtliche Faktoren, die später zum
Mythos wurden: Partisanen, Selbstverwaltungssozialismus, Blockneutraliät, Volksarmee (die
viertgrösste Europas), u.a.m. Dank Tito erlebte Jugoslawien eine beispiellose Liberalisierung,
die im Rahmen des Kommunismus vorstellbar war und von der die Staaten des Ostblocks nur
träumen konnten und deswegen ihre Nachbarn an der Adria beneideten. In Montenegro wurde
1946 die Hauptstadt von Cetinje nach Podgorica verlegt, das sogar in Titograd umbenannt
wurde; bald wurde auch die Satellitenstadt Novi-Beograd aus dem Boden gestampft, nachdem
Belgrad im Krieg schwere Schäden erlitten hatte. Da Tito aber nicht nur ein guter Mensch war,
liess er in seinem Reich sämtliche „Stalinisten“ und Abweichler verfolgen und ins Gefängnis
werfen, meist in jenes auf der Adriainsel Goli (Otok) gelegenen, das ebenfalls wie so manches
andere auch im Titostaat zur schrecklichen Erinnerung wurde. Diese damals streng geheime und
tabuisierte und heute verlassene Lageranlage auf der „nackten Insel“ ist heute am Verfallen.
Nicht allzu weit von Goli Otok entfernt, vor Istrien, befand sich Titos Glamour-Residenzinsel
Brioni. Tito wurde zum Dogmatiker. Trotz seiner Mitverantwortung an Kriegsgreueln und trotz
der leidenschaftlich praktizierten kommunistischen Repressionen am Anfang nimmt Tito aus
der Sicht der westlichen Historiographie einen ruhmvollen Platz in der Geschichte ein. Dennoch
war auch unter Tito und einer Clique von ehrgeizigen Partei-’Freunden’, bestehend aus Milovan
Đilas, Edvard Kardelj, Aleksandar Ranković, Vladimir Bakarić, Stepan Vukmanović, die nicht
davor zurückschreckten, Tito zu kritisieren, von einer Demokratisierung nichts zu spüren. Die
Macht blieb in den Händen der kommunistischen Partei. Zunehmende ethnische/kulturelle
Antagonismen und ökonomische Ungleichgewichte zwischen den Republiken Slowenien und
Kroatien, Serbien, Bosnien-Herzegowina sowie Montenegro und Makedonien zeichneten sich
bald ab. Die Zeit der Wirren nach Titos Tod im Jahr 1980, der trotz allem ein klassischer
Diktator des vorherrschenden totalitären Zeitgeistes à la Kommunismus, Faschismus und
Nationalsozialismus geblieben war, dürfte am Ende aktiv zum Zerfall des jugoslawischen
Staates beigetragen haben. Das kollektive Staatspräsidium konnte die innenpolitischen Krisen
nicht mehr meistern. Wer in den 1980ern Jugoslawien bereiste, wurde Zeuge der offenen
Anarchie im Land, die in dieser Form in der Tschechoslowakei, in Rumänien oder Bulgarien
nicht möglich gewesen wäre. Nach dem Untergang Jugoslawiens wurde die Existenz zahlreicher
Massengräber bekant, vor allem in Slowenien.
6
In Titos Jugoslawien, dessen Staatssystem pedantisch streng auf Parität ausgerichtet war
und in dem Nationalitätenkonflikte unterdrückt wurden, mussten sich auch die Serben an die
Regeln halten. Dieser Auflage schienen sie sich nur zähneknirschend zu unterwerfen, denn sie
konnte ihnen nicht gefallen. So machten sie in einem Memorandum, das von Mitgliedern der
Serbischen Akademie der Wissenschaften und Kunst (SANU) verfasst wurde, auf ihre
vermeintlich verzweifelte Lage im Land aufmerksam. Dieses Memorandum, das zwischen 1987
und 1992 in zahlreichen Variationen ständig wiederholt wurde, beklagte gebetsmühlenartig die
angebliche Diskriminierung der Serben und Serbiens und beschwerte sich gegen einen ebenso
scheinbaren antiserbischen Chauvinismus, ja sogar gegen eine Serbophobie in Jugoslawien,
deren Ziel es gewesen sein soll, einen Genozid an der serbischen Bevölkerung vorzubereiten,
weil das Serbische und die kyrillische Schrift unterdrückt würden, usw. In der Folge wurde ein
nationales Programm für Serbien und die Serben gefordert.
Diese Gemütserregung von intellektueller Seite passte in das ideologisch-politische
Konzept einer Gestalt, die in den 80er Jahren mit Namen Slobodan Milošević zunehmend
stärker auf die Bühne trat und die nächsten Jahre prägen sollten. Seine berühmt-berüchtigte am
28. Juni 1989 gehaltene Ansprache anlässlich des 600. Jahrestags der Schlacht auf dem
Amselfeld wurde als serbische Offenbarung verwertet. Miloševićs nationalen Gegenspieler
Franjo Tuđman in Kroatien und Alija Izetbegović in Bosnien trieben auf ihre Weise die
zentrifugalen Kräfte im Hexenkessel der Balkannationalitäten an und sorgten für eine Politik,
die teilweise gleiche nationalistische und kriegerische Mittel wie die Serben anwendete. Leider
wollte man Bosnien-Herzegowina, eine einmalige und funktionierende multikulturelle
Kulturlandschaft Europas zerstören – leider ist dies weitgehend gelungen.
Mit Milošević, wohl einem der zynischsten Politiker der jüngeren Vergangenheit (sein
Psychogramm erschien vor Jahren in einer deutschsprachigen Zeitung), an der Spitze Serbiens
wurde die Autokratie in ihrer nationalistischen Verblendung im Grunde fortgeführt. Milošević
sollte den Phönix aus der Asche heben und die historische Mission der Serben vollenden.4 Sein
neuer teuflischer (Boeckh vermeidet solche Ausdrücke) grosserbischer Plan sollte nicht ohne
ethnische Säuberung verwirklicht werden. Ex-Jugoslawien sollte zwischen Serben und Kroaten
aufgeteilt und die Muslime, Albaner, Zigeuner, Türken und anderen Minderheiten verdrängt –
oder vernichtet werden. (Beweise dafür konnten offenbar nie wirklich präsentiert werden).
Bei der Verdammung Miloševićs übt Boeckh Zurückhaltung, denn ihr Buch versteht
sich als ein (populär-)wissenschaftliches Werk und ist kein publizistisches Pamphlet. Gründe
dafür wieso Milošević den Krieg anzettelte, versucht sie auf S. 194-95 etwas krampfhaft mit der
Notwendigkeit zu erhellen, dass man die Bevölkerung von den drückenden inneren Problemen
ablenken und gleichzeitig die Wirtschaft ankurbeln wollte und musste, denn die Kriege hielten
eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Personen in Lohn und Brot. Weil Milošević den Krieg als
Herrschaftsinstrument benutzte, sei ihm und seiner Politik ein wesentlicher Anteil an den
Kriegen in und um Jugoslawien zugekommen. Der von Milošević angestrebte Erhalt
Jugoslawiens wurde aber zu Illusion, nachdem die Slowenen und Kroaten 1990 auf staatliche
Unabhängigkeit pochten und als der jugoslawische Reformkurs (der keiner war) gescheitert war.
Nachdem Milošević als Verhandlungspartner anfänglich noch genehm war, wurde er spätestens
im Bosnienkrieg als brutaler Machtpolitiker entlarvt. Nach dem Friedensabschluss von Dayton,
(der die ethnische Säuberung im Grunde legitimierte), hatte aber auch Milošević den Rückhalt
in den eigenen Reihen verloren und wurde am Ende von seinen Kritikern sogar als Verräter der
serbischen Interessen beschimpft – und schliesslich fallengelassen. Als die Serben aber nach
diesen verlorenen Kriegen auch noch im Kosovo mit ethnischen Vertreibungen zu wüten
begannen, verlor die internationale Staatengemeinschaft die Geduld und reagierte im März
1999, ohne das Einverständnis Russlands und Chinas zu haben, mit der Bombardierung ziviler
4
Biographische Daten und eine Literaturauswahl s. unter
http://de.wikipedia.org/wiki/Slobodan_Milošević
7
und militärischer Ziele in ganz Serbien. Beim Sturz Miloševićs im Jahr 2000 wirkte Russland
hinter den Kulissen doch noch als Antreiber dieses Ereignisses.
Zur Sprache kommt bei Boeckh auch die Rolle von „Dissidenten“ als Alternative zu
Milošević wie Vojislav Šešelj, Vuk Drašković, Radovan Karadžić und Vojislav Koštunica, die
den Diktator allenfalls hätten verhindern können. Aber auch diese vom Westen ebenfalls
ungeliebten Figuren erschienen als nichts anderes als (mehr oder weniger radikale)
Nationalisten, die an einer Demokratisierung des Landes offenbar nicht interessiert waren. Als
weiterer wichtiger Akteur stellt Boeckh die zivilgesellschaftliche Opposition in Serbien vor, die
quantitativ auf etwa 500 Personen in unterschiedlichen Gruppierungen geschätzt wird und vom
Milošević-Regime unzimperlich bekämpft wurde, nachdem sie die Einhaltung der
Menschenrechte und die Demokratisierung der Gesellschaft forderten und gegen die
Bombardierung Dubrovniks durch serbische Einheiten protestierten. Der Beitrag dieser
Opposition (DOS, Otpor usw.) und der Einfluss der unabhängigen Medien zum Sturz
Miloševićs ist nicht zu unterschätzen, die Haltung dieser Kräfte gegenüber dem serbischen
Nationalismus wird von Boeckh jedoch nicht näher untersucht.
So wurden die Ereignisse vom Oktober 2000, als der Autokrat fiel, in Serbien selbst als
„demokratische Revolution“ bezeichnet. Wie weit es bei vielen Akteuren dieser ‚Revolution’
neben Jugendlichen und StudentInnen um Wendehälse handelte, bleibt noch darzustellen. Damit
war das Schicksal Serbiens aber noch nicht besiegelt. Als eine Art Retter der Nation beerbte der
„gemässigte Nationalist“ Vojislav Koštunica Milošević und weigerte sich prompt, ihn an den
Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag
auszuliefern. Ivan Stambolić, der Milošević gefördert hatte, wurde ermordet, drei Jahre später
auch der ‚Hoffnungsträger’ Zoran Đinđić von der Demokratischen Partei. Als der Druck auf
Serbien wegen einer Milliarden-Aufbauhilfe ins Unerträgliche anstieg und innenpolitisch die
Voraussetzungen dafür günstig waren, konnte der Ex-Präsident im April 2001 endlich an das
Haager Tribunal überstellt werden, von dem er im Mai 1999 unter anderem wegen Verbrechen
gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Völkermord
angeklagt wurde. Im März 2006 (und nicht im Februar 2003 wie auf S. 210 notiert) starb er
völlig unerwartet angeblich an einem Herzinfarkt, bevor der Prozess zu Ende geführt werden
konnte. Während Šešelj sich freiwillig ins Gefängnis von Den Haag begab, um auf groteske
Weise für die serbische Sache weiterzukämpfen, konnte Karadžić, der lange wohl vom
Geheimdienst gedeckt wurde und unbehelligt als verkleideter Arzt und unter falscher Identität in
Belgrad leben durfte, im Juli 2008 unter grossem Staunen der Weltöffentlichkeit gefasst und
ebenfalls nach Den Haag geschickt werden. Die (bosnischen) Die Auslieferung zahlreicher
mutmasslicher serbischer Kriegsverbrecher ans Haager Tribunal empfanden die (bosnischen)
Serben als schmachvolle Demütigung. Einige von ihnen, die verurteilt wurden, erhielten
teilweise jahrzehntelange Haftstrafen. Lange Zeit wurde von serbischer Seite die
Zusammenarbeit mit Del Ponte (die im Buch explizit nicht erwähnt ist) verweigert.
Die Politiker in Montenegro zogen aus der serbischen Misere ihre Konsequenzen und
betrieben ihre eigene Strategie. Unter Milo Ðukanović, einem dynamisch erscheinenden, proeuropäischen Unternehmertyp, Anführer der bei Parlamentswahlen siegreichen Demokratischen
Partei, der als Zögling Miloševićs politisch avancierte, distanzierte sich Podgorica von Belgrad
und steuerte konsequent in Richtung staatliche Unabhängigkeit. Obwohl die EU zunächst die
Sezession Montenegros von Serbien zu verhindern suchte, wurde die Unabhängigkeitserklärung
der Republik Montenegro vom 3. Juni 2006 akzeptiert. Noch im gleichen Monat, und zwar
genau am symbolträchtigen Veitstag, wurde Montenegro als 192. Mitglied in die Vereinten
Nationen aufgenommen. Hier scheint es sich um eine Erfolgsgeschichte zu handeln, die trotz
laufender Ermittlungen im Fall Ðukanovićs wegen Zigarettenschmuggels aber noch nicht
abgeschlossen ist.
Im Entwurf für eine neue Verfassung Serbiens, der im Oktober 2006 von der Mehrheit
der Wahlberechtigten – unter Boykott der Kosovo-Albaner – angenommen wurde, weist sich
die Republik Serbien, die sich als Nachfolgestaat der früheren Union versteht, als
8
demokratischer Rechtsstaat aus, der sich zu den europäischen Werten und zu den Menschenund Minderheitenrechten bekennt. Allerdings wird in der Präambel die Provinz Kosovo und
Metohija zum festen Bestandteil mit weitreichender Autonomie erklärt. Mit der umstrittenen
und einseitig proklamierten staatlichen Unabhängigkeit des Kosovo im Februar 2007, das bisher
ein EU-Protektorat gewesen war, ist nicht nur ein verfassungsmässiger Widerspruch entstanden,
sondern zweifellos auch neuer Konfliktstoff provoziert worden.
Boeckhs Fazit serbischer Geschichte lautet wie folgt: „Neben den sozialen Problemen,
die Serbien zu bewältigen hat, belastet ausserdem die kollektiv-mentale Einstellung in Bezug
auf viele Dinge die nachhaltige Demokratisierung des Landes. Noch immer stehen
extremistische Parteien und Vertreter hoch im Kurs: Als Helden gelten Figuren der
Vergangenheit wie Draža Mihailović, der als antifaschistischer Führer stilisiert wird, wie auch
Dimitrije Ljotić und Milan Nedić. Mehr aber noch besitzen Ratko Mladić, Radovan Karadžić,
„Arkan“ (Željko Ražnatović) und der Initiator des Đinđić-Attentäters Milorad Ulemek Legija5
den Status von Kultfiguren. Auch die Einsicht der Verwicklung Serbiens in die JugoslawienKriege ist schwach ausgeprägt. Insgesamt blickt Serbien jetzt auch zwei Jahrhunderte zurück,
die dem Land und seinen Bewohnern viel Leid, in jeder Hinsicht viele Kämpfe und über eine
lange Zeit eine politische Führung ohne Weitblick bescherten.“ Das Verhalten Serbiens
gegenüber seinen Nachbarn ist heutzutage ausser im Fall der Kosovo-Albaner zwar etwas
freundlicher geworden, aber es lässt noch viel zu wünschen übrig.
Welches sind die Perspektiven und die Zukunftschancen ? Die Beruhigung, die in der
unmittelbaren Gegenwart rund um Serbien und Montenegro eingetreten ist, scheint mit dem
Wunsch nach einer nachhaltigen wirtschaftlichen Verbesserung für die Bevölkerung und mit der
territorialen Neuordnung zusammenzuhängen. Ob Konfliktpotentiale tatsächlich ausgeschaltet
wurden, wie Boeckh meint, bleibt zu bezweifeln. Sie bleiben wohl eher unter der Oberfläche
verborgen, um irgendwann wieder auszubrechen, denn eine Aussöhnung zwischen den Völkern
fand in Ex-Jugoslawien bislang nicht statt. Serbien hat sich umfassend neu zu orientieren. Ob
dieses Land allerdings mehr zu bieten hat als die Rolle eines Vermittlers zwischen Ost und
West zu spielen, wie Boeckh in Betracht zieht, bleibt dahingestellt, denn Gleiches beanspruchen
auch andere Länder dieser Region, die durch eine weit konstruktivere Haltung auffallen als
Serbien (wie etwa die Ukraine). Die Widerspenstigkeit der Serben in der Republika Srpska ist
ein wichtiger Indikator dafür, dass sie nicht gewillt sind, sich in bestehende Strukturen
einzuordnen. Wie einige Berichte der Deutschen Welle zeigen, besteht aber noch Hoffnung,
dass die Serben und Serbinnen – mit deutscher Hilfe – neuen Elan zur Aufarbeitung ihrer wenig
erfreulichen Vergangenheit aufbringen.
Obwohl von prekärer wirtschaftlicher Schwäche gekennzeichnet, versucht Montenegro
standhaft sein Potential wie den Tourismus zu nutzen. Montenegros Europakurs wurde mit der
einseitigen Einführung des Euro unterstrichen, wann dieser Kleinstaat allerdings mit seinen
Nachbarn Kroatien und Albanien, mit denen Montenegro den Weg der Versöhnung geht, in die
EU aufgenommen werden kann, bleibt abzuwarten.
Um eine Überfrachtung an Fakten und Daten zu vermeiden, hat man auf zahlreiche
historische Details und viele Namen verzichtet, die sonst noch erwähnenswert wären. Die
Zeittafel bedürfte der Ausdehnung, ein kommentiertes Personenverzeichnis mit
Kurzbiographien wäre zu begrüssen. Anstatt Autoren in Klammern anzuführen, auf die man
sich bezieht, wäre ein moderat gehaltener Fussnotenapparat sinnvoller.
Zur Ergänzung der Lektüre zum Band Serbien/Montenegro eignen sich die bereits
erschienenen Bände über Kroatien und Slowenien aus dem gleichen Verlag.
Andreas Künzli (osteuropa.ch), Juni 2009
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s. http://de.wikipedia.org/wiki/Milorad_Ulemek
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