Grüße aus Pablonien

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Grüße aus Pablonien
Grüße aus Pablonien
Wenn man Valentin vor dem letzten Sommer gefragt hat, wohin es denn in die Ferien
geht, so war seine Antwort stets: „Nach Pablo.“ Ich ergänze: Calpe, Costa Blanca, Spanien.
Dort liegt die wunderbare Finca der Familie Pineda, zu der wir Anfang Juli dieses Jahres
aufgebrochen sind. Via Autopista, mit Zelt und Zeit im Gepäck. Allerdings verabsäumten
wir es vor der Reise Valentin klar vor Augen zu führen, dass wir uns mindestens zehn
Tage Zeit nehmen würden, um am Ziel anzukommen. Anzukommen bei Pablo, seiner
Mama Maruja und dem dicken Familien-Mops Gaston. Somit quälte uns unser Ältester
bereits in der Schweiz nach nur zwei Stunden Autofahrt mit der Frage: „Wänn gomma
nach Pablo?“ und trotz vielfältigster Erklärungsversuche gehörte diese Frage ab da zum
täglichen, Nerven strapazierenden Ritual, von dem Valentin erst in Barcelona lassen
konnte. Denn „Nur noch zweimal schlafen …“ war dann endlich eine befriedigende
Antwort für Valentin.
Das Phänomen Pablo Pineda
Groß dann das Hallo in Spanien, auch wenn Pablo erst einen Tag später nach Calpe kam.
Er war noch mit Fernsehaufzeichnungen für eine Produktionsreihe beschäftigt, bei der
ihm die Moderationsrolle übertragen wurde. Womit ich schon mittendrin bin im
eigentlichen Thema dieses Artikels, der aller persönlicher Einleitung zum Trotz weniger
Reiseanekdoten bedienen als das „Phänomen Pablo Pineda“ beleuchten soll. Ich weiß
noch, wie gespannt ich selber war, als wir diesen, damals nur in Insiderkreisen
bekannten Spanier mit Down-Syndrom und abgeschlossenem Hochschulstudium zu
meiner Buchpräsentation im März 2007 nach Bregenz eingeladen hatten. Ob ihn wohl
die Medien für ihre Zwecke benutzt hatten und ihn als etwas darstellten, das er gar nicht
war? Ob er auch im Verhalten und in der Optik so aus der Reihe tanzen würde wie in
seiner kognitiven Begabung? Etwa gar nicht wie ein Mensch mit Down-Syndrom
aussehen würde? Ich war auf alles gefasst ... und erlebte einen Menschen, bei dem
Warmherzigkeit und Intellekt in einer außergewöhnlich großen und wohltuenden
Ausprägung zusammenfallen. Einen Menschen, der durchaus seine Eigenheiten hat und
irgendwo „zwischen den Welten“ (durch „mit“ und „ohne“ Behinderung definiert) wohnt
– auf der Suche seiner Identität eine Heimat zu geben. Einen Menschen, der gleich in
zwei Kategorien außer aller Norm ist und dennoch so normal: Als Mensch fällt er aus
dem Rahmen, weil er eine augenscheinliche genetische Besonderheit hat. Als Mensch
mit Behinderung tanzt er aus der Reihe, weil auf ihn die dafür vorgesehenen Parameter
nicht passen.
Ein gelingendes, erfüllendes Leben
Den außergewöhnlichen Leistungen Pablos traut vielleicht mancher nicht so recht.
Während die einen etwa munkeln, er habe sicher „nur eine Mosaik-Trisomie“,
befürchten wohl andere, seine klugen Antworten seien einstudiert, zurechtgelegt, über
all die Jahre antrainiert, das Studium womöglich doch nicht so ganz selbst erarbeitet.
Meine Einschätzung? Pablo hat eine „ganz normale“ freie Trisomie 21. Seine klugen,
schlagfertigen und reflektierten Antworten aus allen möglichen Themenbereichen
liefert er so spontan, dass ich all meine Spanischkenntnisse zusammenkratzen muss, um
deren Gehalt in vollem Ausmaß zu erfassen. Was das Studium betrifft, sagt Pablo selber,
dass er sich mindestens ein Drittel mehr anstrengen musste als seine Kommilitonen und
dass auch nicht alles beim ersten Mal geglückt ist. Sein schlussendlich erfolgreiches
Abschneiden gelang ihm aber aus eigener Kraft und nicht dank zugedrückter Augen. Die
Basis dafür hat ein äußerst engagierter Lehrer in Zusammenarbeit mit seiner Frau
gelegt: Miguel-López Melero, der die Fähigkeiten und das Potenzial Pablos erkannte und
es sich zu seiner persönlichen Aufgabe machte, diese herauszufordern und zu fördern.
Dazu natürlich noch das persönliche Umfeld von Pablo: Liebevolle, engagierte,
zutrauende und offene Eltern, seine drei älteren Brüder, die ihn unterschiedlichst
geprägt haben, ein soziales Umfeld, das ihm stets auf Augenhöhe begegnet ist. Ihm, der
mittlerweile ein Studium in der Tasche hat, der neben der spanischen ParadeSchauspielerin Lola Duenas eine Hauptrolle gespielt und einen Preis nach dem andern
abgesahnt hat, ihm, dem Ehrenbürger, dem diesen Frühling ein eigener „Plaza“ in seiner
Heimatstadt Malaga gewidmet wurde, ihm, der ein beliebter Vortragender für Kongresse
auf der ganzen Welt ist, ihm, der dieses Jahr sein Erstlingswerk „Die Herausforderung zu
lernen. Eine Erzählung über die Verschiedenheit.“ publiziert hat und bei der
Präsentation keinen Geringeren als Spaniens Fußball-Nationaltrainer Vicente del
Bosque, selbst Vater eines Jungen mit Down-Syndroms, am Podium hatte.
Mensch versus Syndrom
Keine Frage, der Mensch ist gefragt. Da kann es schon sein, dass mal zwischendurch wie
selbstverständlich BBC in der Urlaubsfinca für ein Interview anruft. Pablo wird von
wildfremden Menschen auf der Straße angesprochen und nahezu täglich trudeln
Anfragen für Vorträge, Statements und Projekte bei ihm ein. Und dennoch: Die
Bodenhaftung ist ihm unbestritten geblieben. Auch er widmet sich ganz gewöhnlichen
Dingen des Lebens. Liebt gutes Essen und Faulenzen. Schüttelt den Kopf über uns, die
wir ganze Tage am Strand verbringen können und verkriecht sich lieber in der Kühle der
Finca. Er ist in erster Linie Mensch und nicht Mensch mit Syndrom, dessen
Syndromspezifika von der Syndromnorm abweichen. Mensch, den man nun
beschreiben könnte, wenn man denn wollte. Mensch mit Stärken und Schwächen eben.
Dabei sollten nun seine „Gewöhnlichkeiten“ nicht Argument für die Teilhabe an der
Gesellschaft sein. Nein, als einzigartiger Mensch mit all seinen Stärken und Schwächen
will Pablo wahrgenommen und einbezogen sein. Und mir wird gleichzeitig klar: Auch
mit unseren Kindern mit Down-Syndrom dürfen wir nicht in die Durchschnittsfalle
tappen. Dorthinein, wo Stärken ausgeblendet und nivelliert, Schwächen fokussiert und
therapiert werden. Vielmehr gilt es wie für alle Kinder, die Talente zu orten und sie so
zum Vorschein zu bringen, dass sie nicht nur „gesellschaftskompatibel“ sind sondern
darüber hinaus die Gemeinschaft vervollkommnen. Nicht die Norm macht das Leben
reich und bunt sondern die Bandbreite an gelebten Möglichkeiten. Oder in Pablos
Worten*: „Aber ich werde nicht von „Behinderten“ (= spanisch: discapacitados = nicht
Befähigten) sprechen, weil es nicht der Wahrheit entspricht, dass wir weniger
Fähigkeiten haben. Wir haben ANDERE Fähigkeiten.“ Oder an anderer Stelle: „Es ist gut,
dass es Vielfalt gibt, weil sie die Gesellschaft bereichert, sie besser macht, gerechter,
solidarischer, toleranter und vor allem dynamisch und wandelbar.“ Und er spricht mir
aus der Seele in seinem Kapitel über die Bedeutung der Familie, wenn er sagt: „Sobald
du den Unterschied akzeptiert hast – schwer genug, zumal eine Mutter wohl gerne eine
„normales“ Kind hätte – ist der erste Schlüssel dich zu fragen, was es ist, was du hast: Ein
Kind oder einen behinderten Menschen? ... Je nachdem wirst du das Kind anders
behandeln.“ Pablos Mutter ist das Einnehmen dieser „Kind“-Perspektive gelungen. Aber
nicht nur in der Interaktion mit ihr, sondern durch den ermöglichten Austausch mit den
unterschiedlichsten Menschen um ihn herum, durfte Pablo viel lernen. In seinem Buch
unterstreicht er die Wichtigkeit des „gegenseitigen Lernens“: „Als Personen lernen wir
nicht im Alleinsein sondern im Austausch mit den Anderen. Weil wir alle von allen
lernen und uns alle gegenseitig unterrichten – hier passiert nicht nur der Lerneffekt
sondern hier entsteht Entwicklung.“ Auch der Rolle des „guten Lehrers“ misst Pablo ein
ganzes Kapitel bei und sieht den Schlüssel im Vertrauenszuspruch, den man als Kind
bekommt: „Der gute Lehrer – egal wie viele oder wenige Lehrmittel ihm zur Verfügung
stehen – hat Vertrauen in seinen Schüler, unabhängig von dessen Verfassung, und setzt
auf seine Fähigkeiten.“
Diversität als Potenzial
„Die Herausforderung zu lernen“ spannt den Bogen von Pablos persönlicher Bedeutung
des Lernens über die Motivation, die Bedeutung der Protagonisten in Schule, familiärem
Umfeld und Gesellschaft, über Methoden, Strategien, Schwierigkeiten und
Herausforderungen des Lernens bis hin zu einer Abhandlung zur Vielfalt. Vielfalt, die in
Spanien mancherorts genützt wird. Zum Beispiel in der zentralspanischen Stadt
Valladolid, wo in eben diesem Sommer 2013 Ángela Bachiller zur ersten Stadträtin mit
Down-Syndrom ernannt wurde. Ähnlich wie Pablo kämpft sie unermüdlich für
Gleichberechtigung. Auch wenn sich in Sachen Inklusion in Spanien bereits viel bewegt
hat – gerade im Bereich der Kindergärten und Schulen – dann gibt es auch dort nach wie
vor einiges zu tun. Den 80.000 Menschen mit Behinderungen ein aktives Wahlrecht
zuzusprechen beispielsweise. Und hier in Österreich? Nun, wir können neidisch nach
Spanien blicken oder aber selber die Beine in die Hand nehmen. Denn – Pablos Worte als
Schlusszitat: „Aber die Diversität ist keine Entelechie**, etwas Diffuses und Ätherisches,
sondern es ist eine Realität, bereits präsent, die man nicht außer Acht lassen darf.“ Also:
Wänn bitte gomma endlich nach Pablo?
* Zitate aus Pablo Pinedas Erstlingswerk: „El reto de aprender. Un relato desde la diversidad.“ Erschienen im
Verlag SAN PABLO, Madrid
** Entelechie lt. Wiktionary: die Kraft, die in einem Organismus liegt und seine Entwicklung oder
Selbstverwirklichung bewirkt oder lenkt. Beispielsweise ist der Schmetterling die Entelechie der Raupe.