Coming In - Jüdische Allgemeine

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Coming In - Jüdische Allgemeine
GAY-PARADE
Coming In
Schwule und Lesben feiern ihre Jerusalemer Gay-Parade – im
Stadion und geschützt von 3.000 Polizisten
16.11.2006 - von Michael Borgstede
von Michael Borgstede
Die gute Nachricht zuerst: Selten sieht man in Jerusalem Juden, Araber und Christen so
einträchtig miteinander kooperieren wie in den letzten Wochen. Wenn die religiösen Führer der
drei Weltreligionen sich immer so gut verstünden wie beim gemeinsamen Haß auf Homosexuelle,
müßte man sich um die Zukunft der Heiligen Stadt keine Sorgen machen. Schon Wochen vor der
geplanten Gay-Pride-Parade in Jerusalem forderten Plakate zu einem „gemeinsamen Kampf von
Juden und Arabern gegen die Sodomiten der Sünderparade“ auf. Der Jingle-Sänger der
sefardisch-orthodoxen Schas-Partei brachte gar ein Duett mit dem arabischen Popstar Nassim
Shamia: „Jerusalem wird brennen“ drohen die beiden musikalisch und müssen sich deshalb
möglicherweise wegen Anstiftung zur Gewalt vor Gericht verantworten. Bei so viel
jüdisch-arabischer Eintracht wollte sich auch der Vatikan nicht lumpen lassen und erklärte
ebenfalls seine Opposition. Die Parade verletze die religiösen Gefühle der Gläubigen aller
Religionen und müsse deshalb abgesagt werden, forderte der Gesandte des Papstes.
Die Proteste gegen die Parade hatten schon Wochen vor dem geplanten Termin begonnen.
Zahllose Poster zeigten ein verängstigtes Kind. „Mama, ich habe Angst“ stand in roten Lettern
darunter. Dann folgte die Erklärung. Das Kind habe Angst, weil Homosexuelle Menschen seien,
die „kleinen Kindern grauenvolle Dinge zufügen, sodomitische Dinge, in den Parks von
Jerusalem“. Bald meldeten die Zeitungen, einige orthodoxe Gegner würden sich nicht mit
verbalen Protesten zufriedengeben und hätten benutzte Babywindeln, vergammelte Eier und
verfaultes Obst, aber auch gefährliche Waffen wie Rasierklingen gesammelt. Im orthodoxen
Viertel Mea Schearim wurden gar Kurzanleitungen zum Bau von Molotow-Coktails verteilt. Die
Angst vor einer Eskalation der Gewalt war groß. Schon im vergangenen Jahr hatte ein
orthodoxer Demonstrant einen der marschierenden Homosexuellen mit einem Messer angegriffen
und verletzt. Zu einem solchen Zwischenfall kam es bei der Gay-Pride in Jerusalem am
vergangenen Freitag nicht. Den- noch war die Stimmung der nur rund 3.000 Teilnehmer im
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Stadion der Hebräischen Universität getrübt.
„Nach dem ganzen Hickhack haben schließlich doch wieder die Orthodoxen gewonnen“,
beschwerte sich Ayala, die extra aus Tel Aviv angereist war. Denn nachdem der Oberste
Gerichtshof und Generalstaatsanwalt Menachem Mazuz den Schwulen und Lesben ihr
verbürgtes Recht auf freie Meinungsäußerung gewähren wollten und der geplanten Parade durch
Jerusalem ihren Segen gegeben hatten, kam den Organisatoren nach dem Libanon-Krieg zum
zweiten Mal die politische Situation in die Quere. Bei einem Granatenangriff der Armee im
Gasastreifen kamen durch einen technischen Fehler 19 Palästinenser ums Leben – Hamas wie
Fatah schworen Rache, und die israelische Polizei sah sich nicht in der Lage, sowohl die
Gay-Pride als auch den Rest des Landes angemessen zu sichern. So wurde aus der Parade ein
Happening im Stadion. 3.000 Polizisten sorgten für die Sicherheit der rund 3.000 Teilnehmer. Die
Orthodoxen erklärten sich bereit, die geschlossene Veranstaltung nicht zu stören. Als
Gegenleistung verlangten sie eine Amnestie für alle Demonstranten, die bei den teilweise
gewalttätigen Protesten von der Polizei in Gewahrsam genommen worden waren.
So hatte sich die schwul-lesbische Community ihre Parade nicht vorgestellt. Im Stadion wollte
trotz aller gewollten Fröhlichkeit, Rap-Musik und vieler bunter Fahnen so richtige Feierlaune
nicht aufkommen. Der Meretz-Politiker Ran Cohen faßte in Worte, was viele der Anwesenden
fühlten. Er halte den erreichten Kompromiß für unangemessen. „Es stimmt zwar, daß die schwule
Gemeinschaft ihr Ziel erreicht hat, die Parade abzuhalten, aber auf eine gewisse Weise hat die
israelische Demokratie versagt.“ Nichtsdestotrotz dankte der bekannte Schriftsteller Sami Michael
in seiner Rede der Polizei für ihren Einsatz und erntete dafür enthusiastischen Applaus. Den
einzigen Störfall des Morgens beendeten die Sicherheitskräfte dann auch schnell und
unkompliziert. Als ein Gegner der Parade auf das Podium zustrebt und schwulenfeindliche
Sprüche ins Mikrofon schreit, nehmen ihn einige Polizisten sofort in Gewahrsam.
„Sie haben uns in einen Käfig gesperrt“, beschwerte sich Oren Meir und fragte: „Die heutige
Parade ist das Gegenteil eines Coming Out. Was werden junge Schwule jetzt denken, wenn sie
sehen, wie man uns von der Öffentlichkeit wegschließt und wir eben nicht Teil der Jerusalemer
Bevölkerung sind? Sie werden sich natürlich zweimal überlegen, ob sie auch so leben wollen“.
Einiges spricht für diese Sichtweise. So wird Yehuda Levin, ein für die Proteste extra aus New
York angereister orthodoxer Rabbiner, am Abend im Fernsehen fast dasselbe sagen: „Heute hat
die Religion einen großen Sieg errungen“, verkündet er stolz. „Die Sodomiten mußten sich in ihr
bildliches ,Closet‘ zurückziehen, sie dürfen nicht mehr provozieren.“
Das sehen die Organisatoren vom „Open House“ naturgemäß anders. „Wir werden Jerusalem
nicht den Fanatikern überlassen“, schrie eine wütende Elena Canetti ins übersteuerte Mikrofon.
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„Niemals werde ich mein Recht aufgeben, als gleichberechtigte lesbische Bürgerin in meiner Stadt
zu leben. In Jerusalem!“ Und darum werde es im nächsten Jahr wieder eine Gay-Pride-Parade
geben. Dann allerdings hoffentlich nicht im Stadion, sondern auf den Straßen der Hauptstadt.
Einen Vorgeschmack darauf, was das bedeuten könnte bekamen einige Dutzend schwule
Aktivisten, die sich gegen die Kompromißvereinbarung gestellt hatten und versuchten, entlang
der ursprünglich geplanten Strecke zu marschieren. Denn selbstverständlich ließen die bekannten
Rechtsaußen der israelischen Politik ließen nicht lange auf sich warten: Baruch Marzel, der
mehrfach wegen Volksverhetzung verurteilte Itamar Ben-Gvir und der gerade einmal nicht unter
Hausarrest stehende Noam Federman drohten, das Gesetz selbst in ihre Hand zu nehmen: „Eine
Parade findet nur über unsere Leichen statt“ schrie Federman. „Verschwindet, ihr perversen
Kranken!“ Dann warnte er seine Mitdemonstranten den Schwulen ja nicht zu nahe zu kommen:
„Sonst kriegt ihr AIDS“. Da kam es doch noch zu Festnahmen: die Polizei nahm rund zwanzig
Homosexuelle in Gewahrsam.
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