Die Karmann-Story. Haute Couture aus Osnabrück

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Die Karmann-Story. Haute Couture aus Osnabrück
Bernd Wiersch
Die Karmann-Story
Haute Couture aus Osnabrück
Delius Klasing Verlag
4
INHALT
Vorwort .......................................................................................................................................... 14
Einleitung...................................................................................................................................... 17
Wilhelm Karmann senior – Jugend und Ausbildung ....................................................... 18
Die Wagenfabrik Christian Klages, Inh. Wilhelm Karmann .......................................... 20
Die Wagenfabrik Wilhelm Karmann . .................................................................................. 23
Die Wagenfabrik Wilhelm Karmann im Ersten Weltkrieg . ........................................... 25
Die »Goldenen« Zwanzigerjahre ............................................................................................ 26
Karmann in den USA ................................................................................................................. 31
Wieder zurück in Osnabrück ................................................................................................. 34
Das Unternehmen Ende der Zwanzigerjahre...................................................................... 38
Eine lange Geschäftsbeziehung: die Wagenfabrik Wilhelm Karmann
und die Adlerwerke AG ............................................................................................................ 40
Karmann und Hanomag .......................................................................................................... 50
Ein Generationswechsel bahnt sich an . ............................................................................. 52
Das Werk V . ................................................................................................................................. 54
Karmann und Ford ................................................................................................................... 56
Die Firma Karmann während des Zweiten Weltkriegs . .................................................. 58
Karmann unmittelbar nach dem Krieg ............................................................................... 60
Erste Schritte zurück in die Normalität ............................................................................. 62
Der Neuanfang der Beziehungen zwischen Karmann, Ford und
Adler nach dem Zweiten Weltkrieg ..................................................................................... 64
Wilhelm Karmanns erste Kontakte zum Volkswagenwerk ........................................... 68
Zwei Entwürfe für ein Volkswagen-Cabrio . ........................................................................ 70
Das Volkswagen-Cabrio von Karmann .................................................................................. 74
Der Serienstart . .......................................................................................................................... 78
Der Volkswagen Typ 18A . ........................................................................................................ 86
Karmann und die Auto Union GmbH .................................................................................. 87
Karmann in den frühen Fünfzigerjahren ............................................................................ 91
5
Der Generationswechsel als erster Schritt zum Global Player ...................................... 94
Die Idee von einem sportlichen Volkswagen ..................................................................... 99
Das Karmann Ghia-Coupé ..................................................................................................... 102
Neue Produktionsflächen, steigende Produktion, neue Entwicklungen .................. 110
Das Karmann Ghia-Cabriolet . .............................................................................................. 112
Karmann do Brasil . ................................................................................................................. 117
VW Jolly, Cheetah und andere Studien . ........................................................................... 123
Der Karmann Ghia 1500 ....................................................................................................... 126
Karmann und Porsche . ......................................................................................................... 130
Entwicklungsaufträge und Kleinserien ............................................................................ 134
Ein neues Werk in Rheine ..................................................................................................... 142
Karmann und BMW ................................................................................................................ 144
Der VW Scirocco . .................................................................................................................... 148
Wohnmobile von Karmann . ................................................................................................. 156
Das Golf Cabrio . ....................................................................................................................... 160
Der Umbau der Geschäftsführung . .................................................................................... 166
Das Ford Escort Cabrio, der Merkur XR4Ti und der Escort RS Cosworth ................. 169
Der Volkswagen Corrado ........................................................................................................ 174
Der Kia Sportage ...................................................................................................................... 180
Die Cabrios für Renault . ......................................................................................................... 181
Weitere Aufträge für die Werke in Osnabrück und Rheine ......................................... 182
Das Audi Cabriolet, der VW Golf III Variant und das Audi A4 Cabrio........................ 184
Der Mercedes-Benz CLK und der Chrysler Crossfire ....................................................... 186
Die Insolvenz ............................................................................................................................. 192
Epilog .......................................................................................................................................... 196
Automobilproduktion bei Karmann .................................................................................. 198
Anmerkungen . ......................................................................................................................... 200
Literatur und weitere Quellen . ............................................................................................ 201
Serienmodelle und Studien für ein Foto vereint:
VW Golf I und VW Jetta I.
14
VORWORT
Mit dem Namen Karmann werden die meisten Leser das legendäre Käfer Cabrio sowie die attraktiven Karmann Ghia-Modelle verbinden. Dass dies viel zu wenig ist, um den Osnabrücker Karosseriebauer zu beschreiben, soll dieses Buch veranschaulichen. In seiner über 100-jährigen Geschichte war
Karmann ein wichtiger Hersteller von Spezialkarosserien für diverse Autohersteller weltweit. Darüber
hinaus war man innovativ bei der Konstruktion von Cabriodächern, die ebenfalls weltweit eingebaut
wurden. Last, but not least war das Osnabrücker Unternehmen aber auch ein Spezialist in der Anfertigung von Werkzeugen, insbesondere für die Automobilindustrie.
Dieses Buch versucht, die über 100-jährige Unternehmensgeschichte von der Firmengründung mit nur
zehn Mitarbeitern über den Höhepunkt zu Beginn der Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts mit bis zu
8000 Belegschaftsangehörigen bis zur Insolvenz nachzuzeichnen, die von vielen Höhen und Tiefen gekennzeichnet ist. Dabei ging es dem Autor überwiegend um die Geschichte des Unternehmens selbst
und weniger um die Geschichte der Familie, die hinter dem Unternehmen stand, wenngleich dies bei
einem Familienunternehmen nie ganz zu trennen ist.
Da das Unternehmensarchiv der Wilhelm Karmann GmbH derzeit noch nicht wieder zugänglich ist,
musste sich der Autor bei seinen Recherchen in der Hauptsache auf Sekundärquellen stützen. Trotz
dieser unbefriedigenden Situation dürfte aber ein umfassender Überblick über die Unternehmensgeschichte entstanden sein, der vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt einmal durch die Nutzung der
Primärquellen ergänzt werden kann. Frau Schlesiger, ehemalige Leiterin der Karmann-Sammlung, und
Eberhard Kittler, Vorstand der Stiftung AutoMuseum Volkswagen, gilt besonderer Dank für die Unterstützung dieses Buches mit Bildmaterial.
Dem Verlag und dem Lektor Alexander Failing sei an dieser Stelle für die fachliche Begleitung gedankt.
Wolfsburg, im Februar 2015
Bernd Wiersch
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DIE WAGENFABRIK
WILHELM KARMANN
Auf der Automobil-Ausstellung vom 4. bis zum 16. Februar
1905 in Berlin, auf der erstmals die deutsche MotorwagenIndustrie komplett vertreten war, trat das Unternehmen noch
unter dem bisherigen Namen auf und stellte vier »AutomobilCarosserien verschiedener Typen«3) aus eigener Produktion aus.
Zu diesem Zeitpunkt war der Markenname »Karmann« bereits
veröffentlicht, wurde jedoch noch nicht offiziell verwendet. Ein
Jahr später jedoch berichteten die Neue Tagespost und das
Osnabrücker Tageblatt von der Umfirmierung der Wagenfabrik
Chr. Klages in die Wagenfabrik Wilhelm Karmann.
Nach Osnabrück zurückgekehrt, zog Wilhelm Karmann eine
positive Bilanz. Er hatte neue Aufträge verbuchen und gleichzeitig viele Kontakte zu den Technikern und Kaufleuten der
jungen Automobilindustrie knüpfen können, die inzwischen
von dem Osnabrücker Unternehmen eine sehr hohe Meinung
hatten. Die hochwertigen Arbeiten für Dürkopp und die Adlerwerke hatten sich in diesen Jahren unter den Autoherstellern
herumgesprochen.
1908 entstand für Opel ein 4/8 PS Lutzmann-Vis-à-vis, in dem
sich die Passagiere gegenübersaßen, und im gleichen Jahr ein
8/14 PS Stadt-Coupé, das in der offenen Version als »Opel
Doktorwagen« in die Automobilgeschichte einging. Der Wagen
war mit seinen 14 PS aus 1029 cm3 ausreichend motorisiert
und verfügte über ein Dreiganggetriebe mit Antrieb auf die
Hinterachse. Über die Höchstgeschwindigkeit gaben selbst die
Opel-Prospekte keine Auskunft. Auch für die Holzspeichenräder
war bei diesem Fahrzeug das Osnabrücker Karosserieunternehmen verantwortlich.
Bereits damals schrieb man der Präsentation eines Produkts
eine wichtige Bedeutung zu. Wilhelm Karmann mietete deshalb,
um seine Karosserien entsprechend präsentieren zu können,
in der Innenstadt von Osnabrück, in der Möserstraße 44, einen Laden, der zum »Showroom« und zur ersten Dependance
umgebaut wurde.
Das Jahr 1908 war für Wilhelm Karmann auch in persönlicher
Hinsicht besonders. Am 24. November 1908 heiratete er Mathilde Aloisia Elsinghorst aus Bocholt (gest. am 7. November
1965 in Osnabrück).
In der zweiten Hälfte der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts
profitierte das Unternehmen zunehmend von der aufstrebenden Automobilindustrie und der Tatsache, dass nur wenige
Autohersteller damals über eine eigene Karosseriefabrikation verfügten. Das war nicht zuletzt der Tatsache geschuldet,
dass die individuellen Wünsche der Autokäufer nach wie vor
so unterschiedlich waren, dass sie den in einigen Bereichen
bereits mechanisierten Produktionsprozess der Autofirmen
stark beeinträchtigt hätten.
Davon konnten die in jener Zeit noch zahlreichen Karosseriehersteller, nicht nur in Deutschland, profitieren. Allerdings war
der Wettbewerb bereits enorm stark, und nur die Herstellung
von Qualitätsprodukten sicherte das Überleben.
Wilhelm Karmann und sein Osnabrücker Unternehmen jedenfalls gehörten in dieser Zeit zu den Gewinnern, obwohl auch
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Der Umzug ging zügig vonstatten, denn Zeit war Geld. Die
Auftraggeber warteten nicht gern auf ihre Karosserien. Durch
die neuen Produktionshallen konnte die Zahl der Mitarbeiter
auf 50 gesteigert werden. Trotz dieses Personalaufbaus und
des neuen Gebäudes mussten aber immer wieder Aufträge
für den Kutschenbau abgelehnt werden. Man konzentrierte
sich zunehmend auf Automobilkarosserien, denn immer mehr
Hersteller wollten Karmann-Karosserien für ihre Fahrzeuge.
Wie bei diesem Opel aus dem Jahr 1913
konnte jeder Kunde seine Karosserie nach
eigenen Wünschen bauen lassen. Individualität war angesagt!
bei ihm nicht immer alles ohne Probleme lief. Es kam schon
vor, dass die Kunden nicht immer pünktlich ihre Rechnungen
bezahlten, was durchaus belastend für die nach wie vor relativ
kleine Firma war. Aber das musste man eben durchstehen.
Letztlich stieg jedoch das Auftragsvolumen so stark an, dass
die beengten Werkstattverhältnisse immer offenkundiger wurden. Ein Umzug in ein größeres, moderneres Gebäude war
eine unabdingbare Voraussetzung für weitere Aufträge. 1911
kaufte Wilhelm Karmann die Osnabrücker Maschinenfabrik
und Eisengießerei R. Lindemann in der Martinistraße 59–63.
Die bisherigen Inhaber, die damals in der Hauptsache eiserne
Speichenräder für Eisenbahn-, Straßenbahn- und Kleinbahnwagen bauten, beabsichtigen, ihren gesamten Betrieb nach
Düsseldorf zu verlagern.
Damit verfügte die Karosseriefabrik Wilhelm Karmann erstmals
über ein modernes Fabrikgebäude mit eigener Energieversorgung mit einer zusätzlichen Batterieanlage, die bei Spitzenzeiten
zusätzlich zum Generator Strom liefern konnte, und ein Kesselhaus, in dem die Holzabfälle aus der Karosserieproduktion
verfeuert wurden. Sogar die Wohnung von Wilhelm Karmann
hatte jetzt elektrisches Licht.
In diese Zeit fiel auch der erste Auftrag für die Daimler Motoren
Gesellschaft in Stuttgart. Für den schwäbischen Automobilbauer entwickelte Karmann ein Landaulet, halb Limousine, halb
Cabriolet, bei dem über der Fondsitzbank, wo die Passagiere
saßen, das Stoffverdeck weggeklappt werden konnte.
Im Deutschen Reich wurden die Zeiten allerdings immer schwieriger und unsicherer. Der Kaiser und seine Berater übten sich
in außenpolitischer Kraftmeierei, während gleichzeitig die
Lebenshaltungskosten im Inland in die Höhe schossen. Die
Zeiten standen auf Konfrontation, besonders mit Frankreich.
In dieser schwierigen Zeit konnte Wilhelm Karmann 1913 sein
erstes Patent anmelden: »Anschlag zur Bewegungsbegrenzung
und Abstandssicherung des Haupt- und Hilfsspriegels an hinteren Klappverdecken für Motorwagen«4). Die Urkunde trägt das
Datum vom 25. Januar 1913. Damit legte der Unternehmensgründer die Basis für die international anerkannte und hohe
Kernkompetenz der Wilhelm Karmann GmbH bis zur Insolvenz
im Jahr 2009.
Zu den ersten
Auftraggebern von
Karmann gehörten die
bekannten Autohersteller
Opel und Daimler.
«
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DIE WAGENFABRIK
WILHELM KARMANN
IM ERSTEN WELTKRIEG
Die positive Entwicklung des Unternehmens wurde jäh durch
den Ausbruch des Ersten Weltkriegs am 1. August 1914 unterbrochen. Glaubte man zunächst noch an einen kurzen und
vor allem siegreichen Waffengang, so stellte sich schon bald
heraus, dass man sich hier gründlich verrechnet hatte. Man war
sich schnell in der Belegschaft einig, dass dies das vorläufige
Ende des zivilen Karosseriebaus bedeutete.
Von den Mitte 1914 70 Mitarbeitern bekamen 50 den Einberufungsbefehl. Mit der noch verbliebenen Mannschaft und
reaktivierten ehemaligen Mitarbeitern begann – wenn auch
unter veränderten Vorzeichen – die Serienfertigung im Karosseriebau. Auftraggeber war das Militär. Auch Frauen wurden
jetzt für die Produktion eingesetzt. In einem Telegramm forderte
das Kriegsministerium 100 Krankenwagen, die unverzüglich
herzustellen waren. Im Laufe des Krieges wurde dieser Auftrag immer wieder aufgestockt. So konnte man, wenn auch
unter nicht gewünschten Umständen, erste Erfahrungen mit
einer »Massenproduktion« gleichartiger Aufbauten gewinnen,
Erfahrungen, die sich in der weiteren Firmengeschichte noch
als sehr nützlich erweisen sollten. Für diese Karosserien wurde,
sehr zum Leidwesen von Wilhelm Karmann, ein großer Teil des
wertvollen Holzes verbraucht, das er noch zu Friedenszeiten
für elegante Personenwagen-Karosserien eingekauft hatte.
Neben diesem Militärauftrag gab die Oberste Heeresleitung sogenannte Gürtelgeräte in Auftrag, das waren mit Ketten verbun-
dene große Platten, die man um die Räder schwerer Geschütze
spannte, um die Traktion auf morastigem oder verschneitem
Untergrund zu erhöhen. Zusätzlich hielt sich Karmann noch
mit der Anfertigung von Pferdegeschirren und Ausrüstungen
für die Artillerie und Zeppeline über Wasser.
Das Verantwortungsgefühl von Wilhelm Karmann für seine an
der Front kämpfenden Mitarbeiter war auch während des Krieges groß. So besuchte er oft abends ihre Familien, spendete
ihnen Trost und half, wo er konnte, insbesondere dort, wo die
Männer im Krieg gefallen waren. Sein eigener Bruder Richard,
der viele Jahre in seiner Werkstatt gearbeitet hatte, war einer
der Ersten, die im Krieg starben.
Auf der anderen Seite bot das Jahr 1914 neben den traurigen
Anlässen aber auch zumindest einen Grund zur Freude für
Wilhelm Karmann. Am 4. Dezember wurde sein Sohn Wilhelm
als drittes Kind geboren. Damit hatte er einen Stammhalter,
der sein Unternehmen einmal übernehmen könnte, sollte es
den Krieg überstehen.
Zunächst aber waren andere Probleme akut. Schon im ersten
Kriegsjahr wurden die Lebensmittel immer knapper. Noch litt
man zwar keinen Hunger, aber das Leben wurde immer teurer.
Im Winter 1916/1917 litt Deutschland aber schließlich doch
unter einer Hungersnot bisher ungekannten Ausmaßes. Im sogenannten Steckrübenwinter, hervorgerufen durch ein Handels-
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embargo der Engländer, brach die Nahrungsmittelversorgung
der Deutschen weitgehend zusammen. Das wirkte sich stark
auf die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung aus, auch
bei Wilhelm Karmann und seinen verbliebenen Mitarbeitern.
In diesem besonderen Fall kam noch hinzu, dass auch das
Produktionsmaterial dem Ende zuging.
Aber selbst diese schwere Zeit hatte für Wilhelm Karmann
noch etwas Gutes. Da er sich jetzt weniger mit den täglichen
Arbeiten wie Buchführung und Einkauf beschäftigen musste,
hatte er mehr Zeit, sich Gedanken über neue Karosseriekonstruktionen zu machen. So kam ihm die Idee, die traditionellen
Holzkarosserien, die bis auf die Türscharniere, Schlösser und
einige Eisenwinkel komplett aus Holz bestanden, mit dünnen
Blechplatten zu beplanken, damit sie gegen Regen und Feuchtigkeit besser geschützt und weniger brandanfällig wären. Das
war seine Vision von einer Automobilkarosserie der Zukunft,
und für diese wollte er gerüstet sein.
DIE »GOLDENEN«
ZWANZIGERJAHRE
Am 11. November 1918 wurde der Erste Weltkrieg mit einem
Waffenstillstand beendet. Die Friedensbedingungen wurden
jedoch erst in den Jahren 1919 bis 1923 in den Pariser Vorverträgen verhandelt. Sie waren – nicht nur für Deutschland –
sehr hart, zum Teil unerträglich.
Für die Wagenfabrik Wilhelm Karmann bedeutete das zunächst,
dass man jetzt kein Kriegsgerät mehr produzieren musste.
Das war positiv. Als negativ stellte sich jedoch sofort heraus,
dass sich unter den gegebenen Umständen kaum noch jemand
ein Auto leisten konnte. Also brauchte auch keine Autofabrik
Karosserien.
Der jetzt fast 50-jährige Wilhelm Karmann behielt allerdings
einen Rest von Optimismus, wenngleich er die Jahre nach
Kriegsende mit anderer Produktion überbrücken musste. Statt
Autokarosserien baute man jetzt Handwagen, Ochsenkarren,
Stühle und Anhänger für Lastwagen. Interessanterweise waren
auch wieder Pferdekutschen gefragt, also genau das, weswegen
sich Wilhelm Karmann 1899 von seinem elterlichen Betrieb
verabschiedet hatte. An Arbeit mangelte es nicht, aber die
Erträge ließen zu wünschen übrig.
Wilhelm Karmann nutzte trotz der Probleme die Zeit, um seinen Betrieb in der Martinistraße zu modernisieren. Vor allem
«
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beschaffte er – auf Umwegen – neue Maschinen, denn immer noch hoffte er, bald wieder
Automobilkarosserien bauen zu können.
1920 war die Firma wieder im angestammten Geschäft tätig. 1921, mit beginnender
Inflation, nahm das Geschäft an Dynamik zu.
Zuvor hatte Wilhelm Karmann die Kontakte
mit seinen Vorkriegskunden wieder aktiviert,
nicht zuletzt auch, indem er persönlich bei
den Autoherstellern vorsprach. Das zahlte
sich aus.
1922 bekam Karmann einen Auftrag für
den Presto Typ D von den gleichnamigen
Presto-Werken in Chemnitz, die ab 1928 als
NAG-Presto firmierten. Der Typ war das erste Auto, das der sächsische Hersteller nach
dem Krieg auf den Markt brachte. Er hatte einen Reihen-Vierzylindermotor mit 2350 cm3
Hubraum und einer Leistung von 30 PS bei
2000 U/min. Die Höchstgeschwindigkeit lag
bei 70 km/h. Technisch war dieses Fahrzeug
nicht besonders anspruchsvoll, entsprach
aber durchaus dem Standard der Zeit. Das
Fahrzeug war als Tourenwagen oder als
sechssitzige Limousine erhältlich. Der Tourenwagen mit sechs Sitzen, für den Karmann
die Karosserie baute, kostete 9500 RM.
Der Erste Weltkrieg war zu Ende
gegangen. Die
deutsche Automobilindustrie
stand vor großen
Problemen.
Zu Beginn der
Zwanzigerjahre
ging es aber
wieder aufwärts,
auch für Wilhelm
Karmann
und sein
Unternehmen.
Der erste größere Karosserieauftrag kam von NAG in BerlinOberschöneweide, ein Unternehmen, das 1901 aus der Allgemeinen Automobil-Gesellschaft (A.A.G.) in Nationale AutomobilGesellschaft umfirmiert worden war. Firmengründer war der
AEG-Gründer Emil Rathenau.
Ein weiteres Berliner Unternehmen, 1898 von Ingenieur Alfred
Sternberg und Oskar Heymann als Motorenfabrik Protos gegründet und seit 1908 eine Tochtergesellschaft der SiemensSchuckert-Werke in Berlin-Siemensstadt, vergab ebenfalls
einen Auftrag für den Bau von Aufbauten für den Typ C, ein
verbessertes Vorkriegsmodell mit einem 2,6-Liter-Vierzylin-
dermotor mit einer Leistung von 10/30 PS
an den Osnabrücker Karosseriebauer. Die
gelieferten Karosserien fanden beim Auftraggeber so viel Anklang, dass ständig neue
Exemplare bestellt wurden.
Besonders wichtig für die Wagenfabrik Wilhelm Karmann war allerdings die Zusammenarbeit mit einem dritten Berliner Automobilhersteller, mit AGA, Aktiengesellschaft für
Automobilbau, die 1909 als Autogen-GasAkkumulator-AG als deutsche Tochter des
schwedischen Unternehmens Aktiebolaget
Gas-Accumulator gegründet wurde und im
Herbst 1919 ihren ersten Pkw, den AGA Typ
A 6/16 PS in Berlin präsentierte. Das Fahrzeug basierte auf dem belgischen FN 6 PS
mit einem seitengesteuerten VierzylinderReihenmotor von 1,4 Litern Hubraum. 1921
wurde dieses Modell weiterentwickelt zum
Typ A mit 20 PS. 1922 erhielt der neue Typ
C 6/20 PS einen Flachkühler. Die Technik
blieb grundsätzlich unverändert.
Die einzelnen Modelle glänzten durch die
Vielfalt ihrer Aufbauten. Es gab sie als Vierund Zweisitzer, als offenen Phaeton, Limousine, Landaulet oder Lieferwagen. Zunächst
orderte der Berliner Autohersteller bei der
Wagenfabrik Wilhelm Karmann bis zu 30 Karosserien, möglicherweise noch für den Typ A.
Richtig ins Geschäft kam Karmann bei AGA allerdings beim Typ
C 6/20 PS, von dem 1922 schon bis zu 1000 Stück pro Monat
hergestellt wurden. Weil die zuvor abgelieferten Karosserien
beim Auftraggeber große Anerkennung gefunden hatten, erhielt das Osnabrücker Unternehmen für dieses Modell einen
Großauftrag über mehrere Hundert vorzugsweise LimousinenKarosserien. Daraus wurden im Verlauf der 1920er-Jahre über
1000 Aufbauten allein für diese Automobilfabrik. 1925 kostete
der offene Viersitzer rund 7000 Mark, die Limousine rund
2500 Mark mehr.
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In einem Katalog von 1923 präsentierte Wilhelm Karmann die gesamte Bandbreite seines Karosserie-Angebots.
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Für die Stoewer Werke AG in Stettin
machte Karmann Musterzeichnungen für
das Modell D9, das über einen 2,3-LiterMotor mit 32 PS Leistung verfügte, sowie
den D12 mit einem 3,1-Liter-Motor und
einer Leistung von 45 PS. Beide Vorschläge fanden beim Hersteller großen
Beifall.
Die für diese Fahrzeughersteller produzierten Karosserien verhalfen dem
Osnabrücker Unternehmen zu großer
Reputation unter den internationalen
Karosseriebau-Unternehmen, aber auch
zu einem guten Gewinn. Diesen investierte Wilhelm Karmann zum überwiegenden
Teil in die Modernisierung der Fabrik. Eine Großinvestition war eine »Laufkatze«,
ein Kran, der unter der Hallendecke auf
Schienen fahren konnte. Damit konnte
man die Karosserien leichter von einem
Gewerk zum anderen transportieren.
Neben diesen produktionstechnischen
Investitionen erhöhte Karmann seine
bereits in den Kriegsjahren verfolgten
Anstrengungen im Hinblick auf die Entwicklung einer Halbstahl-Karosserie.
Deren Basis bestand aus Hartholz,
über das Blech gedengelt wurde.
Hier lagen im Karosseriebau in Europa
kaum Erfahrungen vor, aber viele andere Karosseriebauer waren zu dieser
Zeit auf dem gleichen Weg. Es galt,
einen Vorsprung vor der Konkurrenz
zu erreichen.
Der Transport der Rohkarosserien
erfolgte teilweise schwebend über
dem Werksgelände.
Einen weiteren Schwerpunkt der Entwicklungsarbeiten bildeten die Cabriolet-Verdecke, eine Sparte, die in der
Folgezeit immer größere Bedeutung für
das Unternehmen bekommen sollte.
Durch neue Gestänge und besonders
wetterfeste Bespannungen versuchte
man, die Verdecke zu verbessern.
Um die jetzt wieder eingehenden Aufträge termingerecht und in
hoher Qualität erfüllen zu können, musste Wilhelm Karmann in die
Produktionseinrichtungen investieren. Eine der größten Anschaffungen war
eine »Laufkatze« – ein Kran, der unter der Hallendecke auf Schienen fahren
konnte. Aber auch bei den Produkten gab es Neuheiten. Man favorisierte die
Halbstahlkarosserie, ein Holzgerippe, das mit Stahlblechen beplankt war.
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AUTOMOBILPRODUKTION
BEI KARMANN
Modell................................................................................Baujahr von - bis...................Stückzahl...........................Bemerkungen
Adler 1902/1903............................................................. unbekannt...............................Phaeton-Karosserie
Adler Primus..................................................................... 1932 - 1938............................unbekannt...........................
Adler Trumpf Junior........................................................... 1934 - 1941.............................unbekannt...........................
Adler Trumpf Cabrio 1,7 AV............................................... 1933 - 1935............................unbekannt
. .................
Adler Diplomat 1936 Cabrio.............................................. 1936 - 1938............................unbekannt . ....................
Adler 2 Liter (2 EV)............................................................ 1939 - 1940.............................unbekannt...........................
AGA Typ C 6/20 PS.......................................................... 1922 - 1927.............................ca. 1000.............................
AMC Javelin....................................................................... 1969 - 1969............................281.....................................Montage, Lackierung, Ausstattung
Audi Cabriolet .................................................................. 1997 - 2000............................12 112.................................
Audi A4 Cabriolet (B6)...................................................... 2002 - 2006............................187 834..............................
Audi 100 LS Cabriolet....................................................... 1969........................................Einzelstück..........................
Bentley Continental GTC Cabrio........................................................................................2006 - 2010........................Dachmodule
BMW 2000 C/CA/CS (Typ 120)........................................ 1965 - 1970.............................13 700................................13 151 Rohkarosserien und 549 Komplettfahrzeuge
BMW 2500/2800/3.0 CS/CSi/CSL (E9)......................... 1971 - 1975.............................21 147.................................
BMW 6er (E24).................................................................. 1976 - 1989.............................86 314................................
BMW 1er Cabriolet............................................................ 2008 - 2010.......................................................................Dachmodule
BMW 6er Cabriolet............................................................ 2010...................................................................................Dachmodule
BMW 316 Cabriolet (E21).................................................. 1976........................................Prototyp ..........................
Buick 19/90 Allwetterlimousine....................................... 1929........................................unbekannt . ........................
Buick Sport....................................................................... 1929........................................unbekannt...........................
Chrysler Crossfire Coupé.................................................. 2003 - 2007............................45 506................................
Chrysler Crossfire Cabriolet.............................................. 2003 - 2007............................30 539................................
Daimler Motoren-Gesellschaft.......................................... ca. 1908..................................unbekannt...........................Landaulet-Karosserien
DKW Meisterklasse F 89 P Cabriolet viersitzig.................. 1950 - 1953............................5045...................................
DKW 3=6 Sonderklasse F 91 Cabriolet viersitzig.............. 1953 - 1955............................1512....................................
DKW 3=6 Sonderklasse F 91 Cabriolet zweisitzig............. 1953-1955..............................432.....................................
DKW 3=6 Sonderklasse F 93 Cabriolet viersitzig.............. 1955 - 1956............................103.....................................
DKW 3=6 Sonderklasse F 93 Cabriolet zweisitzig............. 1955 - 1956............................205.....................................
Dürkopp Landaulet............................................................ 1902........................................Einzelstück . ..................
Ford Taunus 12 M / 15 M Kombi...................................... 1952 - 1955............................12 235................................
Ford Eifel Roadster............................................................ 1939........................................ca. 800...............................
Ford Escort RS Cosworth.................................................. 1992 - 1996............................8082...................................
Ford Escort III Cabriolet....................................................................................................1983 - 1990........................104 237
Ford Escort IV Cabriolet.................................................... 1990 - 1997.............................80 620................................
Hanomag Garant............................................................... 1936 - 1938............................unbekannt...........................
Hansa A8 Sport Cabriolet................................................. 1927........................................unbekannt...........................
Horch 8............................................................................. ab 1926.............................................................................Karosserieentwürfe
Hyundai............................................................................. 2003..................................................................................Coupé-Cabrio-Studie CSS
Karmann Coupé................................................................ 1999........................................Einzelstück..........................Stilstudie
Karmann GF...................................................................... 1970........................................2950...................................
Karmann Gipsy.................................................................. 1970........................................Einzelstück..........................Stilstudie
Karmann Karo As.............................................................. 1976........................................Einzelstück..........................Stilstudie
199
Karmann Pik As................................................................. 1973........................................Einzelstück..........................Stilstudie
Karmann SUC................................................................... 2005.......................................Einzelstück..........................Stilstudie
Kia Sportage..................................................................... 1995 - 1998............................25 984................................
Krankenwagen.................................................................. 1914 - 1918.............................100.....................................für das Militär
Land Rover Defender........................................................ unbekannt...............................unbekannt...........................in Brasilien
Mercedes-Benz Landaulet................................................. 1912........................................unbekannt...........................
Mercedes-Benz Typ Mannheim......................................... 1932 - 1933............................114......................................bei Karmann gebaute Stückzahl unbekannt
Mercedes-Benz DCC......................................................... 2000..................................................................................Studie
Mercedes-Benz CLK Cabriolet (A208)............................... 1998 - 2003............................115 264..............................
Mercedes-Benz CLK Coupé (A208)................................... 2000 - 2002............................28 706................................
Mercedes-Benz CLK Cabriolet (A209)............................... 2003 - 2009............................110 312...............................
Mercedes-Benz CLK Coupé (A207)................................... 2009 - 2010.......................................................................Dachmodule
Merkur XR4Ti.................................................................... 1984 - 1989............................37 590................................US-Version des Ford Sierra XR4i
Minerva............................................................................. ab ca. 1902........................................................................diverse Karosserien
MINI Cabrio....................................................................... 2008 - 2010.......................................................................Dachmodule
Opel Motorwagen System Darracq................................... 1904/1905........................................................................Tonneau-Aufbau
Opel 4/8 PS Innensteuer-Limousine................................. 1908...................................................................................Einzelanfertigung
Opel 4/8 PS Lutzmann Vis-à-vis....................................... 1908...................................................................................Kleinserie
Opel Diplomat A Coupé..................................................... 1963 - 1967.............................347.....................................
Opel Manta Cabriolet........................................................ 1970...................................................................................Prototyp
Porsche 356 B Hardtop..................................................... 1961 - 1965.............................13 730................................
Porsche 912...................................................................... 1967 - 1971.............................21 778................................
Porsche 914...................................................................... 1969 - 1976.............................118 949...............................
Porsche 968...................................................................... 1991 - 1994.............................11 803................................
Presto Typ D...................................................................... 1922 - 1925............................unbekannt...........................
Priamus............................................................................. 1907/1908........................................................................Limousinen-Karosserie
Protos Typ C...................................................................... 1922 - 1924.............................unbekannt...........................
Renault 19 Cabriolet......................................................... 1990 - 1996............................29 222................................Rohkarosserien und Verdecksysteme
Renault Mégane I Cabriolet............................................... 1996 - 2003............................734 096..............................komplette Rohkarosserien und Verdecke
Renault Mégane II CC....................................................... 2004 - 2009............................unbekannt...........................
Renault Mégane III CC...................................................... 2010........................................unbekannt...........................
Spyker C8 Spyder............................................................. 2002 - 2008............................unbekannt...........................
Stoewer D9....................................................................... 1925 - 1928............................670.....................................
Triumph TR 6..................................................................... 1969 - 1976.............................unbekannt...........................
VW Käfer Cabriolet............................................................ 1949 - 1980.............................331 847..............................
VW Käfer Hebmüller Cabriolet.......................................... 1951 - 1953.............................15.......................................Restproduktion aus Teilen von Hebmüller
VW Karmann Ghia Typ 14 Coupé....................................... 1955 - 1974.............................362 601..............................
VW Karmann Ghia Typ 14 Cabriolet.................................. 1957 - 1974.............................80 881................................
VW Karmann Ghia Hardtop............................................... 1958...................................................................................Einzelstück
VW Jolly............................................................................. 1960...................................................................................Einzelstück
VW Karmann Ghia Typ 34 Coupé...................................... 1961 - 1969.............................42 505................................
VW Karmann Ghia Typ 34 Cabriolet.................................. 1961........................................ca. 30.................................Prototypen
VW 1500 Cabriolet............................................................ 1961........................................ca. 30.................................Prototypen
VW Coupé Studie Typ 1..................................................... 1961...................................................................................Einzelstück
VW 1600 TL Studie........................................................... 1965...................................................................................Einzelstück
VW Cabriolet Studie Typ 1................................................. 1965...................................................................................Einzelstück
VW 411 Cabriolet............................................................... 1968...................................................................................Einzelstück
VW Karmann Ghia TC 145................................................. 1970 - 1974.............................18 119.................................in Brasilien
VW SP 2............................................................................ 1972 - 1976.............................10 193................................in Brasilien, ca. 670 exportiert
VW Scirocco I.................................................................... 1974 - 1980.............................504 153..............................
VW Golf I Cabriolet............................................................ 1976...................................................................................Prototyp ohne Sicherheitsbügel
VW Scirocco II................................................................... 1977...................................................................................Stilstudie, Holzmodell
VW Golf I Cabriolet............................................................ 1979 - 1993.............................388 522..............................
VW Scirocco II................................................................... 1980 - 1992............................291 497..............................
VW Corrado...................................................................... 1988 - 1995............................97 521................................
VW Golf III Cabriolet.......................................................... 1993 - 1998............................129 475..............................
VW Golf IV Cabriolet......................................................... 1998 - 2001.............................82 588................................Basis VW Golf III
VW Golf III Variant............................................................. 1997 - 1999.............................80 928................................
VW Bus mit Karmann Gipsy Wohnmobilaufbau................. 1980 - 1992............................891.....................................
VW LT mit Karmann Wohnmobilaufbau............................. 1978 - 1995.............................unbekannt...........................
Wanderer W 11.................................................................. 1928 - 1930.......................................................................Karosserieentwürfe
Windhoff........................................................................... ca. 1905.............................................................................diverse Karosserien
Wohnmobilaufbau............................................................. 1982...................................................................................keine Angaben