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Herausgeber:
DIE NEUE
ORDNUNG
Institut für
Gesellschaftswissenschaften
Walberberg e.V.
Redaktion:
Wolfgang Ockenfels OP (verantw.)
Wolfgang Hariolf Spindler OP
Bernd Kettern
begründet von Laurentius Siemer OP
und Eberhard Welty OP
Nr. 6/2014
Dezember
Redaktionsbeirat:
68. Jahrgang
Editorial
Wolfgang Ockenfels,
Liebes- und Haßdelikte
Stefan Heid
Martin Lohmann
Herbert B. Schmidt
Manfred Spieker
Horst Schröder
Johannes Zabel OP
Redaktionsassistenz:
402
Andrea Wieland und Hildegard Schramm
Druck und Vertrieb:
Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831
53708 Siegburg
Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891
Peter Schallenberg, Gemeinsame Verantwortung. Anmerkungen zur Ökumenischen
Sozialinitiative
404
Lothar Roos, „Anschluß an die Moderne“ als
Moralprinzip? Zum Konstrukt einer autonomen Moral nach Stephan Goertz
414
Astrid Meyer-Schubert, Europa und das
Christentum. Narziß versus Christ
427
Die Neue Ordnung erscheint alle
2 Monate
Bezug direkt vom Institut
oder durch alle Buchhandlungen
Jahresabonnement: 25,- €
Einzelheft 5,- €
zzgl. Versandkosten
ISSN 09 32 – 76 65
Bankverbindung:
Deutsche Bank, Bonn
Konto-Nr.: 0575670
(BLZ 380 700 59)
Bericht und Gespräch
Hans-Peter Raddatz, Globalisierung als
Krieg gegen den Menschen. I: Die Genese
des Euro-Islamischen Rassismus
438
Wolfgang Hariolf Spindler, Carl Schmitts
Korrespondenzen
452
Ansgar Lange, Bedrohtes Europa
470
Besprechungen
474
Anschrift der
Redaktion und des Instituts:
Simrockstr. 19
D-53113 Bonn
e-mail: [email protected]
Tel.: 0228/21 68 52
Fax: 0228/22 02 44
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geben nicht unbedingt
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http://www.die-neue-ordnung.de
401
Editorial
Liebes- und Haßdelikte
Vor 25 Jahren ging die DDR ihrem wohlverdienten Ende entgegen. Als Erich
Mielke, Minister für Staatssicherheit dieser DDR, am 13. November 1989 vor die
Volkskammer trat, beteuerte er: „Ich liebe - ich liebe doch alle - alle Menschen na ich liebe doch - Ich setzte mich doch dafür ein!“ Auf diese politische Liebeserklärung erntete der meistgehaßte SED-Funktionär nur noch höhnisches Gelächter
seiner SED-Genossen, die ihn so lange ertrugen. Er wurde 1993 wegen Mordes zu
sechs Jahren Haft verurteilt und 1995 auf Bewährung freigelassen. Er starb im
Alter von 93 Jahren in einem Pflegeheim; er ruhe in Frieden.
Nein, persönlich gehaßt hat Mielke seine Opfer wohl nicht, sondern mit nüchternideologischer Sachlichkeit bloß verfolgt, ins Gefängnis oder zu Tode gebracht.
Spätestens seit seiner hassenswerten Liebesbekundung sollte der Begriff der Liebe
im politisch-rechtlichen Zusammenhang gemieden werden. Weil nämlich die
christlich verstandene Liebe nicht politisierbar und justiziabel, sondern existenziell-personalistisch zu verstehen ist. Wie auch der Haß, dem die christliche Liebesbotschaft diametral entgegengesetzt zu sein scheint. An den Gott zu glauben, der
in Person die Liebe ist, verpflichtet zur Gottes- und Nächstenliebe, sogar zur Feindesliebe. Aber nicht dazu, Verbrechen und Verkommenheit, Laster und Lüge zu
lieben. Hat Jesus die Pharisäer, Schriftgelehrten und Geldwechsler im Tempel geliebt oder gehaßt, als er sie – nicht nur mit Worten - hart anging? Heute würde er
vielleicht als „Haßprediger“ angeklagt.
Liebe und Haß sind gewiß starke innere Motive, wie auch Zorn und Ekel, Wut,
Rache und Verzweiflung. Zu welchen Gedanken, Worten und Werken führen sie?
Dies ist zunächst eine Gewissensfrage, die das forum internum beschäftigen muß,
dann erst, in zweiter Linie, eine Frage der weltlichen Justiz eines Rechtsstaats, der
nicht die Gesinnungen ausschnüffeln, sondern die „sozialschädlichen“ Taten unparteiisch-leidenschaftslos verfolgen sollte.
Ein „Haßprediger“ der besonderen Art war Karl Kraus, als er vor hundert Jahren,
also während des Ersten Weltkriegs, in seiner „Fackel“ die Ursachen dieses Krieges vor allem in einer korrupten, nationalistischen und zugleich „liberalen“ Presse
und aggressiven Stimmungsmache ausfindig machte. „Die letzten Tage der
Menschheit“, sein großes Drama, das bis heute nicht einmal auf einem Mars-Theater aufführbar erscheint, hat eine neuerliche Aktualität besonders in der Darstellung eines Journalistentyps gewonnen, wie er in der Alice Schalek geradezu klassisch vorgebildet ist: Als jenes kriegshysterische Weib, das es nicht abwarten
kann, daß endlich geschossen wird – und sie dabeigewesen ist, mitten im Schützengraben, um über das Grauen lustvoll berichten zu können.
Daß Karl Kraus, der sonst (ähnlich wie Shakespeare) alles vorausgewußt haben
soll, hierbei bereits den neuen Ost-West-Konflikt um die Ukraine im Blick hatte,
402
ist eher unwahrscheinlich. Aber die neuen Schaleks beiderlei Geschlechts bevölkern zur Anheizung des neuen Konflikts unsere Medien, die ihren Haß auf den
Teufel Wladimir Putin kaum noch zügeln können: Er sei sowieso krank, er habe
Krebs, und überdies sei er „paranoid“, wie Herr Doktor Andreas Schockenhoff
MdB per Ferndiagnose herausfand, statt sich als Christdemokrat einmal zu völkerrechtlichen Regeln, die für alle und reziprok gelten (sollten) und über die einseitige
Interessen- und Machtpolitik hinausgehen, nachdenklich zu äußern. Die heute bei
uns vorherrschenden antirussischen und antichristlichen Affekte werden freilich
nicht vom Volksverhetzungsparagraphen erfaßt.
Theodor Haecker, ein katholisch gemäßigter Schüler von Karl Kraus, über den seit
1935 ein Schreib- und Redeverbot verhängt worden war, hat in seinen geheimen
„Tag- und Nachtbüchern“ 1939 zu erkennen gegeben, wie sehr er die „deutsche
Herrgott-Religion“ der Nationalsozialisten gehaßt hat. Sie habe „zweifellos etwas
Ähnlichkeit mit dem Mohammedanismus, indem sie zur Not noch monotheistisch
ist, aber vollkommen antitrinitarisch“. Für Äußerungen dieser Art müßte Haecker,
Mentor der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, heute zwar nicht das Fallbeil, aber
immer noch eine Anzeige wegen „Volksverhetzung“ fürchten. Die erfolgreichsten
Volksverhetzer in Deutschland sind freilich bisher die Nazis gewesen, die gerade
mithilfe des Volksverhetzungsparagraphen ihre Feinde vernichteten.
Dieter Nuhr, ein Satiriker der eher sanften und geistreichen Art, ist kürzlich wegen
seiner harmlos-bürgerlichen Persiflagen auf den Koran, den er – islamisch korrekt
- beim Wort genommen hatte, wegen Blasphemie angezeigt worden. Er ist nur
knapp einer Fatwa entronnen – und auch einer Anklage durch den deutschen
Rechtsstaat. Denn seine Satiren waren nicht einmal geeignet, „den öffentlichen
Frieden zu stören“. Nicht selten sind es aber fanatische Pazifisten, die sich als
Friedensstörer betätigen. Und Leute, die sich beleidigt oder diskriminiert fühlen,
lassen sich leichter aggressiv mobilisieren als jene, die in Ruhe ihren Pflichten
nachgehen und mancherlei Beleidigungen tolerant einstecken.
Letztere Bevölkerungsgruppe wird nicht gerade von Bündnis 90/Die Grünen repräsentiert, deren Bundestagsfraktion kürzlich zur Verschärfung und Ausdehnung
des Volksverhetzungsstraftatsbestandsparagraphen aufgefordert hat. Neben den
dort genannten Bevölkerungsgruppen sollen sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität, Weltanschauung und Behinderung ausdrücklich genannt werden. Und eine Kommission solle prüfen, ob weitere Kriterien für die Definition
von „Haßkriminalität“ eingeführt werden sollten.
Mir würde allerdings schon die Klärung der Frage genügen, was Haß als leidenschaftliches Gefühl überhaupt mit dem Strafrecht zu tun hat, wenn nicht die
Grenze zur Gewalt überschritten wird. Mir wird etwas schwindlig bei dem Gedanken, daß eine gehörige Portion Haß notwendig ist, um den Haß und die Hasser zu
hassen und strafrechtlich zu verfolgen. Mit Theodor Haecker läßt sich fragen:
„Gibt es nicht einen heiligen Zorn, ja, einen heiligen Haß?“ Natürlich gibt es ihn!
Und Baltasar Gracian meinte: „Gefährlicher als der Haß ist die Schmeichelei,
weil diese die Flecken verhehlt, die jener auszulöschen arbeitet.“
Wolfgang Ockenfels
403
Peter Schallenberg
Gemeinsame Verantwortung
Anmerkungen zur Ökumenischen Sozialinitiative
Am 28. Februar jährte sich die Veröffentlichung des von EKD und DBK herausgegebenen Gemeinsamen Wortes Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit von 1997. Dieses Datum wurde bewußt gewählt, um die neue Ökumenische
Sozialinitiative der Öffentlichkeit vorzustellen. Der damalige Vorsitzende der
Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, und der Vorsitzende
des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider, wollten
durch die Wahl diese Termins an das Ökumenische Sozialwort anknüpfen.
Der Anspruch des aktuellen Papiers ist diesmal allerdings ein anderer. Es handelt
sich nicht wie 1997 um ein „definitives“ Wort der beiden Kirchen, sondern – so
der Untertitel – um eine Initiative des Rates der EKD und der DBK für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung. Und diese Initiative erschöpft sich keineswegs in dem vorgelegten Text; sondern der dient vor allem dazu, wie das Vorwort
unmißverständlich klarmacht, eine Ökumenische Sozialinitiative überhaupt erst
einmal anzustoßen. Das übersehen diejenigen, die dem Papier allzuschnell mangelnden politischen Mut vorgeworfen haben. Der Impulstext soll eine gesellschaftliche Debatte anregen und diese nicht von vornherein durch „kirchenamtliche“
Festlegungen präjudizieren.
Ein ökumenisches Ausrufezeichen
Von entscheidender Bedeutung ist dabei, daß sich die beiden großen Kirchen in
Deutschland nach 17 Jahren wieder zusammengefunden haben, um gemeinsam
eine sozialethische Initiative auf den Weg zu bringen. Das ist ein ökumenisches
Ausrufezeichen. Das Ziel, zu einem gemeinsamen Text zu kommen, hat dabei
auch das Verfahren geprägt. Sowohl EKD als auch DBK hatten sich in den Jahren
seit dem Gemeinsamen Wort immer wieder auch zu wirtschaftlich-sozialen Fragen geäußert; die Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der DBK
zuletzt 2011 mit dem Papier Chancengerechte Gesellschaft. Leitbild für eine freiheitliche Ordnung, der Rat der EKD 2008 mit der Denkschrift Unternehmerisches
Handeln in evangelischer Perspektive. Auch auf die internationale Finanzmarktund Wirtschaftskrise ab 2007 hatten beide Kirchen mit jeweils eigenen Texten reagiert.
Zunächst einmal ging es deshalb darum, die Schnittmengen in den sozialethischen
Stellungnahmen beider Kirchen aus den letzten 17 Jahren zu identifizieren, um
sich der gemeinsamen Basis für die Sozialinitiative zu versichern. In einem zweiten Schritt wurde dann diskutiert, welche weiteren Fragen in den Blick genommen
werden sollten. Damit war die Grundlage geschaffen, um einen ersten Textentwurf
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zu erarbeiten, der im Frühjahr 2013 auf einer gemeinsamen Arbeitstagung der
Kammer für soziale Ordnung der EKD und der Kommission für gesellschaftliche
und soziale Fragen der DBK mit externen Experten diskutiert worden ist. Auf der
Grundlage dieser Beratungen wurde der Entwurf dann überarbeitet und an die zuständigen Gremien von DBK und EKD zur weiteren Diskussion und Abstimmung
gegeben. Das alles war ein durchaus mühevoller Prozeß. Aber dieser Prozeß war
eben notwendig, um nach 17 langen Jahren wieder in ökumenischer Gemeinsamkeit etwas auf den Weg zu bringen.
Gerhard Wegner, der als Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD
genauso an den vorbereitenden Arbeiten beteiligt war wie der Verfasser dieses
Artikels für die Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle, betont völlig zu
Recht, daß im Vordergrund der Wille zum Konsens und damit auch die Bereitschaft zum Kompromiß standen. Daß das am Ende gelungen ist, ist ein Erfolg für
die Ökumene und für die gemeinsame sozialethische Zielsetzung. Denn
„[g]enauso bietet dieses Papier jetzt eine gemeinsame Basis, einen gewissen Konsens – mehr als ein Minimalkonsens – für Initiativen der Kirchen zur beanspruchten Erneuerung der Wirtschafts- und Sozialordnung.“1
Neue soziale Herausforderungen
Hintergrund der Ökumenischen Sozialinitiative sind die tiefgreifenden sozialen
Veränderungen und neuen Herausforderungen, die sich in den letzten 17 Jahren
ergeben haben. Manche der angesprochenen Themen waren bereits 1997 virulent
oder zeichneten sich zumindest als zukünftige Fragestellungen ab. So etwa die
wachsende Dynamik der Globalisierung, die dazu führt, daß sich inzwischen nicht
mehr nur die Unternehmen in einer internationalen Wettbewerbssituation befinden, sondern auch die Nationalstaaten: dem Wettbewerb um die besseren Standortbedingungen.
Diesen Standortwettbewerb „bekommen auch die Arbeitnehmer zu spüren, denn
im Kern gilt: Während das Kapital global agiert, bleibt der Faktor Arbeit an die
Realwirtschaft gekoppelt“ (Sozialinitiative, S. 7f.). Mit dieser Formulierung greift
der Impulstext die Beobachtungen des spanischen Soziologen Manuel Castells
auf, der bereits in seiner Studie Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, die 1996
weltweite Aufmerksamkeit erregt hatte, prognostizierte, daß sich die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit unter den Bedingungen einer dynamisierten Globalisierung tiefgreifend verändern werden. „Kapital ist im Kern
global. Arbeit ist in der Regel lokal“, so formuliert es Castells. Kapital und Arbeit
existieren in der globalisierten Gesellschaft „in unterschiedlichen Räumen und
Zeiten [...]: im Raum der Ströme und im Raum der Orte, Instant-Zeit der Computernetzwerke gegenüber der Uhrenzeit des Alltagslebens.“2 Damit vergrößern sich
die Möglichkeiten des Kapitals, der Anleger, Spekulanten und Finanzjongleure,
während diejenigen, die nur ihre Arbeit zum Erwerb haben, ins Hintertreffen geraten.
Hier zeichnet sich bereits die wachsende Bedeutung des Finanzmarktes ab, dessen
dunkle Seite in der Krise ab 2007 offenbar geworden ist. Erfreulich ist, daß die
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Kirchen über diese Schattenseiten aber nicht die positiven Aspekte übersehen und
betonen, daß der Finanzmarkt und die globale Mobilität des Kapitals für die Entwicklung gerade auch der ärmeren Länder durchaus neue Chancen bieten und notwendig sind. Was das Papier allerdings scharf kritisiert, ist der naive Glaube an
die Selbstregulierungskraft des Finanzsektors. „Als diese Illusion wie eine Seifenblase zerplatzte, waren die Staaten zu umfassenden Rettungsmaßnahmen gezwungen. Ohne das Geld der Steuerzahler zur Rettung privater Banken wären viele
Staaten kollabiert. An den Folgen tragen viele Länder bis heute“ (S. 8). Auch den
Zusammenhang zwischen diesen staatlichen Rettungsmaßnahmen in der Finanzmarktkrise und der Staatsschuldenkrise, in die ab 2010 verschiedene Länder der
Eurozone geraten sind, betont das Papier. Richtig ist aber genauso, daß die betroffenen Länder deswegen keineswegs von ihrer eigenen Verantwortung für ihre
volkswirtschaftliche und fiskalische Situation freigesprochen werden.
Auch wenn das Papier seinem Anlaß nach unübersehbar im Zusammenhang mit
diesen beiden großen Krisen der letzten Jahre steht, so ist seine Perspektive doch
keineswegs ökonomistisch verengt. „[D]ie Schicksale der Völker sind heute nicht
nur in ökonomischer Hinsicht miteinander verknüpft“, wird vielmehr betont. „Die
wachsenden globalen Umweltprobleme, insbesondere der Klimawandel, vergrößern die bestehenden sozialen Ungleichgewichte und gefährden letztlich die Lebensgrundlagen der gesamten Menschheit.“ Unmißverständlich heißt es: „In ökologischer Hinsicht ist die Belastbarkeitsgrenze unseres Planeten erreicht“ (S. 8).
Mit Blick auf die Sozialpolitik hebt der Impulstext besonders die Herausforderung
des demographischen Wandels hervor, „der die Sozialstruktur unserer Gesellschaft tiefgreifend verändern wird und unsere sozialen Sicherungssysteme auf eine
große Belastungsprobe stellt“ (S. 9). Ebenso wird die wachsende Ungleichheit in
der Einkommens- und Vermögensverteilung problematisiert. Das sozial- und gesellschaftspolitische Leitbild des Papiers wird mit den Begriffen Inklusion und Integration bereits in der Einleitung deutlich.
Für eine nachhaltige Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft
Ein starkes Bekenntnis legen die beiden Kirchen für die Idee der Sozialen Marktwirtschaft ab. Deren Ziel liegt nach der vielzitierten Definition Alfred Müller-Armacks (1901-1978) – und das Zitat fehlt auch in dem Impulstext nicht – darin, „das
Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden.“ Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft grenzt sich dabei sowohl von
dem Modell einer Laissez-faire-Wirtschaft, dem „ungebändigten“ Kapitalismus,
als auch von dem Modell des Interventionismus ab. Der Interventionismus versucht die Quadratur des Kreises, indem die Marktwirtschaft mit Instrumenten
planwirtschaftlicher Steuerung verbunden wird. Das führt aber lediglich dazu, daß
sich die widersprüchlichen Elemente wechselseitig blockieren. Die Soziale Marktwirtschaft ist dagegen „eine bewußt gestaltete marktwirtschaftliche Gesamtordnung“. Auch Sozialpolitik ist Teil dieser Gesamtordnung; sie soll, so formuliert es
Müller-Armack, „den sozialen Zweck sichern, ohne störend in die Marktapparatur
einzugreifen.“3
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Die Kirchen unterscheiden freilich sehr genau zwischen dieser Idee und der heute
„real existierenden“ Sozialen Marktwirtschaft. Die Idee muß immer wieder neu
institutionell ausbuchstabiert werden. Unter den gegenwärtigen Herausforderungen beschäftigt sich der Impulstext ausführlich mit den ökologischen Bedrohungen, insbesondere dem Klimawandel und dem demographischen Wandel. Zu den
beiden herkömmlichen Prinzipien der marktwirtschaftlichen Freiheit und des sozialen Ausgleichs muß heute als drittes das Prinzip ökologischer Nachhaltigkeit
hinzutreten. Die in einer Sozialen Marktwirtschaft zur Verfügung stehenden ordnungspolitischen Steuerungsinstrumente müssen dazu genutzt werden, die wirtschaftliche Entwicklung von weiteren Steigerungen des Ressourcen- und Umweltverbrauchs abzukoppeln. Die Energiewende beurteilen die Kirchen vor diesem
Hintergrund positiv. Sie betonen aber auch, daß eine deutsche Ökologisch-Soziale
Marktwirtschaft nur dann als Vorbild und Modell für andere Staaten dienen kann,
wenn Deutschland zugleich ein wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstandort bleibt –
wozu zweifellos der starke industrielle Kern bewahrt werden muß – und zugleich
das deutsche Sozialmodell des „Wohlstands für alle“ erhalten wird.
Die Beachtung des Prinzips der Nachhaltigkeit mahnen die Kirchen auch mit Blick
auf den demographischen Wandel an. Die damit verbundenen Belastungen müssen gerecht zwischen den Generationen verteilt werden. Sorgen machen sich die
Kirchen über eine in Zukunft wieder zunehmende Altersarmut. Die Leistungsgerechtigkeit und die gesellschaftliche Akzeptanz des Rentensystems sind in Frage
gestellt, wenn ein Großteil der Rentnerinnen und Rentner in Zukunft nur noch
Rentenansprüche in Höhe der Mindestsicherung erwerben könnte. Bei der Wahl
zwischen einer (noch weiteren) Senkung des Nettorentenniveaus und der Verlängerung der Lebensarbeitszeit geben die Kirchen deshalb der zweiten Alternative
aus genuin sozialethischen Gründen eindeutig den Vorzug. Die Erhöhung des
Renteneintrittsalters auf 67 Jahre bezeichnet der Impulstext denn auch konsequenterweise als notwendig. Ganz in diesem Sinne kritisierte Erzbischof Zollitsch bei
der Vorstellung des Impulstextes die Pläne der Koalition zu einer Aufweichung
der Rentenreform von 2007 durch die Schaffung der Möglichkeit einer „Rente mit
63“.
Für eine Neubesinnung auf die Ordnungspolitik
Aber es gibt durchaus lobende Worte für das gegenwärtige institutionelle System
der Sozialen Marktwirtschaft. Dieses habe sich gerade in der Finanzmarkt- und
Wirtschaftskrise bewährt, die Deutschland im Vergleich mit vielen anderen Ländern ohne größere volkswirtschaftliche und soziale Friktionen überstanden hat.
„Damit hat sich gezeigt, daß die Grundidee der Sozialen Marktwirtschaft nicht nur
unter moralischer Perspektive, sondern auch unter dem Aspekt nachhaltigen gesellschaftlichen Erfolgs nach wie vor richtig ist“ (S. 20). Als Beispiel für die positive Rolle sozialstaatlicher Instrumente in der Krise wird ausdrücklich die Kurzarbeit genannt, mit der 2008/2009 zahlreiche betriebsbedingte Kündigungen vermieden werden konnten.
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Dieser Gedanke der Verbindung von wirtschaftlicher Rationalität und moralischer
Verantwortung ist der Grundtenor der wirtschaftsethischen Überlegungen in dem
Papier. Und dabei wird keineswegs nur an das Ethos des „ehrbaren Kaufmanns“
appelliert. Bereits die erste der zehn Thesen, die die Ideen der Sozialinitiative konkretisieren, lautet: „Gemeinsame Verantwortung heißt, wirtschaftliches
Wachstum in den Dienst für den Menschen zu stellen“ (S. 15). Die Pointe ist dabei,
daß die Kirchen die soziale Verantwortung eben nicht als Additiv zum Markt verstehen, sondern die Marktwirtschaft braucht von vornherein diese Ausrichtung auf
das Soziale.
Hier zeigt sich, daß das Bekenntnis des Papiers zur Ordnungsidee der Sozialen
Marktwirtschaft keine bloße rhetorische Pflichtübung ist. Denn das ist ja die bereits oben skizzierte Grundidee derer gewesen, die nach dem Zweiten Weltkrieg
die Soziale Marktwirtschaft begründet haben: Es kommt vor allem auf eine ordnungspolitische Einhegung des Marktes an, und das Soziale ergibt sich in der
Marktwirtschaft dann zumindest in Teilen bereits aus dem marktlichen Wettbewerb selbst. Für Walter Eucken (1891-1950), den Kopf der damals wirtschaftspolitisch maßgeblichen „Freiburger Schule“, liegt die zentrale ordnungspolitische
Aufgabe des Staates deshalb darin, eine Vermachtung des Marktes zu verhindern
und fairen Wettbewerb zu gewährleisten.
Hier spürt der Text zur Sozialinitiative auch die tiefere Ursache der wirtschaftlichen Verwerfungen der letzten Jahre auf, insbesondere der Finanz- und Wirtschaftskrise. Statt des „starken Staates“, den die „Freiburger“ immer gefordert haben und der eine robuste Rahmenordnung für den Markt zu schaffen und zu garantieren hat, verbreitete sich seit den neunziger Jahren von den USA aus eine
Ideologie, die den kompletten Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsgeschehen
propagierte. Im Grunde wird dieser Ideologie zu viel Ehre angetan, wenn sie heutzutage mit dem Begriff des „Neoliberalismus“ bezeichnet wird. Es ist vielmehr
eine Art Vulgärliberalismus, der mit dem ursprünglichen Neoliberalismus wenig
gemein hat. Bundespräsident Joachim Gauck hat Anfang des Jahres in seiner Festrede aus Anlaß des 60-jährigen Bestehens des Freiburger Walter-Eucken-Instituts
darauf hingewiesen.4 Neoliberalismus, das war einst ein sehr ehrbarer Begriff, der
den hochreflektierten Versuch einer Wiederbelebung der freiheitlichen Ordnung
nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnete.
Scharf kritisiert der Impulstext die „Ideologisierung der Deregulierung, die die
Politik jahrelang dazu drängte, die Märkte, besonders die Finanzmärkte, sich
selbst zu überlassen“ (S. 25). Es werden die in den Jahren vor der Krise herrschenden ökonomischen Modelle kritisiert, die eine Kontrollierbarkeit auch größter Risiken auf den Finanzmärkten suggeriert hatten. Und in bester Tradition der Freiburger Schule heißt es: „Richtig ist vielmehr eine der Grundannahmen der Sozialen Marktwirtschaft: daß nämlich die Märkte eine Rahmenordnung und eine wirksame ordnungspolitische Aufsicht benötigen, damit das Finanz- und Wirtschaftsgeschehen in gemeinwohldienliche Bahnen gelenkt wird“ (S. 25).
Nach wie vor sehen die Kirchen deshalb Handlungsbedarf im Blick auf eine erneuerte Finanzmarktordnung. Diese müsse sich vor allem an dem „Prinzip der
Haftung“ orientieren, das Walter Eucken als eines der konstituierenden Prinzipien
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der Sozialen Marktwirtschaft bezeichnet hat. Eucken faßt diesen Gedanken in einem schlichten moralischen Grundsatz zusammen, den der Impulstext wörtlich
zitiert: „Wer den Nutzen hat, muß auch den Schaden tragen“ (S. 24).5 Haftung
bewirkt, so Eucken weiter, daß „die Disposition des Kapitals vorsichtig erfolgt.
Investitionen werden um so sorgfältiger gemacht, je mehr der Verantwortliche für
diese Investitionen haftet. Die Haftung wirkt insofern also prophylaktisch gegen
eine Verschleuderung von Kapital und zwingt dazu, die Märkte vorsichtig abzutasten.“6 Die Finanzmarktkrise ist ein eindrucksvoller Beweis ex negativo für diesen Grundsatz.
Die Kirchen fordern deshalb unter anderem, daß der Steuerzahler in Zukunft davor
geschützt werden muß, für die riskante Geschäftspolitik von Banken geradestehen
zu müssen. „Das systemische Risiko und Erpressungspotential, das mit Finanzinstituten verbunden ist, die ‚too big to fail‘ sind, muß wirksam begrenzt werden“
(S. 25). Haften sollen in Zukunft zunächst einmal die Eigentümer der Banken, also
die Aktionäre, und die Inhaber von Bankanleihen, also diejenigen, die auch die
potentiellen Profiteure der Anlagepolitik sind.
Steuergerechtigkeit und Haushaltskonsolidierung
Diese Forderung einer notwendigen „Korrespondenz von Freiheit und Verantwortung“ (S. 25) in der Sozialen Marktwirtschaft konkretisiert der Impulstext auch
mit Blick auf die Frage der Steuergerechtigkeit. „Steuerpflicht ist nicht nur eine
rechtliche, sondern auch eine moralische Bürgerpflicht“, wird klargestellt (S. 30).
Der Text begrüßt deshalb nicht nur die auch auf internationaler Ebene verstärkten
Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Es gehe darüber hinaus
auch darum, jene Schlupflöcher zu stopfen, die Möglichkeiten zur legalen, aber
eben doch moralisch illegitimen „Steuervermeidung“ bieten.
Soziale Verantwortung fordern die Kirchen aber nicht nur von den wirtschaftlich
handelnden Bürgerinnen und Bürgern, sondern auch von den politisch Verantwortlichen im Staat. Mit Blick auf die politische Gestaltungsfähigkeit der öffentlichen Hand heute und mehr noch in der Zukunft, fordern die Kirchen deshalb
einen Abbau der Staatsverschuldung. Wie sehr aus dem Ruder laufende Staatsschulden das Gemeinwohl gefährden können, zeigt sich gerade in der Euro-Krise.
Begrüßt werden deshalb die im Grundgesetz und im europäischen Fiskalpakt in
den letzten Jahren festgelegten Schuldenbremsen.
Gleichzeitig wird betont, daß die mit der Haushaltskonsolidierung verbundenen
Belastungen gerecht verteilt werden müssen. Scharf kritisiert das Papier daher,
daß in manchen europäischen Ländern die Schuldenkrisen „auf dem Rücken von
Millionen von Menschen ausgetragen werden, die sie nicht verursacht haben. Insgesamt ist ein Schuldenabbau, der vor allem auf Kosten der sozial Schwachen und
auf Kosten notwendiger Zukunftsinvestitionen geht, aus ethischer Sicht nicht hinnehmbar“ (S. 31).
Insgesamt lehrt die Erfahrung, daß eine Haushaltskonsolidierung allein durch Sparen praktisch nicht realisierbar ist. Notwendig ist vielmehr vor allem eine positive
konjunkturelle Entwicklung. Diese war der Grund, weswegen Deutschland vor
409
Ausbruch der Finanzmarktkrise im Jahr 2007 erstmals seit 1969 wieder einen ausgeglichenen Haushalt hatte. In den Jahren zuvor war es gelungen, durch eine stärkere Dezentralisierung der Tarifpolitik und durch Arbeitsmarkt- und Sozialreformen die Arbeitskosten zu senken und so die internationale Wettbewerbsfähigkeit
der deutschen Unternehmen zu stärken. Hier liegen auch die Gründe, weswegen
Deutschland die Finanzmarktkrise und die Eurokrise so gut überstanden hat. Weltweit wird über dieses „German Wunder“ gesprochen. Schnell konnte Deutschland
so wieder auf den Pfad der Haushaltskonsolidierung zurückkehren und die Jahre
2012 sowie 2013 ebenfalls mit einem ausgeglichenen Staatshaushalt abschließen.
Gerade das Beispiel der Entwicklung Deutschlands vom „kranken Mann“ zur
„Wirtschaftslokomotive“ Europas zeigt, wie ein hochentwickeltes Land im Umfeld der wirtschaftlichen Globalisierung bestehen kann. In Europa gilt die deutsche
Reformpolitik heute als vorbildlich. Und auch die Kirchen würdigen in ihrem Impulstext die Erfolge dieser Politik. Das hat manche Kritik hervorgerufen, das Papier urteile zu positiv über die Arbeitsmarktreformen und verliere deren Schattenseiten aus dem Blick. Aber das Gegenteil ist der Fall. Der Text betont ausdrücklich, daß die zu beobachtende Ausweitung und Verfestigung prekärer Beschäftigungsverhältnisse nicht hinnehmbar ist und die Politik hier gegensteuern muß.
Auch werden die Mißstände im Niedriglohnbereich benannt, wie sie sich vor allem
in manchen Zweigen des Dienstleistungssektors zeigen, wo die Tarifautonomie
nicht greift. Hier unterstützen die Kirchen einen gesetzlichen Mindestlohn. Sie benennen aber auch die Gefahren: Vor allem für jugendliche Berufseinsteiger, für
Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose dürfen keine neuen Barrieren zum
Einstieg in den Arbeitsmarkt errichtet werden.
Manchem ist das zu zurückhaltend. Aber Zurückhaltung zeugt in diesem Fall von
Verantwortungsbewußtsein. Auch die Soziale Marktwirtschaft funktioniert – mit
guten Gründen – nach den Regeln jeder Marktwirtschaft. Und in einer Marktwirtschaft zeitigen staatliche Interventionen regelmäßig nicht nur die erwünschten Resultate, sondern auch unbeabsichtigte Nebenfolgen. Auf diese Weise können mitunter gutgemeinte soziale Maßnahmen ganz und gar unsoziale Folgen nach sich
ziehen. Das heißt ganz konkret: Wenn die Politik den Niedriglohnbereich zu
„gründlich“ bekämpft, dann werden am Ende nicht nur die niedrigen Löhne, sondern auch die dazu gehörenden Arbeitsplätze verschwunden sein. Das aber ist mit
dem anspruchsvollen ethischen Leitmotiv, das der Text zur Diskussion stellt, nicht
vereinbar.
Inklusion und Partizipation als ethische Leitkategorien
Der Impulstext stellt unmißverständlich fest, daß es offenkundig „noch nicht hinreichend gelungen [ist], eine Antwort darauf zu finden, wie unter den Bedingungen der Globalisierung ein gerechter und fairer sozialer Ausgleich in der Sozialen
Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts organisiert werden kann“. Als ethisches
Leitbild empfehlen die Kirchen hierbei „die möglichst umfassende soziale Inklusion und Partizipation aller Menschen in unserem Land“. Und sie stellen klar:
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„Das ist nicht nur eine im engeren Sinne sozialpolitische, sondern eine umfassend
gesellschaftspolitische und auch zivilgesellschaftliche Aufgabe“ (S. 21).
Damit ist ein hoher ethischer Anspruch formuliert, dessen politische Ausgestaltung nicht in der Hand der Kirchen liegt, der aber trotzdem in dem Papier inhaltlich
konkretisiert und exemplarisch ausgefaltet wird. So empfiehlt der Impulstext, den
oft auf das Paradigma der Verteilungsgerechtigkeit verengten „sozialpolitischen
Diskurs durch einen stärker chancenorientierten gesellschaftspolitischen Diskurs
zu ergänzen“ (S. 42). Wer daraus einen Vorbehalt gegen sozialstaatliche Umverteilung konstruiert, der hat den Text nicht gründlich gelesen. Richtig ist vielmehr,
wie der Mainzer Sozialethiker Gerhard Kruip feststellt, daß in dem Papier „[a]ufgeräumt wird mit dem oft konstruierten Gegensatz zwischen Beteiligungsgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit. Denn beide gehören eindeutig zusammen.
Um Beteiligung sicherzustellen, muß eben auch umverteilt werden.“7
Um umfassende Inklusion und Partizipation zu gewährleisten, müssen nach wie
vor vielfältige Diskriminierungen in der Gesellschaft abgebaut werden. Das betrifft die unterschiedlichsten sozialen Gruppen. Kritisiert wird in dem Text beispielsweise die „gläserne Decke“, die Frauen immer noch zu oft den Weg in Führungspositionen versperrt. Genannt werden aber auch die Mütter und Väter, die
für sich keine hinreichenden Möglichkeiten sehen, Familie und Beruf gut zu vereinbaren. Die Sozialinitiative könnte hier etwa die Vorschläge zu einer auf 32
Stunden reduzierten Elternarbeitszeit aufgreifen, die Familienministerin Manuela
Schwesig zur Diskussion gestellt hat. Sie hat dafür Kritik eingesteckt, aber auch
viel Zustimmung erhalten, auch in anderen Parteien und sogar aus der Wirtschaft.
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) hat sich immerhin für
eine Elternarbeitszeit von 35 Stunden ausgesprochen.
Ganz anders gelagert, aber sozial und moralisch nicht weniger relevant, ist die
Tatsache, daß Menschen mit Migrationshintergrund nach wie vor nicht die gleichen sozialen Chancen haben. Das betrifft auch diejenigen, die bereits in der zweiten und dritten Generation in Deutschland leben, hier aufgewachsen und ausgebildet worden sind. Zahllose Studien zeigen, daß sie bei gleicher Qualifikation doch
signifikant schlechtere Karriereaussichten haben. Es ist gut, daß die Kirchen auch
dieses Problem klar beim Namen nennen.
Bei all dem verlieren die Kirchen nicht die „klassischen“ Themen der Sozialpolitik
aus dem Blick. Trotz der deutlich entspannten Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt mahnen sie an, daß das Problem der Arbeitslosigkeit für die Betroffenen
nach wie vor großes Leid bedeutet, das weit über den Mangel an Einkommen hinausgeht. Deswegen kritisieren die Kirchen auch scharf, daß im Zuge der Instrumentenreform gerade im Bereich der Eingliederungsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose mit multiplen Vermittlungshemmnissen die Mittel zusammengestrichen
wurden. Das ist mit dem ethischen Leitbild von Inklusion und Partizipation nicht
vereinbar. „Kein Mensch darf als ‚nicht-aktivierungsfähig‘ abgeschrieben werden“ (S. 47).
Die ethische Leitidee des Impulstextes stellt hohe Ansprüche an Staat und Gesellschaft, aber auch an den Einzelnen. Die Kirchen stellen klar, daß „es sowohl der
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Chancengerechtigkeit als auch der Eigeninitiative“ bedarf, „[u]m das anspruchsvolle Projekt umfassender sozialer Inklusion zu verwirklichen“. Die Forderung
nach Eigeninitiative ist in diesem Fall aber nicht, wie das manchmal in der politischen Debatte der Fall sein mag, ein Vorwand, um Staat und Gesellschaft aus ihrer
Verantwortung zu entlassen. Vielmehr betont das Papier unmißverständlich: „Damit der Einzelne die Eigeninitiative ergreifen kann, muß er auch die tatsächliche
und faire Chance haben, sich mit seinen individuellen Begabungen in der Gesellschaft einzubringen. Wirkliche Chancengerechtigkeit herzustellen, ist eine herausfordernde gesellschaftspolitische Aufgabe. Es geht dabei darum, daß Menschen
mit schlechteren sozialen Startbedingungen Unterstützung erfahren, angefangen
bei der frühkindlichen Förderung“ (S.43). Das erklärt auch, wieso das Thema Bildung in dem Impulstext einen prominenten Platz einnimmt. Bildungspolitik ist
vorsorgende Sozialpolitik und verspricht insofern eine gute soziale Rendite. Jeder
Euro, der heute in Bildung investiert wird, wird morgen im Sozialhaushalt eingespart bzw. wird als Steuer und Sozialabgabe in die öffentlichen Kassen zurückfließen.
Europa und die Grenzen eines kirchlichen Sozialpapiers
Mit Blick auf die Staatsschuldenkrise in Europa betont das Papier die gemeinsame
Verantwortung der europäischen Partner und das Gebot der Solidarität. Die Kirchen stellen sich damit eindeutig auf die Seite der europäischen Idee und gegen
die auch hierzulande Zulauf gewinnenden Kräfte, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen und nationalstaatlichen Chauvinismus propagieren. Manchen
Kommentatoren geht der Text hier – wie auch an anderen Stellen – aber nicht weit
genug. Deshalb sollen zum Abschluß an diesem Beispiel ein paar grundsätzliche
Überlegungen zu den Möglichkeiten und Grenzen eines solchen von den Kirchenleitungen verantworteten Impulstextes angefügt werden.
Der Frankfurter Sozialethiker Bernhard Emunds beispielsweise hätte sich mehr
Kritik an der Politik der Bundesregierung in der Eurokrise gewünscht. Vor allem
die deutschen Handelsbilanzüberschüsse sind ihm ein Dorn im Auge. Er kritisiert,
daß das Papier jene Analysen ausblende, in denen die „exportorientierte Wirtschaftspolitik“ Deutschlands für die Überschuldung der südeuropäischen Staaten
mitverantwortlich gemacht wird. Diese Wirtschaftspolitik kann man seiner Ansicht nach „unter den Bedingungen der Währungsunion schlicht als unsolidarisch
bezeichnen.“8
In dieser wirtschaftspolitischen Diskussion könnte man der Argumentation von
Bernhard Emunds zweierlei entgegenhalten. Erstens liegt die unausgeglichene
Handelsbilanz nicht (allein) in einer „exportorientierten Wirtschaftspolitik“
Deutschlands begründet, was auch immer damit genau gemeint sein mag. In den
ersten Jahren nach der Einführung des Euro, als Deutschland Strukturreformen
durchgeführt hat und die Tarifpartner hierzulande Lohnzurückhaltung geübt haben, haben die Südeuropäer sich kräftige Lohnsteigerungen genehmigt und zwar
in einer Höhe, die offenbar nicht nachhaltig von den volkswirtschaftlichen Gege-
412
benheiten gedeckt war. So wurden die Produkte der südeuropäischen Unternehmen im Export immer teurer und die der deutschen immer günstiger. Tragen die
Deutschen an dieser Fehlentwicklung tatsächlich die alleinige Schuld? Wohl
kaum. Zweitens ist das mit den Exportüberschüssen gar keine so einfache Sache.
Eine neue Studie des Prognos-Instituts zeigt, wie stark die anderen europäischen
Länder von der Nachfrage der deutschen Industrie nach Vorleistungsprodukten
profitieren.9 3,5 Millionen Arbeitsplätze in anderen EU-Staaten hängen nach den
Berechnungen des Instituts davon ab. Außerdem geht die Exportstärke Deutschlands keineswegs mit einer Importschwäche einher.
Auch weil die Faktenlage so unklar ist, tun die Kirchen gut daran, in ihren sozialethischen Stellungnahmen keine allzu steilen politischen Behauptungen und Forderungen aufzustellen. Sie würden damit die ethische Orientierung, die sie geben
möchten, unnötig angreifbar machen. Weiter „vorwagen“ können und sollen sich
Andere im Rahmen der Sozialinitiative.
Anmerkungen
1) Gerhard Wegner, Der Kompromiß als integrative Kraft. Das neue Sozialwort der Kirchen als stellvertretender Konsens, http://www.gegenblende.de/20-2013/ ++co++acd
9f768-ab88-11e3-a18b-52540066f352 (abgerufen am 14.04.2014).
2) Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, übers. v. Reinhart Kößler,
Opladen 2001. 533 f.
3) Alfred Müller-Armack, Art. Soziale Marktwirtschaft, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Stuttgart u. a. 1956, 390-392, hier: 390 f.
4) http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden /2014/
01/140116-Walter-Eucken_Institut.html (abgerufen am 14.04.2014).
5) Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 7. Aufl., Tübingen 2004, 279.
6) Ebd., 280.
7) Gerhard Kruip, Impuls für weitere Diskussionen. Kirchen legen neues „Sozialwort“
vor, in: Herder Korrespondenz 68 (2014), 173-177, hier: 175.
8) Bernhard Emunds, Fehlstart. Zur ökumenischen Sozialinitiative und ihrem Impulstext,
in: Stimmen der Zeit, 232 (2014), 335-345, hier: 342.
9)http://www.prognos.com/fileadmin/pdf/publikationsdatenbank/140417_Prognos_Studie_vbw_Bedeutung_dt._Industrie_EU_DE.pdf (abgerufen am 21.04.2014)
Msgr. Prof. Dr. Peter Schallenberg lehrt Moraltheologie und Ethik an der Theologischen Fakultät Paderborn und leitet die Katholische Sozialwissenschaftliche
Zentralstelle Mönchengladbach.
413
Lothar Roos
„Anschluß an die Moderne“ als Moralprinzip?
Zum Konstrukt einer autonomen Moral nach Stephan Goertz
Der Mainzer Moraltheologe Stephan Goertz hat sich in letzter Zeit in drei Publikationen mit den erkenntnistheoretischen Grundlagen einer katholischen Moraltheologie befaßt: In dem Aufsatz „Theozentrik oder Autonomie? Zur Kritik und
Hermeneutik der Moral der Moderne bei Joseph Ratzinger/ Papst Benedikt XVI.,
in: ETHICA 19 (2011) 1, S. 51-83;1 in seiner Veröffentlichung: „Naturrecht und
Menschenrecht. Viele Aspekte der kirchlichen Sexualmoral werden nicht mehr
verstanden“, in: Herder Korrespondenz Jg. 68 Nr.10/ 2014, S. 509-514;2 schließlich in einem Artikel „Wie frei ist die Moraltheologie?“ in der Ausgabe 38/2014
von „Christ und Welt“.3 Wir wollen uns in diesem Beitrag geistesgeschichtlich
und grundsätzlich mit dem hier zu diskutierenden Spannungsfeld von Theozentrik
und Autonomie befassen. In einem folgenden Artikel soll dann auf das Verhältnis
von „autonomer Moral“ und „Naturrecht“ eingegangen werden.
Einführung
Goertz beginnt mit der These, die „philosophische Anthropologie der Neuzeit“
komme „immer wieder zurück auf die ethisch relevante Bestimmung des Menschen, ein eigenes Leben führen zu können“. In diesem Sinne postuliere A. Hilt:
„Autonomie ist (...) Selbstgesetzgebung angesichts der ‚offenen Frage‘ dessen,
was Mensch sein ist und sein kann, und sie hat gerade diese offene Frage zu wahren“.4 Mit einer so verstandenen Autonomie unvereinbar sei nach Goertz jene „Alternative“, die ihm in den „ethischen Schriften“ von Joseph Ratzinger / Benedikt
XVI., insbesondere in dessen Enzykliken Deus caritas est und Caritas in veritate,
entgegentrete: „Der Gläubige, dem es um Wahrheit geht, müsse sich entscheiden,
ob er sein Handeln vor dem säkularen Publikum und dessen Moral oder vor dem
göttlichen Schöpferwillen und seiner Kirche verantworten wolle“.5 Dieser von Goertz so genannten „theozentrischen Perspektive“ setzt er sein Verständnis einer
„autonomen Moral“ entgegen mit dem Ziel „der Überwindung der Alternative
zwischen Theozentrik und Autonomie“6 zu dienen, wie sie Joseph Ratzinger angeblich vertritt.
Auf die Frage, was es mit dem „Begriff der Autonomie“ auf sich habe, antwortet
Goertz: „Zunächst einmal bedeutet Autonomie im moralischen Kontext, daß sittliche Forderungen letztlich ethisch und nicht ökonomisch, politisch oder biologisch zu begründen sind. Und auch nicht religiös. Für die Ethik ist die praktische
Vernunft zuständig. Moralische Urteile über Gut und Schlecht werden uns nicht
offenbart, so daß wir an sie glauben müßten. Sie müssen unserer Erfahrung und
unserer Vernunft zugänglich sein. Moralische Forderungen müssen sich mit teilbaren Gründen rechtfertigen und sich auf Werterfahrungen beziehen lassen. [...]
414
In einem zweiten Sinne meint Autonomie das Vermögen des Menschen, sich in
Freiheit an das moralisch Gesollte zu binden. [...] Drittens schließlich meint Autonomie die aus dem grundsätzlichen Vermögen zur Freiheit resultierende je eigene, unverwechselbare Identität und Lebensgeschichte. Autonomie führt zur legitimen Individualität und Vielfalt von Lebensentwürfen [...] Wir könnten an dieser Stelle auch von einem Leben gemäß der eigenen Gewissensfreiheit sprechen.
Es gibt einen letzten zu respektierenden und zu schützenden Bereich von Subjekthaftigkeit in der Lebensführung, an dem alle Außeninstanzen abprallen müssen.“7
Bei all dem stellen sich zwei Fragen: (1) Wie läßt sich angesichts der zwiespältigen Wirkungsgeschichte der neuzeitlich entfalteten autonomen Vernunft der Anspruch einer „autonomen“ Moral im Sinne von Goertz heute noch durchhalten?
(2) Wird eine so verstandene „autonome“ Moral jener Sicht des Menschen gerecht,
die in den biblischen Schriften und den lehramtlichen Äußerungen der Kirche über
die Beziehung von Glaube und Sitten (Fides et mores) vertreten wird?
I. Zur Geistesgeschichte einer „Moral der Moderne“
Die Theorie einer „autonomen“ Moral sieht ihren Ursprung in der oft beschriebenen „anthropozentrischen Wende“ am Beginn der Neuzeit: Bis dato fühlte sich der
Mensch hinsichtlich seiner moralischen Urteile dem Willen Gottes verpflichtet,
wie er von der Morallehre der Kirche verkündet wurde. Mit der Entfaltung der
Neuzeit läßt er diese „Abhängigkeit“ Schritt für Schritt hinter sich. Er wird „aufgeklärt“ und somit fähig, autonom jene sittlichen Entscheidungen zu treffen, die
ihm vernunftgemäß erscheinen, ohne dabei eine übernatürliche göttliche Offenbarung und eine moralischen Weisung der Kirche zu brauchen. – Welche geistesgeschichtlichen Erfahrungen haben wir mit diesem Ansatz vom Beginn der Neuzeit
bis heute gemacht?
1. Vom Optimismus der „Aufklärung“ zum „Ende der Neuzeit“
Die Neuzeit läßt sich beschreiben als großartige und vorher ungeahnte Entfaltung
der Möglichkeiten der menschlichen Vernunft in den positiven Wissenschaften
und deren Anwendung in Technik, Ökonomie und Politik. Die einzelnen Teildisziplinen der Natur- und Humanwissenschaften entwickelten sich autonom immer
mehr ohne Rückbindung an philosophisch-ethische oder gar theologische Voraussetzungen. Die säkulare Gesellschaft, die Gott nicht mehr braucht, entstand. In
dem Maße aber, wie auf diesem Weg nicht nur Nützliches und Gutes, sondern
mehr und mehr auch Bedrohliches, ja Tödliches möglich und z. T. schon wirklich
wurde, lassen sich Wert- und Sinnfragen aus dem Konzept der „öffentlichen Vernunft“ nicht mehr ausklammern.
Genau darauf hat Romano Guardini aufmerksam gemacht, als er unmittelbar nach
dem Zweiten Weltkrieg in seinem Buch „Das Ende der Neuzeit“ den Satz schrieb:
„Wenn Gott seinen Ort in der Welt verliert, verliert ihn auch der Mensch.“8 Und
sofern man letzte ethische Entscheidungen nur in der „Verantwortung vor Gott
und den Menschen“ (vgl. Präambel des Grundgesetzes) begründen kann, hat Gott
den ihm neuzeitlich entlaufenen Menschen gewissermaßen wieder eingeholt.
415
Auch wer dieser theologischen Schlußfolgerung nicht zustimmen will, muß zugeben: Ohne Wertentscheidungen, wie immer man sie begründen mag, gibt es keinen
Ausweg aus der gegenwärtigen Fortschrittskrise.
Benedikt XVI. hat in seinen Schriften, vor allem aber in der Enzyklika Spe salvi
(SS) „Über die christliche Hoffnung“ (2007), eingehend den geistesgeschichtlichen Wandel, der sich in der Neuzeit bisher vollzogen hat, reflektiert. Im Abschnitt
„Die Umwandlung des christlichen Hoffnungsglaubens in der Neuzeit“ (16-23)
stellt er fest: „Erlösung“ werde nun „nicht mehr vom Glauben erwartet, sondern
von dem neu gefundenen Zusammenhang von Wissenschaft und Praxis.“ Der
Glaube werde in diesem Prozeß „nicht einfach geleugnet, aber auf eine andere
Ebene – die des bloß Privaten und Jenseitigen – verlagert und zugleich irgendwie
für die Welt unwichtig“ (SS 17). Daraus folgt: „Vernunft und Freiheit scheinen
aufgrund ihres eigenen Gutseins von selbst eine neue vollkommene menschheitliche Gemeinschaft zu gewährleisten“ (SS 18).
Wohin aber bewegte sich inzwischen diese Gesellschaft? Benedikt XVI. präsentiert
in seiner Enzyklika dafür einen Zeugen, den kaum jemand erwartet hätte, nämlich
Immanuel Kant: In der Neuzeit habe sich allmählich die „Umwandlung des christlichen Hoffnungsglaubens“ durch den Glauben an den „Fortschritt“ vollzogen.
Sein „revolutionäres Potential“ habe dieser „Glaube“ erstmals in der Französischen Revolution entfaltet. Das „aufgeklärte Europa“ habe auf diese Vorgänge
„zunächst fasziniert“ hingeblickt. Aber schon 1795 habe Immanuel Kant in der
Schrift „Das Ende aller Dinge“9 befürchtet, es könne ein „verkehrtes Ende aller
Dinge“ eintreten, und zwar dann, wenn „das Christentum aufhöre, das sittliche
menschliche Handeln zu beeinflussen“ (SS 19). Diesem „verkehrten Ende“ sind
wir seit 1789 beträchtlich näher gekommen, wie im folgenden aufzuzeigen ist.
2. Der soziologisch nachweisbare Moralverfall einer „Gesellschaft ohne Gott“
Aufschlußreich ist, daß unter den „Zeugen“, auf die sich Goertz zur soziologischen
Absicherung einer „autonomen Moral“ beruft, kaum empirisch forschende Religionssoziologen (etwa Gerhard Schmidtchen, Renate Köcher, Detlef Pollack u.a.)
zu finden sind. Der Autor stützt sich besonders auf Niklas Luhmann und dessen
Aussage, daß es für die Soziologie „ein Außen, von woher eine Kritik ihre Maßstäbe beziehen will, nicht gibt“. Vielmehr sei „die Gesellschaft als das umfassende
System aller Kommunikation [...] weder gut noch schlecht, sondern nur die Bedingung dafür, daß etwas so bezeichnet werden kann“10. Unter dieser szientistischen Prämisse hätte Soziologie keine „Maßstäbe“ verfügbar, um das Verhältnis
von Religion und Gesellschaft adäquat zu begreifen. Im Unterschied dazu vermag
eine verstehende, Wert- und Sinnfragen einbeziehenden Soziologie, die Korrelation von Glaube, Religion und Gesellschaft und die gesellschaftlichen Bedingtheiten sittlicher Entscheidungen ganz anders zu erforschen als deren szientistisch reduzierte Variante. – Was fördert eine solche Soziologie zutage, um die Gründe für
die Veränderungen im Verhältnis von Religion und Gesellschaft in der Neuzeit
und besonders seit dem Ende der Nachkriegszeit zu verstehen?
Eine freiheitliche Gesellschaft kann auf Dauer nur existieren, wenn ihre Glieder
das nötige Tugendethos aufbringen, um die humanitären Institutionen (vor allem
416
Ehe und Familie, Rechtsstaat, Sozialstaat, Bürgergesellschaft) so zu gestalten, daß
sie den Grundwerten der Freiheit, des Friedens und der Gerechtigkeit möglichst
gut dienen. Nimmt man zur Kenntnis, daß die empirische Sozialforschung in den
zurückliegenden Jahrzehnten eine weitgehende Schwächung des Tugendethos ans
Licht gebracht hat, dann wirken der anthropologische Intellektualismus und die
weitgehende Vernachlässigung des Tugendethos im Konzept einer „autonomen
Moral“ heute merkwürdig rückständig. Eine „Gesellschaft ohne Gott“ führt nachweislich zu einem signifikanten Moralverfall. Daß die Würde des Menschen tragende Wert- und Tugendethos und die dazu nötigen moralischen Standards
schwinden in dem Maße, wie religiöse Bindungen aufgegeben werden.
In seinem Buch „Was den Deutschen heilig ist“ hat sich der Religionssoziologe
und Sozialpsychologe Gerhard Schmidtchen bereits 1979 intensiv mit diesem
Phänomen befaßt und nachgewiesen, daß der Verlust an religiöser Orientierung
negative Folgen für das Grundwertethos mit sich bringt.11 Der Bonner Politologe
Andreas Püttmann kommt in seinen, die aktuellen Daten in dieser Frage auswertenden Untersuchungen, zu dem eindeutigen Ergebnis, daß die „Risiken und Nebenwirkungen der Entchristlichung Deutschlands“ prekäre Konsequenzen für die
Qualität und Stabilität des Ethos zur Folge haben.12 Im Unterschied dazu hat der
Freiburger Soziologe Hans Joas bestritten, daß Säkularisierung zum Moralverfall
führen müsse.13 In seiner Replik hält ihm Püttmann eine Fülle von empirischen
Studien und Fakten entgegen, aus denen der Moralverfall eindeutig sichtbar
wird.14
Werner Münch und Andreas Püttmann zählen dazu im einzelnen beispielhaft folgende Sachverhalte auf: Die „immer brutalere Gewalt- und Jugendkriminalität bis
hin zu spektakulären Amokläufen, Mord- und Totschlagsdelikte an Wehrlosen
‚just for fun‘ und planmäßig-ritueller Vandalismus, Korruption, Wettbetrug und
Doping im Sport, Drogenmißbrauch und ‚Komasaufen‘, Bildungsmisere bis zur
Ausbildungsunfähigkeit, verbreitetes Mobbing und Mitarbeiterbespitzelung, immer aggressivere Werbemethoden und dreistere Konsumententäuschung, die Heroisierung ethischer Minimalisten (Dieter Bohlen, Bushido), Verkehrsrowdytum
und wachsender gewaltsamer Widerstand gegen Polizisten, zunehmend verfangende Sterbehilfe-Propaganda und längst akzeptierte Massenabtreibung, Beziehungsunfähigkeit, Promiskuität und steigende Scheidungsraten, Kindermangel
und Pflegemißstände, Zunahme psychischer Krankheiten, Entsolidarisierung, bekennende Egozentrik (‚Unterm Strich zähl’ ich‘), und Umwertung von Untugenden (‚Geiz ist geil‘) in der Werbung, grassierende Politikverdrossenheit, Rechtsund Linksextremismus, Partizipationsmüdigkeit und Verantwortungsscheu.“15
Aus all dem folgt: Eine „Gesellschaft ohne Gott“ entzieht langfristig dem ursprünglich christlich geprägten Kulturerbe Europas die ethischen Grundlagen. Genau hier zeigt sich jenes „verkehrte Ende aller Dinge“, das Kant schon 1795 befürchtet hatte.
417
II. Theologisch-ethische Probleme einer „autonomen Moral“
Die hier nur kurz skizzierte Geistesgeschichte der „Moral der Moderne“16 führt
unumgänglich zu der Frage, was aus diesen Erfahrungen für die Begründung eines
christlichen Ethos folgt.
1. Glaube und Vernunft bei Joseph Ratzinger
Das Hauptproblem des Ansatzes von Goertz besteht darin, daß er einen Gegensatz
von Theozentrik und Autonomie konstruiert. Ein solches Konstrukt läßt sich nur
aufbauen, wenn man die grundlegenden Aussagen von Joseph Ratzinger über das
Verhältnis von Glaube und Vernunft übersieht oder bestreitet, vor allem dessen
Feststellung, daß die „Wahrheit ... zugleich Wahrheit des Glaubens und der Vernunft, in der Unterscheidung ebenso wie im Zusammenwirken der beiden Erkenntnisbereiche gefunden werden“ müsse (CiV 5). Träfe die Unterstellung von Goertz
zu, dann wäre es nie zu dem berühmten Dialog zwischen Joseph Ratzinger und
Jürgen Habermas in der Münchener Katholischen Akademie gekommen.17 Wohl
kein anderer hat in zahlreichen Veröffentlichungen so differenziert wie Joseph
Ratzinger über das Verhältnis von Glaube und Vernunft nachgedacht, vor allem
unter der Devise, was unter dem heutigen geistesgeschichtlichen Bedingungen
daraus für die Verkündigung der Kirche folgt. Dazu bedarf es im Sinne einer
christlichen Anthropologie immer eines „Duplex ordo cognitionis“, also eines Zusammenwirkens von Glaube und Vernunft.18
Warum ist dieses „Zusammenwirken“ für die Morallehre und Sozialverkündigung
der Kirche unabdingbar? Die menschliche Vernunft müsse, so Ratzinger, stets in
Hörweite zu Gottes Wort bleiben, um nicht einer „ethischen Erblindung durch das
Obsiegen des Interesses und der Macht“ zu verfallen. Der Glaube „ermöglicht der
Vernunft, ihr eigenes Werk besser zu tun und das ihr Eigene besser zu sehen.“
Deshalb wolle die Kirche durch die Verkündigung des Glaubens und der damit
immer verbundenen Sittenlehre „schlicht zur Reinigung der Vernunft beitragen
und dazu helfen, daß das, was recht ist, jetzt und hier erkannt und dann auch durchgeführt werden kann“. Die Kirche habe deshalb „die Pflicht, auf ihre Weise durch
die Reinigung der Vernunft und durch ethische Bildung ihren Beitrag zu leisten,
damit die Ansprüche der Gerechtigkeit einsichtig und politisch durchsetzbar werden“ (Enzyklika Deus caritas est 28).
Damit wird von Ratzinger die recht verstandene Autonomie der Vernunft ebenso
akzeptiert wie deren Angewiesenheit auf Gottes Heilshandeln in der Geschichte,
das seinen Höhepunkt in der Menschwerdung des Logos findet. Erst dieser Logos
vermag die vom Schöpfer dem Menschen geschenkte Vernunft in die ganze Wahrheit zu führen (vgl. Konstitution Gaudium et spes 22) und dessen Willen so zu
stärken, daß er das Gute auch tut bzw. das Böse, das er getan hat, bereut und umkehrt.19
2. Das Ausblenden der biblischen Anthropologie
Es ist kein Zufall, daß in den hier behandelten Aufsätzen von Goertz nur gelegentliche Hinweise auf eine biblische Anthropologie zu finden sind. Der Mensch ver-
418
dankt im Konzept dieser „autonomen“ Moral seine Autonomie zwar dem Schöpferwillen Gottes und muß sich am Ende vor ihm verantworten. Alle anderen Aussagen der biblischen Urgeschichte (Gen 1-11) über die „conditio humana“ werden
nicht rezipiert. Daß die „Schlange“ Eva und Adam durch jene Verheißung in Versuchung führt: „ihr werdet sein wie Gott und erkennt Gut und Böse“ (Gen 3,5) –
genau das ist der Anspruch einer absoluten Autonomie –, bleibt ebenso außer acht
wie der Beschluß der Bewohner von Babel: „Auf, bauen wir uns eine Stadt und
einen Turm mit der Spitze bis zum Himmel“ (Gen 11, 4). „Bis zum Himmel“ heißt
in der Sprache der Bibel, „autonom“ eine Gesellschaft planen und bauen zu wollen, die Gott nicht braucht. Eine „autonomen Moral“, die der „natura lapsa“ des
Menschen kaum Bedeutung für das autonom gefällte sittliche Urteil zumißt, widerspricht der gesamten Erfahrung des alttestamentlichen Gottesvolkes und auch
den neutestamentlichen Schriften. Man braucht sich nur die paulinischen Tugendund Lasterkataloge anzuschauen, um zu einer anderen Sicht des sittlich geforderten Menschen zu kommen. Nur gemäß dem Moralprinzip des neuen Seins in Christus (εν Χριστω) vermag der Glaubende intellektuell und habituell dem zu entsprechen, was dem „neuen Menschen in Christus“ gemäß ist.
Dieser Ansatz findet sich in den paränetischen Teilen der gesamten neutestamentlichen Briefliteratur. Nur so wird es möglich, dem lasterhaften Lebenswandel zu
entrinnen, den Paulus im Römerbrief als Moral der nicht zuletzt deswegen untergehenden Kultur von damals beschreibt (vgl. z.B. Röm 1, 18-32; Phil 2,15). Das
dem entsprechende Bewußtsein der frühen Christenheit zeigt sich exemplarisch
im „Brief an Diognet“ am Beginn des 3. Jh. Dessen Moralprinzip lautet nicht „wir
auch“ im Sinne eines „Anschlusses“ an die Moral der damaligen Umwelt. Vielmehr heißt es dort z.B. bezüglich der Sexualmoral der Christen: „Sie heiraten wie
alle, sie zeugen auch Kinder, aber – sie setzen die Erzeugten nicht aus. Ihren Tisch
machen sie allen gemein, aber nicht ihr Ehebett“ (c. 5). In einer ähnlichen Situation
wie zur Zeit des Diognet befinden sich die Christen heute angesichts eines „neuen
Heidentums“, von dem Joseph Ratzinger geradezu prophetisch schon 1958
sprach.20
3. „Verkirchlichung“ des Christentums und „Selbstreferenzialität“ des Lehramts
Aufschlußreich sind auch die Aussagen von Goertz über das kirchliche Lehramt:
„In immer neuen Anlässen wird von Ratzinger seit den 1960er Jahren der Primat
des Empfanges vor dem Machen zum Ausweis christlichen Glaubens erklärt. Das
technische und politisch-soziale ‚Machbarkeitswissen‘ habe sich neuzeitlich zum
Schaden des Menschen verabsolutiert. Dessen notwendige Relativierung setze ein
anderes Denken voraus“, das Goertz schon beim frühen Ratzinger aufspürt: „Glauben heißt: das vertrauende Sichstellen auf einen Grund, der trägt, nicht weil ich
ihn gemacht habe (...), sondern vielmehr eben darum, weil ich ihn nicht gemacht
habe.“21
Offensichtlich stehen diese Feststellungen Ratzingers der Idee einer „autonomen
Moral“, wie sie Goertz vertritt, im Wege. Denn bei Ratzinger, so Goertz, werde
das „Geltenlassen vorgegebener Wahrheiten [...] zur spezifisch christlichen Existenzform“, und gerade dies diene „in der Welt von heute als Korrektiv gegen die
in seinen Augen verhängnisvollen aktivistischen Humanisierungsprojekte des
419
Menschen.“ Um dem „Geltenlassen vorgegebener Wahrheiten“ zu entsprechen,
sei „theologisch beschlossen worden, in Gestalt des kirchlichen Lehramtes einen
Reflektionsstopp einzubauen.“22 Tendenziöseres kann man über das Kirchliche
Lehramt nicht mehr sagen. Zusätzlich wird dabei Ratzingers Theologie verzeichnet, denn sie ist keineswegs ekklesiozentrisch, sondern christozentrisch angelegt.23
Dessen ungeachtet wird dann von Goertz – in Anlehnung an Franz-Xaver Kaufmann – die „Verkirchlichung des Christentums“ kritisiert. Bezeichnend ist, daß er,
hier wiederum Niklas Luhman zitierend, feststellt: „Wer Gott als Beobachter (und
nicht einfach: als heiliges unberührbares Objekt) beobachtet, gewinnt damit eine
letzte Sinnsicherheit mit Bezug auf einen unfehlbaren Konstrukteur, der die Welt
geschaffen hat, der sieht, was geschieht, und der seine Konstruktion nicht ändern
wird – obwohl er es könnte. Er hat sie, wie berichtet wird, für gut befunden. Und
das wird mit vielen Dogmen unterstrichen: Er hat sich vertraglich gebunden. Er
sieht den Menschen als Krone der Schöpfung an. Er liebt ihn.“24 In Anlehnung an
dieses von Luhmann entworfene Zerrbild christlichen Glaubens behauptet Goertz,
hier wiederum angelehnt an Luhmanns Terminologie: „Lehramtliche Dokumente
zeichnen sich bis in unsere Gegenwart durch ein hohes Maß an normativer
Selbstreferenzialität aus.“25
4. Das Ignorieren der päpstlichen Lehräußerungen
Unter dieser Voraussetzung ist es konsequent, wenn Goertz die Texte des Zweiten
Vatikanischen Konzils und der späteren Dokumente der Päpste zu dieser Frage –
Veritatis splendor (1993), Evangelium vitae (1995) und Fides et ratio (1998) von
Johannes Paul II., sowie Lumen fidei (2013) von Papst Franziskus – sachlich ignoriert. Was besagen diese?
Im Abschnitt „über die sittliche Handlung“ bringt Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Veritatis splendor (VS) das Verhältnis von Vernunft und Glaube bei der
Erkenntnis des sittlich Guten auf den Punkt: „Die Sittlichkeit der Handlungen bestimmt sich aufgrund der Beziehung der Freiheit des Menschen zum wahrhaft Guten. Dieses Gute ist als ewiges Gesetz durch Gottes Weisheit begründet, die jedes
Wesen auf sein Endziel hinordnet: Erkannt wird dieses ewige Gesetz sowohl durch
die natürliche Vernunft des Menschen (so heißt es ‚Naturgesetz‘) als auch – in
vollumfänglicher und vollkommener Weise – durch die übernatürliche Offenbarung Gottes (dann nennt man es ‚göttliches Gesetz’)“ (VS 72). In diesem Zusammenhang greift Johannes Paul II. auch das Stichwort „autonome Moral“ mit dem
Hinweis auf, daß es „im Rahmen des Bemühens um die Erarbeitung einer solchen
vernunftgemäßen Moral – deshalb manchmal auch ‚autonome Moral‘ genannt [...] falsche Lösungen [gibt], die insbesondere mit einem unzulänglichen Verständnis dessen zusammenhängen, was man das ‚Objekt’ des sittlichen Handelns
nennt. Einige schenken der Tatsache nicht genügend Beachtung, daß der Wille in
die konkreten Wahlakte, die er vollzieht, mit einbezogen ist; diese sind Voraussetzungen für sein sittliches Gutsein und für seine Hinordnung auf das letzte Ziel der
Person“ (VS 75).
In seiner Enzyklika Evangelium vitae (EV) wird Johannes Paul II. 1995 noch
deutlicher: „Wir müssen zum Herzen des Dramas vorstoßen, das der heutige
420
Mensch erlebt: Die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen, wie sie
für das vom Säkularismus beherrschte soziale und kulturelle Umfeld typisch ist.“
Er spricht dann vom „Strudel eines furchtbaren Teufelskreises: Wenn man den
Sinn für Gott verliert, verliert man bald auch den Sinn für den Menschen, für seine
Würde und für sein Leben. Die systematische Verletzung des Moralgesetzes, besonders, was die Achtung vor dem menschlichen Leben und seiner Würde betrifft,
erzeugt ihrerseits eine Art fortschreitender Verdunkelung der Fähigkeit, die lebensspendende und rettende Gegenwart Gottes wahrzunehmen“ (EV 21).
In ähnlicher Weise spricht Johannes Paul II. in der Enzyklika Fides et ratio (FeR)
1998 von „schrecklichen Erfahrungen des Bösen, die unser Zeitalter gezeichnet“
hätten. „Der Dramatik dieser Erfahrung gegenüber vermochte der rationalistische
Optimismus, der in der Geschichte den fortschreitenden Sieg der Vernunft als
Quelle von Glück und Freiheit sah, nicht standzuhalten, so daß eine der ärgsten
Bedrohungen am Ende dieses Jahrhunderts die Versuchung der Verzweiflung ist.“
Um so erstaunlicher sei es, „daß eine bestimmte positivistische Geisteshaltung
weiterhin die Illusion glaubhaft macht, daß dank der naturwissenschaftlichen und
technischen Errungenschaften der Mensch als Weltenschöpfer von sich allein aus
dahin gelangen könne, sich der völligen Herrschaft über sein Schicksal zu versichern“ (FeR 91).
Was bleibt von dem, was wir hier aus päpstlichen Äußerungen dargelegt haben,
bei Goertz übrig? Er stellt zunächst zutreffend fest: „Jede Theologie, die mit Ratzinger die Gottesfrage wach halten will, ist, wenn sie sich auf eine ambivalente
und plurale Moderne einläßt – nicht um sich ihr auszuliefern, sondern um ihr
standzuhalten – in Relation zu den Gegebenheiten sowohl affirmativ, als auch kritisch.“ Aber was heißt das konkret? Nach welchen Kriterien soll man zwischen
„affirmativ“ und „kritisch“ unterscheiden, wenn „Autonomie“ zur „legitimen Individualität und Vielfalt von Lebensentwürfen“ führt, an der „alle Außeninstanzen
abprallen müssen“, wie Goertz meint?26
5. Die fundamentalmoralische „Gretchenfrage“
Der entscheidende Vorwurf, den Goertz gegen Ratzinger/Benedikt XVI. erhebt,
lautet: Der „Gläubige“ müsse sich entscheiden, „ob er sein Handeln ... vor dem
göttlichen Schöpferwillen und seiner Kirche verantworten wolle. Nur das Stehen
in der göttlichen Wahrheit könne verhindern, die Mitte des christlichen Glaubens
und seiner Praxis, die Liebe Gottes, zu verfehlen. Auf diesen Kern des Evangeliums gelte es sich im Glauben und Handeln zurückzubesinnen. Von dort her sollen
Antworten auf die moralischen Herausforderungen der Gegenwart gefunden werden“. In dieser „theozentrischen Perspektive“ sieht Goertz den fundamentalen Gegensatz zu dem, was er selber „Autonomie“ nennt.27 Damit erhebt sich aber die
Frage, ob die Reduktion Gottes auf die transzendentale Bedingung menschlicher
Freiheit mit dem kirchlichen Selbstverständnis einer notwendigen Verbindung
von Glauben und Sitten (fides et mores) vereinbar ist.
Insofern lautet die fundamentalmoralische „Gretchenfrage“, die gegenüber jeder
„autonomen Moral“ zu stellen ist: Kann der Mensch „gut“ leben, wenn er die sitt-
421
lichen Konsequenzen der Selbstoffenbarung des trinitarischen Gottes und die damit verbundene Stiftung und Sendung der Kirche nicht ausdrücklich in den Prozeß
des Findens und Verwirklichens des Guten einbezieht? Die katholische Antwort
lautet: Nur auf diesem „Fundament“ kann sich die „richtige Autonomie“ (Gaudium et spes 34) des Menschen so entfalten, daß er den Weg zu einer menschlicheren Welt im persönlichen wie im sozialen Ethos finden und gehen kann. Damit
unvereinbar ist die Position von Goertz, „daß sittliche Forderungen letztlich
ethisch“ und „nicht religiös“ zu begründen sind.28 Folglich müßte man das Fach
„Moraltheologie“ in „Philosophische Ethik“ umbenennen.
6. Theologie – eine Gefahr für eine autonome Moral?
Am Ende erhebt sich die Frage, was bei Goertz anstelle dessen treten soll, was er
bei Ratzinger kritisiert. Aufschlußreich dafür ist zunächst die diskursethische Prämisse: „Eine Reflexion auf die Unhintergehbarkeit von Freiheit weist zunächst
den Weg zu moralischer Verbindlichkeit, weil sich Freiheit in der Mißachtung der
Autonomie der anderen selbst dementieren würde“, wie Goertz im Anschluß an
Krings feststellt. Weiter im gleichen Sinne: „Die philosophische Anthropologie
der Neuzeit, die sich oft normative Abstinenz auferlegt, kommt immer wieder zurück auf die ethisch relevante Bestimmung des Menschen, ein eigenes Leben führen zu können.“29
Was aber passiert, wenn die Autonomie des einen die Autonomie des anderen ausschließt, etwa im Fall der Abtreibung? Goertz erkennt zwar das Problem, wenn er
sagt: „Gegenüber einer liberalen Moderne bleibt dieses Verständnis von Autonomie kritisch, weil die Proklamation von Autonomie nicht schon ihre gerechten Bedingungen herbeiführt. Ohne Solidarität und ohne entgegenkommende gesellschaftliche Verhältnisse drohen Ansprüche auf Autonomie zu verpuffen. Weil
aber auch jede Solidarität räumlich und zeitlich an Grenzen des Menschenmöglichen stößt, endet praktische Vernunft auch hier nicht in Selbsterlösungsphantasien, sondern schärft im Gegenteil auch unser Kontingenzbewusstsein.“30
Kann sich aber eine christlich verantwortete Moral und Sozialethik mit solchen
zwar richtigen, aber doch sehr allgemeinen Auskünften begnügen? Goertz hält offensichtlich wenig davon, daß „gegen die Idee eines Siegeszuges der aufgeklärten
Menschheit [...] die Brüche, Kontingenzen und dunklen Seiten der Moderne in das
eigene Selbstbild aufgenommen“ werden.31 Im Anschluß an Kant stellt er fest:
„Die sittliche Forderung hat ihren unmittelbaren immanenten Geltungsgrund in
der Selbstzweckhaftigkeit eines jeden Menschen“ – um dann als Theologe hinzuzufügen –, „die ihren transzendenten Seinsgrund in der Liebe des Schöpfers findet.“32 Was daraus für eine christliche Moral inhaltlich folgt, das bleibt offen.
Goertz meint: „Aseptische religiöse oder moralische Urteile, von denen wir ahnen,
daß sie den Kontakt zu empirischen Gegebenheiten verloren haben, lassen wir auf
sich beruhen.“33 Die Theologie solle sich dadurch auszeichnen, „daß sie das Prekäre menschlicher Existenz in den Realitäten moderner Handlungswirklichkeiten
zur Kenntnis nimmt. Endliche Autonomie muß darum nicht in erster Linie in
Schach gehalten werden, viel eher ist sie gegen vielfältige Bedrohungen und Instrumentalisierungen aus genuin theologischen Motiven in Schutz zu nehmen.“
422
Theologie kann also in den Augen von Goertz geradezu eine Gefahr für eine autonome Moral werden. Mindestens aber ist sie „notwendiger Weise mit Deutungsrisiken verknüpft“, was zu einer „heilsamen Selbstrelativierung“ führen sollte.
„Auch in Theologie und Kirche könnte daraufhin Pluralität entspannter ausgehalten werden.“34 Solche „Entspannungen“ können sich allerdings jene Christen
kaum leisten, die unter den inhumanen „empirischen Gegebenheiten“ (vgl. I. 2.)
der Gegenwart zu leiden haben oder sogar ihr Lebensrecht verlieren.35
7. Wie frei ist die Moraltheologie?
Mit dieser Frage überschreibt Goertz seinen Beitrag in „Christ und Welt“. Sie läßt
sich nur dann im Sinne einer katholischen Moraltheologie beantworten, wenn man
im Glauben darum weiß, daß Gott den Menschen mit der Freiheit zugleich seine
Liebe geschenkt hat. Damit der Mensch sich nicht in Freiheit zugrunde richtet,
muß er sich der liebenden Weisung des Wortes Gottes öffnen. Liebe ist nur lebbar
in der hinhörenden Aufmerksamkeit der Liebenden auf einander. Der Mensch
kann in christlicher Sicht seine Freiheit nur dann verantwortlich gebrauchen, wenn
er sich als „Hörer des Wortes“ (Karl Rahner) versteht, wenn er auf die werbende
Liebe Gottes hört, sein Wort in sich aufnimmt, aus ihm lebt. Der von Gott so gedachte Mensch, so zeigt uns die biblische Geschichte vom Sündenfall, möchte
aber, wie ein trotziges Kind in der Pubertät, nicht geliebt werden, sondern „ungebunden“ frei sein. Er will sich aus der liebenden Hand Gottes „emanzipieren“.
Gott läßt dies zu. Nachdem der Mensch mit seiner „autonomen Freiheit“ gescheitert ist und damit seine Lebensgrundlage (den Garten Eden!) eliminiert und seinen
Bruder ermordet hat, läßt ihn Gott nicht fallen, sondern „hat ihn immer wieder
seinen Bund angeboten“ (viertes Hochgebet). Daraus wird deutlich, daß das in
Freiheit entfaltete menschliches Leben im Einzelnen und die Geschichte der Menschen im Ganzen nur gelingen kann, wenn der Mensch seine Freiheit im „Bund“
mit Gottes Wort gebraucht. Seine Freiheit führt dagegen ins Verhängnis, wenn er
sich der Weisung Gottes zum Guten entzieht.
Diesen untrennbaren Zusammenhang von geschenkter Freiheit und waltender
Liebe Gottes aufzuzeigen und die daraus folgenden Ziele und Wege sittlichen
Handelns zu begründen, wäre Sache einer christlichen Moraltheologie. Wenn sittliche Freiheit nicht zum humanen Unglück und letztlich zum religiösen „Unheil“
führen soll, dann nur, wenn sie vor dem Horizont der dem Menschen von Gott
geschenkten Liebe gelebt wird. Deshalb sind sittliche Entscheidungen unter der
Voraussetzung eines sich dem Menschen offenbarenden Gottes nicht, wie Goertz
meint, nur „ethisch“, nicht weniger fundamental „religiös“ zu begründen. Im
christlichen Sinn sind beide Erkenntnisquellen innerlich aufeinander bezogen,
„unvermischt und ungetrennt“.
Eine so verstandene Theozentrik widerspricht nicht der richtigen „Autonomie“
(Gaudium et Spes 36) der menschlichen Freiheit, sondern gibt ihr Grund, Halt und
Orientierung, vor allem dort, wo der Mensch in Gefahr gerät, sich „in Freiheit“
selbst zu zerstören. Gerade darauf wollte Benedikt XVI. mit dem Satz aufmerksam
machen: „Der Humanismus, der Gott ausschließt, ist ein unmenschlicher Huma-
423
nismus“ (Caritas in veritate 78). Das Konzil hat den gleichen inneren Zusammenhang zwischen „Glauben und Sitten“ (fides et mores) so formuliert: Die „Sendung
der Kirche“ ist „eine religiöse und gerade dadurch [nicht durch etwas anderes!
d.V.] höchst humane“ (Gaudium et spes 11).
Entscheidend für die Humanität einer Gesellschaft, das lehrt uns gerade die Geschichte der letzten zweihundert Jahre, ist die Frage, wie viele Menschen in einer
Gesellschaft tatsächlich bereit sind, ihr Leben in „Verantwortung vor Gott und den
Menschen“ (Präambel des Grundgesetzes) zu führen. Deren Zahl hängt nachweislich davon ab, wie viele sich zu einer religiösen Begründung des Ethos im Sinne
des christlichen (und nicht irgendeines) Glaubens bekennen.
Insofern läßt sich durch viele Belege auch empirisch aufzeigen,36 wie sehr das zutrifft, was der Philosoph Leszek Kolakowski anläßlich des deutschen philosophischen Kongresses 1994 in Berlin festgestellt hat: Er sprach von einem „populären
Relativismus“, der die „Säulen, auf welche sich unsere Zivilisation stützt, [...] konsequenter als der Kommunismus“ zerstört, weil er uns „von jeder Verantwortung
und der Pflicht“ befreit. Kolakowski warnt vor dem Aberglauben, daß Freiheit von
selbst zu einer Ordnung führe. Eine solche Annahme sei deshalb anthropologisch
leichtfertig, „weil wir den barbarischen Leib immer dicht unter der Haut tragen“.
Geistige Sicherheit könne es deshalb nur aus der Überzeugung geben, „daß es einen dauernden und reellen, nicht von uns willkürlich für die jeweiligen Zwecke
erdachten Unterschied zwischen Gut und Böse, wie auch zwischen Wahr und
Falsch gibt“. Der entscheidende Punkt ist, daß es letztlich auf den „Glauben an
eine sinnvolle Ordnung der Welt“ ankommt, „einen Glauben, der außerhalb der
religiösen Tradition nicht zugänglich“37 ist.
Diese Feststellung von Kolakowski kann man aus der Sicht der katholischen Moraltheologie nur unterstreichen. Wenn also Goertz fragt „Wie frei ist die Moraltheologie?“, kann die Antwort nur lauten: Um so weniger, je mehr sie den „Anschluß an die Moderne“ sucht und sich so zum Gefangenen des Zeitgeistes machen
läßt. Ihre wahre Freiheit und die darin begründeten sittlichen Urteile kann sie nur
auf der Grundlage einer vom Glauben erleuchteten Vernunft gewinnen. Dagegen
lassen sich auch keine „empirischen Gegebenheiten“ ins Feld führen.38 Davon abgesehen, daß empirische Befunde in diesem Kontext immer nur gedeutete Fakten
darstellen, meint Goertz wohl damit den Umstand, daß sich (zu) viele Christen
nicht (mehr) an der Morallehre der Kirche orientieren. Wer daraus ein Argument
gegen diese Lehre machen will, übersieht, daß wir die Gebote Gottes ja gerade
deswegen brauchen, weil wir uns nicht an sie halten. Denen, die aus dieser „Not“
eine „Tugend“ machen wollen, hielt der Erzbischof von Luxemburg, Jean-Claude
Hollerich, bei einer Veranstaltung in der dortigen Universität entgegen. „Wir haben Gott so gut gemacht, daß er zu allem ‚Ja’ sagt, was wir tun, sodaß es am Ende
gleichgültig ist, ob es ihn gibt oder nicht.“
424
Anmerkungen
1) Im folgenden zitiert als: Goertz Theozentrik.
2) Im folgenden zitiert als: Goertz Naturrecht.
3) Im folgenden zitiert als: Goertz Moraltheologie.
4) Goertz Theozentrik S. 73.
5) Ebd. S. 51.
6) Ebd. S. 52.
7) Goertz Moraltheologie.
8) Romano Guardini, Das Ende der Neuzeit, Würzburg 1950.
9) In: Werke IV, hg. von W. Weischedel (1956) S. 777.
10) Goertz Theozentrik, S. 32, Anm. 6.
11) Vgl. Gerhard Schmidtchen, Was den Deutschen heilig ist, München 1979, sowie die
spätere Untersuchung Ethik und Protest. Moralbilder und Wertkonflikte junger Menschen.
Mit Kommentaren von Lothar Roos und Manfred Seitz, Opladen (1992), 2. Aufl. 1993.
12) Andreas Püttmann, Gesellschaft ohne Gott. Risiken und Nebenwirkungen der Entchristlichung Deutschlands, Asslar (2010) 4. Aufl. 2012.
13) Hans Joas, Führt Säkularisierung zu Moralverfall? Einige empirisch gestützte Überlegungen, in: Stimmen der Zeit, 230. Bd. (2012) S. 291-304.
14) Andreas Püttmann, Führt Säkularisierung zu Moralverfall? Eine Antwort auf Hans Joas,
Bonn 2013.
15) Werner Münch und Andreas Püttmann, „Und das Wort ist Fleisch geworden“ – Die
Inkarnation des Logos als Auftrag christlich inspirierter Politik, in: Georg Ratzinger / Roger
Zörb (Hrsg.), Zum 85 Geburtstag Festschrift für den Heiligen Vater Papst Benedict XVI.
16. April 2012, Rohrbach b. Weimar 2012, S. 174-204, hier: S. 191.
16) Vergleiche dazu ausführlicher: Lothar Roos, Humanität und Fortschritt am Ende der
Neuzeit, Köln 2. Aufl. 1984.
17) Jürgen Habermas Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und
Religion, Freiburg 2005.
18) Vgl. Ursula Nothelle-Wildfeuer, „Duplex ordo cognitionis“. Zur systematischen
Grundlegung einer katholischen Soziallehre im Anspruch von Philosophie und Theologie,
Paderborn 1991.
19) Wie Joseph Ratzinger/ Benedikt XVI. seinen Ansatz einer christlichen Moral im Sinne
eines „trinitarischen Humanismus“ begründet und entfaltet, s. Lothar Roos, Naturrecht und
Offenbarung in der Sozialverkündigung Benedikts XVI., Reihe „Kirche und Gesellschaft“,
hrsg. von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach Nr.
401, Köln 2013, S. 3-6.
20) Joseph Ratzinger, Die neuen Heiden und die Kirche, in: Hochland, 51. Jg. 1958/ 59,
Oktober 1958, S. 1-11.
21) Goertz Theozentrik, S. 57f. – Das Zitat von Ratzinger findet sich in dessen „Einführung
in das Christentum“, 6. Aufl. 2005, S. 15.
22) Goertz Theozentrik, S. 58.
23) Vgl. dazu Ralph Weimann, Dogma und Fortschritt bei Joseph Ratzinger. Prinzipien der
Kontinuität, Paderborn u.a. 2012.
425
24) Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft (2000) S. 98, bei Goertz Theozentrik,
S. 61 zitiert.
25) Goertz Theozentrik, S. 76.
26) Goetz Moraltheologie.
27) Goertz, Theozentrik, S. 51.
28) Goertz Moraltheologie.
29) Goertz Theozentrik S. 73.
30) Ebd.
31) Ebd. S. 75.
32) Ebd. S. 77.
33) Ebd. S. 78.
34) Ebd. S. 78 f.
35) Vgl. dazu aktuell: Martin Voigt, Aufklärung oder Anleitung zum Sex? Die Sexualpädagogik in den neuen Lehrplänen ist geeignet, den Kindesmißbrauch zu fördern. Die Gesamte Gesellschaft soll umerzogen werden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom
23.10.2014, Nr. 246, S. 6.
36) S. dazu „Umfragen zu Rechtsbewußtsein, Lebensschutz, Wertorientierung“ in der bereits zitierten Studie von Andreas Püttmann, Führt Säkularisierung zum Moralverfall? Eine
Antwort auf Hans Joas, Bonn 2013, S.24-30.
37) FAZ vom 05.02.1994, Nr. 30.
38) Vgl. Goertz Theozentrik.
Prof. Dr. Dr. h.c. Lothar Roos lehrte Christliche Gesellschaftslehre und Pastoralsoziologie an der Universität Bonn und der Schlesischen Universität Kattovice. Er
ist Vorsitzender der Joseph-Höffner-Gesellschaft.
426
Astrid Meyer-Schubert
Europa und das Christentum
Narziß versus Christ
I. Einleitung
Im folgenden wird ein kulturelles Spannungsfeld aufgezeigt, das den europäischen
Menschen vor eine Zerreißprobe mit ungewissem Ausgang stellt. Die EU versucht, eine Kultur zu etablieren, die außer dem Gleichheitsgrundsatz keiner anderen Werte mehr bedarf. Die unterschiedlichsten Lebensformen und Glaubenssysteme werden dabei gleich-gültig. Dagegen stehen traditionelle Kräfte mit vornehmlich christlichem Hintergrund, die immer schwächere Lebenszeichen von
sich geben.
Als Kehrseite der Gleichgültigkeit kommt im gesellschaftspolitischen Getriebe ein
archaisches Verhalten zum Vorschein, das den gesamten Kontinent gefährdet. Mit
dem griechischen Mythos des Narziß kann es am anschaulichsten gefaßt werden.
Dem narzißtischen, in Selbstliebe sich verzehrenden Charakter des modernen europäischen Menschen steht aber der Christ gegenüber, welcher zwar traditionell
seinen Platz in den Nationen Europas hätte, sich jedoch selbst vergessen zu haben
scheint. Das öffentliche Verschwinden des Christentums und die kulturelle Pflege
des Narzißtischen bedingen auch die allseits beschworene ‚Toleranz des anderen‘.
Der Verdacht besteht, daß der Europäer im anderen nur mehr sich selbst sieht.
Gewohnt daran, sich in medialer Selbstbespiegelung zu gefallen, könnte genau das
eintreten, wovor Europa bewahrt werden soll: sich selbst zu zerstören. Die Chance
der Erneuerung aber liegt für den Europäer im Christentum, das dabei hilft, seine
narzißtische Spiegelung zu überwinden, um zu einer tragfähigen europäischen
Kultur zu gelangen.
Im Wachsen der Europäischen Union zeigt Europa einen Veränderungswillen, der
eher zu einem experimentellen Schwebezustand als zu einer religiösen und kulturpolitischen Standhaftigkeit führt. Losgelöst von seinen diversen Traditionen sucht
es eine Multikulturalität zu etablieren, die mit seiner Vergangenheit nicht mehr
viel zu tun hat. In einseitigen Verteufelungen europäischer Geschichte werden die
Grundsteinlegungen Europas übersehen und damit seine drei Säulen – Athen, Rom
und Jerusalem – Gefahren ausgesetzt, deren letzte Konsequenz nicht ins politische
Kalkül einbezogen wird.
Es ist von Völkerwanderung die Rede, vom sterbenden Europa, dessen Gesicht
sich vollständig ändern wird. Gleichzeitig wird von Integration gesprochen, die
aber nur glücken kann, wenn der Integrierende mehr zu bieten hat als einen ökonomischen Zusammenschluß. Eine kulturelle Identität muß haben, wer integrieren
will. Welche Identität hat Europa?
427
Anstatt sich in Würde auf seine dem Alter gemäßen Erfahrungen zu besinnen, sich
selbstkritisch mit guten und schlechten Taten der Vergangenheit auseinanderzusetzen und – angetrieben durch die globale Herausforderung – die über Jahrhunderte gewachsene christliche Identität zu leben und zu verteidigen, zerstört sich
Europa mutwillig selbst. Mit seinem historischen Wissen um religiöse und ideologische Auseinandersetzungen hätte es eine würdigere Rolle im Spiel weltlicher
Kräfte verdient. Seine maßgeblichen Errungenschaften, die sprachliche Vielfalt
mitsamt den nationalen Eigentümlichkeiten könnten zur globalen Entwicklung
beitragen. Die Sensibilität für den Mitmenschen, soziales Denken und die Liebe
zum Frieden haben christliche Wurzeln.
Doch Europa gebärdet sich pubertär. Mithilfe der EU versucht es aufgrund scheinbarer Selbsterkenntnis, sein mühsam erworbenes Freiheitsbewußtsein zu destruieren. Vermeintlich selbstkritisch blickt es in einen ideologischen Spiegel und meint,
sich selbst in all der ihm entgegenblickenden Negativität zu erkennen. Zu blutig
sei die europäische Geschichte verlaufen. Schuld daran hätten die christliche Religion, der Glaube an die Nationen und der traditionelle Familienbegriff. An den
Wurzeln müsse man dieses Übel packen, den Europäer wider besseres Wissen davon befreien. Selbstkritik schlägt damit in Selbstdestruktion um. Ihre moderne
Form ist neben der Verhöhnung christlicher Werte und der Mißachtung des Nationalen auch die Aufhebung der Geschlechterdifferenz von Mann und Frau
zugunsten einer alles verwirrenden Geschlechterpolitik. Anhand dieses neuen europäischen Selbstbildes, das als narzißtisch bezeichnet werden muß, wird die Bevölkerung langsam in eine kulturelle Richtung gedrängt, die sich vom christlichen
Denken immer mehr entfernt.
Damit gibt die EU-Kultur einer archaischen Kraft nach, welche die christliche Religion längst als überwunden geglaubt hat. Um der folgenden Beschreibung einer
kulturpolitischen Suggestion auf die Spur zu kommen, ist es nützlich, den griechischen Mythos des Narziß heranzuziehen. Damit können gesellschaftspolitische
Handlungszusammenhänge und Reaktionsmuster verdeutlicht werden, welche
bisher wenig durchschaubar sind. Die Rationalität unseres Zeitalters sollte nicht
daran hindern, einen Mythos zwecks Selbsterkenntnis zur Grundlage kritischer
Reflexion zu machen. Anschaulicher als rationale Beschreibungen es vermögen,
ist es dem Mythos möglich, vom Charakter des Menschen, seinen Schwächen und
seelischen Abgründen zu berichten. Daher wird unter Berufung auf den Mythos
des Narziß versucht, der zerstörenden Kraft, der Europa ausgesetzt ist, näherzukommen.
II. Der Mythos des Narziß
Der römische Dichter Ovid erzählt in seinen Metamorphosen von einem sich in
der Pubertät befindenden jungen Mann, der von Männern und Frauen gleichermaßen begehrt wird. Doch er läßt sich nicht erobern, sein Interesse gilt allein der
Jagd. Damit handelt er sich den Fluch eines von ihm Verschmähten ein, der im
Moment des Sterbens folgendes ausruft: Möge er selbst so lieben und nie das Geliebte besitzen!1 Und der Seher Teiresias sagt voraus, Narziß würde nur dann ein
428
hohes Alter erreichen, wenn er sich nicht selbst erkennen würde. Weil aber Narziß
im jugendlichen Alter stirbt, so ist es die Selbsterkenntnis, an der er scheitert. Er
erkennt, daß er nur Flüchtiges, Vergängliches, ja den Spiegel seiner selbst liebt
und dadurch das Objekt seiner Liebe nicht einholen kann. Er sieht dabei zugleich
die Unerreichbarkeit seiner selbst, wobei das Selbst auf den eigenen Körper und
die damit verbundene Imago reduziert ist. Solange er aber noch der Jagd nachgeht,
ein Objekt außerhalb seiner selbst anvisiert, ist er sich seiner inneren Isolation
nicht bewußt. Sein Leid beginnt mit dem Verlust seines Gefolges, der Konfrontation mit der Einsamkeit und der Begegnung mit der Bergnymphe Echo.
Auch diese ist eine Verfluchte. Aufgrund ihres Geredes wurde sie von der Göttin
Juno zu einer reduzierten Rede verurteilt, die nur aus der Wiederholung des zuvor
von anderen Gesagten besteht. Ihre Geschwätzigkeit wird auf den bloßen Widerhall verkürzt.
Narziß und Echo begegnen sich beide als von der Gesellschaft Isolierte. Doch
beide gehören in ihrer inneren Isolation wieder zusammen, denn der Mythos erzählt: Narziß, auf der Suche nach seinem Gefolge und Echo, entzückt von seiner
Schönheit, treffen nun aufeinander. Er ruft, ob jemand zugegen sei und hört ‚Zugegen‘. Der Täuschung ausgesetzt, der Widerhall könne eine reale Person sein, die
er aber nicht entdecken kann, schlägt er vor: „Wir wollen hier uns vereinigen!“
Gab’s einen Laut, dem Echo so freudig jemals erwiderte? ‚Hier uns vereinigen!‘
rief sie zur Antwort; und sie trat aus dem Wald, getreu ihren Worten, und wollte
gehn und sogleich mit den Armen den Hals des Ersehnten umschlingen.2 Er aber
stößt sie zurück, woraufhin sie sich schamübergossen in die hintersten Winkel der
Grotten zurückzieht. Während ihr Leib vergeht, bleibt ihre Stimme erhalten.
Ähnlich aber endet Narziß: Vom Jagen ermüdet und von der Hitze durstig, kommt
er an einen Quell, um zu trinken. Hier erblickt er ein wunderschönes Antlitz, von
dem er nicht mehr loskommt. Oh, wie küßt‘ er so oft – vergeblich! – die trügende
Quelle, tauchte die Arme so oft in das Wasser, den Hals zu umschlingen, den er
erschaut, und kann sich doch selbst im Gewässer nicht fassen. Was er ersieht,
nicht weiß er’s; er sieht’s, und es setzt ihn in Flammen, und seine Augen betrügt
und entzündet der nämliche Irrtum!3
Er kommt zu der Erkenntnis, daß er in der Liebe zu seinem Spiegelbild einer mächtigen Täuschung unterliegt, daß er zum unerreichbaren Objekt seiner selbst wird,
und daß das Gegenüber nur ein Scheingebilde ist. Sich vor Sehnsucht nach sich
selbst verzehrend, zerstört er seinen Leib, und hier taucht Echo wieder auf, als
Stimme nur: Wenn er die Oberarme sich peitschte mit klatschenden Händen, ließ
auch die Nymphe den nämlichen Ton der Schläge vernehmen. Auch die Worte, die
letzten – er schaute noch immer ins Wasser – „Ach! Du Knabe, vergeblich geliebt!“ widerhallten am gleichen Orte; dem Rufe „Leb wohl!“ „Leb wohl!“ erwiderte Echo.4
Narzißens Sterben ist die Konsequenz seiner Herkunft. Als Sohn des Flußgottes
Cephisos und der Nymphe Liriope entstammt er dem Werden, der keine Beziehung zum Sein hat. Die Umwelt begehrt nur sein Äußeres, von einer inneren Substanz wird nicht berichtet. Eine tiefere Beziehungsebene ist hier nicht von Belang.
429
Als Jäger interessiert sich Narziß nur für das Objekt seiner Jagd, nach mitmenschlichen Beziehungen sucht er nicht. Die Gefangenschaft der Selbstliebe durch die
Spiegelung lenkt ihn aber schließlich vollständig von seiner ursprünglichen Tätigkeit des Jagens ab. Sie wird zum fixierenden Begehren seiner selbst.
III. Die Illusion der Toleranz als Folge narzißtischer Spiegelung
Selbstbespiegelung und Echo sind diejenigen Momente im Narzißmus, die der EU
am meisten zu denken geben sollten. Sie verkürzen das Realitätsverständnis selbst.
Es ist ein merkwürdiger Schwebezustand, der aus der narzißtischen Realitätsverweigerung resultiert. Die Politik Europas kehrt sich in ihrem Handeln, auch wenn
es den gegenteiligen Anschein hat, mehr und mehr von der Demokratie ab, um
sich einem bürokratischen Regelsystem zuzuwenden. Nicht nur werden die Größe
und Krümmung von Bananen und Salatgurken oder die öffentlichen Plätze, an denen geraucht werden darf, zentral bestimmt. Die diesen Zentralismus präferierenden Parteien verlieren immer mehr an politischer Substanz und leiden zunehmend
an der Ausdünnung ihrer Inhalte. Denn die political correctness bietet keinen so
großen Raum, in dem man sich problemlos etablieren könnte. Die banalromantische Leitkultur, von der EU mit Hilfe der Medien lanciert, legt den Focus in die
a) Leugnung des Fremden durch ein konstruiertes, im Grunde schon längst bekanntes Anderes, b) die Verkehrung der Minderheit in die Mehrheit.
Welche Schiene führt zu diesen beiden hochgradig narzißtisch besetzten Punkten?
Die EU versucht Europa ein verjüngtes Antlitz zu geben. Die Alte Welt5 hat keine
Berechtigung mehr im schon vor Jahrzehnten entstandenen Jugendkult, der mit
dem Slogan: Trau keinem über 30 sich bis heute zu behaupten versteht. Es besteht
ein „weitverbreiteter Zweifel, ob sich unsere Gesellschaft denn überhaupt reproduzieren solle. Unter diesen Bedingungen wird der Gedanke an unser eines Tages
fälliges Abtreten und an unseren Tod absolut unerträglich und führt zu dem Versuch, das Alter überhaupt abzuschaffen… Wenn die Menschen sich außerstande
sehen, Interesse für das Leben auf Erden nach ihrem eigenen Tode aufzubringen,
trachten sie nach ewiger Jugend. Deshalb machen sie sich auch keine Sorgen um
die Fortpflanzung ihrer Art.“6
Der große Schlußstrich nach zwei Weltkriegen auf europäischem Boden scheint
ausreichend die Verjüngungskur zu rechtfertigen. Um die Bevölkerung auf die
Leitkultur, die sich für unbesiegbar hält, einzustellen, werden die Medien als Spiegel benutzt, um den Narzißmus der Bevölkerung zu fördern. In der Politik der
Toleranz übernimmt der Spiegel die Herrschaft über das gespiegelte Objekt. Wenn
das sich spiegelnde Subjekt zum Objekt des Spiegels wird, wie es bei Narziß der
Fall ist, so wird der Spiegel zum Konstrukteur der Wirklichkeit, von dem der Gespiegelte abhängt. Er verfällt dem Schein.
Gläubiger Knabe, du haschest vergeblich nach flüchtigen Bildern! Nirgends ist,
was du ersehnst; was du liebst, du wirst es vernichten, wenn du dich wendest; du
siehst nur ein nichtiges Spiegelgebilde; eigenes Wesen gebricht ihm: mit dir erscheint es und dauert, mit dir geht es hinweg – wofern du zu gehen vermöchtest.7
430
Wonach sehnt sich die europäische Welt in der Vorstellung der EU? Eine freie
Welt wünscht sie, in der der gesamte Globus Platz hat. Im Glauben, das Ende der
Geschichte im bestmöglichen Sinn erreicht zu haben, sollen die Kulturen der Welt
in Europa Fuß fassen und jeder einzelne Mensch seine Individualität allseitig ausleben. Die europäische Kulturpolitik richtet sich nach der Phantasie, weshalb sie
an realem Halt verliert. Ein eigenes Wesen hat sie längst nicht mehr. Die Utopie
soll auf dem europäischen Kontinent einen Ort bekommen. Das verblüffende Paradox, daß der Narzißmus, der im allgemeinen als egoistischer Rückzug vor der
Wirklichkeit verstanden wird, hier mit der ‚Verbundenheit mit dem All‘ in Zusammenhang gebracht wird, verrät die neuen Tiefen des Begriffs: jenseits aller unreifen Autoerotik bezeichnet der Narzißmus eine fundamentale Bezogenheit zur Realität, die eine umfassende Ordnung schaffen könnte. In anderen Worten: der Narzißmus könnte den Keim eines andersartigen Realitätsprinzips enthalten.8
Europa ist gerade dabei, dieses zu verwirklichen. Aber was ist, wenn Marcuse
einem gewaltigen Irrtum in seiner Deutung des Narzißmus unterliegt? Denn nur
jemand, der in der narzißtischen Bildwelt gefangen ist, kann ‚das Leben des Narziß‘ als ‚das der Schönheit und sein Dasein … (als) Kontemplation‘9 interpretieren.
Sehen wir auf das Ende des Narziß, so ist festzuhalten, daß er das Alter nie erreicht, weil er sich selbst erkennt. Aufgrund seiner Selbsterkenntnis muß er sterben. Die Aussichtslosigkeit der Erreichung seines Ziels, sich selbst zu lieben, verurteilt ihn zum Tod, denn jenseits seines Spiegelbildes lauert nur Nichtigkeit.
Darum kann er sich auch nicht wahrhaft von ihm abwenden. Es gibt keine andere
Gestalt für ihn als diejenige im Spiegel. In diesem sieht er auch nicht sich selbst
in seiner inhaltlichen und gestaltlichen Gänze, sondern ein Abbild äußerer Form:
Streck ich die Arme nach dir, von selber streckst du die deinen; Lache ich, lachst
du mir zu; und oftmals habe ich deine Tränen bemerkt, wenn ich weinte; durch
Nicken schickst du mir Zeichen, Und deines reizenden Mundes Bewegung läßt es
mich ahnen, daß du auch Worte mir spendest, die nicht zu den Ohren mir dringen.
Ach, ich bin es ja selbst! Ich merk es, mein Bild ist mir deutlich! Liebe zu mir
verbrennt mich: ich schüre die Glut, die ich leide.10
Genau das geschieht, wenn wir uns im medialen Spiegel der Toleranz sehen. Das
Andere ist nur das vermeintlich Andere, in Wahrheit das aufgeblähte Spiegelbild
des Narziß. Tolerant kann nur sein, wer das Fremde im Anderen und nicht sich
selbst im Anderen wahrnimmt. Die Medien bieten der Bevölkerung keine Chance
mehr, der narzißtischen Spiegelung zu entkommen, weil es zu ihnen keine Alternative mehr gibt. Außerdem ist es einfacher, auf Auseinandersetzungen mit dem
fremden Anderen zu verzichten. Die zahllosen Talkshows und Kultursendungen,
in denen beispielsweise das Problem der Migration oder der diversen sexuellen
Identitäten dargestellt wird, suggerieren, daß das Unbekannte ohnehin wir selbst
sind.
Im Grunde, so könnte man aufgrund medialer Berichterstattungen glauben, gibt es
keine offenen Fragen mehr, es läuft alles so, wie wir es gern hätten. Wenn eine
junge Mutter zur Mütterberatung geht und sich von einer Afrikanerin, die kaum
der deutschen Sprache mächtig ist, beraten läßt, so spiegelt sich der Zuschauer
bzw. die Zuschauerin in der Großzügigkeit des Weltoffenen und Duldsamen. In
431
Dokusoaps gefallen sich die Betroffenen in ihrer Zurschaustellung unterschiedlicher sexueller Identitäten oder in der Darstellung ihres Leidens aufgrund körperlicher Unebenheiten oder wegen Streitigkeiten mit Nachbarn, Freunden etc. Die
Kamera ist immer dabei und hebt den privaten Raum auf. Sie leuchtet alles aus im
Namen der Toleranz, und der Betrachter zollt Beifall.
Was aber würde passieren, wenn dieses Verhalten erkannt wird, wenn das Andere
doch eigentlich nichts weiter als unser Wunsch wäre, daß es das Fremde nicht gibt,
und das Andere nur unser Spiegelbild ist? Mit welcher Wahrheit würden wir konfrontiert, wenn der kulturell Andere doch anders denkt und agiert als erwünscht?
Ließe sich dann seine Selbsterkenntnis vergleichen mit einer Art Höllenerkenntnis? Die Illusion birgt das Nichts, den inhaltslosen Abgrund. Die narzißtische
Selbsterkenntnis ist die ausweglose Seelenqual, die notgedrungen zum Tod führen
muß, der einzigen Erlösung vom Leiden an sich selbst. Die Bewegungen zur Erreichung seines illusionären Gegenübers erinnern an den modernen inhaltsleeren
Aktionismus, an das Getue, ein Als-Ob, das jeder wahrhaftigen seelischen Beteiligung entbehrt. Verlangt wird nach der Form, einem äußerlichen Abbild.
Im Dienste einer EU-weiten Politik greift der mediale Spiegel dann, wenn er Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung zu spiegeln versteht und zwar so, daß
sich gleichzeitig ein optischer Winkel einschleicht, der dem unreflektierten Menschen zwar wesensfremd ist, aber im Übergewicht der narzißtischen Befriedigung
Fremdheiten einschleust, die unter dem Diktat des demokratischen Toleranzprinzips in die narzißtische Spiegelung integrierbar sind. Die sogenannte Toleranz der
Europäischen Union im Rahmen der political correctness gehört in Wahrheit zur
ideologischen Steuerung.
Diese verläuft mit Hilfe der Medien ebenfalls über die Schiene der öffentlich gemachten Eitelkeit. Jetzt kann sich die Bevölkerung über die eigene Offenheit und
Fortschrittlichkeit bestätigt finden. Die eingeforderte Toleranz gegenüber Minderheiten wird auf Dauer zum Diktat. Ausgeliefert dem auf die verborgene Leitkultur
eingestellten Spiegelwinkel ist der demokratisch Gesinnte immer mehr jenseits der
Demokratie und zunehmend gefangen in spiegelnder Optik. Diese bekommt eine
Suggestivkraft, welcher der einzelne Bürger sich nicht entziehen kann, sowenig
wie Narziß seinem Spiegelbild. Im Glauben, tolerant und in einer offenen Gesellschaft zu leben, fühlt sich der Bürger anerkannt und meint, sein Begehren erwidert
zu sehen. Dabei fällt er zusehends in die Rolle der Echo, eines Widerhalls der
medialen Stimme. Medien und Bürger sind in einer symbiotischen Beziehung gefangen.
Zu a) Wird das Andere als Anderes wirklich wahrgenommen und das Fremde als
ein Anderes der eigenen Identität geduldet?
Ist also Narziß überhaupt im Stande, etwas anderes als sich selbst wahrzunehmen?
Ist der seiner Kultur müde gewordene und nach anderen Kulturen rufende EUBürger wirklich tolerant? Sicherlich – und das läßt sich allgegenwärtig in Talkshows, Soaps und Dokusoaps verfolgen – bewundern die kulturell verjüngten Darsteller und Zuschauer ihre eigene Offenheit, Großzügigkeit und Fortschrittlichkeit.
432
Man tritt eigentlich durchwegs für das ein, wofür man nach Anleitung der ständigen medialen Präsenz zu sein hat. Im Grunde ist der Andere das eigene Spiegelbild11, darum darf auch das Fremde nicht mehr als solches bezeichnet werden.
Das wirklich Fremde gibt es für den EU-Bürger und die -Bürgerin nicht. Das, was
durch den Spiegel ausgeleuchtet wird, zeigt ein scheinbar Anderes, das illusionäre
Gegenüber des Narziß. Das Fremde wird übersprungen und das Andere der
Fremdheit entzogen. Realistisch gesehen gibt es aber das Fremde. Es entzieht sich
jedoch im Unterschied zum narzißtisch verstandenen Anderen jeder Angleichung,
steht in Differenz zum Unbekannten und läßt sich schwer in unsere Vorstellungswelt integrieren. Das Fremde kann eine Motivation sein, sich auf die eigene, nicht
narzißtische Identität zu besinnen.12 Die Kunst besteht darin, das gespiegelte Ich
zu überwinden und trotzdem ein mit sich selbst identisches Ich zu bleiben. Erst
dieses kann das Fremde als solches anerkennen. Positiv verstanden ist das Fremde
der ständige Antrieb, sich selbst als ein Eigenes zu erkennen, ohne dem Narzißmus
zu verfallen.
Das Gefühl der Fremdheit ruft in erster Linie eine Distanzierung zum anderen Individuum hervor, auch eine gewisse Ängstlichkeit, eine durch Vorsicht geprägte
Haltung, gleichzeitig aber auch eine Neugier, den Wunsch des Kennenlernens und
die damit begleitende Erweiterung des eigenen imaginativen Horizonts. Das
Fremde ist also nicht von vornherein etwas Destruktives, wie das narzißtische Paradox es glauben machen will – in dem es einerseits von der spiegelnden Optik
nicht wahrgenommen werden kann, andererseits aber den Tod bedeutet.
Das eigene Fremdheitsgefühl, das Wissen darum, nicht sich selbst im Anderen zu
begegnen, sondern in der Begegnung mit ihm, die eigene imaginative Umschließung verlassen zu müssen, sie zu überwinden, darin liegt die eigentliche Leistung
des Subjekts. Hier kann es erst dem Anderen, das Fremde registrierend, begegnen:
in der Mimesis, einem imaginativen Hineinbewegen in das Gegenüber, um sich
daraufhin auf sich selbst zur Besinnung zurückzuziehen. Was nur unter Formulierung einer Identität möglich ist, die nicht das eigene Spiegelbild reproduziert, sondern sich zu diesem in Differenz und in Abgrenzung zum Anderen, in dem ein
Fremdes wahrgenommen wird, vollzieht.
Zu b) Die mediale Verwandlung von Minderheit in Mehrheit.
Ein durchdringendes, den sich frei wähnenden Bürger erdrückendes narzißtisches
Wechselspiel zwischen Medien und Publikum zeigt sich auch auf dem Gebiet der
Sexualität. Durch die EU sollen traditionelle Identitäten abgeschafft und neue erzeugt werden, ganz im Sinne Judith Butlers: „Geschlechtsidentität ist das Ergebnis
einer rituellen Wiederholung, die sowohl das Risiko des Scheiterns birgt als auch
sich langsam sedimentieren und festigen kann.“13 Die Abschaffung der Einteilung
des Menschen in zwei Geschlechter, Mann und Frau, und die Institutionalisierung
gleichgeschlechtlicher Beziehungen ist eine Konsequenz dieses Denkens, das auf
zahllose Identitäten hinarbeitet und damit ein atomistisches Nebeneinander erzeugt. Judith Butlers dekonstruktivistisches Denken schafft Raum für andere Geschlechtsidentitäten, die queer-identities. Zusammenhänge zwischen Körpermerk-
433
malen und die dazu gehörende (kulturelle) Vorstellungswelt seien zufällig, die Begriffe ‚Mann‘ und ‚Frau‘ seien Resultate gesellschaftlicher Zuordnung zur Schaffung großer Identitäten. Die Geschlechter würden willkürlich in zwei sich gegenüberstehenden Gruppen zusammengefaßt.
Dies wird zwecks Bewußtmachung sich widersprechender sexueller Vorlieben
und Selbstbilder in Frage gestellt und damit werden gesellschaftliche, politische
und kulturelle Ordnungen aufgelöst. Mithilfe unendlicher Differenzierungen werden unzählige Identitäten geschaffen, was in Butlers radikaldemokratischem Verständnis alle möglichen Lebensformen zuläßt, egal ob Homo-, Bi-, Pan-, Inter-,
Trans- und Asexuelle neben Multikulturalität jeder Art. In letzter Konsequenz
kommt im Kampf gegen die Identität und für die Nicht-Identität ein Identitätengewirr zustande, in dem dann jeder nur noch ein Bündnis mit sich selbst eingeht.
Der Bereich des Körpers wird damit in den Vordergrund gedrängt, das sexuelle
Begehren des einzelnen für sein Leben zur alles bestimmenden Kraft. Statt die
Sexualität im Bereich des Intimen und Privaten zu belassen, wird sie zum politischen Bestimmungsfaktor. Die Homosexualität, bisher noch ein Problem der Minderheit, wird zu einer Angelegenheit der Mehrheit. Heterosexualität wird als gesellschaftliche Norm in Frage gestellt, der Körper des einzelnen zum jeweiligen
Maßstab. Allgemein Verbindliches, das der personalen Identität Sicherheit gibt,
löst sich auf, das Besondere wird zur atomaren Einzelheit, Narziß vervielfältigt
sich in zahllosen Varianten. Die Frage nach der Identität des nur noch einzelnen
wird vorrangig, die Selbstdarstellung in den Medien beispiellos. Die Suche nach
dem individuellen Sein und die Frage ‚Wer bin ich?‘ finden die Antwort im
Schein. Die Medien halten der Bevölkerung einen ideologischen Spiegel vor, welcher Probleme von Minderheiten ausleuchtet, in denen sich die Mehrheit wieder
zu erkennen scheint. Das mediale Spiegelbild, mit dem gesellschaftlichen Sein
verwechselt, zeichnet das Verhalten des Gespiegelten vor und gibt ihm dadurch
eine vermeintliche Identität.
IV. Der Christ, das Du und das lebendige Wort
Wie gelangen wir nun zu einer Identität, wenn wir uns die Rückseite des Spiegels
ansehen oder uns überhaupt einen breiteren Blickwinkel gönnen? Neben der
Selbstliebe ist die Nächstenliebe am überzeugendsten. Die Botschaft Christi, die
ein ganz neues Verständnis von Liebe einleitet, kann als ein Weg dorthin gesehen
werden. Die Umwandlung der Liebesenergie in der narzißtischen Spiegelung
zugunsten des anderen Menschen, der sich hinter dem Spiegel verbirgt, ist ständiger christlicher Auftrag. Nicht dem Verwandten, immer schon Bekannten und narzißtisch Integrierten gilt die christliche Liebe, sondern dem ganz Anderen in seiner
Fremdheit. Das Gebot ‚Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst‘ ist zwar alttestamentarisch zugrundgelegt, bekommt aber mit der Botschaft Christi noch zusätzliches Gewicht. Dort wird der Nächste zum ganz Anderen, weil im christlichen
Glauben alles Gegebene zum radikal Anderen hin durchbrochen wird. Daher ist in
letzter Konsequenz die Rückseite des Spiegels nur durch das Wort Christi erreichbar.14 Es entzieht dem Narziß die Selbstbezüglichkeit, umgeht den Spiegel und
434
erzeugt eine neue personale Identität. Nicht geht es um die vermeintliche Lösung
durch die Nicht-Identität des Subjekts im Sinne Adornos als Gegengewicht gegen
eine faschistoide Identität des Menschen, sondern um den Halt, den die christliche
Identität in der Umwendung von der Selbstliebe zur Nächstenliebe bietet. Die
christliche Liebe liegt außerhalb narzißtischer Spiegelung. Durch den Glauben, die
Liebe und die Hoffnung wird das christliche Subjekt getragen. Hier erst kann es
zu einer echten Wertschätzung kommen, auf die das Andere in uns hoffen darf. Es
geht darum, das Fremde zu erkennen und es auszuhalten im Sinne eines distanten
Nahwerdens und dennoch nicht vollkommen Verstehbaren.
Eine mögliche Überwindung des narzißtischen Charakters liegt also in einer erneuten Zuwendung zum christlichen Glauben. Mit Hilfe des menschgewordenen
Gottes wird dem Menschen eine Beziehung zum anderen gegeben, dessen Fremdheit er erkennt und ihn in Form liebender Zuwendung vom Dasein Gottes zu überzeugen versucht. Um das Individuum von seiner Funktion des Echolots den Medien gegenüber zu entbinden, braucht es ein wirkliches Gegenüber, das es als Du
bezeichnen kann. Der österreichische Dialogphilosoph Ferdinand Ebner spricht
von der ‚Icheinsamkeit‘,zu welcher der Mensch jenseits des christlichen Glaubens
verurteilt ist. Die hier dargestellte narzißtische Isolation zum Anderen hin, welcher
zur Rolle der Echo verdammt ist, kann nach Ebner nur über den christlichen Glauben aufgehoben werden. Erst in der Erfüllung des göttlichen Gebots der Liebe
findet er das wahre Du seines wahren Ichs. Er findet es in Gott und im andern
Menschen und er findet Gott im andern Menschen. Er liebt den Menschen, will er
Gott lieben.15
Stoßen die Menschen ohne wahrhaften Gottesbezug aufeinander, kann das narzißtische Moment nicht ausgeschlossen werden, weil das Ich seine pure Existenz vor
dem andern behaupten muß, was es mit Hilfe seiner enormen Projektionskraft
auch tut. Diese nimmt erst in dem Maße ab, je mehr es sich dem Gottesglauben
zuwendet. In der Liebe erst, die nichts mit dem narzißtischen Begehren zu tun hat,
erschließt sich nach Ebner das Ich dem Du als geistige Realität. Denn das Reich
Gottes ist nicht im Menschen in der inneren Einsamkeit seiner Existenz, in der
Einsamkeit seines Ichs, sondern darin, daß sich das Ich im Wort und in der Liebe
und im Wort und in der Tat der Liebe dem Du erschlossen hat – und dann ist es
auch ‚mitten unter uns‘ als die Gemeinschaft unsres geistigen Lebens.16
Eine sinnvolle Rückkehr zur Akustik bietet das christliche Wort. Es fordert zum
Hören auf und berührt das Innere des Menschen, den Grund seiner Seele. Die reine
Äußerlichkeit bei Narziß und Echo verdammte beide zur leiblichen Selbstzerstörung. Die Fähigkeit des Hörens aber erfordert die Präsenz des menschlichen Leibes, den Gott in Christus selbst angenommen hat. Dadurch erst wird eine wertbesetzte Kommunikation zwischen Menschen möglich.
Da das Wort Fleisch ward, wurde es dadurch auch zur Handlung aufgefordert und
damit ein soziales Phänomen. Die Anerkennung des Mitmenschen als ein Du wird
erst im Handeln sichtbar. „Und der Mensch hat Gott nicht in sich, wenn er nicht
der ‚Täter des Wortes‘ ist, wenn er nicht die Liebe in sich hat. Wer sagt, daß er im
Lichte sei und seinen Bruder haßt, ist in der Finsternis bis zur Stunde, heißt es im
ersten Johannesbrief; der hat nicht Gott, der das Licht ist, und nicht das Wort,
435
durch das das Licht Gottes und unsres Lebens im Innern des Menschen aufleuchtet, in sich und ist darum in der Finsternis. Hat er aber, als der ‚Täter des Wortes‘,
Gott in sich gefunden und sich in Gott, dann findet er ihn auch im anderen Menschen.17
Im menschlichen Tun erst zeigt das Wort seine Lebendigkeit. Das (Zu-)Hören ist
Voraussetzung für ein Handeln, das wesentlich ist für den Erhalt einer Demokratie. Dafür wieder sind Worte nötig, die den Seelengrund erreichen. Statt dem Echo
zu dienen, sind Nachdenken und besonnenes Reden gefragt. Um den narzißtischen
Spiegel zu durchstoßen und den medialen Blickwinkel zu erweitern, ist eine Offenheit für das Fremde im anderen, dem der Europäer demokratisch begegnen
kann, erwünscht. Seine Identität über die christliche Gottesvorstellung kann der
Integration ebenso wie auch der verworrenen Geschlechtlichkeit ein Fundament
bieten, das der Demokratie Halt gibt. Der Aufruf für verantwortliches menschenwürdiges Handeln, für einen demokratischen Staat unerläßlich, läßt sich als christliches Prinzip nachweisen.
Es geht für den Europäer, wenn er seinen Narzißmus und damit seine inhaltliche
Leere überwinden will, darum, sich auf die christlichen Wurzeln zu besinnen und
seinen hart erkämpften demokratischen Strukturen Inhalt zu geben. Die kontinentalen Erfahrungen gilt es hinsichtlich der christlichen Tradition erneut zu hinterfragen, dem Alter entsprechend zu agieren, sich keinen Verjüngungskuren zu unterwerfen, dem vorgehaltenen Spiegel zu trotzen und das Wechselspiel zwischen
narzißtischem und widerhallendem Verhalten der Medien einerseits und der Bevölkerung andererseits zu durchschauen.
Christliche Liebe gilt der Entdeckung der Person des Anderen. Über die personale
Gottesbeziehung wird die Existenz des Wortes und damit des Dialoges wesentlich.
Dieser kann aber nur Ergebnisse erzielen, wenn er auf einem demokratischen Fundament mit christlicher Ausrichtung geführt wird. Der Irrtum der EU-Politik liegt
in der narzißtisch besetzten Vorstellung einer ‚Globalität auf engem Raum‘, in
dem der ‚neutrale‘ Staat sich auf Dauer erhalten kann, indem er eine Äquidistanz
zu allen Religionen einnimmt und selber die Zügel in der Hand behält. Die rein
formale Demokratie und die staatlichen Verwaltungsorgane sind damit gefährdet.
Unter der Bedingung einer Auseinandersetzung mit christlichen Inhalten wäre Integration in Europa möglich. Es ist ein christliches Prinzip, dem Verlorenen und
politisch Verfolgten Einlaß zu gewähren. Den von den europäischen Menschen als
‚fremd‘ empfundenen Kulturen gegenüber aber, welche sich mit den christlichdemokratischen Grundsätzen inhaltlich nicht verbinden lassen, besteht das Angebot, den christlichen Glauben kennen zu lernen.
Anmerkungen
1) Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, Epos in 15 Büchern, Stuttgart 1977. Drittes
Buch, Vers: 405.
2) Ebda., 385-393.
3) Ebda., 428-436.
436
4) Ebda., 494-501.
5) Der Amerikaner spricht von ‚good old Europe‘.
6) Christopher Lasch: Das Zeitalter des Narzißmus. München 1980. S.263/4. Und weiter
auf der Seite zitiert er aus Lisa Althers Kinflicks den folgenden Ausspruch eines jungen
Mannes: „Mir kommt die Welt immer wie eine Bühne vor… Und jedes Kind, das ich hätte,
wäre doch nur ein verdammter junger Schauspieler, der darauf brennt, mich ganz von der
Bühne zu drängen, der aufpaßt und darauf wartet, mich zu beerdigen, damit er im Mittelpunkt des Bühnengeschehens stehen kann.“
7) Ovidius, ebda, 432-436.
8) Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Frankfurt 1978, S. 167 f.
9) Ebda. S. 170.
10) Ovidius, ebda., 460-464.
11) Die amerikanische Philosophin Judith Butler „vergißt nie, daß man das andere begreifen und in sich wiederfinden muß, damit Toleranz nicht nur ein Wort ist.“ I. Harms. Was
denkt diese Frau? Zeit Online. http://www.zeit.de/2012/37/Judith-Butler-Portraet.
12) In der Romantik wird das ‚Fremde‘ gern als Anstoß einer kritischen Selbstreflexion
oder als Beginn einer neuen Handlung benutzt.
13) Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin 1998. S.74.
14) Hier ist mit der ‚Rückseite des Spiegels‘ etwas anderes gemeint als das, worüber Konrad
Lorenz in seinem Buch mit dem gleichnamigen Titel schreibt. Diesem geht es um die evolutionäre Erkenntnistheorie, nämlich um die Bildung der Reflexion im Laufe der Evolution.
Bei der Überwindung des Narzißmus durch das Christentum ist aber nicht die Rede von
einem biologischen Schritt der Evolution, sondern vom Akt der Freiheit, der für die Evolutionstheorie unerklärlich bleibt.
15) Ferdinand Ebner: Das Wort und die geistigen Realitäten. Wien/Berlin 2009, S. 143.
16) Ebda., S. 145.
17) Ebda., S. 143.
Dr. phil. Astrid Meyer-Schubert war Lehrbeauftragte in Berlin und Bukarest und
wirkt als freie Publizistin in Wien.
437
Bericht und Gespräch
Hans-Peter Raddatz
Globalisierung als Krieg gegen den Menschen
Teil 1: Die Genese des Euro-Islamischen Rassismus
1. Vorspiel der Aufklärung
Die barbarischen Ereignisse im Orient und das Schweigen der „Eliten“ im Okzident
lassen es angezeigt erscheinen, die jeweilige Motivationslage einer näheren Analyse
zu unterziehen. Sie sollte allerdings nicht an der Oberfläche bleiben, sondern den
Ursachen nachgehen, die es der Moderne ermöglichen, den Massenmord an den
Christen und Jeziden in Syrien und Irak emotionslos hinzunehmen. Um so weniger
Anlaß, so könnte sich vermuten lassen, haben die Sicherheitsbehörden in Europa,
die Radikalisierung der Muslim-Immigranten einzudämmen, die nicht mehr „nur“
öffentliche Einrichtungen, vor allem Kirchen, Synagogen und Sozialämter, sondern
auch Personen, primär indigene Jugendliche, angreifen.
Zwar wissen wir, daß EU und OIC, die islamische UNO, seit 2005 ein detailliertes,
politmediales Programm zur Islamisierung Europas realisieren, das die laufende
Entdemokratisierung der Staaten und Unterwanderung der Institutionen verschärft,
doch wird nun eine neue Dimension der offiziell geduldeten Feindseligkeit des Islam
gegen Bürger und Christen erkennbar, die ontologischen Charakter annimmt und
sich nicht durch bloße Propaganda erklären läßt. Wir sollten daher den „Dialog mit
dem Islam“, der seit einem halben Jahrhundert unentwegt fordert, „nicht nach dem
Trennenden, sondern Gemeinsamen zu suchen“, beim Wort nehmen und das Gemeinsame ausfindig machen, das die EU-Eliten dazu bringt, ohne Auftrag der Bevölkerung den Kontinent dem Islam verfügbar und dessen Lehren zu Leitlinien der
Euro-Kultur zu machen.
Da es hier mit massenhafter Zuwanderung und intensivem Moscheebau nicht um
eine Zeitgeist-Erscheinung, sondern einen langfristigen Weltbildwandel geht, bieten
sich als geeignete Zugänge zu diesem Phänomen zunächst zwei Perspektiven an: 1.
die Ergebnisse des „Dialogs“, die dessen Akteuren besonders kostbar erscheinen,
und 2. die politreligiöse Familienähnlichkeit, die sich schon seit der Aufklärung zwischen Islam und Europa entfaltete. Dabei machte sich eine Faszination der EuroEliten durch die robuste Kulturauffassung der islamischen Despoten geltend, deren
Gewalt hinter angeblichen Kulturleistungen des Islam verschwinden sollte.
Weder mochte man sich die ambivalente Haltung des Erzaufklärers Voltaire zum
Islam und dessen Verkünder und schon gar nicht die offene Kollaboration zwischen
438
Hitler und den Muslimbrüdern eingestehen, die nach des „Führers“ Orientfeldzug
und schmählichem Kriegsende vielen SS-Leuten die Flucht vor den Alliierten in den
Nahen Osten und den Aufbau klandestiner Netzwerke ermöglichte. Kritik daran fiel
den linken Systemgegnern schwer, denn auch die Sowjetunion beeilte sich, Stützpunkte im Orient aufzubauen, wobei Stalin sogar Amin al-Husayni (gest. 1973), Jerusalem-Mufti und Hitler-Freund, noch kurz vor seinem Tod nach Moskau einlud.
Daran knüpfte General de Gaulle an, der den rührigen Muslimbruder vor dem USKriegsverbrecher-Tribunal rettete und als Koordinator einer franko-islamischen Polit-Allianz einsetzte. Daß Husayni-Zögling und Terror-Vater Yassir Arafat bewaffnet und unter stehenden Ovationen in die UNO-Vollversammlung 1974 einmarschierte und später den Friedensnobelpreis erhielt, konnte vor diesem Hintergrund
elitärer Hochesoterik kaum noch verwundern.
Um sie nachhaltig zu verschleiern und an den Pfründen des sich entfaltenden „interkulturellen Dialogs“ teilzuhaben, kam freilich das Patent des Antifaschismus, das
esoterische Allheilmittel gegen alle bürgerlich-demokratisch-kirchlichen Unbilden,
gerade recht. Vorliegend war es nicht Muhammad, sondern der Faschismus, der den
eigentlich friedlichen Muslimen den Djihad, ihren „Heiligen Krieg“, beigebracht
hatte – eine Lesart, die bis heute fast unwidersprochen kursiert.
Solches hat Wurzeln, die kurz zu repetieren sind. Der Aufklärungsfeldherr und Kirchenfeind Napoleon ließ es sich nicht nehmen, im Jahre 1797 einen Feldzug in den
Orient zu unternehmen, der ihn über Alexandria und Kairo bis nach Syrien führte.
Um die Muslime für sich zu gewinnen, breitete er seine Korankenntnisse aus, legte
zum Schein ein temporäres Glaubensbekenntnis ab und bewies, daß er auch die islamische Täuschungstechnik (taqiyya) bestens beherrschte. Die Absicht, den Muslimen die westliche Wissenschaft zu bringen, scheiterte am Mißtrauen der Korangelehrten und speziell an Lord Nelson, der seine Flotte in Abukir aufspürte und bis auf
zwei Fregatten in die Luft sprengte.
Davon abgesehen ist Napoleon, der kein Träumer war, ein besonderer Fall der eigenartigen Faszination des Orients, die viele Okzident-Führer befällt und die auch
der Autor dieses Beitrags an so manchen Westakteuren in islamischen Ländern beobachten konnte. Im Nimbus fast unbegrenzter Macht glaubte sich der atheistische
Franzose durch den Islam zum Religionsstifter inspiriert, der mit einem von ihm
verfaßten Koran in der Hand die Engländer aus Indien vertreiben und den gesamten
Orient mit dem wahren, dem französischen Europa vereinen wollte.
2. Hitler und der Rassendialog
Was daraus wurde, ist bekannt: Die Türken und fehlender Nachschub stoppten den
orientalischen Traum in Syrien und die Engländer den europäischen Alptraum in
Waterloo. Dennoch schien unumkehrbar eine obsessive Orientfixierung in Gang gesetzt, die zunächst auf die Engländer übersprang und danach die anderen Großmächte heimsuchte – Rußland und Deutschland. Nach Lessings Nathan und Goethes
Divan taten auch die Literatur und Philosophie der Romantik ihr Übriges, die kolonialistische Konkurrenz des 19. Jahrhunderts mit raunender Orientmystik aufzuladen. Dies schlug sich im deutschen Fall fatal nieder, indem Hitler den englischen
439
Rassismus als Modell für Deutschlands Ariertum und die Kronkolonie Indien für
den „Lebensraum“ im Osten vorgab: „Was für England Indien, wird für uns der Ostraum sein“ (Sarkisyanz, Hitlers englische Vorbilder, 12 – Ketsch 1967).
Damit ging die machttechnische Parallele zur islamozentrischen Orientfixierung
einher, die den „Führer“ später bedauern ließ, den Koran nicht genauer gelesen zu
haben. Denn der Mohammedanismus hätte ihn vermeintlich nicht nur den Krieg gewinnen lassen, sondern sogar „für den Himmel begeistern“ können (Picker, Hitlers
Tischgespräche, 110 – Berlin 1999). Insofern verfehle es fundamental die Wahrheit,
den Mohammedanern, denen der Sinn allein nach „Hoffnung auf die Glückseligkeit“
stehe, Terrorismus zu unterstellen, der eher „ein vom Christentum ausgebreiteter,
jüdischer Glaubenssatz“ sei (ebd., 258).
Hier konnte sich der anti-jüdisch-christliche Machtwille des Islam mit einer Herrenrasse, vorliegend der arischen, zu einer variablen Rassenideologie verbinden. Konstruktive, also rassenhygienische Expansionspolitik könne man, so der „Führer“, mit
der Übernahme englischen Herrenmenschentums betreiben, vor allem aber auch mit
Respekt vor Konfuzius, Buddha und Mohammed, die „eine unleugbar breite geistige
Basis für religiös denkende Menschen“ böten (ebd., 508). Daher empfehle es sich
nicht, in den Tagesablauf dieser Menschen einzugreifen, sondern nach jahrhundertelang bewährtem Anglo-Muster ihren Eliten, den „maßgeblichen Einheimischen“,
ein Denken und Verhalten anzutrainieren, das sie „vergessen mache, daß sie unter
fremder Herrschaft arbeiten“ (ebd., 622f.).
Neben einer Fülle weiterer Anweisungen genügt diese Auswahl, den sogenannten
Kulturdialog der Gegenwart als rassistischen Monolog mit starken Nazi-Elementen
offenzulegen. Der verordnet der öffentlichen Debatte den Dauerblick „nach rechts“,
weil anderenfalls seine hitleristische Grundierung allzu aufdringlich zutage träte.
Denn seine wesentlichen Dogmen folgen dem „Führer“-Credo fast aufs Wort.
Zunächst ist festzustellen, daß der englische Rassenimperialismus vom ethnischen
Grundkonzept wegführt. Er geht in eine Vorstellung abgehobener, fast gottähnlicher
Dominanz über, die die Eliten als besondere „Rasse“, als Menschen-Spezies sui generis ausweist. Sie unterscheidet sich ontologisch von der Masse aller anderen, die
nur von ihrer Gestalt her wie Menschen aussehen, aber wie Juden, „Neger“ und
Frauen keine wirklichen Menschen sind. Eine Legitimation ist überflüssig, denn
diese Elitenrasse herrscht, weil sie zur Herrschaft bestimmt ist, weil sie überlegen,
reich und englisch ist. Wie sich zeigt, nährt sich die Dominanzideologie des Islam
aus dem gleichen, allerdings pseudo-religiös verbrämten, onto-rassistischen Impuls.
So motivierte die zentrale Maßgabe für die Deutschen – auch schon vor Hitler – mit
einer orientalischen, anglo-arisch-germanisch durchformten Herrschaftskopie dem
englischen Vorbild nachzueifern. Carl Peters (gest. 1918), Mitgründer des deutschen Imperialismus und Sozialdarwinismus, brachte es auf den Punkt: „Ich hatte es
satt, unter die Parias gerechnet zu werden und wollte einem Herrenvolk angehören“.
Der Literat von Wolzogen (gest. 1934) legte halb ernst, halb satirisch nach: „Lerne
vom Engländer … wie man, als gehorsamer Herrenmensch, den Willen zur Macht
in die Tat umsetzt“ (Sarkisyanz, a.a.O., 6) Mit den „gehorsamen Herrenmenschen“
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hatte Wolzogen ein Logo geprägt, das auf alle machtdienlichen Kräfte, auf die gesamte, janusköpfige Spezies der Philosophen, Professoren und Profiteure aller Zeiten zutrifft. Sie formen „oben“ die Machtbotschaft und vermitteln sie „unten“ der
Masse.
Die Parallelen zum nazinahen „interkulturellen Dialog“ beginnen mit der onto-rassistischen Garantie des Koran für die Gläubigen, zur „besten Gemeinschaft“ zu gehören, „welche die Welt je hervorgebracht hat“ und daher nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet ist, „über das Gebotene und Verbotene zu bestimmen“ (3/111). Sie
in endloser Zuwanderung im Rahmen „authentischer“ Kulturkolonien in Europa anzusiedeln, mit massiven Sozialleistungen zu versorgen und mit subventioniertem
Moscheebau zu vernetzen, gehört zur rotbraunen, d.h. postsozialistischen und multivölkischen Politik, die mit Avantgarden „gehorsamer Herrenmenschen“ eine selektive antidemokratische Zwangstoleranz durchsetzt. Sie ist ebenso bürger- wie
wissensfeindlich, weil sie sowohl gewachsene Freiheitsrechte abbaut als auch die
Wissenschaften gleichschaltet, vor allem die Orientalistik und Ethnologie, die allzu
schädliche Ergebnisse über die rassenimperialistische Islamgeschichte liefern.
Dabei übernehmen die einfacheren Akteure, die ihre eigene Ideologie nicht durchschauen und nur reflexhaft agieren, nicht selten einen Sprachgebrauch, der sich eng
am Jargon des „Führers“ orientiert. So tadelte einst der Kaderfunktionär Albogha,
Aktivist der türkischen Religionsbehörde, den deutschen Orientalisten Tilman Nagel, der sich als „alteingesessener“ (nach Hitler also „einheimischer“) Wissenschaftler das anti-schariatische Recht angemaßt habe, die autoritativen Texte des Islam zu
interpretieren (Nagel, Angst vor Allah?, 381f. Anm. 2). Daß Albogha damit selbst
gegen das „Dialog“-Dogma verstieß, den Islam vom Islamismus zu trennen, wurde
ihm offenbar nicht bewußt.
Nichtsdestoweniger befindet er sich in bester Gesellschaft, denn auch die englischen
Modellherrscher wissen die machttechnischen Vorzüge des Korans zu schätzen. Der
ehemalige Premier Tony Blair verkündete auf der Website der Labour-Party
(21.03.2006): „Das Einzigartige bei der Lektüre des Koran … ist die Erkenntnis seiner Fortschrittlichkeit … Er ist praxisnah und seiner Zeit in Bezug auf Fragen der
Frauen, der Ehe und der Regierung weit voraus“. Daß die „Praxisnähe“ harte Konsequenzen für die Muslimfrau sowie für die europäischen Nichtmuslime in der Islamexpansion hat, zeichnet sich im beginnenden Bürgerkrieg in den Städten ab,
nachdrücklich unterlegt durch die Tötungsroutinen im „Islamischen Staat“. Indem
dies dem „Dialog“ zufolge „nichts mit dem Islam zu tun“ und nur als dessen „Mißbrauch“ zu gelten hat, beweisen seine Aktivisten, für die Praxis des Islamo-Rassismus geeignet zu sein.
Mithin signalisiert systemwidrige Kritik oder gar Widerstand die äußerst bedenkliche Psychodevianz der Islamophobie, die der politischen Korrektur durch therapeutische Indoktrination bedarf. Beharren die Dissidenten auf altkultureller Demokratie
und Wissenschaft, erscheinen sie den Akteuren als „Volksverhetzer und Rassisten“.
Denn ihr Sichttunnel gewährt keinen Denkraum, wie es oft heißt, „keine Alternative“, sondern zwingt dazu, die eigene, radikale Verfaßtheit auf alles zu projizieren,
was nicht dem Raster des „Erlaubten und Verbotenen“ entspricht. Um hier jedem
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Zweifel vorzubeugen, kursiert das Mantra „der Islam ist nicht das Problem“, was
den Nichtmuslim automatisch zum ontologischen Schuldigen stempelt.
Indem dessen „islamophober“ Widerstand gegen das islamozentrische Diktat das
Problem ist, agiert der „Dialog“ als quasi-islamische Einrichtung, die hitleristischen
Rassismus reaktiviert. Denn so wie dort die Juden Schuld auf sich luden, keine Arier
zu sein, entwickeln die Islamdiener heute zunehmende Feindseligkeit gegenüber der
bürgerlichen Bevölkerung, die immer schuldiger wird, weil sie viel zu langsam den
als Toleranz kaschierten Anpassungsforderungen nachkommt. Mit der „Phobie“
macht sich die Psyche als Logikersatz geltend, denn wenn es statt der Feindobsession eine reale Schuld und dabei freies Denken gäbe, sprächen die Akteure von
Culpophobie.
3. Islamisierung im Kulturmonolog
Der „Dialog“ bestätigt sich als Monolog alternativloser, die Gewalt vorbereitender
Kommandosprache, die sich mit endlos wiederholten Schablonen in das überwunden geglaubte Handlungssystem des deutschen Diktators einschleust. Nachdem
Blair den Europäern das Defizit mangelnder Koranlektüre ins Stammbuch geschrieben hatte, entfaltete sich eine charismatische Konkurrenz um die Palme des gehorsamen Herrentums, das in alle Institutionen vordrang und inzwischen auch den Vatikan in eine Tauben- und Falkenfraktion gespalten hat. Daß erstere dafür wirbt, „den
Koran richtig zu lesen“, erscheint als folgerichtige Konsequenz.
An vorderer Front standen „Wissenschaftler“, die sich gegen das Rassenstigma des
„Einheimischen“ oder „Alteingesessenen“, vielleicht sogar „Ureinwohners“ wehrten. Dagegen agiert Angelika Neuwirth, die den Koran als „Mitschrift und nicht nur
als Resultat eines Verkündigungsprozesses“, als „ein ergebnisoffenes Drama“ versteht, nicht weniger als „ein verbindendes europäisches Vermächtnis“. So kann der
Koran die Protagonistin – islamisch korrekt – einheimisch in Europa werden lassen,
denn „aus historischer Perspektive leben wir … nicht in einem jüdisch-christlichen,
sondern in einem jüdisch-christlich-islamischen Europa“ (zit. bei Nagel, a.a.O., 31
Anm. 24).
Solcherart dressiert und dressierend, gehört die Autorin zu den „maßgeblichen Einheimischen“ und erfüllt Hitlers Prämisse, sich selbst und andere vergessen zu lassen,
„daß sie unter fremder Herrschaft arbeiten“. Wir verfügen über das Wissen, das in
Koran, Tradition und Scharia tausendjähriges Praxiswissen der Muslime ist, und unterstellen Frau Neuwirth keine bewußte Täuschungsabsicht im Hinblick auf den Islam als Gegenentwurf zum Abendland, weil ihr zur Selbstvergessenheit „keine Alternative“ bleibt. Gleichwohl leistet sie einen wertvollen Beitrag, weil ihre Erfindung des „verbindenden Vermächtnisses“ die Nähe der Euro-Islam-Fusion zu Hitlers Plädoyer für Muhammad als „unleugbar breite geistige Basis“ verständlicher
macht.
Wenn sie aber zu dem Ergebnis eines „jüdisch-christlich-islamischen Europa“
kommt, beschreibt sie eine Situation, die systemisch der Ausgangslage des Islam im
Orient entspricht und von ihrer „Mitschrift“ nicht erfaßt werden kann. Denn auch
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damals bestand eine jüdisch-christlich-islamische Konstellation, die sich in den folgenden 1400 Jahren graduell von den jüdisch-christlichen Elementen trennte, heute
sich mit Hilfe des „Islamischen Staates“ von fremdgläubigen Resten befreit und bald
die koranische Vision der reinen Islamizität erfüllt haben wird.
Mit dem „jüdisch-christlich-islamischen Europa“ entsteht eine westliche Renaissance des originalislamischen Ursprungs, die allerdings massiv fremdgläubig kontaminiert ist und einen neuen Durchlauf des historischen Djihad-Zyklus erwarten
läßt. Denn immerhin darf der Kampf nicht aufhören, „bis keine Versuchung mehr
besteht und aller Glauben sich auf Allah ausrichtet“ (8/40), und wenn der Koran ein
verbindendes, europäisches Vermächtnis ist, sollten auch die proislamischen Riesen
der Vergangenheit respektiert werden, auf deren Schultern der „Dialog“ heute steht.
Wie sich inzwischen abzeichnet, gehört zu diesen Riesen der deutsche Diktator, dessen Tischreden eine verbale „Mitschrift“ der koranischen Erfolgsspur sein mögen,
aber ebensowenig als ergebnisoffenes Drama zu verstehen sind, wie Muhammad
seine Verkündigung sah. Frau Neuwirth übersieht – wahrscheinlich unabsichtlich –
eine zentrale Metavorschrift des Koran, die alle anderen Regeln für alle Zeit unveränderbar macht: „Es ziemt den gläubigen Männern und Frauen nicht, wenn Allah
und sein Gesandter irgendeine Sache beschlossen haben, sich die Freiheit herauszunehmen, anders zu wählen“ (33/37). Diese Aussage, verbunden mit zahlreichen
Djihad-Anweisungen, konnte Napoleon allemal zur koranisch geplanten Eroberung
Indiens anregen und den „Führer“ sogar „für den Himmel begeistern“.
Wenngleich weniger sakral als profan formuliert, verpflichtet dieser Grundsatz und
entschädigt die Menschen zugleich, indem er sie auf das im Koran übermächtige,
elitäre Seinsziel ausrichtet, das sie über alle Rassen, Klassen und sonstige Massen
hinaushebt und zur „besten Gemeinschaft“, zur Metarasse der islamischen Herrenmenschen adelt. Da Allah die Welt ständig neu schöpft, übt er offenbar eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Eliten allgemein und auf Führer extremistischer
Politsysteme speziell aus. Ihre Seelenverwandtschaft drängt sie, die islamische Kontrolleffizienz zu nutzen, doch hat der Koran eine so absolute wie janusköpfige Wirkung: Wer ihn für seine Interessen einspannt, zieht bereits Allahs Karren.
Die orientalischen Christen unterlagen der koranischen Einrichtung der Dhimma,
dem islamischen „Schutzvertrag“, der sie zu „demütigem Tribut“ verpflichtete
(9/29) und immer wieder leidvolle Erfahrungen machen ließ. Weder hielten sich alle
Muslime an den Buchstaben des „Schutzes“, noch widerstanden alle Prälaten der
Versuchung, mit den muslimischen Herrschern auf Kosten ihrer Gemeinden zu kollaborieren (vgl. Bat Ye’or, Niedergang der orientalischen Christen unter dem Islam,
136f. – Gräfelfing 2002) – eine bis heute währende Zwangslage, die sich wie vieles
andere auf den Verkünder zurückführt.
Nach ihm ist das Christentum eine „törichte Spielart des Unglaubens“, schlichte
Dummheit, deren Anhänger die Welt nicht verstünden und daher selbst das Grab
schaufelten, das Allah für sie geplant habe. Weil sie mit ihrem Betrugsbuch die
Wahrheit des Islam beleidigten, könnten sie keinen Anspruch auf Rechtssicherheit
erheben. Sie sollten also zu keiner Zeit sicher sein, daß Krieg und Tod für sie jemals
enden könnten (Nagel, Muhammad, 445f. – München 2008).
443
Seither hat sich wenig geändert. Wer die Berichte der Medien über die grausamen
Maßnahmen des „Islamstaats“ mit den Christenchroniken über die Islamexpansion
des 7. und 8. Jahrhunderts vergleicht (Bostom, Legacy of Djihad, 383ff. – Amherst
N.Y. 2005), wird mit frappierenden Parallelen feststellen, daß die Zeit des Islam in
festen Mustern kreist. Darin fielen „Thron und Altar“ wiederholt der Versuchung
anheim, sich mit den Eliten Allahs gemein zu machen. Letztere brachten z.B. die
Metropoliten in Konstantinopel dazu, Widerstand gegen die Osmanen als „Kampf
gegen Gott“ zu verbieten. Und auch heute glauben die Führer der Taubenfraktion
des Vatikans und damit kompatible Bischöfe, „daß mit den Muslimen Gott nach
Europa zurückkehrt“. Solches signalisiert nicht weniger, als vom eigenen Gott verlassen zu sein, und folgt den geltenden „Dialog“-Vorgaben, auf Toleranz für die Offenbarung zu verzichten, die man mithin auch christozentrische Engführung nennt.
4. Islamozentrisches Christentum
Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hatte sich die Suche nach Gemeinsamkeiten
mit dem Islam erneuert: „Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslime,
die den einzigen Gott anbeten“ (Nostra Aetate). Daraus zog die Neo-Theologie den
Schluß, den christlichen Glauben als für die neue Einheitsreligion „unbrauchbar“ zu
erklären, weil sie nicht „der stets erlebbaren Begegnung mit anderen Religionen“
entspreche (Bernhardt, Horizontüberschreitung, 35 – Gütersloh 1991).
Indem sie dieses Muster allen Gläubigen aufprägte, näherte sie sich nicht nur der
koranischen Alternative, sondern auch Hitlers Bekenntnis zu „Konfuzius, Buddha
und Mohammed“ an. Dies erschien immer plausibler als „unleugbar breite geistige
Basis für religiös denkende Menschen“, zumal der „Dialog“ die Impulse des Konzils
aufgriff und „die islamische Lehre nicht schmalspurig aus dem begrenzten Kontext
des Lebens des Propheten, sondern aus der Botschaft des Koran und seinen allgemeinen Moralprinzipien“ verstand (Kerber, Wie tolerant ist der Islam, 62f.).
Je weiter der „Dialog“ fortschritt, desto breitspuriger wurde die Übernahme islamischer „Moralprinzipien“, die auf einem zirkulär vernetzten System beruhen und Hitler als natürlichen Ideengeber dieser Dialogform und ihrer „antifaschistischen“
Avantgarden erscheinen lassen. Im Islam gibt es angeblich 1. generell keinen Zwang
in der Glaubenspraxis (2/256) im Hinblick darauf, 2. den Unglauben, speziell Juden
und Christen, zu unterdrücken und allmählich auszurotten (Suren 2 und 22) und 3.
den Djihad als Dauerpflicht zu führen, „bis aller Glaube auf Allah gerichtet ist“
(8/40).
Im modernen, rotbraun gefärbten Zug zum Totalitarismus mutiert dieser Kontext
zum kongenialen Täuschungs-„Dialog“ aus 1. Religionsfreiheit des Islam, 2. Toleranz des Islam, 3. Djihad als Anstrengung in der Glaubensausübung. Der geschlossene, schleifenartige Prozeßcharakter dieses Systems läßt sich mit biophysikalischen
Vorgängen wie z.B. der Photosynthese vergleichen. Sie wird in der Natur vom Sonnenlicht ebenso zuverlässig in Gang gehalten, wie im Islam der Unglaube den Djihad
antreibt und den Koran zum Magneten elitärer Interessen macht. Dafür steht die hitleristische Paßform, die vor dem Kardinalfehler warnt, in der muslimischen „Hoffnung auf die Glückseligkeit“ irgendeine Tendenz zur Gewalt erkennen zu wollen,
444
die sich weitaus eher im „Glaubenssatz“ der jüdisch-christlichen Zivilisation, der
Metaphysik des gemeinsamen euro-islamischen Erzfeindes, ausbreitet.
Papst Johannes Paul II. brachte alternativ den „Gott unendlicher Majestät“ ins Gespräch, der an gnostische Vorstellungen anknüpfte und die vielen Religionen in kosmische Geistsphären göttlicher Offenbarung tauchte (logoi spermatikoi – vgl. Dörmann, Der theologische Weg Johannes Pauls II. Bd. 1 – Senden 1990, 53ff.). Dies
verdankte sich seiner philosophischen Ausbildung in der Phänomenologie, die ihm
nach eigener Aussage mit der intuitiven, inneren Erfahrung ermöglichte, die thomistische Philosophie zu überwinden und das Bewußte mit dem Unbewußten zu versöhnen (Karol Wojtyla, Person und Tat, 9ff., 91ff. – Freiburg 1981).
Das was er „erkennende Intuition“ nannte, hatte im historischen Langzeitkarussell
selbstähnlicher Ideen ein Muster in der „doppelten Wahrheit“ des Averroes (gest.
1198) und im „erkennenden Intellekt“ des Universalgenies Roger Bacon (gest.
1292). Beide liefen auf die „zwei Seinsweisen des Denkens“ hinaus, die seit der
Antike das Problem der Macht mit dem denkenden Menschen betreffen, und die
Kirchenvater Gregor von Nyssa weitere 800 Jahre zuvor behandelt hatte. Er hielt das
Denken für eine Kunst, die mit Trügerischem, Nichtseiendem oder gar Schädlichem
spekulierte, um zum Ruhme Gottes zum einen die Natur, zum anderen die Moral
erkennen zu können (Kobusch, Sein und Sprache, 79, 80 – Leiden 1987).
Auf dieser Basis, auf der sich der schöpferische Mensch abzuzeichnen begann, erscheint es logisch, daß beide Denker von den jeweiligen Machtebenen mundtot gemacht wurden. Averroes stand in Cordoba am Pranger und floh nach Nordafrika,
Bacon ging trotz bester Verbindungen zum Machtklerus für nicht bekannte Zeit in
den Kerker. Für unser Thema ist diese Konstellation wichtig, weil die Ketzer von
damals heute als wichtige gemeinsame Wurzeln der beiden Kulturen gelobt werden,
aber die Zeit danach ganz verschiedene Kulturen erzeugt hat – Europa die Dynamik
von Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung, der Islam die politische Sakralisierung
des Gesetzes und seines Verkünders Muhammad.
Damit steht Johannes Paul II. in einer Tradition, in der er nicht nur die christliche
Offenbarung an die anderen Religionen als die „Wahrheit des Guten“ (Wojtyla,
a.a.O., 131), sondern auch den Führungsklerus noch näher an die wirtschaftliche
Deutungsmacht heranführte. Die päpstliche Erfahrbarkeit und die Erlebbarkeit der
modernen Existenztheologie bildeten ein religionspolitisches Tandem, das sich als
Instrument gegen die „alte“ Metaphysik und als zweischneidige Integration der Kirche in den so globalen wie geldnormierten Kulturdialog entpuppte.
Die Konzilsformel von den Muslimen, „die den einen Gott anbeten“, erwies sich
dabei als gegen jedes Argument immunes Mantra, das sich auch durch die Muslime
nicht aufhalten ließ, die 1986 das historische Religionstreffen von Assisi demonstrativ als Mission für die radikale Andersartigkeit ihrer Gottheit nutzten. Denn um den
„einen Gott“ könne es sich nur handeln, wenn die Juden und Christen ihren irrigen
Anspruch auf die wahre Religion aufgäben: „Führe … uns nicht den Pfad jener, über
die du zürnst oder die in die Irre gehen“ (2/136) „… Allah ist der alleinige, einzige
und ewige Gott. Er zeugt nicht und wird nicht gezeugt, und kein Wesen ist ihm
gleich“ (2/112).
445
Um so stärker wirkte die Anpassungskraft des Trends, denn die universale Toleranz
gegenüber den Religionen war nicht ohne die Konsequenz zu haben, sich deren „allgemeinen Moralprinzipien“ um so nachhaltiger zu beugen, je dominanter diese Prinzipien wurden. Die christliche „Unbrauchbarkeit“ war und ist eine moralisierte
Funktion des Machtprozesses, der sich so fundamental wie aggressiv gegen den Logozentrismus wendet und im zweiten Teil des Beitrags zur Sprache kommt.
Der Logos im altkulturellen Sinne umfaßt Wort, Denken und Sein als untrennbare
Einheit, in der Jesus der Logos selbst ist und nicht nur der Moderne, sondern auch
dem Islam entgegensteht. Wer diese Einheit aufbrechen will, muß das Prinzip der
Gnade zerstören, die das Humanum an sich begründet und erhält. Es geht um jenes
Unverfügbare, das vom Tier als Logo der Instinkthaftigkeit und von der Maschine
als Logo der Reflexhaftigkeit unterscheidet, und in den extremistischen Systemen
mit radikalen Leitmotiven besetzt wird.
In der Verbindung des Klassen- und Rassenglaubens mit dem Massenglauben an
den Islam, die Technik und das Geld entwickelt sich die globale Moderne zu einem
rigorosen Kriegssystem, dessen Eliten sich im interkulturellen Rahmen von allen
möglichen Gottheiten legitimiert wähnen – mit Ausnahme des jesuanischen Prinzips, das ihnen den Ersten Stein in den Weg legt, das Praxissymbol der sich mit
Schuld beladenden Macht. Indem dieses Prinzip von der klerikalen Taubenfraktion
verbal neutralisiert und im Koran eliminiert wird, entfaltet die moderne Produktivitäts- und Effizienzideologie eine mörderische Energie, die das Human-Potential und
-Kapital in einem entfesselten Nutzendenken verbraucht und mit der ansteigenden
Skala des „interkulturellen“ Islamterrors – PLO, Hamas, Al-Qa’ida, „Islamstaat“ –
diszipliniert.
5. Ohne Trinität kein Denken
Indem die Akteure des Dialogdiktats die Verbindung von Islam und Gewalt als
„Volksverhetzung und Rassismus“ leugnen, steht Hitlers Religionsideologie besonders authentisch Pate. Ihrer Wichtigkeit wegen wiederholen wir seine Devise, nach
der es die Wahrheit fundamental verfehlt, den Mohammedanern, die nur nach „Hoffnung auf die Glückseligkeit“ streben, Terrorismus zu unterstellen, der eher „ein vom
Christentum ausgebreiteter, jüdischer Glaubenssatz“ ist.
Die Dialog-Verkünder agieren als direkte Sendboten des „Führers“, wenn bei ihnen
die Erwähnung von islamischer Gewalt zwei inzwischen verdrahtete Reflexketten
auslöst: zum einen die Schablone, der zufolge Gewalt „nichts mit dem Islam zu tun“
bzw. nur als „Mißbrauch des Islam“ zu gelten hat, zum anderen die Gebetsmühle
von Kreuzzügen und Inquisition. Längst überwunden, finden sie zwar niemanden,
der ihnen irgendeinen Sinn abgewinnen könnte, doch erscheinen sie den Dialogisten
ebenso sinnvoll und kampfverpflichtend, wie sich die Muslime im täglichen Gebet
an Muhammad und seinem Djihad-Vorbild orientieren.
Beide Formen verdanken sich stabil manipuliertem „Denken“, das schon in Gregor
von Nyssas Analysen vorkommt und dort auf eine fundamentale Spaltung deutet. Er
hebt die Epinoia hervor, die göttlich verliehene, von der Dreifaltigkeit ganz speziell
ausgeformte Fähigkeit und Freiheit des Menschen, die Dinge zu benennen, sie in
446
Aspekte zu teilen, planvoll neu zusammenzusetzen und diese Tätigkeit ad infinitum
fortzusetzen, um die Welt zu erkennen und sich selbst darin weiter zu entwickeln.
Selbst Gott, den Ursprungslosen und Unerzeugten, fährt Gregor fort, könne man
benennen, aber nicht erkennen (Agennesie); wohl aber öffne er als dreifaltiger Ursprung des Sohnes und Heiligen Geistes die freie gedankliche Spekulation. Nur
wenn dieser Geist abwesend sei, könne man Eunomios‘ (gest. um 393) Meinung
zustimmen, daß es sich bei der Epinoia um leeres Gerede, Unsinn, Wahnsinn handle.
Insofern Gott aber die Vernunft schaffe, seien Werke aus der Vernunft des Menschen auch Werke Gottes, die daher, wenn sie tatsächlich als leeres Gerede, Unsinn
oder gar Wahnsinn erschienen, nicht von der differenzierenden Vernunft und freien
Denkform des dreifaltigen Gottes kommen könnten (Kobusch, a.a.O., 57f.).
Die wörtliche Bindung der Muslime an den Text des Korans und das Reflexgerede
ihrer monologischen Assistenten entsprechen heute dem Sprachverständnis des
Eunomios, der im differenzierten Denken keinen Sinn, sondern nur leere Worthülsen
erkannte. Er gilt als Urvater des Arianismus, der mit dem Gewaltherrscher Procop
sympathisierte, was ihm ein strenges Exil eintrug. Ein späterer Autor kommentiert
den Bischof: „Es ist einerseits jedermann einsichtig, daß die individuellen Differenzierungen im Bereich des Gewordenen wirkliche und nicht nur gedachte Verschiedenheiten darstellen“, während die Zumessung von Eigenschaften im göttlichen Bereich nur als gedachte Unterschiede anzusehen seien, z.B. „… dem Vater die Ungezeugtheit, dem Sohne das Gezeugtsein, dem Hl. Geist die Ekpeurosis. Außerdem
gibt es bei der Gottheit keine Verschiedenheit des Willens oder des Könnens oder
der Meinung, was bei uns den wirklichen Unterschied zueinander erzeugt“ (ebd.,
58f.).
Unschwer erkennbar haben wir hier das Basisproblem des totalitären Denkens vor
uns, das sich nicht nur, aber besonders plausibel aus der Absenz differenzierenden
Denkens ableitet und sich göttlich wähnt, weil es keine Unterschiede des Wollens.
Könnens und Meinens zuläßt. Vorliegend erlangt dieser Kontext entscheidende
Plausibilität durch die unmißverständliche, im Koran wiederholte Alleinstellung Allahs als Gottheit, die nicht zeugt und nicht gezeugt wird. Sie grenzt sich demgemäß
scharf ab von den Christen als „Schriftverfälschern“ und von Jesus, der als „Sohn
der Maria“ und Vorläufer Muhammads nicht gekreuzigt, sondern auf mysteriöse
Weise von Allah erhoben wurde (5/17, 72f., 116).
Hier ist noch eine Bemerkung zum Heiligen Geist als Ekpeurosis bzw. Ekpyrosis
anzufügen. Dabei geht es um die christliche Glättung eines urzeitlichen Zyklus apokalyptischer Reinigung, der sich biblisch in der Sintflut ausdrückt. Wie kaum anders
zu erwarten, setzt der Schöpfer des Koran die Gegenprinzipien von Feuer, Glühen
und Hitze ein, die in zahlreichen Variationen die Hölle ausstatten und die endzeitliche Vernichtung der Ungläubigen betreiben. Nach islamischer Systemlogik nimmt
die Ekpyrosis die Form einer permanenten Apokalypse an, die sich in der in Allahs
Dauerschöpfung mitgeschöpften Präsenz des Unglaubens manifestiert und sich
daran im folgerichtigen Dauer-Djihad abarbeitet.
447
Nicht unwichtig erscheint die moderne Version des „Großen Jahres“ der antiken
Ekpyrosis, der Zyklus der Erdachsen-Präzession von 25.800 Jahren, der im „Zeitalter des Wassermanns“ zu Ende geht und eine reiche Quelle der Katastrophen-Prophetie zwischen Hoch- und Volksesoterik bildet. Hier läßt sich in Erfahrung bringen,
daß die Datierungen um Jahrtausende variieren, wobei die aktuelle, logophobe Version auf einem 2000-Jahres-Zyklus basiert, der mit der Zeitenwende beginnt, die
Jesus-Ära beendet und mit dem 9/11-Urknall in ein islamo-planetarisches Zeitalter
führt, auf das wir im zweiten Teil näher eingehen.
Solches läßt sich nicht durch herkömmliche Eliten, sondern durch eine ganz andere
„Rasse“ kosmisch Erleuchteter bewerkstelligen, die die menschheitliche Ignoranz
beseitigt und die ultimative Wahrheit des ewigen Geistes unendlicher Majestät nicht
sucht, sondern längst besitzt. Zu deren bekannteren Kostproben gehören die Themen
des Klimas, Euros und eben auch des Islam, die allesamt keiner rationalen Analyse
standhalten, aber mit einer gigantischen Experten-Industrie eine zunehmend anonyme Super-Elite erzeugen. Deren Vermögen nimmt in der Tat astronomische Ausmaße an, die immer neue Derivate schaffen und ihren derzeitigen Ausdruck in den
„Rettungsschirmen“ der Finanzkrise finden.
6. Die gnostische Gegenwelt
Dies schließt nahtlos an das eunomische Prinzip an, das alle Fragen des sozialen
Willens, Könnens und Wollens überspringt, mit dem Befehl des Gedachten das differenzierte Denken löscht und den Menschen eine Welt aufzwingt, die nicht die ihre,
sondern die der Mächtigen ist. Damit bringt sich ein gnostisches Weltbild zur Geltung, das sowohl den Islam als auch die modernen Politreligionen kennzeichnet. Die
Gnosis (griech.: Wissen, Erkenntnis) ist ein schwieriges Denksystem, das die Kirchenväter zur Häresie erklärten und lange Zeit unbearbeitet blieb, weil es die
menschliche Manipulation der Gottesmacht zu offensichtlich werden ließ. Erst mit
der Moderne, mit der Wandlung des Menschen vom Gottesgeschöpf zum Weltschöpfer, emanzipierte sich die Gnosis als ambivalentes Konzept zwischen Alternative und Gegenprinzip graduell von der etablierten Herrschaftsstruktur aus „Thron
und Altar“.
Denn mit dem Fortschritt des modernen Weltumbaus durch Wissenschaft und Wirtschaft verbreiterten sich dessen Schnittstellen mit der Gnosis, die vor allem auf der
Vorstellung beruht, daß die Ordnungen der bestehenden Welt zerstört und neu geschaffen werden müssen, weil sie von einem mißratenen Demiurgen – identisch mit
Jahwe, dem jüdischen Schöpfergott – fehlerhaft erzeugt wurde. Aus dem Lichtreich
in die Finsternis einer durch die jesuanische Erlösung falsch gepolten verbannt, erscheinen dem modernen Gnostiker diese Welt und ihre Gesellschaft sowie auch der
eigene Körper als doppeltes Gefängnis, das eben auch zweifach gesprengt werden
muß – einmal durch den politreligiösen Umbau, zum zweiten durch die Auflösung
der Sozial- und Geschlechterordnung.
Als Vorbilder dienen ihm die Archonten, vom kosmischen, guten Gott erleuchtete
Planetenherrscher, die den Berufenen ihren Rückweg zum Pleroma, dem Licht der
Erlösung, über die Psyche möglich und das Pneuma (Hauch) sicher machen, wobei
448
er der dumpfen Masse, weil an die Materie (Hyle) gebunden, verschlossen bleibt.
Die Verbindung der kompletten Falschpolung mit dem Judengott führt zur Annahme
eines „metaphysischen Antisemitismus“ (Hans Jonas), dessen Abwehr einen grundlegenden, für die machtorientierte Betrachtung wichtigen Fehlschluß bewirkt. Es ist
zwar richtig, daß die gnostische Erlösung das göttliche Selbstopfer und damit Jesus
und die Auferstehung verneint (Doketismus) und mit dem Judentum das Menschenopfer (als Idee) ablehnt, doch liegt hier nur ein Scheinparadox vor (vgl. Reinhard
Sonnenschmidt, Politische Gnosis, 10ff., 23f. – München 2001).
Denn der nicht näher bekannte und benannte Alternativ-„Erlöser“ erlöst nicht durch
das Opfer, sondern durch Gnosis, durch das Wissen über den Rückweg zum Licht.
Und dieses Wissen beruht nicht auf dem Opfer Gottes, sondern auf der Opferung
der falschen Welt und der Menschen, die dieser Art Erlösung „im Wege“ stehen –
mit dem Christus-Ereignis als zentralem Feindbild aller nachfolgender Gewaltsysteme.
Das Opfer der Welt wird durch den – vom Pneuma und/oder Allah erleuchteten –
Herrenmenschen herbeigeführt, und die Vollendung der Welt wird im Kampf gegen
den „Logozentrismus“ fortan nicht mehr dem Gott des Logos überlassen. Denn der
bietet dem Menschen die Nachfolge seiner Inkarnation Jesus an, um sich die Welt
in individueller, geistiger Vollendung untertan zu machen, nicht sie zu zerstören. Die
Macht muß hier drei Grenzen achten: 1. Das Schuldbewußtsein gegenüber den Menschen („der werfe den ersten Stein“), 2. die lebenspendende Würde der Frau und 3.
die soziale Kontrolle der Geldfunktion.
Da Schuld, Geschlecht und Geld apriorische Bedingungen der Machtschere zwischen Führenden und Geführten sind (heute steht für Schuld die Toleranz), spielt
Jesus eine unüberwindliche politische Rolle, die eine Zeitenwende herbeiführte und
für die Macht „an sich“ das weltgeschichtliche Ärgernis par excellence ist. Daraus
folgt die singuläre Stellung des jesuanisch begründeten Christentums, die dessen
überzeitliche, geistig-soziale Unvereinbarkeit mit dem Islam bedingt.
Zur Klarstellung: Sowohl die Gnostisierung als auch die Islamisierung bedeutet das
Ende der bestehenden Welt, während das christliche Gegenkonzept ihre Vollendung
anstrebt, weil es auf dem differenzierenden Denken beruht, das man auch die Unterscheidung des Geister nennt. Folgerichtig müssen Islam und Moderne die von Jesus
bewirkte Zeitenwende aufheben, was sich nur durch die Umkehrung, d.h. Unterdrückung des „alten“ Denkens und die Zerstörung der „logozentrischen“ Welt im
Sinne einer völligen Nivellierung aller „alten“ Wertvorstellungen bewerkstelligen
läßt.
Dies bedingt, daß die drei kardinalen Kriterien der Zeitenwende im Bewußtsein und
praktischen Leben der Menschen gelöscht werden: die Schuld der Macht, die Aufwertung der Frau und die Abwertung des Geldes – ein fundamentaler Gegentrend
zur jüdisch-christlichen Zivilisation, der mit der Globalisierung in seine entscheidende Phase getreten sein könnte. Er läßt eine Dekadenz humaner Existenz erwarten, deren Ausmaß sich das differenzierende Denken nicht vorstellen kann, eben
weil es mit dem Gegenkonzept des kanalisierten Denkschwunds nicht kompatibel
ist.
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Die dehumanisierenden Folgen dieser Diskrepanz sind an den Massenmorden der
Moderne abzulesen. Nach dem Holodomor an den Russen und Kulaken, dem Holocaust an den Juden, der Vollendung des islamischen Genozids an den Christen bereitet sich mit der Massenzuwanderung in Europa eine totalitäre Entwicklung vor,
für die es in der Geschichte kein Beispiel gibt.
Die bislang vorgestellten Sachverhalte lassen eine zuverlässige Steigerung des totalitären Gewaltpotentials erwarten, die sich aus zwei Quellen nährt: zum einen aus
der auffallenden Familienähnlichkeit des Kulturdialogs mit der Hitler-Ideologie,
zum anderen aus dem geldgetriebenen Herrenmenschentum, das eine unaufhaltsame, weil systemische Steigerung eines imperialen Globalrassismus gegen die
Menschen des differenzierten Denkens erzeugt, die der bürgerlich-christlich kultivierten Moderne angehören. Mit dem Angriff auf den „Logozentrismus“ wird die
existentielle Dimension deutlich, in der sich der moderne Weltumbau vollzieht, und
ein faktisches Nicht-Denken bedingt, die Reduktion des Menschen auf mechanische
Funktionen.
„Ich habe die Djinn und die Menschen nur darum geschaffen, daß sie mir dienen“,
sagt der Islamgott im Koran (51/56) und verkündet eine universale Gehorsamsformel, die nicht nur die Umma, die islamische Gemeinschaft prägt, sondern auch, wie
ihre Anhänger glauben, von allen anderen Kulturen zu befolgen ist. Und nicht nur
das: Die Djinn sind feurige Unruhegeister, die Muhammad einst vom altarabischen
Magieglauben übernahm und dem Eingottglauben als allgegenwärtige Kraft der
Verunsicherung einpflanzte. Als Ausdruck der islamischen Ekpyrosis, der feuerdurchglühten Dauer-Apokalypse, durchdringen sie das gesamte menschliche Leben
mit Gut und Böse und halten die Gläubigen in ständiger Sündenangst, aber auch in
der Sicherheit, dem Unglauben endzeitlich überlegen zu sein.
Dies führt zur Erkenntnis selbst, zur verbotenen Frage nach dem Wie (bi la kayfa),
wie Allah die Welt zusammenhält, im Koran mit dem bizarren Bild des Zaqqum, des
Höllenbaums, symbolisiert. Über die Rolle des Zaqqum gibt es viele Spekulationen,
die darauf hinauslaufen, daß er die stinkende Quelle ekelhaft bitterer Früchte in der
Form von Satansköpfen ist, deren Verzehr sich mit siedendem Wasser (Hamim) verbindet. Diese qualvolle Speisung wartet auf diejenigen, die sich nicht mit Befehlen
abfinden, sondern nach der Erkenntnis von Allah und Welt gesucht haben. Sie steht
als diabolische Strafe für die Existenz in selbstbewußter Skepsis, deren Ausmaß an
der Aussage, daß es keinen Zwang im Glauben gibt, erneut zweifeln läßt (s.o.).
Mit dem Sieden kehrt das Motiv der apokalyptischen Hitze zurück, in der sich die
eigentliche Höllenfunktion mit noch drakonischeren Strafen geltend macht. Dabei
überrascht nicht, daß der Zaqqum auch ein Feuerbaum ist, Sitz der satanischen Feuergeister, die Ungläubige und Abtrünnige in der Hölle heimsuchen und ihnen Qualen
von namenloser Grausamkeit bereiten. Hier setzt die so unfehlbare wie sadistische
Apologetik des „Dialogs“ ein, die auf eine Christenhölle mit noch schlimmeren Folterinstrumenten verweist.
Dem läßt sich teilweise zustimmen, doch fehlt natürlich die Differenzierung, die das
Christentum seine Hölle sublimieren ließ, während den Dialog-Aktivisten offenbar
an deren Fortbestand im Islam gelegen ist. Im Zaqqum vereinen sich Pendants zum
450
Baum der Erkenntnis und des Lebens zum Baum des Todes, der mit Wurzeln in der
Hölle und Zweigen in der Welt das umfassende Praxissymbol für die Angst, Gewalt
und Paranoia der islamischen Mentalität ist (vgl. Price-Jones, The Closed Circle –
London 1989; zum Zaqqum s. Radscheit, Der Höllenbaum in: Nagel (Hrsg.), Der
Koran und sein religiöses und kulturelles Umfeld, 97ff. – München 2010).
„O die ihr glaubt, bewahrt euch selbst und eure Angehörigen vor einem Feuer, dessen Brennstoff Menschen und Steine sind, über das hartherzige, strenge Engel gesetzt sind, starke und gestrenge, die gegen Allahs Befehl nicht widerspenstig tun,
was sie geheißen sind (66/6) – Und eines Tages werden die Feinde Allahs zum Feuer
versammelt werden, vorwärts getrieben, bis daß, wenn sie zu ihm gekommen sind,
ihre Ohren und Augen und ihre Haut Zeugnis ablegen für ihr Tun (41/19f.) – Siehe,
wer da unsere Zeichen verleugnet, den werden wir im Feuer brennen lassen, so oft
ihre Haut verbrannt (gar) ist, geben wir ihnen eine andere Haut, damit sie die Strafe
kosten (4/56) – Für diejenigen, die nicht glauben, sind Kleider aus Feuer geschnitten,
gegossen wird siedendes Wasser über ihre Häupter (22/19) – Und siehe, es ist die
Glut, welche die Kopfhaut abzieht (70/16f.) – So oft sie aus Angst zu entrinnen suchen, sollen sie zurückgetrieben werden – Kostet die Strafe des Verbrennens“
(22/23).
Abgesehen davon, daß die „Menschen als Brennstoff“ die Vorlage für den Holocaust
bilden, entsprechen die „hartherzigen, strengen Engel, … die gegen Allahs Befehl
nicht widerspenstig sind“, den Schergen und Bütteln aller Zeiten. Auf gehobener
Ebene treten sie als „gehorsame Herrenmenschen“ auf, als Garanten jeder Macht,
deren Ausuferung heute das Schweigen zum Massenmord im Orient erzwingt. Je
totalitärer das System, desto vorhersagbarer sind die Akteure, so daß der Phase des
Köpfens das ebenso korangerechte Hautabziehen folgen könnte. Je weniger dies mit
dem Islam zu tun haben soll, desto mehr muß es mit den Euro-Eliten zu tun haben.
Denn beide stellen die minderen Spezies der restlichen Christen und Israels im logophoben Kampf gegen die jüdisch-christliche Kultur zur Disposition.
Dr. Hans-Peter Raddatz, Orientalist und Finanzanalytiker, ist Autor zahlreicher
Bücher über die moderne Gesellschaft, die Funktionen der Globalisierung und
den Dialog mit dem Islam.
451
Wolfgang Hariolf Spindler
Carl Schmitts Korrespondenzen
I. Zum Verlauf der Schmitt-Rezeption
Rezeption und Deutung der Werke Carl Schmitts (1888-1985) haben in den zurückliegenden einhundert Jahren erstaunliche Wendungen genommen. Hatten die
strafrechtliche Dissertation „Über Schuld und Schuldarten“ (1910) und die staatsphilosophische Habilitationsschrift über den „Wert des Staates und die Bedeutung
des Einzelnen“ (1914) nur ein kleines Fachpublikum erreicht, sorgten so klangvolle Titel wie „Die Sichtbarkeit der Kirche. Eine scholastische Erwägung“
(1917), „Die Diktatur“ (1921), „Politische Theologie“ (1922), „Römischer Katholizismus und politische Form“ (1923), „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ (1923) für größeres Aufsehen, nicht zuletzt unter Katholiken. Das führte zu dem Mißverständnis, bei dem aufstrebenden Staatsrechtslehrer
handle es sich um einen „Reichstheologen“ oder einen Mann des „Zentrums“.
Tatsächlich hatten 1924 rheinländische Nachwuchskräfte der Zentrumspartei den
Reichsparteivorstand aufgefordert, dem 1922 nach Bonn berufenen Professor einen sicheren Listenplatz für den Reichstag zu reservieren. Schmitt lehnte solches
Ansinnen ab.1 Sein Katholizismus war ein vorwiegend juridisch-soziologischer
und künstlerisch-ästhetischer, keiner jedenfalls, der ihn hätte motivieren können,
in die Politik einzusteigen. Sein kurzzeitiges heftiges Engagement für das NS-Regime beruhte auf einem weiteren, nunmehr wechselseitigen Mißverständnis:
Schmitt glaubte, den braunen Machthabern beibringen zu können, was ein Staat
ist; diese meinten, er wäre einer der ihren, bis ihn 1936 die SS als Judenfreund und
katholischen Opportunisten entlarvte und politisch abservierte.2 In der jungen
Bundesrepublik ließ man Schmitt auf den Berliner Lehrstuhl, den er seit 1933 innegehabt hatte, nicht mehr zurückkehren. Er galt als verfemt. Seine Positionen
wurden kaum mehr mit Namen zitiert. Gleichwohl weist das Bonner Grundgesetz
deutliche Spuren seiner Verfassungslehre3 auf, etwa in Form der „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Absatz 3 oder der Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz.4
Diejenigen aus dem Schülerkreis, die sich nicht von ihm abgewandt hatten, trugen
seine Positionen und Begriffe in die Rechtskultur der Bonner Republik ein. Intellektuelle aller Couleur besuchten ihn in seinem sauerländischen „Exil“ in Plettenberg, von wo aus er ein beziehungsreiches Netz von neuen Schülern und Multiplikatoren knüpfte. Kurz nach Schmitts Tod war ein in Speyer abgehaltener Kongreß,
publiziert unter dem Titel „Complexio oppositorum. Über Carl Schmitt“ (1988),
die Initialzündung für einen ungeahnten, bis heute andauernden Schmitt-Boom.
Das Forschungsinteresse konzentrierte sich in Etappen auf den politischen Theologen, den Satiriker und Pamphletisten, den Kulturphilosophen, paradoxerweise
452
weniger auf den Staats- und Völkerrechtler. Seitdem sind Hunderte von Monographien und Tausende von Aufsätzen und Zeitungsartikeln über Schmitt erschienen,
viele davon im Ausland. Zusätzlichen Diskussionsstoff bieten die Tagebücher, die
seit 2003 in unregelmäßigen Abständen herausgegeben werden.5 Wer sich einen
umfassenden Überblick über die Publikationen bis zum Jahr 20106 verschaffen
will, dem wird dieses Buch eine unersetzliche und, von kleineren Fehlern und Verwechslungen abgesehen, zuverlässige Hilfe sein:
Alain de Benoist: Carl Schmitt. Internationale Bibliographie der Primär- und
Sekundärliteratur, Graz: Ares Verlag, 2010, 528 S.
II. Carl Schmitts Briefwechsel – einige Beispiele
1. Ein reges Interesse an Schmitts Korrespondenzen7 ist die neueste Wendung in
dem wechselhaften Rezeptionsprozeß. Davon zeugt auch der erste Band der
SCHMITTIANA. Neue Folge. Beiträge zu Leben und Werk Carl Schmitts,
Band I, hrsg. von der Carl-Schmitt-Gesellschaft, Berlin: Duncker &
Humblot, 2011, 343 S.
Martin Otto präsentiert darin den Briefwechsel mit Erwin Jacobi (1884-1965), den
Schmitt 1924 auf der Jenaer Tagung der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer
schätzengelernt und mit dem zusammen er 1932 im „Preußenschlag“-Prozeß vor
dem Staatsgerichtshof in Leipzig das Reich vertreten hat. Im „Dritten Reich“
wurde der bekennende Protestant Jacobi wegen seiner jüdischen Abstammung aus
dem Professorenamt entfernt. Ab 1947 lehrte er wieder an seiner Stammuniversität
in Leipzig und war sogar für ein paar Jahre ihr Rektor. Nachdem diese ganz vom
Ungeist des DDR-Marxismus erfaßt war, konzentrierte sich der in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen Engagierte wieder auf das Kirchenrecht
– ein Lebensverlauf, den sein Biograph ironisch auf die Formel „Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb“8 gebracht hat.
Wie der Briefkontakt mit Jacobi nur von 1926 bis 1933 andauerte, so endete auch
der 1924 einsetzende Briefwechsel Schmitts mit seinem in der Bonner Zeit so
wichtigen Gesprächspartner Waldemar Gurian (1902-1954)9 im Jahr 1932, also
kurz vor der sog. Machtübernahme. Ellen Thümmler und Reinhard Mehring haben
die – inhaltlich freilich nicht allzu ergiebige – Korrespondenz herausgegeben, angemessen knapp annotiert und um Rezensionen Gurians von Werken Schmitts ergänzt. Gurians Verriß von Hugo Balls (1886-1927) antiprotestantischer Streitschrift „Die Folgen der Reformation“ (1924) war seinerzeit der Anlaß gewesen,
warum Ball die freundschaftlichen Bande zu Schmitt kappte; Ball hielt die im Zentrumsblatt „Kölnische Volkszeitung“ erschienene negative Rezension für ein Auftragswerk Schmitts – zu Unrecht, wiewohl Schmitt das Buch tatsächlich für unzulänglich befunden und Ball während eines Besuchs in dessen Tessiner Domizil
von der Veröffentlichung abzuhalten versucht hatte.10 Schon damals zeigte sich
das polemische Talent Gurians, des in Sankt Petersburg geborenen Juden, der
1911 nach Deutschland gekommen, 1914 katholisch getauft und 1923 bei Max
Scheler in Köln promoviert worden war. 1927/28 kam es aus persönlichen wie
453
ideologischen Gründen zum Bruch mit Schmitt. Doch die – eher spröde – Korrespondenz hielt noch an. 1932 in die Schweiz emigriert, trieb Gurian, der sich als
„Missionar in der modernen Welt“ verstand, die Polemik auf die Spitze. Seine
Attacke auf den „säkularisierten Katholizismus“ wendete den „alten“ gegen den
„neuen“, nationalsozialistisch gefärbten Schmitt. In den „Deutschen Briefen“11
empfahl er dem SS-Organ „Das Schwarze Korps“ die katholisierenden Schriften
seines einstigen Meisters zur Lektüre.12 Indirekt trug er damit zur Ablösung
Schmitts von allen akademischen Partei-Funktionen bei. Gurian prägte das Etikett
vom „Kronjuristen des Dritten Reiches“13, das freilich, des Kontextes von Gurians
Renegatentum entkleidet, der fast sieben Jahrzehnte umspannenden wissenschaftlichen Produktion Schmitts in keiner Weise gerecht wird, vielmehr seither den Ahnungslosen als Keule zum wohlfeilen Schmitt-bashing dient.
Den dritten Briefwechsel des Bandes, die von 1919 bis 1977 reichende Korrespondenz von Carl (und auch Duška) Schmitt mit Lilly von Schnitzler geb. von
Mallinckrodt (1889-1981), hat Rolf Rieß herausgegeben. Lilly (Liliane) von
Schnitzler war die Frau des langjährigen Vorstandsmitglieds der I.G. Farben,
Georg Schnitzler (1884-1962), eines früheren Militärkameraden Schmitts beim
stellvertretenden Generalkommando des I. Bayerischen Armeekorps in München,
Kunstsammlerin, Salondame und Mäzenin. Sie teilte Schmitts Vorliebe für moderne Kunst und Horoskope. Das Ehepaar lud Schmitt oft in sein Haus nach Frankfurt am Main ein. Zuletzt wohnte es in Murnau am Staffelsee, wo 1909 bis 1914
die Künstler des Blauen Reiters zu Hause gewesen waren.14 Obgleich er sehr lükkenhaft ist, bringt der Briefwechsel viele neue Details15 aus Schmitts Privatleben
ans Licht und gewährt Einblicke in die Lebenswelt einer vielseitig interessierten
Adeligen, die sich im konservativen „Europäischen Kulturbund“ ihres Freundes
Karl Anton Prinz Rohan (1898-1975) jahrelang für europäische Verständigung engagierte.16 Heutige Leser mag es irritieren, daß noch in den ersten Kriegsjahren
die in den Briefen behandelten Themen kaum einmal politisch oder militärisch
bestimmt sind. Erst 1943 wendet sich das Blatt. Frau von Schnitzler thematisiert
den „Sieg Rußlands“, die Leiden der Soldaten an der Ostfront („grauenhaft“), die
zerbombten Städte in Deutschland (S. 163 f.). Dennoch fällt auf: Krieg und Verlust, Schicksalsschläge und Krankheiten werden zwar – vor und nach 1945 – erwähnt, aber nicht bejammert. „Alle unsere Kraft wurzelt in unserm Leidvertrauen“, schreibt Schmitt am 10. Juni 1946 (S. 173). Beide Briefpartner wahren
eine Form, die sie vor Selbstaufgabe oder Entmutigung schützt. Zu dieser Form
gehört auch das Refugium des katholischen Glaubens, zu dem Lilly v. Schnitzler
nach jahrelangem esoterischem Flirt, etwa mit Hermann Graf Keyserlings (18801946) „Schule der Weisheit“17, gegen Kriegsende18 konvertiert. Nicht die äußere
Welt bestimmt das Innenleben. Vielmehr sind es – umgekehrt – Überzeugungen,
Lektüren, Begegnungen, mit denen die Briefpartner die Außenwelt erschließen
und zugleich relativieren.
2. Unter den Doktoranden, die Schmitt gerade in der Bonner Zeit um sich scharte,
gehört Ernst Forsthoff (1902-1974) zu den bekanntesten.19 Von daher kommt dem
auch äußerlich schwergewichtigen Band
454
Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt 1926-1974, hrsg. von Dorothee
Mußgnug, Reinhard Mußgnug und Angela Reintal in Zusammenarbeit mit
Gerd Giesler und Jürgen Tröger, Berlin: Akademie Verlag, 2007, 592 S.
größeres Gewicht zu. Forsthoff hatte im Sommersemester 1923 eine Übung bei
Schmitt besucht, wodurch ihm erst „der eigentliche Sinn des Rechtsstudiums und
des spezifisch Juristischen erschlossen wurde“ (S. 192). Was diese Begegnung
(und was ihr folgte) für sein Leben bedeutet habe, sei weder zu ermessen noch in
Worte zu fassen, bekennt er anläßlich von Schmitts 75. Geburtstag. Tatsächlich
hat Forsthoff nicht nur bei Schmitt über den „Ausnahmezustand der Länder“
(1926) promoviert – damals genügten dafür noch 56 Druckseiten in einer juristischen Zeitschrift –, sondern, wie schon der Titel der Dissertation erahnen läßt,
auch zentrale Denkfiguren Schmitts aufgesogen. Das gilt auch für die in der Hanseatischen Verlagsanstalt erschienene Schrift „Der totale Staat“ (1933), in der
Forsthoff die durch die „nationalsozialistische Revolution“ herbeigeführte Überwindung des bürgerlichen Rechts- und Verwaltungsstaates feierte. Schmitt freilich
hatte den Begriff des „totalen Staates“ während der Weimarer Republik kreiert. Er
unterschied dabei einen qualitativen von einem quantitativen totalen Staat. Mit
letzterem zielte er auf die Auswüchse des alles absorbierenden Parteienstaats, der
„sich unterschiedslos auf alle Sachgebiete, alle Sphären des menschlichen Daseins
begibt, der überhaupt keine staatsfreie Sphäre mehr kennt“. Ersterer meinte den
starken, wehrhaften Staat, der sich vor innerer Zersetzung durch „staatsfeindliche,
staatshemmende oder staatszerspaltende Kräfte“ wehrt.20 Wer das anno 1932 las,
wußte, wer mit den schädlichen Kräften in der Hauptsache gemeint war: die Nationalsozialisten! Entsprechend ablehnend reagierten diese auf die Idee vom „totalen Staat“.21
Forsthoff versuchte nichtsdestoweniger, den Begriff auf die neue Lage umzumünzen, und ließ sich obendrein über „Artfremde“ aus, die „die große Säuberungsaktion“ Hitlers „in Vollziehung der Unterscheidung von Freund und Feind … auszumerzen“ begonnen habe. Auch wenn damals, 1933, selbstverständlich nicht die
Judenvernichtung in den Blick genommen war, liegen solche Entgleisungen, die
in der zweiten Auflage des Buches von 1934 noch verschärft wurden22, doch wie
Blei auf Forsthoffs Werk. Im „Entnazifizierungsverfahren“ hat Forsthoff von sich
aus auf diesen Makel hingewiesen. Die Art und Weise, wie er mit seiner Vergangenheit umging, ähnelt der seines Lehrers Schmitt, weist aber eine spezielle Komponente auf, die mit Forsthoffs religiöser Sozialisation zu tun hat. In einem Brief
an den Dekan der Juristischen Fakultät der Universität Frankfurt am Main, die ihn
1949 berufen wollte, beteuert er, seine NS-nahen Schriften „ernst zu nehmen“ (S.
22). „Ich gehöre nicht zu denen, die sich heute in Buße und Reue winden, sondern
will zu meinen Irrtümern stehen – die ich, ohne mir einen moralischen Vorwurf
machen zu müssen, natürlich erkenne“. Niemand hätte von ihm eines jener öffentlichen Bußrituale gefordert, die Jahrzehnte später üblich wurden. Aber echte Reue
– hätte man die nicht von einem Pfarrerssohn und evangelischen Christen erwarten
dürfen? Ist nicht das „Zur-Sünde-Stehen“ eine erbärmliche Schrumpfform der lutherischen Hier-stehe-ich-ich-kann-nicht-anders-Haltung? Sich nicht einmal im
455
nachhinein einen Vorwurf machen zu wollen zeigt außerdem, daß es mit der reklamierten Erkenntnis von Irrtümern nicht weit her war. Gleichwohl wäre es unangemessen, beide, Forsthoff wie Schmitt, und ihr rechtswissenschaftliches Schaffen allein auf der Grundlage ihres Versagens im „Dritten Reich“ zu beurteilen. Der
Briefwechsel bietet Material genug, um sich ein breiteres Bild zu machen. Im ganzen sind es 359 Briefe und Karten, welche die Herausgeber zusammengestellt und
mit teils kurzen, teils ausführlichen, auch andere Korrespondenzen (zum Beispiel
mit dem Metz-Schüler Ernst Feil [1932-2013] zum Begriff der politischen Theologie, S. 495 ff.) einbeziehenden Hinweisen in einem separaten Kommentarteil
aufbereitet haben. Nicht zuletzt dank der klugen Einleitung leistet der Band einen
wichtigen Beitrag zur Geschichte politisch rechtsstehender Juristen, die auf die
Epochenzäsuren von der Weimarer Republik zum NS-Staat und von diesem zur
Bonner Republik in vergleichbarer Weise reagiert haben. Anders als Schmitt, arrangierte sich Forsthoff letztlich mit der Bundesrepublik, die Verwaltungsrechtsspezialisten wie ihn dringend brauchte. Mit dem 1971 erschienenen Taschenbuch
„Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik
Deutschland“ hat er die Transformation vom Herrschaftsstaat zum sozialen Vorsorge- und Wohlfahrtsstaat eindrucksvoll beschrieben. Von 1952 bis 1967 Ordinarius für öffentliches Recht in Heidelberg, ließ sich Forsthoff als vielgefragter
Gutachter einspannen und fungierte sogar für drei Jahre als Präsident des Obersten
Verfassungsgerichts der Republik Zypern.
3. War der Briefwechsel mit Forsthoff vom Oktober 1933 bis 1948, von kargen
Geburtstags- und Kondolenzgrüßen abgesehen, aus nicht vollständig rekonstruierbaren Gründen23 lediglich unterbrochen, so fand der freundschaftliche Kontakt mit
dem Münchener Rechtsanwalt, Judaisten und Leiter des Verlages Duncker &
Humblot, Ludwig Feuchtwanger (1885-1947), ein jähes und vollständiges Ende.24
Zum letztenmal trafen die beiden einander am 30. Juni 1932, und zwar in der Münchener Wohnung des jüdischen Intellektuellen nahe dem Prinzregentenplatz, von
der aus man die Fenster der Privatwohnung Adolf Hitlers sehen konnte. Diese und
andere Details einer ungewöhnlichen Beziehung lassen sich dem Buch entnehmen,
zu dem der Sohn Feuchtwangers, der englische Historiker Edgar J. Feuchtwanger
(geb. 1924)25, ein tiefgründiges Vorwort beigesteuert hat:
Carl Schmitt – Ludwig Feuchtwanger, Briefwechsel 1918–1935, hrsg. von
Rolf Rieß, mit einem Vorwort von Edgar J. Feuchtwanger, Berlin: Duncker
& Humblot, 2007, 447 S.
Der Briefwechsel zwischen Schmitt und dem Bruder des Schriftstellers Lion
Feuchtwanger (1884-1958) bestätigt und relativiert den oft thematisierten Antisemitismus Schmitts. Als vielseitigen geistigen Anreger, dienstbaren Verleger und
geschickten Bücherorganisatoren schätzte Schmitt Feuchtwanger so lange, wie
sein antijüdischer Komplex nicht überhandnahm und der Kontakt politisch unproblematisch erschien. Während der publizistisch besonders fruchtbaren Bonner
Jahre 1922 bis 1928 besprachen die beiden fast alle Schmitt interessierenden
Schriften und Ereignisse. Ohne die Förderung, die Schmitt von Feuchtwanger erfahren hat, ist sein damaliger Erfolg kaum denkbar. Die traurige Wende leitet
456
Schmitt ein, als er am 12. April 1933 aus Köln, wo er ein Semester lang unterrichtet, in bezug auf den „Begriff des Politischen“ (1928) schreibt: „Diese Schrift kann
ich nicht länger in Ihrem Verlag lassen. Zwischen Arnold Bergsträsser und
Gerhard Leibholz ist sie in einem falschen, karikierenden Licht“ (S. 393). Die genannten Autoren stammen aus jüdischen Familien. Bergsträsser emigriert 1937 in
die USA, Leibholz, der mit der Zwillingsschwester Dietrich Bonhoeffers verheiratet ist, ein Jahr später nach Großbritannien. In diesem Umfeld will Schmitt nicht
länger gesehen werden. Die restlichen Briefe, die Feuchtwanger in unverminderter Höflichkeit beantwortet, sind kühl, knapp, ja abweisend. Ein letzter Brief von
Feuchtwanger, datiert vom 23. Juli 1935, ist eine zaghafte Bitte um Referenz „im
Gedenken an unsere früheren freundschaftlichen und vertrauensvollen Beziehungen“ (S. 397). Er hofft, mit Schmitts Hilfe eine existenzsichernde Ausnahme vom
Ausschluß aller „Nichtarier“ aus der Reichsschrifttumskammer erwirken zu können. Eine Antwort ist nicht überkommen. Der Theoretiker der Ausnahme macht
bei der nationalsozialistischen Exklusionspraxis keine Ausnahmen. Obwohl „ohne
jegliches Vermögen und ohne Pensionsberechtigung“ (S. 394 f.), glaubt Feuchtwanger noch lange, kein „Bohème-Emigrant“ (ebd.) werden zu müssen. 1939
schließlich flieht er nach mehrmonatiger Haft im KZ Dachau mit seiner Familie
nach England. Trotz dieses traurigen Endes handelt es sich um eine für die Erkundung des „frühen“ Schmitt bedeutende, umsichtig kommentierte Publikation, auch
wenn Mehrfachnennungen von Quellen und Sekundärliteratur bisweilen stören.
4. Zu den Schieflagen der letzten Jahrzehnte gehört, daß Schmitt oft entweder isoliert oder in Form von „Carl-Schmitt-und-X-Betrachtungen“ behandelt wird. „Ein
Teil dieser Arbeiten ist sinnvoll und nützlich, ein mindestens ebenso großer aber
nur feuilletonistische Anknüpfungsindustrie und Permutations-Zirkus.“26 Was –
zumal in bezug auf das völkerrechtliche Werk – weithin fehlt, ist die zeit- und
wissenschaftsgeschichtliche Einordnung Schmitts in die Diskussionsverläufe und
Richtungsstreite seiner Zeit, mithin der Vergleich mit entgegengesetzten oder benachbarten Positionen von Fachkollegen, die wiederum vor dem Hintergrund des
politischen und wirtschaftlichen Geschehens zu betrachten wären. Von daher ist
es zu begrüßen, daß mittels eines weiteren Briefwechsels die Brücke zu einem
bedeutenden Kollegen Schmitts geschlagen worden ist:
„Auf der gefahrenvollen Straße des öffentlichen Rechts“. Briefwechsel Carl
Schmitt – Rudolf Smend 1921-1961. Mit ergänzenden Materialien, hrsg. von
Reinhard Mehring, Berlin: Duncker & Humblot, 2010, 208 S.27
Carl Friedrich Rudolf Smend (1882-1975) war ein Sohn des bedeutenden, in Basel
lehrenden Alttestamentlers Rudolf Smend (1851-1913), der sich in der PentateuchForschung einen bis heute geläufigen Namen gemacht hat. Die Familie stammte
aus Westfalen. Nach Stationen des Lehrens in Kiel (Habilitation 1908), Greifswald
(1909), Tübingen (1911) und Bonn (1915) wurde Smend 1922 nach Berlin (und
Schmitt auf Smends Vorschlag hin als sein Nachfolger von Greifswald nach Bonn)
berufen, bis er aufgrund seiner deutlichen Distanz zum NS-Staat 1935 nach Göttingen wechseln mußte, wo er bis zu seinem Lebensende blieb und u.a. das Amt
457
des ersten Universitätsrektors nach dem Zweiten Weltkrieg innehatte. Ursprünglich auf die Geschichte des deutschen Verfassungsrechts spezialisiert, wandte sich
Smend je länger, je mehr den zeitgenössischen Fragen des Staats- und des (protestantischen) Kirchenrechts zu. Mehring betont, daß Schmitt von allen seinen Kollegen keinen menschlich und fachlich so geschätzt hat wie Smend (S. 8). Kennengelernt hatten sich die beiden 1922; enger wurde die Beziehung seit der Staatsrechtslehrertagung 1924 in Jena. Bei einem gemeinsamen Besuch der Dornburger
Schlösser dachte Schmitt an Smend „wie an einen Bruder“28. Trotz der Hochachtung für Smend, die sich auf Schmitts Briefe niederschlägt, gingen ihre verfassungsrechtlichen Ansichten deutlich auseinander. Während Schmitts dezisionistische, von gegenrevolutionären Autoren inspirierte Phase in das oben erwähnte
Bonner Hauptwerk „Verfassungslehre“ mündete, in der er die Verfassung als politische Entscheidung eines Volkes zur Einheit und damit zur Existenz begriff,
entwickelte Smend zur selben Zeit, gipfelnd in der Schrift „Verfassung und Verfassungsrecht“ (1928)29, eine eher vitalistisch-geisteswissenschaftliche als im engeren Sinn juristische Integrationslehre, nach der Verfassung, Staatsgewalt und
Staatsorgane nicht als statische, sondern dynamisch-integrative Größen aufzufassen sind – eine konservativ-liberale, von protestantischer Staatsethik und Idealismus getragene Lehre, die in der jungen Bundesrepublik über Ulrich Scheuner,
Konrad Hesse, Horst Ehmke und andere Schule machen sollte.30 Im Weimarer
Methodenstreit31 bestanden die Gemeinsamkeiten von Schmitt und Smend juristisch vor allem in der Berücksichtigung der (geistes)geschichtlichen Hintergründe und der Ablehnung des neukantianischen32 Extrempositivismus der „Wiener Schule“ sowie des bürokratischen Anstaltstaates.
Diese Unterschiede spielten erst eine Rolle, als Schmitt sich als „Märzgefallener“
auf die Seite der Nationalsozialisten schlug. In die von da an spärlicher und formeller werdende Korrespondenz schleicht sich ein Ton der Entfremdung ein, vor
allem von seiten Smends. Am 15. Juli 1933 beklagt dieser die „demütigenden und
unsachlichen Anordnungen“ des sog. Kirchenkommissars der „Deutschen Christen“ in Westfalen und spricht Schmitt erstmals direkt als Nationalsozialisten an:
„Helfen Sie uns vor neuen Kulturkämpfen bewahren – dies Kapitel der deutschen
Geschichte darf Ihre NSDAP nicht dauernd ignorieren“ (S. 89). Doch wie „die
Partei“ die Geschichte, so ignorierte Schmitt seine Vergangenheit. Hatte er doch
als Berater des Kabinetts Kurt von Schleicher bis zuletzt für den wehrhaften demokratischen Staat plädiert. Schmitt kam zum Wintersemester 1933/34 an die
Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und war dort für vier Semester Smends Fakultätskollege, bis dieser nach Göttingen wechselte. Möglicherweise war Schmitts
Aufforderung, bei der Tagung des „Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes
e.V.“ im Oktober 1936 ein „Referat über das Judentum im Staatsrecht zu übernehmen“ (S. 93), der Versuch, Smend auf die Seite der Gewinner zu ziehen. Die im
Nachlaß aufbewahrte Einladung trägt den handschriftlichen Vermerk Smends „abgelehnt“. Nach Schmitts Sturz normalisiert sich das Verhältnis, ebenso der Briefwechsel. Die gebliebenen Differenzen werden subkutan kommuniziert. Anschauliches Beispiel dafür ist, wie Smend in einem Artikel „Zum Gedenktag der Göt-
458
tinger Sieben“33, den er Schmitt zukommen läßt, den Protest des Historikers Friedrich Christoph Dahlmann (1785-1860) gegen den offenen Verfassungsbruch König Ernst Augusts von Hannover durch dessen Aufhebung des Staatsgrundgesetzes
von 1833 positiv würdigt. Dahlmann verlor seinerzeit seine Professur und wurde,
gemeinsam mit Jacob Gimm (1785-1863) und Georg Gervinus (1805-1871), des
Landes verwiesen. Schmitt hält solches Heldentum für töricht. Jedenfalls schreibt
er am 14. April 1938, seinen (unfreiwilligen) und Smends (freiwilligen) Abstand
zu den NS-Machthabern gleichsetzend: „… von der Art Ruhm, wie sie Dahlmann
zu seinem Schaden zuteil wurde, hat uns ein nicht sehr angenehmes, aber doch
wohl gütiges Geschick bewahrt“ (S. 95). Diese und viele andere Details hat
Mehring mit der aufwendigen Edition und der kenntnis- wie materialreichen Kommentierung zugänglich gemacht.
Dazu gehört auch der Abdruck des in der Göttinger Universitätszeitung veröffentlichten Berichts über die Neugründung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (S. 125 f.). Wer daran gewöhnt ist, daß es im 21. Jahrhundert eine
Vergangenheit gibt, die „nicht vergehen will“ (Ernst Nolte), wird sich darüber
wundern, wie der politisch unverdächtige „Vater“ der Integrationslehre begründet,
daß die exponierten Vorkämpfer des „Dritten Reiches“ dazu nicht eingeladen wurden. „Darin lag eine stille Kritik an einer zu strengen Entnazifizierungspraxis der
Spruchkammern und an einer zu ängstlichen Berufungspraxis der Ministerien, die
beide oft vergessen, daß 1949 und nicht 1945 im Kalender steht, und daß mit allen
Gutwilligen endlich Friede gemacht werden muß.“ Zu Letzteren zählte Schmitt
offenkundig nicht. Vor allem deshalb fand der bemerkenswerte, leider nur lückenhaft erhaltene Briefwechsel ein vorzeitiges Ende, wie der Leser gegen Schluß des
Buches (S. 149-152), unmittelbar vor dem reichhaltigen Materialteil, erfährt.
Mehrings These, daß es sich bei dieser Korrespondenz um ein „zentrales Dokument der neueren deutschen Rechtswissenschaftsgeschichte“ (S. 7) handle, ist
trotz des unzweifelhaften Rangs der beiden Staatsrechtslehrer doch etwas zu hoch
gegriffen.
5. Ein außergewöhnliches Zeugnis von Schmitts intellektueller Strahlkraft gibt die
Resonanz, auf die seine im Früh- und dann wieder im Spätwerk dominierende politische Theologie34 bei dem Judaisten und hermeneutischen Philosophen Jacob
Taubes (1923-1987) gestoßen ist. Der sich als „Judenchrist“ bezeichnende Sproß
einer polnischen Rabbinerdynastie war 1947 mit einer Arbeit über die „Abendländische Eschatologie“ in Zürich promoviert worden35 und seitdem, einem antinomistischen Impuls folgend36, bis in die unstete, amoralische Lebensführung hinein
zum Apokalyptiker geworden. Daraus ergab sich, in „gegenstrebiger Fügung“37,
eine „gefährliche“ Nähe zu Schmitt, der menschliche Geschichte post Christum
natum allein dadurch (christlich) zu denken vermochte, daß nach göttlichem Ablaufplan (vgl. 2 Thess 2, 3-10) das Erscheinen des Antichrist – als letzter Station
vor der das Ende der Welt herbeiführenden Christusparusie – einstweilen noch
aufgehalten wird. Taubes sah die Schnittmenge so: „Carl Schmitt denkt apokalyptisch, aber von oben her, ich denke von unten her. Uns beiden gemeinsam aber
ist jene Erfahrung von Zeit und Geschichte als Frist, als Galgenfrist. Das ist ursprünglich auch eine christliche Erfahrung von Geschichte.“38 Wie es nach über
459
20 Jahren zögerlicher Annäherung endlich zu drei Begegnungen in Plettenberg
und einem von 1977 bis 1980 etwas intensiver geführten Briefkontakt zwischen
dem linken Religionsphilosophen und dem um fast 35 Jahre älteren, nach Taubes’
Einschätzung „konservativ-revolutionären“ Staatsrechtler kam, läßt sich nun dank
der Publikation von
Herbert Kopp-Oberstebrink, Thorsten Palzhoff, Martin Treml (Hrsg.), Jacob Taubes – Carl Schmitt. Briefwechsel mit Materialien, München: Wilhelm
Fink, 2012, 327 S.
en détail nachvollziehen. Einschränkend ist zu sagen: Der Briefwechsel selbst umfaßt lediglich 47 von den Herausgebern annotierte Dokumente, das sind 93 von
327 Buchseiten, wobei bloße Entwürfe und kurze Mitteilungen mitgerechnet sind.
Der Rest sind der Erläuterung dienende Briefe, die Taubes an Dritte geschrieben
oder von ihnen empfangen hat, bzw. Briefe, die diese untereinander – die Herausgeber sprechen kurioserweise auch von „Vierten“ ‒ ausgetauscht haben (S. 115207), ferner Texte, die Taubes über Schmitt verfaßt und zum Teil veröffentlicht
hat (S. 209-264), zwei Eintragungen in das Gästebuch des Ehepaars Armin (19202003) und Edith Mohler nebst Abbildungen (S. 265-270), schließlich ein Anhang
(S. 273-327), bestehend aus einem Essay des am „Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin“ wirkenden österreichischen Religionswissenschaftlers und
Judaisten Martin Treml über „Paulinische Feindschaft. Korrespondenzen von Jacob Taubes und Carl Schmitt“, bibliographischen Angaben, Zeittafel, Abbildungsnachweis, Brief-, Text-, Abkürzungs- und Siglenverzeichnis und Personenregister.
Inhaltlich kreisen die hier gebündelten Briefe und Texte überwiegend um die politisch-symbolische Deutung von Hobbes’ Leviathan und die bleibende Bedeutung
von Schmitts vorschnell für „erledigt“ erklärter politischer Theologie. Taubes, „die
Hand über einen Abgrund reichend“ (S. 34 f.), wählt als Anknüpfungspunkt Walter Benjamin (1892-1940), der sich in seinen „kunstphilosophischen Forschungsweisen“ zum „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ (1928) ausweislich eines
Dankbriefes39 durch Schmitts Staatsphilosophie bestätigt gesehen hatte.40 Scharfsinnig bemerkt Taubes den doppelten Boden, der in Erik Petersons These von der
theologischen Erledigung des Monotheismus als politischer Form und der Befreiung des christlichen Glaubens „aus der Verkettung mit dem Imperium Romanum“
durch Trinitätsdogma und Eschatologie41 eingebaut ist. Während sich Petersons
Monotheismus-Traktat nach außen als Widerlegung von Schmitts (und jeder anderen) politischer Theologie, ja als „parthische Attacke“ (Hans Barion) liest, richtet er sich – anno 1935 – nach innen an Schmitt mit der impliziten Warnung, sich
nicht länger dem nationalsozialistischen Monotheismus („ein Volk, ein Führer“)
nach Art eines Eusebius redivivus zur Verfügung zu stellen. „Sie haben keinen
besseren Freund als Peterson gehabt, den Sie auch auf den Weg zur Ecclesia gebracht haben“, schreibt Taubes am 18. September 1978 (S. 59). Ohne es genau
wissen zu können, schlägt sich Taubes auf die Seite des Kanonisten Hans Barion
(1899-1973), der auf einer klaren „Scheidung“ von weltlich und geistlich, politisch
und kirchlich beharrt und damit einer genuin politischen Form des katholischen
460
Glaubens eine klare Absage erteilt hat. Dafür spricht auch, wie Taubes die Konjunktion „and“ zwischen „ecclesiastical“ und „civil power“ im Untertitel von Hobbes’ „Leviathan“ (1651)42 strikt asyndetisch interpretiert. Ohne diese Grenzziehung, so Taubes, „sind wir ausgeliefert an die Throne und Gewalten, die in einem
‚monistischen Kosmos‘ kein Jenseits mehr kennen“, ja „geht uns der (abendländische) Atem aus“ (S. 60 f.). Was Taubes nicht durchschaut: „Politische Theologie
II“ (1970), Schmitts späte Antwort auf den historisch argumentierenden Monotheismus-Traktat, dürfte nur mehr vordergründig Peterson betreffen. In der Hauptsache ging es um Barion43, dessen systematische Kritik jeglicher politischen Theologie Schmitt, den selbsternannten „Theologen der Jurisprudenz“ ins Mark traf.
Richtete sich doch Barions Vorwurf, politische Theologie zu betreiben, nicht nur
gegen das (von beiden) abgelehnte, die überkommenen Grenzen und Unterscheidungen sprengende Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965), sondern auch gegen
Schmitt, weil politische Theologie laut Barion immer Nichttheologie ist.44 Der
Briefwechsel leidet darunter, daß Schmitt aufgrund seines hohen Alters, auch einer
beginnenden Demenz nicht viel mehr als Hinweise auf liebgewonnene Idées fixes
und wohlgehütete „Arcana“ geben kann, wie er sie zu dieser Zeit auch anderen
Briefpartnern angedeihen läßt. Zeit- und religionsgeschichtlich interessant ist er
vor allem wegen der Art und Weise, wie der polyglotte Rabbiner und Judaist Taubes den Kontakt, ja freundschaftlichen Austausch mit dem von seiner Vergangenheit und antisemitischen Affekten belasteten Intellektuellen rechtfertigt.45 Nach
der ersten persönlichen Begegnung schreibt er, Schmittsche Kategorien anwendend: „Just als Erzjude weiß ich zu zögern den Stab zu brechen. Weil in all dem
unaussprechlichen Grauen wir vor einem bewahrt blieben. Wir hatten keine Wahl:
Hitler hat uns zum absoluten Feind erkoren. Wo aber keine Wahl besteht, auch
kein Urteil, schon gar nicht über andere. Was nicht heißt, daß es mich nicht umtreibt zu verstehen was ‚eigentlich‘ (gar nicht im historischen Sinn, sondern eher
im eschatologischen des Ernstfalls) geschehen ist – wo die Weichen in die Katastrophe (unsere und die Ihrige) gestellt wurden. Was uns doch zum Thema Politische Theologie bringt“ (S. 58 f.).46
Das Erkenntnisinteresse an politischer Theologie war also existentiell fundiert,
und das erklärt auch, mit welchem Impetus Taubes sie gegen die „linksliberale
Tyrannei“ (S. 97) im bundesrepublikanischen Hochschulbetrieb, gegen das „Geheul der Habermasse“ (S. 96) zum Gegenstand universitärer Forschung erhob und
damit zum Pionier wurde. Wer wie zuletzt der kürzlich verstorbene Altmarxist und
Adorno-Schüler Hans-Martin Lohmann47 Taubes der Scharlatanerie bezichtigt,
hat weder diesen biographischen, von religiöser Haltung zeugenden Zusammenhang erfaßt noch verstanden, welches Potential das Projekt „Politische Theologie
III“ (Wolfgang Hübener) bis heute in sich birgt. Man lese dazu nur den Brief von
Taubes (S. 182-192) an den damaligen Berliner Senator für Wissenschaft und Forschung, Peter Glotz. Die Frage, wie in unserer Epoche des „ideologischen Weltbürgerkriegs“, wie „im anrollenden Zeitalter des Caesarismus“ noch „das Humane
… gewahrt bleiben kann“, ist heute dringender denn je. Zwar sind die ehedem
(krieg)bestimmenden Ideologien des 20. Jahrhunderts – Kommunismus, Faschis-
461
mus, Nationalsozialismus – obsolet geworden. Ein kaum durchschaubares Sammelsurium neuer Totalitarismen (politischer Islamismus, Big Data/Boundless-Informant-Politik/Internet-Kolonialismus, aggressiver Naturalismus, evolutionistischer Relativismus, denunziatorischer Genderismus, Soziobiologismus, soziomediale Denk- und Sprachdiktaturen und so weiter) ist aber längst an ihre Stelle getreten und verfügt in seiner Widersprüchlichkeit über eine Sprengkraft, die dazu
geeignet ist, menschliche Fundamentalwerte unwiederbringlich zu zerstören. Daß
diese Frage eng mit dem Phänomen und der Wirklichkeit politischer Theologie(n)
verknüpft ist, läßt sich auch anhand dieses – trotz mancher Defizite48 – verdienstvollen Buches studieren. Leider muß der nicht in Schmitt Studies Eingeweihte erst
mühsam erkunden, um wen es sich bei den Protagonisten dieses Briefwechsels
handelt. Eine kurze Einführung in Leben und Werk beider Geistesgrößen wäre
vonnöten gewesen. Wenigstens hätte man Tremls Essay, der den Verlauf des Kontaktes und der Korrespondenz luzide nachzeichnet, an den Anfang stellen sollen.
6. Den letzten Anstoß, Schmitt in seinem sauerländischen „Exil“ zu besuchen,
hatte Taubes von Hans Blumenberg (1920-1996)49 und Hans-Dietrich Sander
(geb. 1928)50 bekommen. Letzterer, 1928 in der mecklenburgischen Provinz geboren, war nach einem Kriegseinsatz als Marinehelfer in Kiel und einem Studium
der evangelischen Theologie an der Kirchlichen Hochschule Berlin sowie der
Theaterwissenschaften und der Germanistik an der FU Berlin 1952 über Herbert
Ihering (1888-1977) mit dem Berliner Ensemble in Kontakt gekommen, bei dem
er hospitierte. Von Bertolt Brecht (1898-1956) in den Bann gezogen, wurde er
Kommunist und zog nach Ost-Berlin, wo er als Dramaturg im Bühnenvertrieb des
Henschel-Verlags wirkte. Der 17. Juni 1953 befreite ihn von den Illusionen des
„real existierenden Sozialismus“, so daß er 1957 wieder in den Westen zog, um –
mit Unterbrechungen – 1958 bis 1967 für „Die Welt“ als Redakteur zu arbeiten.
Diese Tätigkeit endete kurz Zeit nach Hans Zehrers (1899-1966) Tod, mit dem
ein deutlicher Linksschwenk in der Redaktion eingeleitet wurde. Just zu dieser
Zeit setzt eine umfangreiche Korrespondenz mit Schmitt ein, die nun, mustergültig
ediert und kommentiert, vorliegt:
Carl Schmitt – Hans-Dietrich Sander, Werkstatt-Discorsi. Briefwechsel 19671981, hrsg. von Erik Lehnert und Günter Maschke, Schnellroda: Edition
Antaios, 2008, 510 S.
Von den ersten Seiten an begegnen wir einem begabten, bienenfleißigen Publizisten, der freilich nie im politischen System der Bundesrepublik mit ihrer von Adenauer (1867-1967) betriebenen Westbindung angekommen ist. Der Gedankenaustausch mit dem Plettenberger Spötter des „CDU-Staats“ (Schmitt) verstärkt Sanders Argwohn. In den folgenden Jahren radikalisiert und isoliert er sich zusehends.
1968 nach München übersiedelt, wird Sander dort von Freunden wie Mohler, Caspar v. Schrenck-Notzing (1927-2009), Winfried Martini (1905-1991) geschnitten.
Sie halten ihm vor, an der Auflösung des Vertrags mit der „Welt“ selbst schuld zu
sein, ein Vorwurf, der insofern zutrifft, als Sander offensichtlich nicht imstande
ist, Gegensätze und Meinungsverschiedenheiten pragmatisch zu behandeln.51 Das
„vitale Bedürfnis, sich zu arrangieren“ (S. 68), hält er für unstatthaft, obgleich es
462
im Hinblick auf die vita, sprich: das (Über-)Leben einfach nur klug wäre. Schon
im Januar 1969 bekennt er gegenüber Schmitt: „Der stärkste Halt für mich in dieser
Zeit ist … die Kritik und Zustimmung, die ich bei Ihnen gefunden habe“ (S. 66).
Tatsächlich schickt Sander fast alle Arbeiten, die er für das „Deutschland Archiv“
oder andere, DDR-Kommunismus, Marxisten oder Revolutionstheorien behandelnde Publikationen und Radio-Feuilletons anfertigt, noch im Entwurfsstadium
an Schmitt, der sie mit großer Geduld und persönlicher Anteilnahme begutachtet
und im Gegenzug mit Informationen und Neuerscheinungen versorgt wird.
Schmitt unterstützt Sander auch bei seiner Dissertation über „Marxistische Ideologie und allgemeine Kunsttheorie“, mit welcher der inzwischen 41-jährige 1969
bei Hans-Joachim Schoeps (1909-1980) in Erlangen promoviert wird. Viele Einzelheiten des politischen und publizistischen Geschehens der bewegten 1960er
und 1970er Jahre ziehen vor dem geistigen Auge des Lesers vorüber; von Relevanz sind sie kaum mehr. Was die Lektüre je länger, je mehr zur Geduldprobe
macht, ist die jedes gesunde Maß der Ehrerbietung hinter sich lassende Unterwürfigkeit, mit der der stets akribisch dankende und referierende Sander dem Älteren
begegnet. Passagen, in denen er das Fehlverhalten anderer ausgiebig schildert,
„haben etwas vom Petzen in der Schule an sich, und Sander hätte, nach rund 40
Jahren, derlei Schnurrpfeifereien aus seiner Druckvorlage streichen müssen“, urteilt Maschke mit Recht in seinem Vorwort (S. IX).
Nicht nur, daß Sander Themen und Hinweise seines geistigen Ziehvaters stets beflissen aufgreift; seine Mimikry kennt keine Grenzen. Schmitts Stereotypen und
Affekte bedienend, diffamiert er Arnold Brechts (1884-1977) Memoiren52 als
„Nachplappern von Emigrantengeschwätz“ (S. 73), läßt er seine Frau über Adam
Müller (1779-1829) sagen, was „denn das für ein schreckliches Geschwätz“ sei
(S. 79), räsoniert er in bezug auf Max Raphael (1889-1952), daß „auch in diesem
Fall ein Fluch nachwirkt, den einmal eine öffentliche Meinung verhängt hat“ (S.
83), spekuliert er anläßlich der ersten Bischofssynode in Rom über den „weiteren
Verfall der katholischen Institutionen“ (S. 92), ergötzt er sich an der „ThomasMann-Entmythologisierung“ (S. 106); kurzum: Sander schleimt sich ein, und dies
Jahrzehnte später mitverfolgen zu müssen verursacht physische Schmerzen. Das
gilt auch für geschwätzige und obendrein fragwürdige53 Zusatzkommentare etwa
der Art, daß die damals in Schweden lebende deutsch-jüdische Künstlerin und
Dramatikerin Hilde Rubinstein (1904-1997) ihn bei einem Spaziergang durch den
Grunewald sexuell bedrängt habe, weil er jung und blond, ein „Germanentyp“ war,
ihn dann aber aufgrund der Zurückweisung ihrer Avancen „entweder für homosexuell oder antisemitisch“ gehalten habe (S. 101, Anm. 61). Obwohl Schmitt seinen
Adepten immer wieder davor warnt, seinen Namen auch nur zu erwähnen, weil es
ihm, Sander, schaden könne, und ihm 1974 dringend davon abrät, die zweite Auflage seiner Dissertation unter dem Leitwort eines „entorteten Marxismus“ (S. 307)
„in Richtung des Judenproblems“ auszuufern (S. 313)54, panzert sich Sanders gegen alle Einwände der Vernunft – eine Abwärtsspirale, die in dem Buch „Die Auflösung aller Dinge – Zur geschichtlichen Lage des Judentums in den Metamorphosen der Moderne“ (1988) einen vorläufigen Tiefpunkt erreichen wird. Schmitt
zieht sich mehr und mehr zurück, seine Mitteilungen werden knapp und formal;
463
am Ende schreibt nur noch Sander. Schmitts letzte Post, die Übersendung seiner
Schrift über „Die legale Weltrevolution“ (1978), datiert vom 9. August 1978 (S.
439), enthält die aus Thomas Hobbes’ „Vita carmine expressa“ (1673) zitierende
Widmung „Poene acta est vitae fabula longa meae – Beinahe vergangen ist die
lange Geschichte meines Lebens“. Sander, ein Unglücklicher, wie er bei Balthasar
Gracián im Buche steht, kapselt sich noch mehr ab, publiziert ab 1983 federführend in rechtsextremen, vom Verfassungsschutz beobachteten Organen und träumt
von der Errichtung eines ghibellinischen Reiches.
7. Daß Schmitt in seinem über neun Jahrzehnte währenden Leben vielfältige Beziehungen zu Verlegern, Publizisten und Journalisten unterhielt, kann nach dem
Erscheinen mehrerer biographischer Monographien55 kaum mehr überraschen.
Eine bunte Auswahl von Briefen aus diesem Beziehungsnetz präsentiert das Buch
Carl Schmitt und die Öffentlichkeit. Briefwechsel mit Journalisten, Publizisten und Verlegern aus den Jahren 1923 bis 1983, hrsg., kommentiert und
eingeleitet von Kai Burkhardt, in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler und Stefan Krings, Berlin: Duncker & Humblot, 2013, 234 S.
Der Herausgeber, studierter Historiker und von Beruf Kommunikationsberater,
hat darin 113 Briefe von und an Schmitt aus den Jahren 1923 bis 1983 zusammengetragen, gleichsam Momentaufnahmen unterschiedlichster Kontakte zu Personen
wie zum Beispiel Paul Scheffer, Wilhelm Stapel, Giselher Wirsing, Hans Zehrer,
Hans Paeschke, Karl Korn, Rudolf Augstein, Hans Fleig, Johannes Gross, Wolf
Jobst Siedler, Helmut Schelsky. Die Briefsammlung wird zusammengehalten
durch den Leitbegriff der (politischen) Öffentlichkeit, der freilich erst ab Mitte der
1950er Jahre auf das Problem der modernen Massendemokratie hin wissenschaftlich reflektiert worden ist. Burkhardt hat denn auch ersichtlich Schwierigkeiten,
in seinem unter „Einführung“ firmierenden 39seitigen Essay Schmitts juristische
und politische Publizistik unter diesem Begriff zu subsumieren und die letztlich
willkürlich erscheinende Auswahl zu rechtfertigen. Zwar gelingt es ihm, die in der
Sekundärliteratur häufig anzutreffende reductio ad hitlerum zu vermeiden und das
stoffliche Panorama entsprechend den Weimarer Jahren, der NS-Zeit und der Bonner Republik aufzufächern und dabei so manche Fehldeutung erfrischend deutlich
zurückzuweisen. Die Mißverständnisse resultieren ja nicht nur aus dem clair-obscur der Schmittschen Begriffe, sondern, wie Burkhardt mit Recht feststellt, auch
aus dem „Arkanum um Schmitt“, einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit, die von
Schmitt „so sorgfältig gepflegt und ausgebaut [wurde], daß ihn bereits die Zeitgenossen – in Überschätzung seines Einflusses auf die handelnde Politik – für alles
mögliche verantwortlich machten“ (S. 35). Dennoch verheddert sich die Einführung in manchen Verlags- und Zeitungs(personal)geschichten, deren Erkenntniswert in bezug auf Schmitt fraglich bleibt. So kann dieses Buch lediglich ein Anfang
sein. Bleibt zu wünschen, daß einzelne Briefwechsel mit bedeutenden Intellektuellen wie etwa Walter Petwaidic (1904-1978) oder Johannes Gross (1932-1999)
exemplarisch herausgegriffen und möglichst komplett ediert werden.
464
III. Fazit
Das um sich greifende Interesse an seinen Korrespondenzen ist eine ambivalente
Erscheinungsform der jüngeren Rezeption Carl Schmitts. Sosehr auf der einen
Seite mit Hilfe der Briefe das biographische Umfeld, ferner seine Denkweisen und
Argumente immer plastischer vor Augen treten, sosehr besteht auf der anderen
Seite die Gefahr, daß Schmitts eigentliches wissenschaftliches Werk in den Hintergrund tritt und zum Anhängsel eines bloßen Fallbeispiels deutscher Intellektuellenlebensläufe des 20. Jahrhunderts degradiert wird. Es wird demnach in Zukunft weniger auf die Anzahl als auf die inhaltliche Qualität und Bedeutungsschwere der Briefwechsel ankommen, soll diese Art der Auseinandersetzung mit
Schmitt nicht zur Ersatzhandlung oder ars gratia artis postmoderner Textinterpretation herabsinken. Wie auch immer die Dinge sich fortentwickeln werden, schon
jetzt gehört Schmitt zu den am besten erforschten (Geistes-) Wissenschaftlern des
letzten Jahrhunderts.
Anmerkungen
1) Vgl. Carl Schmitt, Der Schatten Gottes. Introspektionen, Tagebücher und Briefe 1921
bis 1924. Hrsg. von Gerd Giesler, Ernst Hüsmert und Wolfgang H. Spindler, Berlin:
Duncker & Humblot, 2014, S. 324 mit Anm. 834.
2) Vgl. Reinhard Mehring, Carl Schmitt: Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München:
C.H. Beck, 2009, S. 378 ff.
3) Vgl. vor allem Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, 10. Aufl., Berlin: Duncker &
Humblot, 2010.
4) Schmitts Eintreten für eine inhärente, Verfassungsänderungen deutlich begrenzende Verfassungssubstanz als eigentliche Verfassung wird in seiner Bedeutung für den Erhalt der
(Weimarer) Demokratie oft heruntergespielt oder in sein Gegenteil verkehrt, so etwa von
Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig?, München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung,
2009 (Reihe „Themen“, Bd. 91), S. 51-56.
5) Carl Schmitt, Tagebücher vom Oktober 1912 bis Februar 1915, hrsg. von Ernst Hüsmert,
2., korr. Aufl., Berlin: Akademie Verlag, 2005; ders., Die Militärzeit 1915 bis 1919. Tagebuch Februar bis Dezember 1915. Aufsätze und Materialien, hrsg. von Ernst Hüsmert und
Gerd Giesler, Berlin: Akademie Verlag, 2005; ders., Tagebücher 1930-1934, hrsg. von
Wolfgang Schuller in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler, Berlin: Akademie Verlag, 2010;
ders., Der Schatten Gottes (s. Anm. 1).
6) Neuere Literatur wird ohne Anspruch auf Vollständigkeit von der Carl-Schmitt-Gesellschaft präsentiert; s. http://www.carl-schmitt.de/neueste_veroeffentlichungen.php [zuletzt
gelesen am 30.8.2014].
7) Zu früher erschienenen Briefschaften vgl. etwa Wolfgang Spindler, In Schmitts Welt,
NO 59 (2005) S. 462-480, 467-470. Von größerer Relevanz ferner Ernst Jünger – Carl
Schmitt. Briefe 1930-1983, hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel, Stuttgart: Klett-Cotta, 1999; Hans Blumenberg – Carl Schmitt. Briefwechsel 1971-1978
und weitere Materialien, hrsg. und mit einem Nachwort von Alexander Schmitz und Marcel
Lepper, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007.
8) Martin Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb: Erwin Jacobi (1884-1965).
Arbeits-, Staats- und Kirchenrecht zwischen Kaiserreich und DDR, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008.
465
9) Vgl. Heinz Hürten, Waldemar Gurian. Ein Zeuge der Krise unserer Welt in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts (= VKZG, Reihe B: Forschungen, Bd. 11), Mainz: MatthiasGrünewald-Verlag 1972; Schmitt, Der Schatten Gottes (s. Anm. 1), S. XXI, 139 u.ö.
10) Vgl. Schmitt, Der Schatten Gottes (s. Anm. 1), S. 364 f.
11) Deutsche Briefe I. 1934-1938. Ein Blatt der katholischen Emigration, bearbeitet von
Heinz Hürten (= VKZG, Reihe A: Quellen, Bd. 6), Mainz: Ferdinand Schöningh, 1969,
XXXIII-LI; Hürten, Waldemar Gurian (s. Anm. 9), S. 96-127.
12) Deutsche Briefe I. 1934-1938 (s. Anm. 11), 52 ff., 465 f.; Deutsche Briefe II. 19361938. Ein Blatt der katholischen Emigration, bearbeitet von Heinz Hürten (= VKZG, Reihe
A: Quellen, Bd. 7), Mainz: Ferdinand Schöningh, 1969, S. 204 f., 405 f.
13) Vgl. dazu Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in
der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, 2. Aufl., Berlin: Akademie
Verlag, 2002, S. 29 f., Anm. 59.
14) Vgl. Ausstellungskatalog „Bereitschaft zum Risiko“. Lilly von Schnitzler 1889-1981.
Sammlerin und Mäzenin. Bearbeitet von B. Salmen und Chr. Lenz, Murnau 2011.
15) Aufgrund der Tagebücher (s. Anm. 1) lassen sich einige Fehler korrigieren: Brief Nr. 6
stammt nicht vom 20.2.1923, sondern 1922; der erwähnte Aufenthalt im „Norden“ meint
nicht einen Besuch Schmitts in Hamburg (Anm. 40), sondern das WS 1921/22 in
Greifswald, wo Schmitt sich unwohl fühlte. Der undatierte Brief Nr. 6 ist am 2.3.1923 bei
Schmitt angekommen. Brief Nr. 8 wurde am 31.1.1923 geschrieben. Der undatierte Brief
Nr. 12 kann nicht am 7.7.1923 (Anm. 50) geschrieben worden sein, weil das Datum im
Brief an zwei Stellen als bevorstehend erwähnt wird; Schmitt hat den Brief bereits am
4.7.1923 erhalten, also muß er ungefähr am 2.7.1923 geschrieben worden sein.
16) Vgl. dazu Guido Müller, Jenseits des Nationalismus? – „Europa“ als Konzept grenzübergreifender adlig-bürgerlicher Elitendiskurse zwischen den beiden Weltkriegen, in:
Heinz Reif (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland, Bd. 2: Entwicklungslinien und
Wendepunkte im 20. Jahrhundert, Berlin: Akademie Verlag 2001, S. 235-268; ders., Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische
Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, München: Oldenbourg Wissenschaftsverl., 2005. In beiden Büchern zahlreiche Hinweise auf Lilly v. Schnitzler.
17) Vgl. auch Schmitt, Der Schatten Gottes (s. Anm. 1), S. 367.
18) Die oftmals kolportierte Behauptung, sie sei erst (wie ihr Mann) 1950 konvertiert, ist
durch ihren Brief vom 29.11.1946 (S. 171 f.) widerlegt.
19) Vgl. Francisco Sosa Wagner, Carl Schmitt y Ernst Forsthoff: coincidencias y confidencias, Madrid u.a.: Marcial Pons, 2008; Florian Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft. Ernst Forsthoff und seine Zeit, Berlin: Akademie Verlag, 2011.
20) Vgl. mit weiteren Nachweisen W. Spindler, Bleibende Mißverständnisse – Carl
Schmitts politisches Denken. Eine Replik auf Bernd Rüthers, NO 56 (2002) S. 423-436,
429.
21) Vgl. etwa Roland Freisler, Totaler Staat? – Nationalsozialistischer Staat!, Deutsche Justiz: Rechtspflege und Rechtspolitik – amtliches Blatt der deutschen Rechtspflege, Bd. 96/a
(1934), S. 43 ff.; Otto Koellreuther, Deutsches Verfassungsrecht. Ein Grundriß (sic!), Berlin 1935, S. 65; Alfred Rosenberg, Totaler Staat?, Völkischer Beobachter vom 9.1.1934.
22) Vgl. dazu Hans H. Klein, „Der totale Staat“. Betrachtungen zu Ernst Forsthoffs gleichnamiger Schrift von 1933, in: ders., Das Parlament im Verfassungsstaat. Ausgewählte Beiträge, hrsg. von Marcel Kaufmann und Kyrill-A. Schwarz, Tübingen: Mohr Siebeck, 2006,
S. 591-604, 595-599.
466
23) Die von den Herausgebern – in der Person Trögers gehört dazu Forsthoffs Schwiegersohn – zur Begründung angeführte These, Forsthoffs Unterstützung des Romanisten und
„Halbjuden“ Arnold Ehrhardt (1903-1965) gegenüber dem Kultusministerium habe den
Bruch ausgelöst, stützt sich lediglich auf einen Brief Forsthoffs aus dem Jahr 1946 und
findet in den Tagebüchern 1930 bis 1934 keine Stütze. Dieses deutet zwar einen am Telephon ausgefochtenen Krach an (vgl. Eintragungen vom 28.8. und 19.10.1933). Aber schon
bald hatte man beschlossen, wieder einander „helfen und mal sehen“ zu wollen (Eintragung
vom 4.1.1934).
24) Vgl. dazu Reinhard Mehring, Reflektierte Trennung. Vom Scheitern der „deutsch-jüdischen Symbiose“ bei Carl Schmitt und Ludwig Feuchtwanger – nach ihrem Briefwechsel,
ZRGG 60, 2 (2008) S. 152-171.
25) Vgl. auch die Biographie von Edgar Feuchtwanger, Erlebnis und Geschichte. Als Kind
in Hitlers Deutschland – Ein Leben in England, Berlin: Duncker & Humblot, 2010, sowie
ders., Als Hitler unser Nachbar war. Erinnerungen an meine Kindheit im Nationalsozialismus, München: Siedler, 2014.
26) Günter Maschke, Der Tod des Carl Schmitt. Durchgesehene und um weitere Texte vermehrte Ausgabe, Wien und Leipzig: Karolinger, 2012, S. 8.
27) 2012 ist eine 2., überarbeitete Aufl. erschienen, die kleinere Fehler berichtigt und ein
kurzes Vorwort vorschaltet. Ich zitiere nach der Erstauflage.
28) Schmitt, Der Schatten Gottes (s. Anm. 1), S. 338.
29) In: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 4. Aufl., Berlin: Duncker &
Humblot, 2010.
30) Vgl. Sandra Obermeyer, Integrationsfunktion der Verfassung und Verfassungsnormativität. Die Verfassungstheorie Rudolf Smends im Lichte einer transdisziplinären Rechtstheorie, Berlin: Duncker & Humblot, 2008; Thomas Notthoff, Der Staat als „geistige Wirklichkeit“. Der philosophisch-anthropologische Aspekt des Verfassungsdenkens Rudolf
Smends, Berlin: Duncker & Humblot, 2008.
31) Vgl. dazu Manfred Friedrich, Der Methoden- und Richtungsstreit. Zur Grundlagendiskussion der Weimarer Staatsrechtslehre, in: AöR 102 (1977) S. 161-209; ders., Geschichte
der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Berlin: Duncker & Humblot, 1997, S. 330 ff.; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Weimarer Republik und
Nationalsozialismus, München: Verlag C. H. Beck, Sonderausgabe 2002, S. 152-202.
32) Freilich ist unverkennbar, daß Schmitt, der seine Prägung an der Straßburger Universität, einer Hochburg des Neukantianismus und der Wertphilosophie, erfahren hat, selber
stark von deren Erkenntnistheorie beeinflußt war und auch dann noch eine gemeinsame
Schnittmenge mit Kelsen aufwies, als er sich von diesem distanzierte.
33) In: ZAkDR 4 (1937) S. 691.
34) Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 1922,
9. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot, 2009; ders., Politische Theologie II. Die Legende
von der Erledigung jeder Politischen Theologie, 1970, 5. Aufl., Berlin: Duncker &
Humblot, 2008.
35) Jacob Taubes, Abendländische Eschatologie (= Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie, Bd. 3), Berlin: Francke, 1947; Neuauflage (mit einem Anhang) München: Matthes
& Seitz, 1991.
36) Vgl. dazu Richard Faber/Eveline Goodman-Thau/Thomas Macho (Hrsg.), Abendländische Eschatologie. Ad Jacob Taubes, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001.
37) Jacob Taubes, Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin: Merve, 1987. Das Buch
wurde nach Taubesʼ Tod vom Verleger Peter Gente, in den 1960er Jahren studentische
467
Hilfskraft von Taubes, und dem zeitweiligen Ernst-Jünger-Sekretär Armin Mohler, der,
wiewohl Schweizer, als junger Mann in die Waffen-SS eintreten wollte (aber abgelehnt
wurde), bewußt lanciert, um die linksliberale Berliner Schickeria zu provozieren.
38) Jacob Taubes, Carl Schmitt – ein Apokalyptiker der Gegenrevolution, in: ebd., S. 7-30,
7. Zur frühjüdisch-christlichen Apokalyptik vgl. W. Spindler, „... et non effugient“ (1 Thess
5,3): Die Vorwegnahme des Unausweichlichen in Kirche und Kult, in: Tumult. Schriften
zur Verkehrswissenschaft, Bd. 36: KataChoc. Vom Beutewert des Desasters, hrsg. von
Frank Böckelmann und Walter Seitter, Berlin: Alpheus Verlag, 2010, S. 55-63.
39) Brief Benjamins an Schmitt vom 9. 12. 1930, zuerst abgedruckt in: Hans-Dietrich Sander, Marxistische Ideologie und allgemeine Kunsttheorie (= Veröffentlichungen der ListGesellschaft, Bd. 67), Basel u.a.: Kyklos Verlag, 1970, 2. Aufl. 1975, S. 173, sodann in:
Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, Bd. 3: 1925-30, hrsg. von Christoph Gödde und
Henri Lonitz, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987, 558 f. Die oftmals kolportierte Vermutung, daß der Brief in der 1966 von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno besorgten
zweibändigen Auswahl von Briefen Benjamins absichtlich unterschlagen wurde, wird im
Buch als „falsch“ hingestellt (S. 297, ähnlich S. 30), freilich mit der gegenteiligen Vermutung, Adorno habe der Brief seinerzeit „wohl“ (!) nicht vorgelegen, und dies, obgleich
Schmitt bereits zehn Jahre vorher in seinem Buch „Hamlet und Hekuba. Der Einbruch der
Zeit in das Spiel“ (1956) auf die Existenz des Briefes hingewiesen hatte.
40) In bezug auf Konvergenzen mit Schmitts politischer Theologie verweist Taubes auch
auf Benjamins „Theologisch-Politisches Fragment“ (ca. 1922) und die testamentarischen
„Geschichtsphilosophischen Thesen“ (1940), in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften,
hrsg. von Theodor W. Adorno und Gretel Adorno unter Mitwirkung von Friedrich Podszus,
Bd. 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1955, S. 494-506, insbes. These I (ebd., S. 494), hin.
Vgl. auch Susanne Heil, „Gefährliche Beziehungen“. Walter Benjamin und Carl Schmitt,
Stuttgart: Metzler, 1996; Marc de Wilde, Verwantchap in extremen: politieke theologie bij
Walter Benjamin en Carl Schmitt, Amsterdam: Amsterdam U.P., 2008.
41) Erik Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem, Leipzig: Jakob Hegner,
1935, wiederveröffentlicht in: ders., Theologische Traktate (= Ausgewählte Schriften, hrsg.
von Barbara Nichtweiß, Bd. 1), Würzburg: Echter, 1994, S. 23-81.
42) Thomas Hobbes, Leviathan or the Matter, Form and Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civil.
43) Das Werk ist Barion zur Vollendung seines 70. Geburtstags gewidmet.
44) Vgl. dazu Wolfgang Spindler, „Humanistisches Appeasement“? Hans Barions Kritik
an der Staats- und Soziallehre des Zweiten Vatikanischen Konzils, Berlin: Duncker &
Humblot, 2011, insbes. S. 241.
45) Vgl. dazu auch Klaus-Michael Kodalle, Carl Schmitt und seine Schuld: Die Reaktion
Jacob Taubes’, in: Kalonymos. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte 15 (2012), H. 2,
S. 4-8; noch differenzierter ders., Verzeihung denken. Die verkannte Grundlage humaner
Verhältnisse, München: Wilhelm Fink, 2013, S. 446-452.
46) Satzzeichenfehler und schweizerische Schreibweisen von Taubes, der ab dem 14. Lebensjahr in Zürich aufgewachsen war und sowohl dort als auch in Basel studiert hatte.
47) Hans-Martin Lohmann, Geheimnisvolle Kassiber, Süddeutsche Zeitung vom 30.1.
2012.
48) Es scheint ein Signum gewandelter Bildungszustände zu sein, daß das Buch schon im
ersten Satz mit zwei fehlenden Satzzeichen anhebt und überhaupt, von sog. Druck- und
Flüchtigkeitsfehlern (z. B. „Brief 63“ statt 61 [S. 68], fehlendes „t“ in „verpflichte[t]“ [S.
106], doppelter Artikel „die die Geschichte“ [S. 180] usw.) abgesehen, eine beträchtliche
Anzahl orthographischer und grammatikalischer Fehler aufweist, z. B. fehlendes „l“ in
468
„Appelant“ (S. 8), falsche Genitivbildung in „eine Form jüdisches [!] ,gutes [!] Gewissens‘“
(ebd.), unzulässige Kasusverschränkung in „ergänzt … um Briefe von oder an Dritte [!]
und Vierte [!]“ (S. 9), falsches Doppel-s in „grosse Geduld“ (S. 15), fehlendes „c“ bei
„ceterum [c]enseo“ (S. 47). Silbentrennungen à la „Heide-gger“ (S. 133) und „Tro-eltsch“
(S. 179) sind schlicht unerträglich und lassen den Schluß zu, daß heutige „Buchmacher“
Softwareprogrammen mehr zutrauen als ihren Grundschulkenntnissen – vermutlich zu
Recht. Im Brief 19 (S. 70) muß es am Ende heißen: „capisco et obmutesco“ ‒ ein von
Schmitt oft wiederholtes Diktum.
49) So Taubes in seiner „Geschichte Jacob Taubes – Carl Schmitt“, im Briefwechsel S.
255-264, 259. Vgl. auch Hans Blumenberg/Carl Schmitt, Briefwechsel 1971-1978 (s. Anm.
7).
50) Vgl. Brief Sanders an Taubes vom 7. 11. 1977, a.a.O., Brief Nr. 58 (S. 149 ff.).
51) Sander fragt in einer seiner selbst beigesteuerten Anmerkungen (S. 96, Anm. 8), ob mit
der kritisierten mangelnden „Kooperation“ noch etwas anderes gemeint sein konnte, nämlich die fehlende Eignung für den Bundesnachrichtendienst, mit dem Bekannte aus dem
Axel-Springer-Umfeld wie Horst Mahnke, Paul Schmidt-Carell wohl zu tun hatten. Als einer, der West- wie Ost-Erfahrung hatte und politisch zwischen den Extremen changierte,
wäre Sander für geheimdienstliche Erkenntnisgewinnung jedenfalls interessant gewesen.
52) Arnold Brecht, Lebenserinnerungen, Bd. 2: Mit der Kraft des Geistes. 1927-1967, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1967.
53) Rubinstein kehrte erst 1982 nach Deutschland zurück, der Vorfall im Grunewald scheint
aber Mitte der sechziger Jahre gewesen zu sein.
54) Schmitt denkt dabei nicht nur an eigene Erfahrungen, sondern auch an die Behandlung
der Frage durch den Junghegelianer und (bibel-)theologischen Dilettanten Bruno Bauer.
Vgl. Bruno Bauer, Die Judenfrage, Braunschweig: Friedrich Otto, 1843; Die Fähigkeit der
heutigen Juden und Christen, frei zu sein: einundzwanzig Bogen aus der Schweiz, hrsg. v.
Georg Herwegh, Zürich u. Winterthur 1843, S. 56-71, auch in: ders., Feldzüge der reinen
Kritik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1968, S. 175-195. Vgl. dazu auch: Reinhard
Mehring, Carl Schmitts Bruno Bauer. „Autor vor allem der ,Judenfrage‘ von 1843“, in:
Klaus Kodalle/Tilman Reitz (Hrsg.), Bruno Bauer (1809-1882). Ein „Partisan des Weltgeistes“?, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2010, S. 335-350.
55) Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt: sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten
Reiches“, Darmstadt: WBG, 1995; Paul Noack, Carl Schmitt. Eine Biographie, Berlin u.a.:
Propyläen, 1993; David Cumin, Carl Schmitt: biographie politique et intellectuelle, Paris:
Éd. Du Cerf, 2005; Reinhard Mehring, Aufstieg und Fall (s. Anm. 2).
Dipl.-Jur. Univ., Dr. theol. Wolfgang Hariolf Spindler OP ist stellvertretender
Vorsitzender des Instituts für Gesellschaftswissenschaften Walberberg und Redakteur dieser Zeitschrift. Er lebt und wirkt in München.
469
Ansgar Lange
Bedrohtes Europa
In dem kleinen Gerhard Hess Verlag aus Bad Schussenried sind jüngst drei Bücher erschienen, die sich auf unterschiedliche Weise mit den Gefahren befassen,
die Europa drohen. Aus konservativer Sicht werden unter anderem die Euro-Problematik und die Gefahr für die freie Lebensart von Christen und Juden in Europa
dargestellt, die durch den radikalen Islam immer mehr zunimmt. „Rechts von der
CDU ist nicht mehr die Wand, sondern ein großer Abenteuerspielplatz.“ Mit diesen Worten beschrieb Jasper von Altenbockum vor einiger Zeit in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung die derzeitige Parteienlandschaft nach dem Erfolg der „Alternative für Deutschland“ im Bundesland Sachsen. Wer sich für den geistigen
Nährboden dieser neuen politischen Formation interessiert, sollte zu zwei Neuerscheinungen des oben genannten Verlages greifen.
Heiner Kappel: Kapiert’s endlich! Geldkrieg statt Weltkrieg. Bad Schussenried: Gerhard Hess Verlag 2014. 2., erweiterte Auflage, 84 S.
Heiner Kappels Streitschrift ist nun in zweiter, erweiterter Auflage erschienen.
Das Buch hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck. Der evangelische Theologe
und Ex-Politiker (FDP, Bund Freier Bürger) schreibt eine schnörkellose, meinungsfreudige Prosa. Dies ist ein klarer Vorteil. Als Nachteil erweist sich aber
Kappels Hang zu Verschwörungstheorien, so als konzentrierten sich die Großmächte spätestens seit Otto von Bismarck darauf, Deutschland klein zu halten und
zu knechten.
Ein bestimmter Typus des Konservativen in Deutschland neigt bisweilen zur Larmoyanz, und auch Kappel ist nicht frei davon. Wenn der Autor über Deutschlands
Rolle im Zweiten Weltkrieg räsoniert, dann ist viel vom Leid die Rede, das „den
Deutschen“ angetan wurde, weniger vom Leid, das „die Deutschen“ den anderen
Völkern angetan haben. Auch Kappels Beschreibung der „Umerziehung“ der
Deutschen fällt sehr einseitig aus. Westliche „Wohltaten“ werden bewußt ausgeblendet: „Diesen Deutschen mußte zuerst einmal eingetrichtert werden, daß sie
grundsätzlich an allem schuld waren, sind auch und sein werden“. Dabei hat Kappel ja nicht Unrecht: Mit der Aufgabe der D-Mark zugunsten des Euro wollten
insbesondere die Franzosen den wirtschaftlich überlegenen, weil leistungsfähigeren Nachbarn schwächen. Während die Banken gerettet wurden, haben viele
Durchschnittsbürger Angst um ihr Erspartes, ihre Renten und Pensionen. Banken
und Versicherungen feixen, Politiker lavieren, die Bürger sind ohnmächtig. Dieser
Gesamteindruck – ob berechtigt oder nicht – könnte die politischen Verhältnisse
in Europa auf Dauer zum Tanzen bringen.
Doch was in Europa schief läuft, macht man im Inneren nicht besser: „Von den 16
Bundesländern zahlen inzwischen nur noch Bayern, Baden-Württemberg und
470
Hessen in den Länderfinanzausgleich, während alle übrigen subventioniert werden.“
Von den Entwicklungen „in den PIGS (Portugal, Italien, Griechenland und Spanien)“ schweigt derweil die Presse. Syrien, die Ukraine und der Irak sind uns wichtiger geworden als die anhaltende (Jugend-)Arbeitslosigkeit und die Verarmung
breiter Bevölkerungsschichten insbesondere in Südeuropa. Es gab einmal ein Europa mit vielen Völkern, eigenen Sprachen, Kulturen, Traditionen und Geschichten. Die Kriegsgefahr war gebannt auf dem Kontinent, zumindest in der EU. Der
Euro und die Brüsseler Bürokratie sind verantwortlich, wenn dies nicht mehr so
ist, glaubt Heiner Kappel: „Europa wird organisatorisch, juristisch, fiskalisch und
reglementarisch immer enger zusammengebunden, und die Europäer entfernen
sich – oft unbewußt und manchmal sogar bewußt gesteuert – mental immer mehr
voneinander“.
Können wir mit mehr konservativem Denken diese fatale Entwicklung aufhalten?
Was heißt überhaupt konservativ? „Das Konservative ist nicht ein Hängen an dem,
was gestern war, sondern ein Leben aus dem, was immer gilt.“ Schöner kann eine
Definition konservativen Denkens kaum ausfallen. „Konservatives Denken und
Handeln ist im Innern wie nach außen bestimmt von einem pessimistischen
Gradualismus: Kampf für Prinzipien, so lange wie möglich – verbunden mit Konzessionen, wo es nicht anders geht“, schreibt der Publizist und heutige AfD-Politiker Alexander Gauland in seiner „Anleitung zum Konservativsein“.
In seinem aktuellen Buch „Konservativ!“ versucht sich der Wirtschaftsanwalt und
Publizist Wolfgang Philipp ebenfalls an einer Definition dieses Begriffs. Schade,
daß als Untertitel „Die Antwort auf den ‚Kampf gegen Rechts‘“ gewählt wurde.
Denn nicht jeder Konservativer ist ja ein „Rechter“, und außerdem wirkt diese
Zeile etwas defensiv: Der Konservative im Schützengraben und im Abwehrkampf
gegen „die Linke“, die ihm Böses will.
Wolfgang Philipp: Konservativ! Die Antwort auf den „Kampf gegen Rechts“.
Wider Unfreiheit und Anarchie. Gerhard Hess Verlag: Bad Schussenried
2014. 177 S.
Das Buch widmet sich denn auch zu großen Teilen dem sogenannten „Kampf gegen Rechts“. Die einschlägig bekannten Einzelfälle wie Philipp Jenninger, Martin
Hohmann, Eva Herman und Thilo Sarrazin werden noch einmal referiert. Selbstverständlich ist ein „Kampf gegen Rechts“ insofern Unsinn und einseitig, da der
„Kampf gegen Links“ völlig fehlt. Rechtes wie linkes Denken muß in einer freien
Gesellschaft seinen Platz haben. Notwendig ist ein Kampf der wehrhaften Demokratie gegen politischen Extremismus – sei er nun rechts, links oder islamistisch
drapiert. Zuzustimmen ist Phillipp, wenn er schreibt: „Der wohl brutalste Kampf
gegen die Meinungsfreiheit wurde von starken linken Kräften aber gegen eine Berliner Wochenzeitung geführt, die sich ‚Junge Freiheit‘ nennt, also die Freiheit des
Menschen als ein Ur- und Grundrecht auf ihre Fahnen geschrieben hat.“ Mittlerweile ist die Zeitung voll rehabilitiert, nicht nur deshalb, weil höchst honorige Personen für sie geschrieben oder ihr Interviews gegeben haben – bis in die deutsche
471
Sozialdemokratie hinein. Doch noch immer ist es (leider) so, daß derjenige, der
sie bezieht, in ihr schreibt oder ihr ein Interview gibt, sich anschließend oft verteidigen oder rechtfertigen muß.
Große Teile des Buches sind der „Euro-Rettung“ gewidmet. Sie funktioniert nach
Ansicht des Autors nach dem Prinzip „Vertragsbruch, Täuschung und Verschleierung als politisches Prinzip“. Auch wenn Philipp in seiner Analyse durchaus Recht
haben mag: Letztlich ist die „Euro-Rettung“ kein Beispiel für schlechte linke oder
gute konservative Politik. Sie ist schlicht ein Beispiel für schlechte Wirtschaftspolitik zu Lasten nachfolgender Generationen und eines gedeihlichen Zusammenlebens der Völker in Europa. Am Ende seines Buches liefert Philipp eine Auflistung
all dessen, was seiner Meinung nach zu tun sei. Der politische Kampf müsse wieder „gesitteter“ ablaufen. In der Europapolitik müsse zum Recht zurückgekehrt
werden. Die Brüsseler Verwaltung müsse abgebaut werden. Der „Werbeterror“ im
öffentlichen Fernsehen müsse aufhören, genauso wie „Schwulenpropaganda“
(dieses verletzende Wort hätte der Autor besser vermieden). Die Energiepolitik
müsse wieder realistischer werden.
Allen diesen Forderungen kann man zustimmen, man kann es aber auch seinlassen. Es fällt schwer, sie als ein konservatives Programm zu betrachten, das allgemeinverbindlich wäre. Konservative sind vielleicht aus gutem Grunde theoriefaul.
Denn letztlich muß man sich eingestehen, daß sich nicht alle Konservativen auf
den einen konservativen Forderungskatalog einigen können. Denn „das“ konservative Denken gibt es nicht. Doch definitiv greift es zu kurz, Konservativismus
auf den Kampf gegen den „Euro-Wahn“ oder den sogenannten „Kampf gegen
Rechts“ zu reduzieren.
Doch den Europäern drohen neben dem Verlust ihrer Ersparnisse noch ganz andere Gefahren, deren Ausmaß für die Zukunft noch gar nicht abgeschätzt werden
kann. Es geht um die bedrohte Christenheit. Christenverfolgung ist tägliche Realität weltweit. Besonders beschämend ist, daß sogar Christen, die aus ihrer Heimat
fliehen mußten, bei uns in Deutschland Repressalien ausgesetzt sind. „Mit den
Flüchtlingen kommen auch die Konflikte ihrer Herkunftsländer nach Deutschland.
Asylsuchende Christen aus der arabischen Welt sind auch in Deutschland Attakken radikaler Moslems ausgesetzt“, schrieb jüngst die Tageszeitung „Die Welt“.
Der Westen ist nicht ganz unschuldig an dieser Entwicklung. Er schaut den „‚Ergebnissen‘“ der „Demokratisierung im Nahen Osten tatenlos zu“, meint Ortfried
Kotzian, stellvertretender Vorsitzender des Beirates des Europäisch-Christlichen
Entwicklungswerks für Syrien, in seinem Vorwort zu dem Buch „Zeitzeugen der
Christenverfolgung“, das Elias Basilio herausgebracht hat:
Elias Basilio: Zeitzeugen der Christenverfolgung. Sukzessives Verschwinden
des Christentums in den islamisch geprägten Ländern. Ausbreitung des Islam im Westen. Zeitzeugen berichten. Gerhard Hess Verlag, Bad Schussenried 2014. 247 S.
Basilio will in seinem Buch Fakten sprechen lassen. So kommen von Christenverfolgung betroffene Zeitzeugen zu Wort. Außerdem bettet der Autor diese Beiträge
472
in grundsätzliche Überlegungen zu den drei Buchreligionen Judentum, Christentum und Islam ein. Die Liste der Länder, in denen täglich Christen aufgrund ihres
Glaubens systematisch drangsaliert und gedemütigt werden, ist lang. Meist sind
sie der Verfolgung durch fanatische Islamisten ausgesetzt, so im Irak, Iran, in der
Türkei, in Ägypten, Syrien, Nigeria, im Sudan etc. Aber auch in Indien, Vietnam,
Nordkorea und China werden Christen verfolgt. In den allermeisten Fällen werden
diese abscheulichen Taten jedoch „nach der Gesetzmäßigkeit der Scharia ausgeführt“, so Basilio.
Der Autor hat eine große Sorge: Wenn die (westliche) Weltöffentlichkeit nicht
bald drastische und konkrete Maßnahmen gegen Vertreibung und Unterdrückung
von Christen in deren Heimatländern ergreift, dann wird das Christentum in diesen
Ländern auf absehbare Zeit von der Bildfläche verschwinden. Neben dem Christentum ist Europa natürlich auch wesentlich vom Judentum geprägt worden.
Doch unter islamistischen Vorzeichen breitet sich auch die Pest des Antisemitismus wieder in Europa aus. „Durch die anhaltende und massive Zuwanderung politisch und religiös motivierter Muslime nach Europa nimmt auch der Antisemitismus zu. Diese Situation gefährdet den Frieden Europas und fördert den Terrorismus und die Gewalt gegen die europäischen Juden. Es ist bekannt, daß in den
islamisch geprägten Ländern eine feindliche und vernichtende antijüdische Politik
vorherrscht“, schreibt der Autor.
In dem Epilog seiner Schrift sagt Basilio, daß aus der Literatur und Geschichte
bekannt sei, daß der Islam „eine autoritäre, machtbesessene, nicht säkulare politische Religion ist“. Er akzeptiere keinen religiösen Pluralismus und grundsätzliche
keine Kritik: „Gerade an diesem Punkt erkennt man die Intoleranz dieser Religion,
die mit Gewalt und Aggressivität ihren Kritikern begegnet“.
Diese Feststellungen muß man doch mit einem Fragezeichen versehen, denn dies
bedeutete letztlich, daß Muslime überhaupt nicht in unsere westlichen Gesellschaften zu integrieren sein. Mit vielen gemäßigten Muslimen funktioniert aber
unser Zusammenleben friedlich und reibungslos. An sie sollte nicht ein solches
Signal radikaler Abgrenzung gerichtet werden. Daß jemand Muslim ist, darf nicht
zu einer grundsätzlichen Mißtrauenshaltung bei Andersgläubigen führen.
Im großen und ganzen ist dies aber ein wichtiges Buch, denn es zeigt, welches
antichristliche und antijüdische Potential im radikalen, mordbereiten Islam steckt.
Christen, Juden und friedliebende Muslime sollten diese Gefahr gemeinsam angehen, denn sie bedroht uns alle und unsere freie westliche Lebensart.
Ansgar Lange ist im Hauptberuf CDU-Fraktionsgeschäftsführer in Remscheid
und schreibt für verschiedene Zeitungen.
473
Besprechungen
Gewissensfreiheit
Mit vorliegender Arbeit will der Verfasser, dessen Schrift als Dissertation an der
Philosophisch-Theologischen
Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt a.M.
angenommen wurde, die Verbindung
zwischen der im säkularen Recht verankerten Gewissensfreiheit auf der einen
Seite und dem in philosophischen und
theologischen Kontexten sich entwickelten Gewissen aufzeigen:
Markus Patenge, Grundrecht Gewissensfreiheit. Genese, Funktion und
Grenzen aus moraltheologischer und
rechtlicher Perspektive (=Studien der
Moraltheologie. Neue Folge Band 1),
Aschendorff Verlag, Münster 2013
Zunächst bietet der Verf. einen Abriß
kirchlicher Stellungnahmen zur Gewissensfreiheit, die er mit dem 19. Jahrhundert beginnen läßt. Gregor XVI. verurteilte in seiner Enzyklika „Mirari vos“
von 1832 im Zusammenhang mit dem
Art. 22 der französischen Verfassung die
Gewissenfreiheit. Sie wird „als Angriff
auf den Glauben und somit auch als Angriff auf die Kirche“ gewertet. Die Gewissensfreiheit würde den Abfall vom
wahren Glauben legitimieren, zum persönlichen Unheil führen und schließlich
das Staatswesen gefährden. Verf. bemerkt, daß hier im eigentlichen Sinne die
Religionsfreiheit verurteilt wird, da
durch diese die enge Verbindung von
Staat und Kirche verloren ginge.
Mit Papst Leo XIII. eröffnet sich ein differenzierter Blick auf die Gewissenfreiheit: „Er zieht die Möglichkeit in Betracht, die Gewissensfreiheit nicht nur in
ihrer Beziehung zur Religion zu bedenken, sondern auch in Beziehung zur bürgerlichen Gesellschaft.“ Leo XIII. löst die
474
Gewissenfreiheit aus ihrer Verbindung
zur Religionsfreiheit und gründet sie in
der Menschenwürde. Gleichwohl wird
die Freiheit in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Wahrheit gebracht: „Gegründet
auf die Menschenwürde, gilt sie [die
Freiheit des Gewissens] universal für jeden Menschen. In Anspruch darf sie aber
nur genommen werden, wenn das Gewissen den Geboten Gottes – ausgelegt
durch das Lehramt der Kirche – folgt.“
Mit dem II. Vatikanischen Konzil wird
die Gewissensfreiheit schließlich in ihrer
positiven Bedeutung zu einem Abschluß
gebracht. Hier vollzieht „sich die endgültige Einheit zwischen der Menschenrechtsvorstellung und der Idee der Gewissensfreiheit“. In „Gaudium et spes“
(Nr. 79) wird sogleich die Verweigerung
des Kriegsdienstes als konkreter Anwendungsfall der Gewissensfreiheit aufgeführt. „Das Recht auf Religionsfreiheit
wird eindeutig der Friedens- und Freiheitsordnung und nicht der Tugend- und
Wahrheitsordnung zugeordnet.“ Gewissensfreiheit wird sogar als notwendige
Voraussetzung für einen echten Glaubensvollzug angesehen. Somit besteht jedoch eine neue Spannung: „Eine Kirche,
die unfehlbare Wahrheit hütet, hat es
schwer, sich gleichzeitig absolut zur Gewissens- und Glaubensfreiheit zu bekennen.“
Im weiteren betrachtet der Verf. die Entwicklung zur Gewissensfreiheit im säkularen deutschen Recht. Mit dem Augsburger Religionsfrieden wurde im 16.
Jahrhundert ein erster Schritt zur Anerkennung anderer Konfessionen getan, indem die katholische und die augsburgische Konfession Anerkennung und
Schutz erhielt. Eine negative Glaubensfreiheit (sich zu keiner Religion zu bekennen) ist nicht vorgesehen. Nachdem
durch den Westfälischen Frieden (1648)
eine Gleichstellung der Konfessionen
(katholische, augsburgische und reformierte) erfolgte, wurde mit dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen
Staaten (1794) Glaubens- und Gewissensfreiheit jedem Bürger unabhängig
von seinem Bekenntnis gewährt. Mit der
Weimarer Reichsverfassung (1919) wird
den Abgeordneten zugesichert, daß sie in
ihren Entscheidungen ausschließlich ihrem Gewissen unterworfen sind (gewissensgeleitete Handlungsfreiheit). Während der Nationalsozialismus und später
der Sozialismus die Gewissensfreiheit
gravierend eingeschränkt haben, ist im
Grundgesetz
der
Bundesrepublik
Deutschland in Artikel 4 die Glaubensund Gewissensfreiheit verankert worden.
In seinem zweiten Kapitel befaßt sich der
Verf. mit der Auslegung des Rechts auf
Gewissensfreiheit. Bei der Ausdifferenzierung von Grundrechten wird deutlich,
daß „sich die Gewissensfreiheit von ihren
religiösen Wurzeln gelöst hat und nun
auch nicht religiös motivierte Gewissensinhalte“ geschützt werden. Im Konfliktfall – wenn eine gültige Rechtsnorm
dem Gewissen des Einzelnen widerspricht – muß diese Person nachvollziehbar machen, daß es sich dabei um eine
echte Gewissensentscheidung handelt.
Die katholische Tradition der Unterscheidung des Urgewissens (synderesis)
von dem Situationsgewissen (conscientia) aufgreifend, schildert der Verf. die
Lehre von der Würde des irrenden Gewissens. Der Irrtum kann nach Thomas
von Aquin niemals im Urgewissen liegen,
sondern allein im Situationsgewissen.
Die staatliche, wie die katholische Lehre
vom Gewissen, so der Verf., stimmen
darin überein, daß sie dem Gewissen „die
alleinige Urteilskompetenz in Fragen der
persönlichen sittlichen Lebensführung“
zusprechen. Die Gewissensentscheidung
ist ein interner geistiger Vorgang, der
freilich interpersonal kommunizierbar
sein sollte. Für die wahrscheinliche Echtheit einer Gewissensentscheidung kann
herangezogen werden, daß man bereit ist,
gravierende persönliche Nachteile in
Kauf zu nehmen. „Ein zweifelsfreies Instrumentarium zur Feststellung eines Gewissensentscheids gibt es [jedoch]
nicht.“
In seinem dritten und letzten Kapitel geht
Verf. auf die klassische Lehre von der
cooperatio ad malum ein. Hierbei wird
zwischen der cooperatio formalis und der
cooperatio materialis unterschieden.
Während erstere – so die traditionelle
Moraltheologie – immer unerlaubt ist,
können die Umstände bei letzterer eine
entscheidende Rolle spielen. Zu Recht
verweist Verf. auf „Mausbach/ Ermecke“, wenn er aufführt, daß „die Vermeidung jeder materiellen Mitwirkung
zur Sünde, vor allem der entfernteren, für
den Menschen unmöglich“ sei, da die
Menschen oft in engen sozialen Verflechtungen leben, die nicht selten zahlreiche Fernwirkungen haben können.
Indem der Verf. mit seiner Arbeit das säkulare Recht betreffende Ausführungen
zur Gewissensfreiheit mit denjenigen der
katholischen Kirche in eine Beziehung
setzt, wird erkennbar, daß die deutlichen
Veränderungen in dieser Frage von Seiten der Kirche unter anderem auch die
Folge der veränderten staatlichen Auffassungen sind. Damit können freilich Aussagen von Päpsten, in denen die Gewissensfreiheit abgelehnt wird, nicht entschuldigt werden, doch werden sie dadurch teilweise verständlicher. Der Verf.
hat die Thematik souverän und mit Augenmaß abgehandelt. Gleichwohl hätte
es auch nahegelegen, sogenannte „Gewissensentscheidungen“ aus der jüngeren politischen Vergangenheit in
Deutschland aufzuführen und zu diskutieren (z.B. die Frage nach der Zulässigkeit der Abtreibung und der Präimplantationsdiagnostik). Unterliegen derartige,
475
zur Abstimmung vorgelegte Themen
wirklich der Freiheit des Gewissens oder
müssen sie aus moraltheologischer Sicht
nicht generell als intrinsece mala angesehen werden? Die durch das II. Vatikanische Konzil unumstößlich verankerte
Lehre über das Gewissen, welche zentral
in der Auffassung gründet, daß der
Mensch Person ist, bildet eine stabile
Grundlage auch für zukünftige Auseinandersetzungen, besonders bei den bioethischen.
Clemens Breuer
Heimat
Distinkte Erinnerungen verblassen mit
der Zeit, sodaß nicht selten ein Nachgeschmack in Form eines diffusen Auflebens damalig empfundener Gefühle zurückbleibt, der den tatsächlichen Inhalt
des erinnerten Erlebnisses schrittweise
zu verdrängen beansprucht. So oder ähnlich scheint es sich auch im Umgang mit
einem Lied zu verhalten, das sich in der
Zeit vor und nach dem Mauerfall einer
gewissen Beliebtheit erfreute, insofern es
mit allem resignativem Zauber und einer
gezielt eingespielten Naivität einen Begriff intonieren läßt, der aufgrund seiner
Bedeutungsschwere nicht aus dem kulturellen Bewußtsein zu löschen ist – die
Rede ist von „Heimat“.
Dabei setzt der vordergründige Text jenes von Hans Naumikat komponierten
und auffallend unkämpferisch daherkommenden Pionierliedes Unsere Heimat zunächst auf die erbauliche Besinnung und
Aussicht auf ein Leben im eingeschlossenen Raum. Dementsprechend werden im
Liedtext auf hochgradig insinuierende
Weise Dinge und Orte – „Städte und Dörfer“, „Bäume im Wald“, „Fische“ usf. –
benannt und versammelt, deren Aufzählung das Bild von einer zweifelhaften
Selbstbescheidung vermitteln soll. Doch
hinter dieser Bescheidung steckt, so darf
476
man vermuten, wohl kaum die Idee eines
Verzichtes um seiner selbst willen, sondern vielmehr die Hoffnung auf eine zukünftige Rückzahlung, die in ihrer Höhe
die Kosten des bereits geleisteten Verzichtes zu übersteigen habe. Die Wendung am Ende des Liedes, „Und wir lieben die Heimat, weil sie dem Volke gehört“, ist schließlich der Gipfel eines völkisch verbrämten Versöhnungschorals,
der zugleich Ausdruck für die simple Logik einer kalkulierten Selbsttäuschung
ist.
Das rücksichtslos melodiös vorgetragene
Pionierlied zielt in letzter Konsequenz
darauf ab, den zur Einlösung bereiten
„Trost“ für die im Arbeiter- und Bauernstaat eingehegte Bevölkerung auf den
Begriff bringen zu wollen. Dieser „Trost“
besteht darin, daß wenn schon nicht die
Produktionsmittel, so doch wenigstens
der diesen Mitteln zugrundeliegende „natürliche Stoff“ dem Volk selbst zu gehören habe. Daß sich hinter dieser vermeintlich großzügigen Übereignungsgeste allerdings eine anmaßende Selbst-,
und damit auch eine unerlaubte Fremdlegitimierung zu bedingungsloser Naturbeherrschung und Ressourcenausbeutung
verbirgt, hat die gesellschaftliche Realität
der DDR jedem vor Augen geführt. Die
auf diese Weise beschworene Heimat
war damit nichts anderes als das aneignungsbereite Material, über welches man
glaubte, beliebig verfügen zu können, um
daraus seine Utopien zu weben.
Bekanntlich trug dieses instrumentalisierte Heimatverständnis aber nicht zu einer friedvollen, auf freiheitlicher Anerkennung basierenden Geborgenheit bei.
Die meisten DDR-Bürger begnügten sich
mit der Tatsache, in einem Gefängnis zu
leben, in dem es zwar (noch) keinen Kaviar gibt, es aber wenigstens sicher sei –
so „sicher“, daß jederzeit die Möglichkeit
bestand, das Vergnügen der Nachbarschaftshilfe mit dem Nutzen der Spitzelei
zu verbinden.
Anders als die auf eine am Ende selbstzerstörerische Erhaltungsteleologie setzende „Blut-und-Boden-Ideologie“ der
Nationalsozialisten war die Idee von Heimat in der ehemaligen DDR in einer bloß
über das Diesseits hinaus verlängerten
Zukunft „verwurzelt“, einer transzendenzlosen Zukunft, die weder etwas mit
dem zu tun haben durfte, aus dem sie hervorgegangen war, noch die nach einem
Bild gezeichnet werden sollte, welches
sich gerade nicht vollständig ausmalen
läßt.
Um so erstaunlicher erscheint es nun, daß
der Dresdner Philosoph und Politikwissenschaftler Joachim Klose in seinem
umfangreichen Sammelband:
Joachim Klose, Heimatschichten – Anthropologische Grundlegung eines
Weltverhältnisses. Springer, Berlin
2014, XVI, 682 S.
es wagt, sich einem postideologischen
Begriff von Heimat zuzuwenden, der gefährliche Vereinseitigungen, wie sie ein
rein territoriales, rassisches oder utopisches Verständnis mit sich bringen, vermeiden möchte. Klose, der sich seit vielen Jahren eingehend mit der angemessenen Neuformulierung eines zeitgenössischen Heimatverständnisses beschäftigt,
sieht ein Bedürfnis nach der Wiedergewinnung dieser Kategorie vor allem dadurch erwachsen, daß gegenwärtig Globalisierungsprozesse Regionalisierungsbestrebungen befördern, die derzeitige
demographische Entwicklung zu unerwünschten biographischen Entwurzelungen führt und damit verbundene Modernisierungsprozesse verschiedene Entfremdungserscheinungen zeitigen. Vor
diesem Hintergrund ist es nach Klose daher notwendig und an der Zeit, ein positives Heimatbewußtsein anzuregen, das
nicht nur die vorhandenen demokratische
Strukturen stärkt, sondern auch beim Ein-
zelnen ansetzt, welcher durch die Bestimmung und Erhellung seines Ortes, an dem
er verweilt, seiner Zeit, in der er lebt, sowie seiner Mitmenschen, mit denen er
verkehrt, sich als ein Wesen zu begreifen
beginnt, zu dem es gehört, beheimatet zu
sein.
Um diesen Anspruch nach der Formulierung und Ausbuchstabierung eines positiven Heimatbewußtsein einlösen zu können, sind in diesem interdisziplinär ausgerichteten Band zahlreiche Stimmen
und Auffassungen von Philosophen und
Historikern, Theologen, Soziologen sowie Politikern, Kunsthistorikern und Literaturwissenschaftlern versammelt. Die
Fülle des Materials ist überwältigend,
wenngleich sich der Leser durch das Dikkicht der verschiedenen Heimatbegriffe
mit einiger Anstrengung durchschlagen
muß.
Der Herausgeber selbst gibt dem Leser
aber dankenswerterweise einige wichtige
Orientierungshilfen an die Hand, insofern er Heimat als komplexes Gefüge
von Bezügen vorstellt, welche sich örtlich, zeitlich und in ihrer intrinsischen
Relationalität differenzieren lassen. Dieser vorgezeichneten Systematik und
Gliederung werden im Anschluß auch die
einzelnen Beiträge zugeordnet. Neben
Untersuchungen zur besagten örtlichen
und zeitlichen Dimension von Heimat,
die sich der Frage nach dem Zusammenhang von Identität und Herkunft, Ort und
Erleben, widmen, wird insbesondere die
Leiblichkeit, das Zuhausesein im eigenen
Körper, als entscheidender Parameter
von Heimat vorgestellt. Diese phänomenologisch-anthropologischen Befunde
werden in einem nächsten Schritt um sozialwissenschaftliche Implikationen des
Heimatbegriffes, wie sie vor allem in Gemeinschaften, z.B. Familien, zum Tragen
kommen, ergänzt. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Ausführungen
derjenigen Autoren interessant, welche in
477
der (eigenen) Religion eine Glaubensheimat finden und zu beschreiben versuchen.
Daß sich Heimat auch immer wieder als
ein medientaugliches Narrativ zu präsentieren vermag, welches ein reichhaltiges
Vokabular mit sich führt, eine Fülle von
Bildern bietet und zahlreiche Verweisungszusammenhänge eröffnet, davon
zeugen die instruktiven Beiträge des anschließenden Abschnittes.
Zu guter Letzt darf in einem Buch wie
diesem, das im Rahmen mehrerer Veranstaltungsreihen der Konrad-AdenauerStiftung entstanden ist, natürlich die politische Dimension des Heimatbegriffes
nicht fehlen. In dieser Perspektive wird
Heimat von mehreren Autoren vorzugsweise als gesellschaftlicher Gestaltungsauftrag begriffen, als eine kreative Aufgabe, die Verantwortungsübernahme und
Engagement umfaßt, folglich auf die Stiftung von Gemeinsinn angelegt, ohne dabei das individuelle Glück zu opfern.
Eines scheint nach der Lektüre dieser
umfassenden Ideen- und Perspektivensammlung vor allem deutlich geworden.
Heimat ist – so sagt es bereits der Titel –
ein vielschichtiges Phänomen, das wir
nicht ignorieren können. Möchte man
den Ausführungen des Herausgebers
Joachim Klose Glauben schenken, dann
scheint Heimat sogar der Grundbegriff
unserer Wirklichkeit zu sein.
In der Tat ist Heimat mehr als eine bloße
Aufzählung von Erinnerungen, Bildern
und Orten, Beheimatet-sein ist, wie Klose
immer wieder betont, in erster Linie ein
Weltverhältnis und damit für die Erhellung unseres Selbstverständnisses als
Menschen elementar und unverzichtbar.
Martin Hähnel
478
Befreiungstheologie
Kardinal Müller Betrachtungen über die
Probleme der Armut als Herausforderung
des christlichen Glaubens haben zwei Wurzeln: Zum einen hat er mehrere Jahre – mit
Unterbrechungen – in Peru, Bolivien und
Brasilien als Seelsorger in dortigen Elendsquartieren unter den entsprechenden Bedingungen gelebt und gearbeitet, zum anderen
bekennt er sich ausdrücklich zur sogenannten Befreiungstheologie und bettet sie in die
Soziallehre und die Gesamttheologie der
Kirche ein:
Gerhard Ludwig Kardinal Müller: Armut – Die Herausforderung für den
Glauben. Mit einem Geleitwort von
Papst Franziskus. Kösel-Verlag, München 2014, 176 S.
Seine Lebenserfahrungen mit und in konkreter Armut in Lateinamerika bestimmen
sehr stark sein Bild von der Rolle der Kirche und machen ihn zu einem Vorreiter der
Positionen und Ziele von Papst Franziskus
und dessen Option für die Armen und seinen Kampf gegen die Armut und für mehr
Gerechtigkeit weltweit.
Kardinal Müller hat das Leben unter den
Armen in äußerster Kargheit in 3000 bis
4000 Meter Höhen mitgemacht, „Trinkwasser aus den Bächen, keine Toiletten,
eine einseitige Ernährung aus Kartoffeln
und Mais, kein Zugang zu ärztlicher Versorgung, kein elektrischer Strom“ (S. 89)
Armut ist für ihn nicht nur Hunger, sondern
auch Rechtlosigkeit, Bildungslosigkeit,
geistige, physische und moralische Armut.
In diesem Sinn ist Armut für den Kardinal
ein weltweites Problem und er geißelt die
Auswirkungen des globalisierten Kapitalismus als eine wesentliche Ursache für das
heutige Verharren von Millionen Menschen
in dieser Armut. Seine Argumentation:
„Nach dem Zusammenbruch des Staatskommunismus meinten manche, nun sei
das Paradies auf Erden durch einen ungezügelten Kapitalismus zu erreichen. Die
Selbstregulierungskräfte des Marktes im
globalisierten Maßstab sich selbst überlassen würden zum Wohlstand für alle oder
wenigstens für die meisten führen. Die Realität ist eine andere. Nicht die scheinbar allmächtigen Kräfte des Marktes, sondern
Menschen haben aus bloßer Habgier die gegenwärtige Weltfinanzkrise verursacht, deren Zeche wieder einmal die Armen und die
Ärmsten der Armen bezahlen müssen mit
ihrem Leben und ihrer Gesundheit, mit vorzeitigen Tod und allen entgangenen, von
Gott geschenkten Chancen.“ (S. 45) Fast
sarkastisch fügt er hinzu: „Die Kirche ins
Krankenhaus und in Heime für Sterbende,
aber nur keine Ethik für die Wallstreet.“
Bei aller Systemkritik kommt Müller immer wieder auf das individuelle Verhalten
handelnder Menschen zurück: „Keiner
kann sich entschuldigen, daß das System
ihn gezwungen habe, andere Menschen
auszubeuten und zugrunde zu richten, damit er seinen Lebensunterhalt erwerben
könne“. (S. 57) Für den Theologen bleibt
also der Vorrang individuellen Verhaltens
vor der Struktur, die zu bestimmten Handlungen und Verhaltensweisen führen kann,
aber nicht muß. Unter Bezug auf seine Erlebnisse und Erfahrungen in Lateinamerika
ergänzt er aber, daß dort der Kapitalismus
zum alleinigen Prinzip des menschlichen
Handelns das schrankenlose Streben nach
persönlichen Reichtum gemacht habe.
Klar unterscheidet Müller mit deutscher Erfahrung zwischen dem von ihm geschilderten Finanzkapitalismus in Lateinamerika
und unserer Sozialen Marktwirtschaft mit
einem freien Unternehmertum in sozialer
und gesellschaftlicher Verantwortung, gebunden an rechtsstaatliche Prinzipien. Er
macht den Unterschied u.a. an der Eigentumsproblematik deutlich, die ja in den
päpstlichen Sozialenzykliken auch eine wesentliche Rolle spielt.
In Lateinamerika heißt Privateigentum
nicht das breit gestreute Vermögen vieler,
sondern den Besitz gigantischer Ländereien
oder Silber- und Kupferminen, denen Millionen von völlig besitz- und rechtlosen
Kleinbauern und Arbeitern gegenüberstehen.
Hier sei auf den amerikanischen Zukunftsforscher Paul Kennedy (nicht verwandt mit
der Präsidentenfamilie) verwiesen, der in
seiner Prognose über Probleme des 21.
Jahrhunderts die Diskrepanz von Reichtum
in den Händen weniger gegenüber der Armut vieler die größte Herausforderung und
Lösungsnotwendigkeit unserer Zeit und
Zukunft sieht. In diesem Kontext argumentiert Kardinal Müller: „Wohlstand und
Reichtum, aber auch politische Stabilität
und gerechte Lebenssituationen sind unverändert nur einem Teil der Menschheit vorbehalten. Die materiellen und geistigen Güter der Erde sind aber für alle Menschen
da.“ Er bezeichnet deshalb diesen gegenwärtigen Kapitalismus „als Schande unserer Zeit.“ (S.21). An dieser Stelle fehlen bei
aller Übereinstimmung in geschilderten
Sachverhalten zumindest Hinweise auf
sachgerechte Lösungsmöglichkeiten, wohl
wissend, daß das Buch primär kein wirtschaftstheoretisches oder gar politisches
Kompendium sein soll, sondern uns theologisch-moralisch aufrütteln will.
Das Engagement für die Armen und sein
Kampf gegen die Armut motiviert Kardinal
Müller natürlich und vor allem theologisch.
Er zitiert den von ihm hoch verehrten Protagonisten der Befreiungstheologie, Gustavo Gutiérrez, mit den Worten: „Wie
kann man von Gott sprechen angesichts des
Leidens der Menschen, der Armen, die ihren Kindern kein Brot zu essen geben können, die keine medizinische Behandlung
beanspruchen können, denen die Schulbildung verwehrt bleibt, die vom gesellschaftlichen und kulturellen Leben ausgeschlossen, die marginalisiert und als Last und Bedrohung des Lebensstils einiger weniger
Reicher empfunden werden.“ (S. 36 f.)
Letztlich geht es der Befreiungstheologie
um die Frage, wie angesichts menschenunwürdiger Lebensverhältnisse die christliche
Botschaft im Leben des Einzelnen und der
Gemeinschaft wirksam werden kann.
Deshalb war und ist für die Befreiungstheologie eine besondere Quelle die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen
479
Konzils „Gaudium et spes“. Einer der „Urväter“ der Befreiungstheologie ist übrigens
(wie inzwischen auch Gustavo Gutiérrez)
ein Dominikaner gewesen, nämlich Bischof
Bartholomé de las Casas, über den
Gutiérrez ein Buch mit dem Titel „Gott
oder das Gold“ geschrieben hat. Dominikaner und Jesuiten waren zu Zeiten der spanischen Kolonisierung Lateinamerikas Vorkämpfer für die Menschenrechte und Menschenwürde der unterdrückten Indios.
Theologisch geht es darum, die Kirche
deutlicher zu einer samaritanischen Kirche
zu machen. „Die Geschichte vom Samariter
zeigt einen Weg, den jeder Christ und die
Kirche als ganze einschlagen müssen. Es
geht um die Bereitschaft, Solidarität mit
jeglichem notleidenden Menschen zu üben“
(S. 125). Diese samaritanische Caritas ist
die Seele der Spiritualität.
480
In Matthäus 25 sagt Jesus: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt,
das habt ihr mir getan.“ Diese Bibelstelle ist
ein zentraler Bezugspunkt für die Befreiungstheologie. Müller und Gutierrez zitieren viele päpstliche Botschaften, Konzilsbeschlüsse und nicht zuletzt die Sozialenzykliken zur Untermauerung ihrer Botschaft. Sie stoßen damit bei Papst Franziskus auf offene Ohren. Johannes XXIII. hatte
seinerzeit das Vatikanische Konzil mit der
Begründung einberufen, daß die Kirche die
Zeichen der Zeit erkennen müsse, um die
Gelegenheit zu ergreifen und die Zukunft
zu schauen.
Das Thema Armut und Armutsbekämpfung
als Herausforderung für den Glauben fordert nicht nur die Theologie im allgemeinen, sondern auch speziell die Christliche
Soziallehre heraus. Respektierung der
Menschenwürde für die Armen ist das eine,
konkrete Hilfe und soziale Einordnung das
andere.
Horst Schröder