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Tages-Anzeiger – Dienstag, 22. Mai 2012
Kultur & Gesellschaft
Energie bis in die Fingerspitzen
Das junge Zürcher Galatea-Streichquartett brilliert nicht nur klassisch. Morgen tritt es im Kaufleuten auf.
Lieber Herr V.,
ich finde, dass die Antworten in dieser
Rubrik fadengerade ausfallen sollten –
das Leben ist schon kompliziert genug.
Allerdings muss man auch in der Mode
differenzieren, gerade wenn es um Fragen im Zusammenhang mit dem Alter
geht. Dann nämlich gilt der Satz «Es
kommt darauf an» erst recht.
Bettina Weber
Die TA-Autorin
beantwortet jede Woche
Fragen zu Mode und Stil.
Senden Sie uns Ihre Fragen an
[email protected].
Ein breiter Horizont
Das Galatea-Quartett (von links): David Schneebeli, Julien Kilchenmann, Yuka Tsuboi und Sarah Kilchenmann. Foto: Raphaël Fleury
«In der Probearbeit landen wir dann
trotzdem schnell auf demselben Nenner», sagt Kilchenmann. Und das glaubt
man ihm, wenn man die vier Musiker
spielen hört. Wie eine grosse Welle
strömt beispielsweise eine mendelssohnsche Begleitfigur durch das Ensemble. Es klingt, als wären nicht viermal
zehn Finger am Werk, sondern einmal
vierzig. Vielleicht war es genau dieses
Vielgestaltige unter einem gemeinsamen
grossen Bogen, das den ehemaligen
Bratschisten des Alban-Berg-Quartetts,
Hatto Beyerle, aufhorchen liess. Er ist
der Mentor des Ensembles. Und das ist
für sich allein genommen schon ein Gütesiegel: Wen Beyerle unter seine Fittiche nimmt, der hat einen eigenen Tonfall in der Musik. (Und dazu mit Beyerle
das Glück, nicht auf marktgerechte Uniformität getrimmt zu werden.)
Deshalb spricht auch die in gemeinsamer Arbeit mit ihm entstandene CD mit
Werken von Ernest Bloch (erschienen
letzten Herbst bei Sony) mehrere Musiksprachen. Und damit ist nicht Amerikanisch und Schweizerisch gemeint, wie
man aus der Biografie des 1916 nach
Portland ausgewanderten Genfer Komponisten schliessen könnte. Denn Bloch
schuf Werke von ganz unterschiedlicher
Klanglichkeit.
Szenen jüdischen Lebens
Mittels zarter Klangmalerei verwandelte
er Landschaften in Töne, frönte aber
auch gerne dem satt schmelzenden (und
manchmal auch etwas schmalzigen)
Tonfall, mit dem er Szenen aus dem jüdischen Leben eine neue Musiksprache
gab. Für die vier Musiker des GalateaQuartetts eine willkommene Vielfalt,
um die Bandbreite ihrer Ausdrucksmöglichkeiten zu zeigen. Und an Ausdruck
fehlt es ihnen nicht. Wenn im Konzert
die Fingerspitzen der vier zu vibrieren
scheinen, dann kaum je wegen eines
durchgehenden, romantisierenden Vibratos, sondern vielmehr, weil sie bis in
besagte Fingerspitzen angefüllt sind mit
Elan und Energie. Einer Energie, die
je nach Werk verschiedene Gesichter
­annimmt.
Soiree classique morgen Mittwoch 20 Uhr
im Kaufleuten. Moderation: Susanne
Kübler. Ermässigung mit Carte blanche.
Eine Ausstellung, die dem Ohr mehr gibt als dem Auge
Der Berner Künstler San
Keller lädt zu seiner ersten
Zürcher Museumsschau –
und zeigt sich darin überaus
gesprächig.
Von Paulina Szczesniak
Wenn Sie in diese Ausstellung keine Zeit
investieren wollen – vergessen Sies. Nur
kurz durchhasten liegt nicht drin. Wer
von San Kellers Soloschau im Helmhaus
– seiner ersten in einer grösseren Zürcher
Institution – etwas haben will, der schalte
einen Gang zurück und das Handy am
besten aus. Das ist viel verlangt, und das
weiss der bernstämmige Wahlzürcher
nur zu gut. Zeit dürfte die einzige Währung sein, mit der wir noch knausriger
wirtschaften als mit der zahlungsüblichen; emsig häufen wir Überstunden an,
um sie, irgendwann einmal, fernab vom
hektischen Alltag verbraten zu können.
Und nun hängt beim Treppenaufgang
zum Helmhaus das Fotoposter eines
Traumstrandes. Ein Blick genügt, und
das Fernweh wird so stark, dass man
meint, Salzwasser zu schmecken. Damit
setzt San Keller die Besucherin schachmatt, noch bevor sie die Ausstellung
richtig betreten hat. Und zwar ganz
ohne Worte. Das ist insofern erstaunlich, als alles, was danach kommt, im
Ausstellungstitel pragmatisch zusammengefasst wird als «Spoken Work»: all
jene kellerschen Werke, bei denen die
Sprache Trumpf ist.
Hotelbetten und Yogamatten
Im ersten Obergeschoss liess Keller eine
Tür einbauen. Tritt man durch sie hindurch, steht man in einem perfekt nachgebauten Hotelzimmer: TV, Schreibtisch, Schrank, der Kunstdruck an der
Wand – alles da. Sogar das obligate
Schildchen «Bitte nicht stören», das man
Eine Lederjacke
wie Brando mit 65?
Ich bin 65 Jahre alt, schlank und von
sportlicher Figur. In der Freizeit trage
ich gerne eine Jeans (sauber, nicht
verwaschen) und eine Lederjacke
Perfecto von Schott (ohne Aufschrift),
wie Marlon Brando eine in «The Wild
One» trug. Meine Ehefrau findet, dass
man in meinem Alter so ein Tenü nicht
mehr trägt – sicher nicht für einen
Spaziergang in der Stadt tagsüber.
Bin ich wirklich so daneben?
J.-P. V. aus Z.
Von Anna Kardos
Zunächst sah alles nach einem Studienpflänzchen aus. Als sich 2005 vier Studenten der Zürcher Hochschule für Musik – eine Japanerin und drei Schweizer
– zusammenschlossen, folgten sie damit
dem Rat ihres Professors Stephan Görner: Man solle sich in der Kammermusikform üben, um Gehör, Intonation und
Zusammenspiel zu verfeinern. Doch das
Experiment mit dem Namen «GalateaQuartett» entwickelte ungeahnte Qualitäten: Bereits nach zwei Monaten gewann es den dritten Platz beim MigrosKammermusik-Wettbewerb und ein Jahr
später belegte es einen der vorderen
Ränge beim internationalen Concours
de Genève.
Aus dem Experiment wurde Ernst,
das Studienpflänzchen wuchs und
wuchs. Es schlug Wurzeln in der Musiklandschaft und verzweigte sich sozusagen musikalisch nach links und nach
rechts, als es mit Tina Turner eine CD
einspielte, Pink Floyds «Dark Side of the
Moon» in Kammermusikfassung aufführte und daneben den Klassikern mit
Transparenz und Klarheit begegnete.
«Das gibt es tatsächlich eher selten, dass
ein Streichquartett gleichzeitig in mehreren musikalischen Richtungen zu
Hause ist», bestätigt Julien Kilchenmann, der Cellist des Galatea-Quartetts.
Bei ihnen sei es beinahe eine logische
Konsequenz gewesen. Denn die vier Musiker – die Geigerin Yuka Tsuboi, die Geschwister Sarah und Julien Kilchenmann und der Bratschist David Schneebeli – haben alle einen unterschiedlichen musikalischen Hintergrund. «Der
eine kommt mehr von der historischen
Aufführungspraxis, die andere hat die
virtuose Violinschule der grossen Solokonzerte durchlaufen, und der Dritte
bringt Jazz und Pop mit ins Spiel», so
der Cellist.
Das Galatea-Quartett glaubt, dass
diese heterogene Stil-Herkunft guttut:
«Sie ermöglicht uns, den Werken mit
einem breiteren Horizont zu begegnen.»
Und sogar in der fertigen Interpretation
noch als vier eigenständige Personen erkennbar zu sein, möchte man am liebsten anfügen.
Stilfrage
«Spoken Work» heisst San Kellers Schau
im Zürcher Helmhaus. Foto: PD
an den Türknauf hängen kann, bevor
man die Tür hinter sich ins Schloss zieht
und es sich auf dem schmalen Bett bequem macht. Letzteres ist untypisch für
einen Museumsbesuch, jedoch explizit
erwünscht, denn so lässt sich am besten
den Stimmen von Shirana Shahbazi, Stefan Burger und weiteren Schweizer
Künstlern lauschen, die akustisch Einblick in ihren Feierabend gewähren. Im
Auftrag von San Keller haben sie auf
Tonband das festgehalten, was ihnen
vor dem Zubettgehen durch den Kopf
ging – Selbstzweifel, Philosophisches
oder blosse Banalitäten. Es ist ein fairer
Deal: Man nimmt sich Zeit zum Zuhören
und darf dafür hinter die Fassaden des
Künstlerseins blicken.
Nein, konventionell ist San Kellers
Kunstbegriff sicherlich nicht. Das war
schon vor zwölf Jahren klar, als er, da-
mals noch Student an der Schule für Gestaltung, gegen Bezahlung schlief – in
Büros, Ateliers, ja sogar vor laufenden
Kameras bei «10 vor 10». Oder als er für
das Projekt «San Keller trägt Sie hoch zur
Kunst» im Kunsthaus verdatterte Besucher die Treppen hochschleppte.
Doch nicht nur das Publikum soll die
Kunst aus neuen Blickwinkeln betrachten, sondern auch der Künstler selbst.
So mietete Keller letztes Jahr an der Zürcher Berufsmesse einen Stand und lud
Kollegen ein, dort für den Künstlerberuf
zu werben – was diese, unter den skeptischen Blicken der jugendlichen Kundschaft, auf mehr oder minder originelle
Weise taten. Videos zeigen, wie sie die
Teenager im Zeichnen instruieren, sie
dadaartig mit Pferdemaske ablichten
oder einfach geduldig jede noch so alberne Frage beantworten.
Ein andermal bestellte Keller seine
Freunde ins Sitzungszimmer eines Businesshotels – zum gemeinsamen Meditieren. Ziel der Übung war, die geballte
künstlerische Geisteskraft per Telekinese in ein unweit gelegenes Grafik­
atelier zu übermitteln, wo zeitgleich ein
Dutzend Festfahnen gestaltet wurden.
Letztere schmücken nun die Helmhausfassade, während die Aufzeichnung der
Gruppenmeditation an Bildschirmen
verfolgt werden kann – auf lila Yoga­
matten sitzend, Auge in Auge mit den
projizierten Kreativdenkern. Ein Diskurs auf der Metaebene.
Etwas schräg ist das schon, und mancher Besucher mag ob der Tatsache,
dass man ihn durchs offene Museumsfenster beim Kunstgucken beobachten
kann, gar peinlich berührt sein. Eine
Portion Extrovertiertheit mitzubringen
an diese Schau, empfiehlt sich: An Karaokestationen darf man Gespräche, die
San Keller mit Besuchern eines deutschen Museums führte, sprechenderweise Revue passieren lassen. Dabei
liegt es in der Natur der Sache, dass man
nicht den Föifer und s Weggli haben
kann: Entweder gibt man sich Mühe,
fliessend und fehlerfrei zu sprechen,
und kriegt dafür den Inhalt nicht recht
mit. Oder man konzentriert sich auf das
Gesagte und macht dafür Abstriche bei
der Wiedergabe. Dabei erhält man, via
subjektives Urteil, nachträglich Einsicht
in eine Ausstellung, die bereits vorbei
ist, und gestaltet gleichzeitig die aktuelle
Schau mit.
Flüchtiges Gemeinschaftswerk
Das ist ganz schön subversiv: War einst
der Künstler das Werkzeug, das den
Ruhm der Mächtigen (oder zumindest
Zahlungskräftigen) für die Ewigkeit festhielt, funktioniert die Werkzeugwerdung hier genau anders rum: Der Künstler bestimmt die Spielregeln, der Konsument führt aus. Statt Skulpturen oder
hübscher Leinwände entsteht ein flüchtiges Gemeinschaftswerk, von dem jeder
nur jenes Bruchstück mitbekommt, das
er selber beisteuert.
Die Idee des Pars pro Toto zelebriert
Keller auch im letzten Ausstellungsraum: Kaum eingetreten, steht man vor
einem riesigen weissen Quader, der den
Raum fast gänzlich einnimmt. In dem
schmalen Spalt die Wand entlang laufend, vernimmt man gedämpfte Stimmen: die des Künstlers und jene von einigen Kunstkritikern, denen er 24 Stunden lang Rede und Antwort stand. Dieses selbst auferlegte «Kunstverhör»
brachte Befragten wie Befrager an ihre
Grenzen – und nun auch die Besucher,
da es derart leise abgespielt wird, dass
man nur Fetzen davon mitbekommt.
Das Ohr dicht an der Wand, rücken
wir schrittweise vor. Und mit uns die
Schweizer Kunst ein kleines Stück weiter nach vorne.
Bis 1. Juli.
Zunächst: Eine Lederjacke ist nicht
einfach eine Lederjacke. Es gibt gruselige Modelle mit schlechtem, sprich
blousonartigem Schnitt, die keineswegs
Coolness und Verwegenheit verströmen,
sondern unangenehm an die deutschen
Polizistenmodelle erinnern, die der Gipfel der Steifheit sind. Oder denken Sie an
den Fernsehdetektiv Matula, ein ganz
abschreckendes Beispiel, dem die Lederjacke etwas Rebellisches verleihen
soll. Das Ergebnis ist allerdings, dass er
bloss noch hölzerner wirkt.
Und dann gibt es das Modell Ihrer
Wahl, nämlich die Perfecto von Schott.
Ein Klassiker, unzählige Male kopiert
und deshalb von einem ganz anderen
Kaliber. Der Punkt ist: Die Perfecto ist
kurz und eng geschnitten. Das macht ihr
Rock-’n’-Roll-Flair aus, lässt sie aber
eben auch eindeutig jugendlich wirken;
als Marlon Brando sie im Film «The Wild
One» trug, war er knapp 30 – und das
machte sowohl ihn als auch die Jacke
glaubwürdig.
Kleidungsstücke, die für ein Lebensgefühl stehen wie die Perfecto, funktionieren deshalb nur bis zu einem gewissen Alter. Solange nämlich, wo sie selbstverständlich und unangestrengt wirken.
Danach besteht die Gefahr, dass sich die
Wirkung ins Gegenteil verkehrt. Sie können Ihr Alter – was bösartiger klingt, als
es gemeint ist – indes auf zwei Arten
wettmachen. Zum einen mit Ihrer Attitüde. Zum anderen mit dem Rest der
Kleidung. Dass Sie keine verwaschenen
Jeans tragen, ist schon einmal lobenswert. Zusätzlich empfehle ich als charmanten Stilbruch Hemden, und zwar
schlichte weisse.
Und: Tragen Sie doch anstatt der Perfecto hin und wieder einen Blazer, wenn
Sie mit Ihrer Frau unterwegs sind. Darunter können Sie dann wiederum ein
T-Shirt montieren – wieder ein Stilbruch,
aber grad andersrum.
Das Gedicht
der tisch
für marianne und max frisch
viel sympathie
für diesen tisch
mit dem die hand
verwandtschaft spürt
die platte trägt
man nur zu zweit
kein zweites mal
nach nebenan
gravierte schrift
vom holzwurm stammt
der insgesamt
ein schreibgerät
von fern berührt
der daran sitzt
mit leichtem stift
ein blatt papier
Ernst Jandl (1925–2000).
Aus: Für alle. Luchterhand-Verlag.