Das Interview - Berliner Festspiele

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Das Interview - Berliner Festspiele
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SCHWERPUNKT
Hauptteil Mai Donnerstag
Amoklauf ist das Gebot der Stunde
TdZ hat der Jury des Berliner Stückemarktes Fragen gestellt zu ihrer diesjährigen Lektüre
und Auswahl
dZ: Haben Sie eigentlich ein Stück entdeckt,
Herr Walburg?
Lars-Ole Walburg: Natürlich hatte ich gehofft, einen neuen Werner Schwab zu erlesen.
Das ist nicht geschehen. Trotzdem habe ich die
Entscheidung, in der Jury des Stückemarkts
mitzuwirken, letztlich nicht bereut. Nach einer zähen Anfangsphase wurde die Dichte der
besseren und guten Stücke zunehmend größer. Und auch wenn
der Stückemarkt jetzt vielleicht nicht das Forum ist, bei dem man
von der Entdeckung einer Unmenge großbühnentauglicher dramatischer Meisterwerke ausgeht, so ist doch die Beschäftigung
mit dieser Flut an frischen und neuen Texten eine Art gedankliche
Ayurveda-Kur. Das Juror-Sein zwang mich zu etwas, das ich als
Normalität bezeichnen möchte, die ich aber in meinem praktischen Theaterleben lange nicht mehr verspürt hatte. Eine Normalität in der Beschäftigung mit dramatischen Versuchen, mit
zum großen Teil Unfertigem, mit hybriden und epigonalen Arbeitsproben, mit vorsichtig schimmernder poetischer Ernsthaftigkeit, in jedem Fall aber zuerst einmal die Beschäftigung mit
neuer Dramatik. Nicht mit einer vorlektorierten Auswahl, sondern mit dem „Bodensatz“. Und egal, wie viel man sich beim Lesen
auch ärgern mag, so beschäftigt man sich zuerst einmal mit den
wesentlichen Fragen des Mediums Theater. Es geht in den seltensten Fällen um das Pflücken der reifen Frucht, sondern um Gärtnerarbeit im spezialisiert-professionellen Stadium.
TdZ: Seit fünf Jahren sind Sie, Frau Laufenberg, in der Jury des
Stückemarktes. Was hat sich verändert?
Iris Laufenberg: Am Anfang dachte ich, dass die Stückemarkt-Jury ohne Hilfe von Lektoren auskommen kann. 2003
hat jeder Juror etwa 200 Stücke lesen müssen. 200 Stücke in
zwei Monaten zu lesen, ist allerdings grenzwertig viel, so
dass ich bei manchen Stücken durch schnelles Blättern und
Hand-Auflegen Schicksal gespielt habe. Dann hatte sich
2004 die Anzahl der Einsendungen verdoppelt. Was positiv
bedeutet, dass sich auch der Zuspruch des Stückemarktes
durch die Öffnung nach Europa enorm gesteigert hatte. Andererseits hieß das, dass für die Arbeit der Jury, die Grenzen
der Seriosität überschritten waren: Es mussten Übersetzer
und Lektoren unseres Vertrauens gefunden werden, die für
die Jury eine Vorauswahl treffen. Ich finde, dieses Verfahren
hat sich sehr bewährt. Die fünfzig bis sechzig Stücke, die jetzt
bis zur Schlussdiskussion jeder Juror gelesen haben soll, sind
auch wirklich diskussionswürdig. Ganz egal in welcher Jury-
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TdZ · Mai 2007
Besetzung welche Theaterleute zusammenkommen: Einigkeit über die besondere Qualität eines Stückes gibt es kaum.
Um die Auswahl der fünf Stücke, die beim Theatertreffen in
szenischen Lesungen vorgestellt werden sollen, wird immer
sehr gerungen.
TdZ: Welche Erfahrungen haben Sie als Autor mit der Tätigkeit als
Juror beim Stückemarkt gemacht?
Händl Klaus: Der Gabentisch würde sich biegen, „du wirst
durchdrehen!“ warnten mich Freunde, die sich schon auskannten, Juroren früherer Jahrgänge, „man sieht den Wald
vor lauter Bäumen nicht mehr“. Aber ich freute mich drauf,
und während ich noch durch den Wald strauchelte, waren –
und bleiben – einige Stücke eben doch klar zu sehen. Man
kann sich sogar daran lehnen, und sie halten das aus, Wetterbäume sozusagen, solche, die für sich stehen, weil ihnen
etwas Ungekanntes auf der Seele liegt. Diese eigenartigen
Stücke folgen ihrer „unguten“ Natur, kommt mir vor, sie können nicht anders, sprachlich, formal, und so reißen sie mich
mit. Sie stellen ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten auf – wie
„4 ?“ von Arna Aley, „Wie ärgerlich!“ von Maria Kilpi – oder
„Molta Aigua“ von Carles Maillol Quintana und „Die Sammler“ von Lotta Lotass. Um Haaresbreite sind die letzten beiden Stücke nicht in unser aller Auswahl gelangt; wie froh bin
ich aber über diese Entdeckungen!
TdZ: Haben Sie Talente entdeckt …?
Kekke Schmidt: Das kommt auf die Erwartungen an. Natürlich haben wir Talente entdeckt. Wie groß sie sind, lässt sich
nach nur einem Stück schlecht beurteilen. Wenn man „das
radikal Neue“ erwartet hat, dann wird man vielleicht ent33
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Stückemarkt 2007
Die Stücke fünf junger Autoren werden in szenischen Lesungen beim
Theatertreffen vorgestellt. Eines der Stücke wird prämiert und am
Maxim Gorki Theater Berlin uraufgeführt werden.
täuscht sein. Aber mal ehrlich: Was könnte das sein, nach
den vielen Stücken, die wir ständig lesen? Man ist doch
schon glücklich, wenn man hier einen frischen Ton vernimmt, dort eine Figur plastisch vor Augen sieht, und an anderer Stelle aktuelle Fragen auf eine eigen(willig)e Weise verhandelt findet.
TdZ: Ihr Lieblingsstück und warum?
Händl Klaus: Vor allem „Die Sammler“ von Lotta Lotass – in
der einfühlsamen Übersetzung von Angelika Gundlach –
hat mir’s angetan: Zwei Brüder, die historisch verbürgten
New Yorker Homer und Langley Collyer, verschwören sich
gegen die Außenwelt; sie wollen für sich bleiben: in ihrem
Winkel der Welt. In ruhiger Rede und Gegenrede, feststellend
und beschließend, verschanzen sie sich in ihrem zusehends
vermüllten Haus, ihrem Bau. Aus unzähligen Gegenständen
des Alltags, Schrott und Fetzen, ja Büchern und Klavieren
werden undurchdringliche Gänge innerhalb des Hauses wie
Fallen geschmiedet, um Eindringlinge fernzuhalten – und
ein auf der Stelle tretendes Leben zu ermöglichen, ein ständig erinnertes Dasein, das die Weltverhältnisse in ihre – engsten – Schranken weist: Homer und Langley als Schöpfer ihrer selbst, in den Innentaschen ihrer Jacken blätternd, tief
und tiefer sich schraubend in aller Selbstverständlichkeit:
„Es heißt, die Schwalben ziehen im Winter in wärmere Länder. (…) Aber so ist es nicht. (…) Bei der ersten Kälte ziehen sie
sich an den See und ins Schilf zurück. Sie fressen Steine, machen sich schwer. Und wenn der Herbst schließlich kommt,
rücken sie zusammen, Schnabel an Schnabel, Flügel an Flügel, Fuß an Fuß, um sich auf den Grund des Sees sinken zu
lassen. Und da auf dem Grund ruhen sie, bis der Frühling
kommt.“ – Allerdings lässt sich die herrschende Jahreszeit
nach Jahren im Bunker nicht mehr erkennen. Und sie ist unwichtig geworden. Auch die Sprache wird zum Gehäuse,
„wie besprochen“, sagt Langley, der mit Homer schließlich
selbst die Vorgeschichte in Abrede stellen wird: „Und vor
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M. Ö. Çetindogan: Eine Migrantenhochzeit
dem Fenster, das wir nicht hatten, stand kein Baum.“ Die Gefühle sind verdinglicht. Wie Ruinen werden Anfangsbuchstaben von Namen aus der Kindheit kreisen, die vergessen
und verloren sind. Schrecklich leicht geschieht all dies; Blick
um Blick, Hand in Hand mit ihren Protagonisten, entwickelt
Lotta Lotass da ein dramatisches Ordnungssystem aus wiederholten Konjunktiven und Mitvergangenheiten. „Es waren Regentropfen im Baum. / Es war das letzte Mal. / Dass die
Fenster offen standen.“ – Dreimal geklopft auf diesen
Stamm.
TdZ: Was ist besonders oder auffällig an den diesjährig eingereichten Stücken: Gibt es spezielle, oft wiederkehrende Themen, Formen oder Dramaturgien?
Kekke Schmidt: Wenn man viel liest, geht das Gelesene miteinander Konfigurationen ein – das ist auch ein Wahrnehmungsphänomen. Wie wenn man sich gerade ein bestimmtes Auto kaufen will, und auf den Straßen plötzlich nur noch
dieses Auto sieht, oder einen neu gelernten Ausdruck gleich
dreimal hintereinander liest. Und so hat man in einer bestimmten Phase scheinbar nur noch Beziehungsdramen auf
dem Tisch, oder Hartz-IV-Stücke, Gewalteskalationen, oder
natürlich, von nicht nachlassender Beliebtheit, Familientragödien. Viele junge Autoren halten sich an die Welt, die
sie aus eigener Beobachtung kennen, und die reicht mindestens von der Familie bis zur Beziehung. Wenige packen
die Arbeitswelt an, die Globalisierung, die „großen Themen“.
Diese Zurückhaltung – mangelnde Courage? – kann man bedauern, umgekehrt ist sie sicher auch klug im Sinne von Fehlervermeidung. Häufig finden diese „politischen“ Themen
eher Eingang in die Biografien und Dialoge der Figuren.
Dann hat man es zwar der Form nach etwa mit einem Beziehungsstück zu tun, verhandelt werden aber auch ökonomische oder soziale Fragen. Die Frage, wie man heute leben soll,
ist politisch, auch wenn sie sich im Privaten niederschlägt.
Man erwartet von Autoren ja gern die eierlegende Wollmilchsau, um ihnen im gleichen Zug vorzuwerfen, dass sie
viel zu viel reinpacken in ihre Stücke, statt sich auf ihre Erfahrung zu verlassen. – Erfahrungen erst einmal zu machen,
das ist allerdings unbedingt empfehlenswert! In diesem
Sinne würde man heute am liebsten raten: Dichter weg vom
Theater! Weg von den Schreibschulen! Rein ins Leben!
TdZ: Was ist für Sie das Besondere an der diesjährigen Auswahl?
Iris Laufenberg: Wir hätten uns in diesem Jahr sehr viel
schneller auf fünf Stücke aus dem Ausland einigen können.
Wir haben dann noch sehr lange sieben oder acht der
deutschsprachigen in der Endauswahl diskutiert – begeistert
waren wir eher von den fünf, sechs Stücken aus Spanien,
Großbritannien, Finnland, den Niederlanden, Schweden
und der Türkei. Das sagt weniger über die Qualität der
deutschsprachigen Autoren aus. Sondern vielmehr, dass die
internationalen Einreichungen schneller überzeugen, ja
auch in ihrem Land zum Teil schon uraufgeführt und erTdZ · Mai 2007
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A. Aley: 4 1/2
A. Taylor: Watte
folgserprobt sind. Die Stücke der deutschsprachigen Autoren sind wirkliche Entdeckungen, noch fragiler, roher oder
für den anderen gerade nicht und einfach nur banaler, platter, kunstloser. Sie spalten die Jury eher und irritieren die
empfindlichen Nasen der Trüffelschweine unter den Juroren. Da bedarf es einiger Diskussionsrunden; heftige Überzeugungsarbeit am Gegenüber wird geleistet, um dann
doch die eigene Meinung über Bord zu werden. Am Ende
wird sie schließlich wieder reaktiviert, weil der erste Eindruck doch zu kostbar war, um ihn einer Mehrheitsentscheidung zu opfern. Wenn man unsere diesjährige Auswahl genau betrachtet, ist bis zum Schluss eigentlich auch
kein Stück aus Deutschland dabei geblieben. Unter den fünf
sind zwei deutschsprachige, nämlich von der gebürtigen Litauerin Arna Aley und dem Österreicher Volker Schmidt.
Die drei anderen sind aus Großbritannien, der Türkei und
Finnland.
TdZ: Weisen die eingereichten Stücke dieses Jahr eine ästhetische
oder thematische Vielfalt auf? Oder lassen sich die Texte typologisieren?
Kekke Schmidt: Wie die Autoren ihr Thema verpacken, variiert in mehrfacher Hinsicht. Sprachlich gibt es eine starke
Tendenz zur „fingierten Mündlichkeit“, zur Umgangssprache in verschiedenen Formalisierungsgraden. Etwas seltener
scheinen mir die Versuche stärkerer poetischer Verdichtung
– im Sinne einer ausgestellten Künstlichkeit. Manche Autoren lassen ihre Figuren eloquent und pointiert sprechen, andere – und das sind mehr – möglichst einsilbig. Du hast – .
Nein. Ich meine – . Genau. Wenn – . Kann sein. –
Da kann man vielleicht wirklich von einer Tendenz sprechen: Die Sprache soll „authentisch“ klingen, wie im Leben,
oder im Volksstück, oder wie im Film, schmucklos lakonisch, vielleicht cool, wie bei Fosse oder Kaurismäki. Wahrscheinlich lassen sich auf diese Weise leichter Dramen
schreiben, die leidlich „etwas hermachen“, als durch Welterklärungs-Tiraden und Soziologieseminar-Exkurse, die selten
gute Dialoge abgeben. Was die Konstruktion der Geschichte
angeht, geben sich manche Stücke betont (nach)lässig, was
sicher auch damit zusammenhängt, dass das well made play
in deutschen Dramaturgien nicht allzu beliebt ist. Lieber als
„sauber gebaut“ und spannend verzahnt – was aber auch vorkommt! – wird da aphoristisch in loser Reihung gearbeitet
oder mystifiziert bezüglich Realität und Kausalität („es
könnte so oder so sein, warum, weiß man auch nicht genau;
vielleicht ist aber auch alles nur Einbildung oder Traum“).
Die Verzettelung dieser Antwort spricht doch eher für die relativ breite Streuung der Stücke: Es lassen sich eben nicht
nur Typ A versus Typ B kategorisieren, weder ästhetisch
noch thematisch. Ich würde höchstens schätzen, dass es in
der deutschsprachigen Dramatik einen Überhang an „privaten Themen“ und eine Tendenz zur – lose gefügten – „Sprechsprache“ gibt. Die französischen Stücke, die ich gelesen habe,
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V. Schmidt: Die Mountainbiker
M. Kilpi: Wie ärgerlich!
Preisverleihung
schreiben sich demgegenüber häufiger in eine experimentelle Formtradition ein.
Feridun Zaimoglu: Das Thema der Saison scheint mir zu
sein, dass die Kaputten jeden Sehnsuchtsort kaputtmachen.
Es gibt auf dem freien Markt der Aufführungen zurzeit viele
Rührstücke, in denen die versehrten Ego-Maschinen aus der
Achse kippen, und aus Scham und Reue einen Familienverbund gründen. In den eingereichten Stücken dagegen ist für
mich ein durchgängiges Motiv zwar nicht zu erkennen, aber
es tauchen Ich-Helden auf, die die bestehende Unkultur mit
Unbehagen in Verbindung bringen. Also sondern sie sich ab
und sprechen wie Salon-Heckenschützen von „uns“ und
„den anderen“. Die Protagonisten sind mittelstandsnarkotisiert, leider. Sie handeln wie Menschen ohne jede Anleitung
und Regieanweisung. Die Figuren sind Behälter für Ideen,
oder viel eher für Worte, und sie torkeln als Sprachtonnen
durch eine grob gesetzte Handlung. Ich habe mich zuweilen
schwer getan mit der Lektüre, weil die Stücke in Stimmung
und Ausführung recht liberal gehalten sind. Als wollte man
es allen Seiten recht machen. Ich erkenne die Ablösung einer
Dramatikerkrankheit durch eine andere. In den letzten Jahren haben sich junge Regisseure und Dramatiker darin versucht, Gefühle und Zornesgesten ironisch zu brechen. Jetzt
sieht man Figuren vor den Scherbenhaufen des Lebens stehen, und erst traurig und dann wütend werden. Ihr Antriebsmotor ist die Enttäuschung, dass nichts so läuft, wie sie
es wünschen. Also werden Geschichten erzählt von Menschen, die den ordnungsgemäßen Zustand zum Teufel jagen.
Der Amoklauf ist das Gebot der Stunde.
TdZ: Dominieren noch immer die Familienstücke?
Feridun Zaimoglu: Die Familie ist thematisch abgewirtschaftet, das zeigt sich in den Stücken. In der falschen Medienwelt kommt die heile Welt als Gegenentwurf vor, als
Wehrschanze, als feste Burg gegen die kalte dunkel lockende
Welt. Die Fantasie der jungen wie alten Dramatiker drehte
sich immer wieder darum. Nur, was soll dabei herauskommen? Die Menschen sind um einige Illusionen ärmer geworden, und dass derzeit für die Neue Bürgerlichkeit getrommelt wird, ändert nichts daran, dass man inner- und
außerhalb der Familie friert. In den Stücken entdeckte ich
Menschen ohne jede Hoffnung, und ohne den Wunsch, dem
Mann oder der Frau als Wärmespender dienen zu wollen. Insofern sind die eingereichten Familienstücke zutiefst politisch. Das Kinderkriegen und Kinderhaben macht aus erwachsenen Menschen keine vor Wonne kichernden
Lebenskünstler.
TdZ: Lassen sich „Schulen“ erkennen?
Kekke Schmidt: Die Stücke, die von „Schulen“ herkommen,
legen manchmal mehr Wert auf die – verrätselnde – Konstruktion der Geschichte als auf die Geschichte selbst, und
inhaltlich „angesagt“ sind offenbar besonders kaputte Typen, kranke Frauen, verkackte Beziehungen, unmotivierte
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Wenn man „das radikal Neue“ erwartet hat, dann wird man
vielleicht enttäuscht sein. Aber mal ehrlich: Was könnte
das sein, nach den vielen Stücken, die wir ständig lesen?
Man ist doch schon glücklich, wenn man hier einen
frischen Ton vernimmt, dort eine Figur plastisch vor Augen
sieht, und an anderer Stelle aktuelle Fragen auf eine eigen(willig)e Weise verhandelt findet. (Kekke Schmidt)
Gewalttaten, Orientierungslosigkeit. Abgesehen davon, dass
die heile Welt noch nie dramaturgisch interessant war, wirkt
die Kaputtheit mangels eigener Erfahrung oft „angeschafft“.
Ob ein Autor überhaupt von einer Schule kommt oder nicht,
lässt sich erkennen. Welche Schule es jedoch ist, dazu fehlt
mir die genauere Kenntnis der jeweiligen Profile. Augenfällig sind hingegen die Autorenvorbilder. Da gibt es die kleinen Schimmelpfennigs, die Simon Stephens, die Jon Fosses –
stilbildende Dramatiker, deren „Ton“ man abnimmt, ob bewusst oder unbewusst, bis ins Plagiatorische hinein. Um gewissermaßen trotzdem ein gutes Stück zu schreiben, muss
man durch das, was man zu erzählen hat, aus dem Schatten
des Bewunderten hinaustreten, eine eigene Notwendigkeit
erkennen lassen. So erinnert eines meiner Lieblingsstücke,
„Cotton Wool“ des jungen Briten Ali Taylor, von Milieu,
Sprache und Geschichte her durchaus an sein Vorbild Simon
Stephens. Die Figuren, die er schildert, wirken aber so „wahrhaftig“ – jetzt fragen Sie mich nur bitte nicht, woran man das
festmacht! Bei allem analytischen Aufschluss, den man sich
über die eigenen Kriterien zu verschaffen sucht, gibt es ein
„Bauchgefühl“, das schwer zu beschreiben ist, aber bei der Beurteilung eine große Rolle spielt! –, die Entwicklung zwischen den Brüdern erscheint psychologisch so zwingend,
dass man mögliche Vorbilder vergisst und in das vorliegende
Stück hineingezogen wird. Wie der ältere Bruder den jüngeren sanft, aber bestimmt von seinen Illusionen weg in die
Realität holt, ihm damit das Auseinanderfallen der eingebildeten Brüdersymbiose und den Abschied von der Kindheit
zumutet, das ist, pardon, herzzerreißend. Da ist kein Wort zuviel und keins zuwenig. Auch die bleigraue Atmosphäre an
dem öden Stück Strand, der „Cotton Wool“ weitgehend zum
Schauplatz dient, ist förmlich zu spüren. Mag sein, dass da
die Fremdheit der anderen Sprache hilft, dass man im Deutschen strenger ist; mag sein, dass sich der Zauber in der Übersetzung nicht übertragen lässt. Wenn ein Stück es schafft,
eine eigene „Welt“ zu suggerieren, ein Klima, eine Temperatur – wieder lassen sich nur Metaphern dafür heranziehen –,
dann ist schon viel gewonnen. Wenn einen dann noch die Figuren, die Konflikte interessieren, das Thema relevant ist,
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hat es gute Chancen, dass man „dranbleibt“. Ist das Stück es
wert, acht Wochen Proben, sprich: Lebenszeit damit zu verbringen? Dann erfüllt es das vielleicht wichtigste Kriterium
für Relevanz.
TdZ: Wenn so oft von der Rückkehr des politischen Theaters die
Rede ist – zeigt sich so etwas wie ein engagiertes Schreiben auch
bei der Stückemarkt-Auswahl?
Feridun Zaimoglu: Ja, tatsächlich finden sich unter den
Stücken politische Versuche, und man könnte eigentlich
froh darüber sein. Ich bin es nicht. Wer engagiert schreibt,
kann auf dem Schaum, den er sich vom Maul abwischt und
der zu Boden tropft, ausrutschen. In den so genannten politischen Stücken erkannte ich eher Lehrstücke, es wird so getan, als reiche es aus, die Stirn vor Sorge in Falten zu legen.
Am Ende ist Scheitern, das ist fast immer die Moral von der
G’schicht. Ich habe mich gefragt, wieso die Moderne immer
mit der Tragik der kleinen Leute verkoppelt wird. Das Unglück auf Erden ist ein christlich-konservatives Modell. Das
Gegenteil zu versuchen, kann heilbar sein. Die Schönheit
des Widerstands gegen den Dreck herauszustellen ist auch
jenen zumutbar, denen der Gestank des Mülls in die Nase
zieht. Ich fand die politisch motivierten Stücke harmlos,
weil die Worte nicht böse funkelten.
TdZ: Wenn ein Autor, Ihrer Meinung nach, „gescheitert“ ist:
Woran lag das?
Feridun Zaimoglu: Am Anfang steht der Wille, eine Geschichte zu erzählen, nicht viele Geschichten. Abgesehen
von der Schwäche in Form und Gestaltung der Figuren haben es die, die es nicht geschafft haben, deshalb nicht geschafft, weil sie tausend Dinge in einem Stück unterbringen
wollten. Tausend Nadeln im Nadelkissen. Welche Stücke
sind gelungen? Die Stücke der Geschichtenerzählerinnen.
An dieser Stelle ein Kompliment: Mir haben die Geschichten
jener Frauen gefallen, die ihre Figuren böse-poetisch sprechen lassen. Harmonie ist die größte Lüge der bestehenden
Ordnung. Wer Unbehagen verspürt, ist ein Melancholiker.
Wer Gleiches mit Gleichem vergilt, in der Kunst, schreibt
böse Märchen auf und ist eine Könnerin.
TdZ: Was braucht ein neues Stück, damit Sie Lust haben, es zu inszenieren?
Lars-Ole Walburg: Zunächst einmal keine anderen Attribute als ein altes Stück, es muss mich in irgendeiner Weise
interessieren und ich muss von seiner künstlerischen Verdrängungsfähigkeit überzeugt sein. Aufgrund meiner Theaterprädestinierung habe ich zuerst ein inhaltliches Interesse.
Das ist die für mich „lesbarste“ Oberfläche – wenn man so
will. Mich interessiert erst einmal nicht, welche Form gewählt wurde, sondern ob ich beim Lesen das Gefühl bekomme, dass die Form ein adäquater Ausdruck für diesen
speziellen Inhalt ist. Das schlägt sich also vor allem in der
Themenwahl nieder. Mich ermüden die vielen Familienstücke in ihrer oft ausrechenbaren Figuren- und KonfliktanTdZ · Mai 2007
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ordnung. Ich verstehe, weshalb dieser allen greifbare und naheliegende Kosmos immer wieder gewählt wird, aber er
schafft es eben selten zu überraschen oder gar zu provozieren. Meine Bewunderung gilt deshalb eher den Versuchen,
die sich an größere Zusammenhänge wagen, an gesellschaftliche Probleme, an politische Zustände, an historische
Begebenheiten oder archetypische Beschreibungen. Das ist
schwerer und das Scheitern liegt näher, aber mich macht es
neugieriger und gespannter. Letztlich aber misst sich die
Lust und das Nachdenken über die Umsetzung eines Textes
auf dem Theater immer an seiner Qualität. Und da geht es
um die Durchführung einer Handlung ebenso wie um die
Zeichnung der Figuren, es geht um die Besonderheit der
Sprache, um Poesie und und und. Wenn es ein Stück schafft,
mich beim Lesen die Umsetzung vergessen zu lassen, dann
ist das meist die beste Voraussetzung für die Lust auf eine Inszenierung.
TdZ: Sie werden demnächst Feridun Zaimoglus und Günter Senkels „Schwarze Jungfrauen“ inszenieren und die „Migrantenhochzeit“ der türkischen Autorin Müserref Öztürk Çetindogan an
als szenische Lesung einrichten. Worin liegt für Sie, als deutscher
Regisseur, die Herausforderung, ein türkisches Stück zu inszenieren?
Lars-Ole Walburg: Bei der Auswahl der „Migrantenhochzeit“ passierte das, was ich in der vorigen Frage zu beschreiben versucht habe. Ich habe beim Lesen nicht mehr aufgeschaut und war gespannt, wie die Autorin das mich fesselnde
Handlungsgewirr zu welchem Abschluss bringen würde.
Dabei kann man sich – und wir haben das in der Jury-Sitzung
auch heftig getan – über viele Unzulänglichkeiten des
Stückes unterhalten oder auch aufregen. Das liegt eben an
der Betrachtungsweise und den sich daraus ergebenden Präferenzen, die ja bei jedem unterschiedlich ausfallen. Für
mich entstand die eigentliche Herausforderung dabei erst
nach der Entscheidung. Die Frage nämlich, weshalb wir ein
türkisches Stück aussuchen, das eine türkische Hochzeit in
Istanbul beschreibt. Warum es mich interessiert hat, ist sehr
leicht zu beantworten. Verkürzt gesprochen, würde allein
die Faszination an dieser fremden Welt als Erklärung schon
ausreichen. Die eigentliche Frage aber ist: Muss ein solches
Stück denn in Deutschland aufgeführt werden? Oder anders
formuliert: Für welchen „Markt“ suchen wir denn beim
Stückemarkt eigentlich Stücke? Auch darauf finde ich noch
relativ leicht eine Antwort. Ja, das „Muss“ ist grundsätzlich
schwer zu beantworten, aber das Stück kann zumindest aufgeführt werden, denn wenn es mich thematisch interessiert,
warum sollte es dann anderen Menschen in diesem Land
nicht so gehen? (Es wäre aber idiotisch zu glauben, mit dem
Stück die türkische Community ins deutsche Stadttheater
locken zu können.) Jetzt aber kommt die schwierigste Frage,
die sich aus den beiden vorangestellten ergibt und die die
wirkliche Herausforderung für den Regisseur betrifft: Wer
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spielt dieses ins Deutsche übersetzte Stück? Denn anders als
bei Tschechow, wo sich viele Inszenierungen ja auch heute
noch schwer tun mit der Umgehung von „Russen-Kitsch“, ist
diese Sorte der beiden oben genannten neuen Stücke inhaltlich zutiefst abhängig von der beschriebenen Materie. Kann
das ein deutscher Schauspieler, eine deutsche Schauspielerin leisten? Oder sollen diese Stücke (wie jüngst im Berliner
HAU in Neco Çeliks Inszenierung von „Romeo und Julia“ gesehen) Türken spielen? Die Auseinandersetzung mit diesen
Fragen ist nicht leicht. Sie wird uns in den nächsten Jahren
zunehmend beschäftigen, wenn wir das Theater als lebendige Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Wirklichkeit begreifen und sie wird keine eindeutigen, allgemeingültigen Antworten hervorbringen. Folklore, Authentizität,
Glaubwürdigkeit, Realismus – all das sind Reibungsflächen,
auf die jeder Regisseur in seiner Art antworten muss. Ich
werde mich in meiner Inszenierung von Zaimoglus und Senkels „Schwarzen Jungfrauen“ für deutsche Schauspieler und
gegen den Realismus entscheiden.
Händl Klaus: 1969 in Rum / Tirol geboren, Schauspieler und Autor in Wien, Berlin,
Port; Iris Laufenberg: 1966 in Köln geboren, seit 2003 Leiterin des Berliner
Theatertreffens; Kekke Schmidt: 1960 in Turin/Italien geboren, Dramaturgin am
Staatstheater Stuttgart; Lars-Ole Walburg: 1965 in Rostock geboren, seit 2006
freier Regisseur in Wien; Feridun Zaimoglu: 1964 in Bolu /Türkei geboren, Autor
in Kiel
Leitung des Berliner Stückemarktes Yvonne Büdenhölzer
Die Jury bei der Arbeit
(im Uhrzeigersinn): Iris Laufenberg,
Lars-Ole Walburg, Händl Klaus,
Feridun Zaimoglu, Kekke Schmidt,
Friederike Jäcksch (verdeckt,
Assistentin), Yvonne Büdenhölzer.
Fotos Frederic Lezmi
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