Antananarivo

Transcription

Antananarivo
Madagaskar
Ein Erlebnisbericht von Esther Iseli
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EINLEITUNG
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VORBEREITUNG
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MADAGASKAR: LAND UND LEUTE
KURZE FACTS
GESCHICHTE
BEVÖLKERUNG UND RELIGION
BILDUNGSWESEN
WIRTSCHAFT UND POLITIK
NATUR
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GESUNDHEITSWESEN
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GESUNDHEITSZUSTAND DER BEVÖLKERUNG
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GESUNDHEITSVERSORGUNG
MEDIZIN STUDIUM
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KATHOLISCHE MISSIONEN
PADRI REDENTORISTI
SUORE IN TANA
SUORE IN SAMBAVA
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DISPENSAIRE AMBOHIPO
INFRASTRUKTUR
ARBEITSALLTAG
MATERNITE
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BEFELATANANA
KLINISCHE FÄHIGKEITEN AUS DER SCHWEIZ
TUBERKULOSE
VISITE
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RÜCKBLICK
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EINLEITUNG
"Manahoana Tompoko?" bedeutet auf Madagassisch: "Wie geht es Ihnen, mein
Herr?" (es sind aber auch "Damen" damit gemeint.).
Als ich im Oktober 1998 das Flugzeug nach Madagaskar bestieg, hatte ich keine
Ahnung, was mich erwartete. Ich sollte von einem italienischen Missionar am
Flughafen abgeholt werden und dann in einer Mission in der Hauptstadt
Madagaskars (Antananarivo, kurz "Tana" genannt) wohnen und in einem
Ambulatorium arbeiten.
Während den ersten Tagen nach meiner Ankunft war ich sehr verwirrt. Die
Orientierung fiel mir schwer, ich konnte mir die komplizierten madagassischen
Namen und Wörter nicht merken und sie schon gar nicht aussprechen, und ich
wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Die italienischen Missionare waren mir
genau so fremd wie die madagassischen Strassenhändler, die abgehackte Rinderhufe
verkauften.
Mit der Zeit gewöhnte ich mich an mein neues Leben. Ich lernte, das madagassische
Geld zusammengeknüllt in der Hosentasche zu tragen (Portemonnaies sind in
Madagaskar eine Rarität!), liess mir von den Buschauffeuren nicht mehr den
doppelten Fahrpreis verrechnen, feilschte halsstarrig um ein Kilo Mangos (dabei
ging es jeweils um wenige Rappen) und liess mir die italienische "Pasta con fagioli"
schmecken.
Entgegen meiner Erwartung arbeitete ich nicht in erster Linie für die italienischen
Missionare, sondern in einem staatlichen Ambulatorium. Die madagassische
Arbeitsweise war mir zu Beginn sehr fremd und ich musste mich an vieles
gewöhnen. Zum grossen Glück standen mir mehrere madagassische
Medizinstudentinnen und die Chefärztin des Ambulatoriums, Dr. Josette, bei.
Als ich mich eingewöhnt hatte, war es auch schon wieder Zeit, die Koffer zu
packen. Ich freue mich bereits jetzt auf ein Wiedersehen mit Madagaskar!
Esther Iseli
Zürich, im März 2000
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VORBEREITUNG
Wie soll man sich am besten auf ein medizinisches Praktikum in einem "Land des
Südens" vorbereiten?
Um grosse Enttäuschungen zu vermeiden, sollte man sich zuallererst die Frage nach
der eigenen Motivation beantworten. Will ich den armen Leuten helfen, sie aus ihrer
auswegslosen Lebenssituation retten? Möchte ich persönlich etwas dazulernen,
meinen Horizont erweitern? Die GRUHU-Wochenenden bieten die Möglichkeit,
sich mit dieser Frage auseinander zu setzen und darüber zu diskutieren. Meiner
Meinung nach sollte man sich nicht die Illusion machen, den Menschen direkt etwas
helfen zu können. Man profitiert vielmehr selbst von einem solchen Aufenthalt,
indem man das Leben in einem armen Land kennen lernt und sich des luxuriösen
Lebensstandards bei uns in der Schweiz bewusst wird. Vielleicht kann man den
Menschen indirekt helfen, indem man die eigenen Erlebnisse an Interessierte
weitergibt.
Wenn man sich für ein solches Praktikum entschieden hat, stellt sich die Frage nach
der Dauer des Aufenthaltes. Meine Meinung: Je länger desto besser. Das Leben in
armen Ländern ist einem meist so fremd, dass man viel Zeit zur Eingewöhnung
braucht. Kaum kann man sich verständigen, muss man schon wieder abreisen. Aus
diesem Grund habe ich mich für ein zweites Wahlstudienjahr entschieden. Da hatte
ich genügend Zeit, viel praktische Erfahrung in der Schweiz zu sammeln und konnte
gleichzeitig genügend Zeit für das Praktikum im Ausland einplanen. Ursprünglich
sollte mein Aufenthalt in Madagaskar 6 Monate dauern, wegen Visumproblemen
blieb ich dann aber nur viereinhalb Monate.
Bei der Auswahl der UHU-Monate in der Schweiz würde ich Innere Medizin,
Chirurgie, Gynäkologie, Geburtshilfe, Pädiatrie und Dermatologie empfehlen. Ich
selbst habe ausser in Dermatologie in allen diesen Fachspezialitäten ein UHUPraktikum gemacht. Es lohnt sich, eher kleinere Spitäler auszuwählen, denn dort
kann man in der Regel selbstständiger arbeiten und die Medizin ist etwas weniger
hochtechnisiert als an Universitätsspitälern.
Welches Land auswählen? Bei welcher Organisation soll man sich melden? Ich bin
ein schlechtes Beispiel dafür, wie es am einfachsten geht... Ein italienischer
Bekannter unserer Familie war schon einige Male bei verschiedenen italienischen
Missionen in Madagaskar zu Besuch. Er war von meiner Absicht, ein solches
Praktikum zu absolvieren, begeistert. Er versprach mir, alles für mich zu
organisieren. Als der Abreisemonat immer näher rückte, und ich immer noch keine
Nachricht hatte, begann ich selber zu organisieren. Nach einigen Telefonaten konnte
ich zwar das Abreisedatum fixieren, wusste aber immer noch sehr wenig darüber,
was mich dort erwarten würde. Ich hatte niemanden hier in der Schweiz, der mich
beraten konnte (z.B. bezüglich Impfungen, Ma-
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lariaprophylaxe ... etc.). Meine Vereinbarungen bezüglich Kost, Logis, Arbeit und
Visum waren nur sehr vage, und es kam dann auch vieles sehr anders als ursprünglich
geplant. Aus diesen Gründen empfehle ich dir, dich einer Organisation
anzuschliessen. Das gibt dir ein sicheres Gefühl bei der Abreise und während Deines
Aufenthaltes.
Falls du Zeit hast, ist es sicher hilfreich, dich über das Land, Kultur und Leute zu
informieren. Als medizinische Literatur und v.a. als unentbehrlicher Ratgeber für die
"Kitteltasche" empfehle ich das Taschenbuch "Medical Practice in Developing
Countries" im V erlag Jungjohann.
MADAGASKAR: LAND UND LEUTE
KURZE FACTS
Staatsform: Republik
Grösse: 587041 km2, viertgrösste Insel der Erde
Lage: 390 km östlich des afrikanischen Festlandes an der Strasse von Mosambik im
Indischen Ozean.
Bevölkerung: 99% Madagassen, 1% Ausländer (Franzosen, Inder, Chinesen)
Bevölkerungswachstum: 2.81 % (1998)
Lebenserwartung: 52.88 Jahre
Einwohnerzahl: 16.3 Mio (Schätzung 1998)
Hauptstadt: Antananarivo (Tana), 1.7 Mio Einwohner
Sprachen: Madagassisch, zweite Amtssprache ist Französisch (gesprochen von 10%)
Religion: ca. 40% AnhängerInnen traditioneller afrikanischer Religionen, ca. 50%
ChristInnen (zur Hälfte katholisch), 7% MuslimInnen Pro-Kopf-Einkommen: 240
US-$ (1996). Zum Vergleich: Die Schweizer Quote liegt fast 140-mal höher.
Inflationsrate: 20%
Auslandverschuldung: 4.5 Mrd US-$ (das zehnfache der jährlichen Budgeteinnahmen)
GESCHICHTE
Nach den Erkenntnissen der bisherigen archäologischen Forschungen war
Madagaskar bis weit ins erste Jahrtausend unserer Zeitrechnung unbesiedelt. Die
ersten Einwanderungswellen dürften die Insel von 400 bis 1600 aus dem
indonesischen Raum und aus dem östlichen Afrika erreicht haben. Im Verlauf der
letzten hundert Jahre fand eine Vermischung statt, doch überwiegt im Os-
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!"
ten und im Hochland nach wie vor der indonesische, im Westen der afrikanische
Einfluss.
Seit dem 9. Jahrhundert liessen sich arabische Seefahrer und Händler auf der Insel
nieder und vermischten sich ebenfalls mir der einheimischen Bevölkerung. Ab dem
16. Jahrhundert legten Portugiesen, Engländer und Franzosen Handelsstützpunkte
an. 1896 eroberte Frankreich die Insel und machte sie zu seiner Kolonie. Mit der
Kolonisierung wurden Madagaskar neue kulturelle und wirtschaftliche Elemente
verpasst. Der Aussenhandel wurde auf Frankreich ausgerichtet, ebenso die
Verwaltung und das Bildungswesen. 1960 erlangte Madagaskar schliesslich die
Unabhängigkeit.
BEVÖLKERUNG UND RELIGION
Obwohl die Bevölkerung offiziell
Kultur und Sprache gemeinsam hat, gibt
es 18 verschiedene Stämme. Die
Stämme
bewohnen
die
diversen
Regionen des Landes und haben eigene
Dialekte und Bräuche. Auch wenn sich
die alten Strukturen langsam verwischen, bestimmt in Madagaskar immer
noch die Grossfamilie. Das Land des
Familien-Clans ist auch das Land der
Ahnen. Die Ahnen gelten nicht als tot,
sondern als in eine andere Lebensform
hinübergegangen. In religiösen Riten
treten die Madagassen mit den Seelen
der Verstorbenen in Kontakt, fragen um
Rat und bitten um Hilfe. Es herrscht die
Vorstellung, dass alle Lebewesen nur
auf ein Ziel hin existieren: Das Leben
selbst zu erhalten und weiterzuentwickeln. Aus diesem Grund ist für
den Madagassen die Gemeinschaft, die
Familie, der Stamm wichtiger als das
Individuum.
Auf einem Markt im Hochland
Die traditionelle Religion der Madagassen kennt keine Kirchen und Tempel.
Christliche und muslimische Religionen haben jedoch grossen Zulauf, denn sie
bieten ein Umfeld, in dem sich die Leute in dieser schwierigen Zeit geborgen
fühlen. Die Kirchen werden sehr rege besucht (sonntags sind in einer grossen
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Kirche in Tana um 1500 Personen die Regel). Nach den Gottesdiensten, die
mindestens 2 Stunden dauern, ergreifen wichtige Gemeindemitglieder das Wort und
besprechen ausserkirchliche Probleme mit der Bevölkerung. Viele Madagassen sind
sehr religiös, sie glauben häufig gleichzeitig an das Christentum und an ihre
traditionelle Religion. Mir wurde oft die Frage gestellt, ob wir Europäer wirklich
nicht mehr zur Kirche gingen. Als ich diese Frage jeweils mit ja beantwortete,
konnten sie es kaum glauben. "Aber weshalb?" Ich weiss es auch nicht genau.
Vielleicht weil es uns gut geht und wir nicht so viele Stossgebete aussprechen
müssen?
Bahnhof in einem Urwalddorf an der Ostküste
Kinderreichturn gilt trotz oder gerade wegen der grossen Armut als erwünscht, hat
doch der Nachwuchs für seine Eltern zu sorgen. Die Bevölkerung wächst im
Moment um fast drei Prozent pro Jahr. Die Geburtenrate lag 1998 bei 5.76 Kindern,
bei einer Häufigkeit von antikonzeptionellen Massnahmen von 19.4%. Das
durchschnittliche Alter der Frauen bei der ersten Heirat beträgt 18.2 Jahre, das Alter
bei Geburt des ersten Kindes 19.2 Jahre. 44% der Madagassen sind jünger als 15
Jahre alt (Stand 1993).
Die Madagassen leben in sehr ärmlichen Verhältnissen. 83% der Haushalte müssen
ohne Strom auskommen. 5.4% haben einen Wasseranschluss im Haus, 13% können
das Wasser von öffentlichen Pumpen beziehen, 60% holen sich das Wasser aus
Flüssen und der Rest muss sich Wasser kaufen.
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Fischedorf an der Südostküste
BILDUNGSWESEN
Etwas mehr als 50% der Bevölkerung sind Analphabeten. Leider hat sich die
Situation in den letzten Jahren noch verschlechtert. Wurden 1992 75% der Kinder
eingeschult, waren es 1995 65%. Obwohl die Schulbildung für alle madagassischen
Kinder obligatorisch ist, werden viele Kinder nicht oder nur für sehr kurze Zeit zur
Schule geschickt. Die Familien sind darauf angewiesen, dass auch die Kinder zu
ihrem Unterhalt beitragen.
Kinderarbeit ist weit verbreitet: Von den 7- bis 9-Jährigen arbeiten 20%, von den 11bis 12-Jährigen 30% und von den 13-14-Jährigen 50%.
Die Kinder arbeiten auf dem Familienbauernhof oder -betrieb, sie müssen die
jüngeren Geschwister beaufsichtigen, oder sie arbeiten in der Stadt als Bettler oder
Verkäufer. Viele werden auch auf dem Bau als "Backsteinträger" eingesetzt, wobei
75% der Backsteinträger zwischen 5- und 7 -jährig sind. Die Qualität der Schulen ist
meist schlecht, in ländlichen Gebieten kommt auf 46 Schüler ein Lehrer.
WIRTSCHAFT UND POLITIK
Staatsoberhaupt Madagaskars ist seit 1997 der pensionierte Admiral Didier Ratsiraka.
Er ist auf 5 Jahre gewählt. Mit Ratsiraka kehrte ein Ex-Diktator an die
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Macht zurück. Von 1975 bis 1993 stand er bereits an der Spitze einer Militärjunta.
Er hatte Madagaskar damals politisch und wirtschaftlich auf die sozialistischen
Staaten China und Sowjetunion ausgerichtet und war damit gescheitert. Die
Wirtschaft brach ein. Anfang der 90er-Jahre, nach einem siebenmonatigen Streik,
wobei Ratsiraka auf die unbewaffnete Bevölkerung schiessen liess, musste er dem
Druck zu mehr Demokratie nachgeben. Er wurde abgewählt. Den wirtschaftlichen
Scherbenhaufen konnte jedoch auch sein Nachfolger Zafy nicht aufräumen. 1996
wurde der einstige Hoffnungsträger abgewählt und Ratsiraka wieder als Präsident
bestätigt. Viele Madagassen betrachteten diese Abstimmung als eine Wahl zwischen
Pest und Cholera und blieben der Urne fern.
Madagaskar steht heute schlechter da als zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit.
Obwohl Madagaskar keine Kriege und Flüchtlingsströme kennt, schafft es die
fruchtbare Tropeninsel nicht, sich selbst zu ernähren. Ein mit dem Internationalen
Währungsfonds und der Weltbank nach zähen Verhandlungen geschlossenes
Abkommen versucht seit 1996 die schmerzliche Korrektur der Schuldenwirtschaft.
Korruption und Missmanagement behindern jedoch den Aufschwung. Die vom
Agrarsektor dominierte Volkswirtschaft ist durch Naturkatastrophen (Trockenheit,
Zyklone, Heuschreckenschwärme, Schweinepest ... ) und Weltmarkteinflüsse stark
verwundbar. Fischerei, Bergbau, Tourismus und ein wenig Industrie sind die
wichtigsten Devisenbringer. Weite Teile des Landes sind nur sehr schwer zu
erreichen. Die wenigen Landesstrassen sind in erbärmlichem Zustand, oft nicht
asphaltiert und können zu gewissen Jahreszeiten überhaupt nicht befahren werden.
Für den Transport in entlegene Gebiete ist man auf Ochsenkarren angewiesen.
NATUR
Madagaskars Klima ist tropisch. An der Nordwest- und Ostküste kommt es zu
starken Niederschlägen und Durchschnittstemperaturen um 25°C. Im südlichen
Landesteil ist es bei ähnlichen Temperaturen viel trockener. Gemässigt ist das Klima
im zentralen Hochland bei mittleren Niederschlagsmengen und Durchschnittstemperaturen um 20°C. Die Regenzeit dauert von Oktober bis März, die
Trockenzeit von April bis Oktober.
Madagaskar besitzt eine faszinierende Flora und Fauna. Es ist das Land mit der
höchsten Rate an endemischen Tier- und Pflanzenarten: 90% seiner Wirbeltier(z.B.
Lemuren) und über 95% seiner Pflanzenarten gibt es nur dort und sonst nirgendwo.
Viele Tiere und Pflanzen sind aber dem Siedlungsdruck bereits zum Opfer gefallen.
Als der Mensch vor weniger als 2000 Jahren Madagaskar besiedelte, war das Eiland
noch grösstenteils mit dichter Vegetation bedeckt. Heute hat das grüne Laubdach
erhebliche Lücken bekommen. Schätzungen zufolge ist die grüne Lunge
Madagaskars auf ein Fünftel zusammengeschrumpft. Jahr für Jahr wer-
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den auf Madagaskar 200'000 Hektaren Wald durch Brandrodung vernichtet. Der
Humus wird tonnenweise fortgeschwemmt, das Meer um Madagaskar färbt sich rot.
Die einst grüne Insel erodiert zur roten Wüste. Brandrodungen sind gesetzlich
verboten. Mit dem Vollzug hapert es indes. Tradition, Bevölkerungswachstum,
Armut und Protest- dieser unheilvolle Mix ist auf Madagaskar für die Brandroderei
verantwortlich.
Reisfelder im Hochland
Die madagassische Regierung hat mit verschiedenen Hilfsorganisationen einen
Naturschutzplan für Madagaskar erarbeitet, welcher 1990 vom Parlament ratifiziert
wurde. Die Umsetzung dieses Planes ist jedoch sehr schwierig. Es wurden in letzter
Zeit aber auch Fortschritte erzielt: So gibt es auf Madagaskar über 50 Nationalparks
und Schutzgebiete, welche etwa 12% der unbewohnten Landfläche entsprechen. Ich
kann euch den Besuch dieser Parks sehr empfehlen.
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GESUNDHEITSWESEN
GESUNDHEITSZUSTAND DER BEVÖLKERUNG
Der Gesundheitszustand der Bevölkerung ist nicht besonders gut. Die Sterblichkeit
der unter Einjährigen betrug 1997: 96 pro Tausend (im Vergleich dazu CH: 6 pro
Tausend).
Die Durchimpfungsrate der 12- bis 23-monatigen Kinder hat sich zwischen 1992 und
1997 leicht verschlechtert:
1997: Tbc 66%
Polio 47.7%
Diphterie-Tetanus-Pertussis 48.4%
Masern 46%
1997 waren 40% der Säuglinge unter gewichtig (1992: 36%). Nur 47.3% der Frauen
gebären in Anwesenheit von medizinisch geschultem Personal. Viele schwangere
Frauen sind nicht gegen Tetanus geimpft, und es kommt immer wieder zu
Tetanusinfektionen der Neugeborenen.
Die durchschnittliche Körpergrösse einer Bevölkerung hängt unter anderem vom
Lebensstandard ab. In Madagaskar hat die Körpergrösse in den letzten 40 Jahren
stagniert oder sogar leicht abgenommen, was wahrscheinlich auf die
Verschlechterung des Lebensstandards seit den 70er Jahren zurückzuführen ist.
Infektionskrankheiten betreffen einen grossen Teil der Bevölkerung: Parasitosen,
darunter Malaria (v.a. Malaria tropica), Würmer, Bilharziose, bakterielle und virale
Erkrankungen wie Tuberkulose (ca. 3% der Bevölkerung in Tana hat eine "offene"
Tuberkuloset Durchfallserkrankungen, respiratorische Infektionen, Polio, Syphilis,
HIV (erstaunlicherweise ist die Inzidenz immer noch recht gering), Lepra, Pest und
viele weitere Erreger. Die prekären hygienischen Verhältnisse und der schlechte
Ernährungszustand prädisponieren zu infektiösen Krankheiten. Die schlechte
Aufklärung über Ernährung und Krankheiten und mangelnde Prävention
verschlechtern die Gesundheitssituation zusätzlich.
Eine Kranken- oder Invalidenversicherung gibt es nur für die wenigsten, und so
bringt die Erkrankung eines Familienmitgliedes die betroffene Familie oft in
ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten. Invalide haben oft keine andere Wahl, als auf
der Strasse zu betteln.
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GESUNDHEITSVERSORGUNG
Die Gesundheitsversorgung ist besonders in den ländlichen Gebieten prekär. Dort
gibt es nur sehr wenige Spitäler und basismedizinische Einrichtungen. In Tana gibt
es hingegen viele arbeitslose madagassische Ärzte, die ihren Lebensunterhalt lieber
als Taxifahrer bestreiten, als irgendwo auf dem Land als Arzt zu arbeiten. Ein Arzt,
dem ich in seinem Taxi begegnet bin, hat mir dazu erklärt, er wolle seine Kinder
einmal auf eine gute Schule schicken. Gute Schulen gäbe es nicht auf dem Land.
Zudem verdiene man auf dem Land nur wenig Geld, und werde stattdessen mit Reis
und Maniok bezahlt. Viele ländliche Regionen sind verkehrstechnisch so schlecht
erschlossen, dass die Bevölkerung praktisch keine Möglichkeiten hat, in ein Spital
zu gelangen. Zum einen würde es häufig viel zu lange dauern, zum anderen ist
reisen auch teuer.
Traditionelle Heiler haben auf dem Land immer noch eine wichtige Funktion.
Leider nimmt das Interesse an diesen Heilmethoden ab, die Leute glauben lieber an
die westliche Medizin mit ihren Spritzen und Pillen.
Marktstand mit gebrauchten Spritzen, Ampullen, Pillendosen.
Es gibt verschiedene staatliche Spitäler in Tana und anderen grösseren Städten. Eine
Beschreibung des Universitätsspitals in Tana werde ich etwas später geben. Ohne
Missionen und andere Hilfsorganisationen würde das Gesundheitssystem
zusammenbrechen. Diese betreiben unzählige Ambulatorien und Spitäler.
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MEDIZIN STUDIUM
Ich habe bei meiner Arbeit und in meiner Freizeit viele madagassische Medizinstudenten kennengelernt. Der Aufbau des Studiums bis zum 6. Jahr ist dem
unseren in der Schweiz nicht unähnlich. Es wird jedoch viel mehr Wert auf die
Erlernung der klinischen Untersuchung gelegt, die speziellen Untersuchungstechniken wie EKG und Röntgen (nicht zu reden von PET, Szintigraphie etc.) sind
dafür weniger wichtig. Im 7. Studienjahr arbeiten die Studenten als Praktikanten,
wobei sie auch in ländliche Regionen geschickt werden. Die Dissertation schreiben
sie im 8. Jahr und sind dann "Grundversorger". Wer sich spezialisieren möchte, muss
an einer Prüfung teilnehmen. Nur die besten erhalten die Möglichkeit zur
Spezialisierung, und nur die allerbesten können die Fachrichtung wählen. Es kann
also vorkommen, dass sich jemand auf Urologie spezialisieren muss, obwohl er
Pädiatrie machen wollte. Da sind die Verhältnisse bei uns in der Schweiz geradezu
paradiesisch!
KATHOLISCHE MISSIONEN
PADRI REDENTORISTI
Stellst Du Dir unter einer katholischen Mission auch Mönche in braunen Kutten vor?
Lange Gänge und Gebete während des ganzen Tages?
Dem war in Madagaskar nicht so. Ich habe viele sehr praktisch denkende, typische
Italiener getroffen. Padri, die sich auch nach 20 Jahren in Madagaskar nicht von ihrer
Pasta haben trennen können. Padri, die sich geduldig einen Weg durch den korrupten
Dschungel der madagassischen Bürokratie schlagen müssen. Padri, die sich täglich
bettelnde Leute anhören, die sich um die Bauleitung neuer Schulen kümmern und
jeden Abend einen Gottesdienst halten.
Wie der italienische Name schon verrät, sind die Padri Redentoristi eine italienische,
katholische Kongregation. Sie haben in Süditalien und in Madagaskar je zwei
Häuser. In Madagaskar eine Mission in Tana und eine in Vohemar, einer kleinen
Stadt an der Nordostküste.
In Tana unterhalten sie ein Ambulatorium und mehrere Primarschulen und Kirchen.
Ausserdem haben sie ein grosses Seminar für madagassische Theologiestudenten und
seit neuster Zeit auch einen Konvent mit madagassischen Schwestern. Sie sind Teil
des grossen katholischen Netzwerks, das Madagaskar überspannt. Die Mission steht
auf einem grossen Gelände in einem Aussenquartier Tanas, und besteht aus zwei
stattlichen Häusern, einem Blumen- und Gemüsegarten, einem Hühnerstall und
einem Basketballfeld. Etwa 30 mada-
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gassisehe Theologiestudenten, ein französischer Theologe, vier italienische Pater
und während einer gewissen Zeit auch ich, haben dort gewohnt.
In Vohemar haben sie ein kleineres Haus und unterhalten verschiedene Kirchen,
Schulen und ein Ambulatorium. Ein italienischer und zwei madagassische Pater sind
dort stationiert. Das Ambulatorium wird von einer italienischen Schwester geführt.
Wahrscheinlich könnt Ihr euch vorstellen, dass ich mich als einzige Frau unter so
vielen Männern sehr zurückhaltend benehmen und mich den Regeln genau anpassen
musste. Ich habe in dieser Zeit die Kirche häufiger besucht, als jemals zuvor in
meinem Leben! Ich versuchte, einige madagassische Kirchenlieder zu lernen, und
kam so in Kontakt mit den madagassischen Kirchgängern. Mit den
Theologiestudenten stand ich in regem Austausch: Sie wollten Englisch und Deutsch
lernen und mich über Europa ausfragen, und ich war daran interessiert,
Madagassisch zu lernen und mit ihnen über Gott und die Welt zu diskutieren. Zu
viel Zeit durfte ich aber nicht mit ihnen verbringen, denn der "Padre Superiore" war
sehr misstrauisch und erlaubte uns keine allzu langen Gespräche.
Das Ambulatorium der Mission ist immer nur Samstags geöffnet. Die Belegschaft
besteht aus zwei Ärzten, einem Zahnarzt und zwei Helferinnen. Die Patienten sind
meist sehr arm und werden umsonst behandelt. Sie warten jeweils schon früh
morgens auf die Türöffnung und sind oft erst am Nachmittag mit der Konsultation
an der Reihe. Den einen Arzt können die Patienten nicht
leiden, so arbeitet er nicht als
eigentlicher Arzt sondern ist für die
Auswahl der Medikamente zuständig.
Der Zahnarzt ist recht gut ausgerüstet
und
hat
viele
Patienten
von
langandauernden Schmerzen befreit.
Zahnschmerzen sind in Madagaskar
sehr häufig. Wegen Geldmangels
gehen viele erst bei unerträglichen
Schmerzen zum Zahnarzt. Manche
gehen überhaupt nie. Man sieht wenige
Madagassen mit einem einigermassen
intakten
Gebiss.
Als
ich
das
Medikamentenlager zum ersten Mal
sah, konnte ich meinen Augen kaum
trauen:
Haufenweise
verstaubte
Medikamentenschachteln in einem
wilden Durcheinander.
Medikamentenlager in Tana
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Leider waren wenige wichtige Medikamente darunter (Schmerzmittel, Antibiotika,
Antimykotika ... ), der grösste Teil war nutzlos (z.B. teure ACE-Hemmer
(=Blutdruckmedikament)) oder bereits seit vielen Jahren abgelaufen. Die einfachsten
Medikamente waren in diesem Chaos nicht zu finden. In meinem europäischen
Verbesserungsidealismus war ich davon überzeugt, dass dieses Lager unbedingt
aufgeräumt werden musste. So habe ich den grössten Teil meiner Samstage
zusammen mit dem unbeliebten Arzt die Medikamente aussortiert. Irgendwann war
alles geordnet und es sah recht gut aus ... , zwei Monate später war alles wieder beim
Alten. Dies ist eines der vielen Beispiele dafür, dass europäische
Verbesserungsvorschläge in vielen anderen Ländern zu nichts taugen. Nur wenn die
Lokalbevölkerung auch eine Änderung will und sie selber herbeiführt, wird sie
längerfristig Bestand haben.
SUORE IN TANA
Wenn man Kontakte zu einer italienischen Mission hat, lernt man schnell noch
weitere Missionen kennen. Die "Suore del Sacro Cuore" haben in einem anderen
Stadtteil Tanas ihre Mission mit einer italienischen Oberschwester und etwa 25
madagassischen Schwestern. Diese Mission dient zur Ausbildung der jungen
Madagassinnen. Nach Abschluss der Ausbildung werden die jungen Schwestern
häufig noch für eine gewisse Zeit nach Italien oder in andere Landesteile
Madagaskars geschickt.
Im Konversationsunterricht (mit Gästen aus der Schweiz)
14
!"
Die "Madre Superiore" hat mich bei unserem ersten Treffen gebeten, ihren
Novizinnen Konversationsstunden in Französisch zu geben. Diese Anfrage
erstaunte mich umso mehr, als es um mein Französisch nicht zum Besten stand.
Trotzdem wollte ich den Versuch wagen. So verbrachte ich einen Nachmittag pro
Woche bei den Suore. Ich wurde mit einem italienischen Espresso empfangen und
unterrichtete dann 10 bis 20 Novizinnen. Beide Seiten mussten sich erst aneinander
gewöhnen: Eine so unkonventionelle Lehrerin, die das Gebet zu Beginn der
Schulstunde vergass, seltsame Sprachspiele erfand, Unmögliches verlangte und
selber fehlerhaft Französisch sprach, war ihnen noch nie untergekommen. Ich, auf
der anderen Seite, war es nicht gewohnt, dass man meine Spiele, meinen
interaktiver Unterricht nicht verstand. Es brauchte Kompromisse auf beiden Seiten.
Wir gewöhnten uns aber mit der Zeit aneinander und verbrachten unzählige
unterhaltsame, für beide Seiten sehr lehrreiche und lustige Stunden. Wir
diskutierten viel über Madagaskar, Europa, unsere Herkunft, unsere Familien und
über Politik. Ich erlebte die jungen Schwestern als weltoffen und gut informiert,
sogar über Bill Clinton und Monica wussten sie Bescheid ...
SUORE IN SAMBAVA
Suore in Sambava
Während zwei Tagen konnte ich zusammen mit Miary, einer madagassischen
Medizinstudentin, eine wundervolle italienische Mission in einer Küstenstadt
besuchen. Es ist eine sehr kleine italienische Mission, mit zwei italienischen und
einer madagassischen Schwester. Sie haben ein Ambulatorium für Leprakranke
aufgebaut, wo sie während 4 Tagen pro Woche Leprakranke betreuen.
Während den restlichen 3 Tagen pflegen sie Kranke in einem entlegenen
Leprosarium. Diese Orte dienten früher der Isolation Leprakranker, heute ist man
von Isolation abgekommen, viele Leprakranke sind aber dort geblieben.
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Leprapatient mitr Fingerkontrakturen
Lepra wird durch eine Infektion mit Bakterien verursacht, ist jedoch nur wenig
ansteckend. Die Krankheit manifestiert sich an Haut und Nerven, wobei es v.a.
durch den Gefühlsverlust zu vielen schlecht heilenden Wunden an Händen und
Füssen kommt. Die Gliedrnassen faulen ab und müssen amputiert werden. Die
Krankheit kann mit einer konsequenten, kombinierten Antibiotikatherapie behandelt
werden. Die Medikamente werden vom Staat gratis abgegeben. Trotzdem bleiben
viele Erkrankte untherapiert und werden invalid. Unwissenheit über die
Ernsthaftigkeit der Erkrankung, Schamgefühle und die Notwendigkeit, soviele
Tabletten zu schlucken, mögen zu den Gründen dafür zählen.
Die Suore diagnostizieren die Neuerkrankungen, geben den Erkrankten die tägliche
Medikamentenration ab, motivieren und unterstützen die und helfen bei der Pflege
der Wunden.
DISPENSAIRE AMBOHIPO
Den grössten Teil meiner Arbeitszeit habe ich im Dispensaire in Ambohipo, einem
Aussenquartier Tanas, verbracht. Das Dispensaire ist ein "Centre medical de base"
des Staates, übertragen auf unsere Verhältnisse entspricht es etwa einer HMOPraxis. In diesem Ambulatorium wird die Bevölkerung einiger
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Quartiere Tanas allgemeinärztlich, gynäkologisch, geburtshilflich und pädiatrisch
betreut.
INFRASTRUKTUR
Stellt euch nicht eine hochmoderne Infrastruktur, sondern allereinfachste Verhältnisse vor. Das Ambulatorium ist in einem zweistöckigen Betonbau untergebracht: Im Parterre hat es einen Warteraum, eine Toilette und Lavabos mit
fliessendem Wasser (welch grosses Glück, in Tana keine Selbstverständlichkeit!),
fünf vollgestopfte Räume (Kühlschränke, Sterilisation, Tische, Stühle, Schränke und
zwei Liegen) und separat noch Räumlichkeiten der neu gebauten Maternite (die
habe ich erst im Bauzustand gesehen).
Die Untersuchungen müssen hauptsächlich klinisch durchgeführt werden.
Ein Labor fehlt. Einzig an einem Tag der
Woche
werden
Blutproben
von
Schwangeren entnommen, von einem
"Interne"
(Medizinstudent
im
7.5tudienjahr) auf dem Fahrrad ins
Institut de Pasteur gebracht und dort auf
Lues untersucht. Leider herrscht ein
chronischer Spritzenmangel. An den
einmaligen Gebrauch der Einmalspritzen
ist überhaupt nicht zu denken. Die
Nadeln und Spritzen werden so lange
aufsterilisiert, bis die Nadelspitzen so
krumm und unscharf sind, dass man sie
nur noch mit Gewalt durch die Haut
stechen kann. Die Sterilisation erfolgt in
einem speziell für Spritzen geeigneten
Dampfkochtopf auf einer unglaublichen,
manchmal
Funken
sprühenden
Kochplatte. Des weiteren gibt es zwei
Blutdruckmessgeräte, zwei Waagen,
einen Zentimeter und ein Fetoskop (eine
Art Plastiktrichter, mit dem man die
Herztöne des Feten hören kann). Ein
Stethoskop bringt jeder selbst mit.
Apotheke im Dispensaire in Ambohipo
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ARBEITSALLTAG
An einem durchschnittlichen Tag arbeiten morgens etwa zwei bis drei Ärztinnen, ein
bis zwei Internes, zwei Medizinstudenten, zwei Sekretärinnen, zwei Hebammen und
eine Hilfsschwester. Am Nachmittag reduziert sich das Personal auf eine Ärztin und
eine Hilfsschwester. Im Vergleich zur Schweiz hat es in Madagaskar sehr wenig
Pflege- und Hilfspflegepersonal. Diese Arbeiten werden von den Angehörigen und
den Ärzten übernommen. Meine Mithilfe im Arbeitsalltag war willkommen,
besonders am Nachmittag. Meine Arbeit war gleich wie diejenige der Internes und
Medizinstudenten: Administration, Statistiken nachführen, Kinder wägen und
impfen, Schwangere betreuen, Blutentnahmen, Medikamente sortieren und abgeben,
Wundpflege etc. Den Ärztinnen durften wir selbstverständlich bei den
allgemeinärztlichen Konsultationen über die Schulter schauen. Leider stand mir die
sprachliche Barriere gelegentlich im Weg, denn viele Patientinnen sprachen kein
Französisch und mein Madagassisch beschränkte sich auf wenige einfache Worte
wie: Bauch, Schmerz, Kop( Hallo, Auf Wiedersehen, Wie gehts etc.
Docteur fosette bei der Herausgabe von Medikamenten
Auch in diesem Ambulatiorium warten die Patientinnen (Männer kamen nur sehr
selten) mit ihren Kindern bereits frühmorgens im Wartesaal auf die Konsultation.
Ihre kleinen "Krankheitsbüchlein" (wie eine Krankengeschichte) legen sie auf einen
Stapet und in dieser Reihenfolge erfolgen dann auch die
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Konsultationen. Meistens müssen sie mehrere Stunden warten. Wenn dann etwa um
9 Uhr das Personal kommt, muss zuerst aufgeräumt werden. Alle Utensilien werden
bereitgelegt, wenn etwas fehlt, z.B. ein Kugelschreiber (das ist kein Witz!), dann
muss noch schnell auf dem Markt eingekauft werden. Irgendwann später stellt sich
ein Interne vor den versammelten Patientinnen auf und hält einen kleinen Vortrag
über ein gesundheitliches Problem (z.B. HIV, Durchfallserkrankungen bei Kindern,
Benutzung eines Kondoms ... ). Diese Vorträge sind vom Staat angeordnet. Die
Frauen hören mehr oder weniger aufmerksam zu, Fragen stellen sie praktisch nie.
Dann geht es endlich mit den Konsultationen los. Je nach Wochentag finden
Kinderimpfungen oder Schwangerschaftsuntersuchungen parallel neben den
allgemeinärztlichen Untersuchungen statt. Der Impfungsraum ist jeweils bis zum
letzten Stuhl besetzt. Die Mütter streifen ihren Kindern schnell die Kleider hinunter,
ein Blick ins Krankheitsbüchlein gibt einem Auskunft über anstehende Impfungen,
diese werden aufgezogen und gespritzt. Besonders zimperlich wird nicht vorgegangen. Der Impfplan unterscheidet sich von unserem nur darin, dass in Madagaskar
noch gegen Tuberkulose geimpft wird. Etwa um 12.30 Uhr kann man die
Buchhaltungsergebnisse mit der Kasse vergleichen. Meistens gibt es eine Differenz,
die man in minutiöser Detektivarbeit in den Büchern klären muss. Am Nachmittag
geht es zwischen 14 und 15 Uhr mit allgemeinärztlichen Konsulationen weiter. Das
ist dann regelrecht erholsam. Um 17 Uhr ist Feierabend. Ich machte mich dann
jeweils per Kleinbus oder auch zu Fuss auf den Nachhauseweg. Die Leute konnten
sich bis ans Ende meines Aufenthaltes nicht an den Anblick einer weissen, jungen
Fussgängerin gewöhnen!
Nun fragt Ihr Euch vielleicht, welche Krankheiten im Dispensaire am häufigsten
vorkommen:
14-33% Malaria (saisonabhängig)
8-29% Krankheiten des Respirationstraktes 410% Durchfall
0.9-3.8% sexuell übertragbare Krankheiten
Die Patienten müssen die Konsultation und die Medikamente bezahlen (Preisangaben für jeweils 1 Tablette/ Injektion):
Konsultation
Temperatur-Messen
Amoxicillin (Antibiotikum) 500 mg
Chloroquine (Malariamedikament) 100 mg
Penicillin-Spritze 5 Mio
Nystatin Salbe
Paracetamol 500 mg
15Rp
2Rp
10Rp
1Rp
60Rp
140Rp
0.7Rp
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Auch wenn diese Preise sehr niedrig erscheinen, haben viele Leute trotzdem nicht
genügend Geld dabei. Es werden aber keine Ausnahmen gemacht: Wer nicht bezahlt,
erhält seine Medikamente nicht. Irgendwie schaffen es dann doch alle. Es findet sich
immer jemand aus der Bekannt- und Verwandtschaft, der etwas Geld ausleihen kann.
Ich, beim Abfüllen von Nasentropfen
MATERNITE
Wie ich vorher bereits erwähnt habe, war während meines Aufenthaltes eine
Maternite im Bau, ausgestattet mit zwei Gebärzimmer und einer Nasszelle. Zur
grossen Einweihung sollte natürlich ein Fest stattfinden, zu dem dann auch der
Besuch der Gesundheitsministerin erwartet wurde. Aber woher sollte das Quartier
Geld für ein Fest nehmen? Das ist doch keine Frage, mit einem "VorEinweihungsfest"! Mit den Vorbereitungen waren wir während einer ganzen Woche
beschäftigt: Es wurde aus praktisch nichts etwas gebastelt, das dann am Fest
verkauft werden sollte. Die Padri zeigten sich etwas knausrig und spendeten nur
einige leere Weinflaschen, die man verkaufen konnte. Das Fest übertraff meine
wildesten Erwartungen: Unzählige Kindergruppen in liebevollen Kostümen, aber
auch Erwachsene hielten Darbietungen mit Tanz und Gesang ab. Aus krachenden
Lautsprechern tönte Musik, manchmal unterbrochen von der Musik einer kleinen
Live-Band. Viel zu viele und zu lange Reden wurden gehalten, Esswaren, unsere
Bastelarbeiten und die leeren
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Flaschen wurden verkauft und einiges wurde auch versteigert. Ich weiss nicht wie
gross der Erlös am Ende des Tages war, aber alle waren zufrieden!
/IV or-Einweihungsfest/l der Maternde
BEFELATANANA
Während zwei Wochen habe ich immer morgens auf der Lungenabteilung des
Universitätsspitals "Befelatanana" in Tana gearbeitet. So konnte ich mir einen
Einblick verschaffen, wie sich die Arbeit im Spital von derjenigen im Ambulatorium
unterscheidet. Eigentlich wollte ich nicht unbedingt ein Praktikum in einem grossen
Spital machen, sondern eher Erfahrungen in Basismedizin sammeln. Docteur Josette
konnte dieses Anliegen aber nicht recht verstehen, und so fand ich mich plötzlich im
Spital vor einem ihrer ehemaligen Arbeitskollegen wieder. Als ich nicht
augenblicklich mit der Arbeit beginnen wollte, war er fast ein wenig enttäuscht.
Ohne jegliche Formalitäten wurde mein Arbeitsbeginn auf nachfolgende Woche
festgelegt.
KLINISCHE FÄHIGKEITEN AUS DER SCHWEIZ
Das zu Beginn mulmige Gefühl beim Betreten des Spitals verschwand sehr schnell.
Ich war nicht die einzige Studentin, wenn auch die einzige Ausländerin. Ich war
pausenlos von neugierigen Studenten umringt, die mir Fragen
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zum Studium in der Schweiz stellten. Bald fühlte ich mich weniger fremd. In einem
von Studenten organisierten EKG-Kurs (da konnte ich mit meiner Ausbildung in der
Schweiz brillieren!) lernte ich sogar den madagassischen Studentenalltag ein wenig
kennen. Mit meiner Brillianz hatte es am Krankenbett ein jähes Ende: Meine
klinischen Fähigkeiten waren im Vergleich zu den madagassischen Studenten eher
kümmerlich. Ich wollte mich auf Laborwerte und Röntgenbilder stützen, stattdessen
drückte man mir auf der Visite einen Topf mit Sputum in die Hand, das ich genau
analysieren sollte (Nein, nicht nur die Farbe! Auch die Konsistenz, Bläschen und
viele weitere Eigenschaften, von denen ich noch nie gehört hatte ... ). Der Oberarzt
war sehr interessiert an meinem Wissen und fragte mich dauern in einem für mich
unverständlichen Französisch aus. Wahrscheinlich habe ich auch bei ihm nicht
besonders brilliert.
TUBERKULOSE
Meine Haupttätigkeit war die Betreuung der ambulanten Tuberkulosepatienten.
Wird bei einem Patienten Tuberkulose festgestellt, erhält er gratis eine antibiotische
Behandlung. Weil die Gefahr der Resistenzentwicklung auch bei Dreierkombination
von Antibiotika gross und zudem die Compliance extrem schlecht ist, müssen die
Tabletten in den ersten Monaten der Behandlung täglich unter Aufsicht
eingenommen werden. Die Patienten müssen also jeden Tag vorbeikommen. Meine
Hauptaufgabe war die Betreuung dieser ambulanten Patienten. Die richtige
Karteikarte muss herausgesucht werden (was einfacher tönt als es ist ... ), der Patient
über sein Befinden befragt und manchmal gewogen werden. Gelegentlich sind auch
Sputumkontrollen, Röntgenbilder und Auskultation notwendig. Danach werden die
Tabletten fein säuberlich abgezählt und der Patient nimmt seine Ration ein. Es hat
nur ein einzelnes, kleines, schmutziges Glas, das allen Patienten zur Verfügung
steht. Wer ein sauberes Glas wilt muss es selber abwaschen gehen. Weil es für die
Patienten mühsam ist, jeden Tag in den Spital zu kommen, versuchen sie, mehrere
Tagesrationen zu erhalten. Obwohl die Regelung strikt ist und keine Ausnahmen
erlaubt, werden immer wieder einige Patienten bevorzugt und erhalten Wochenoder Monatsrationen. Einge Ärzte halten sich überhaupt nie an die
Abgabevorschriften, was zu vielen Misstimmigkeiten mit den Patienten aber auch
zwischen dem Personal führt. Einige bedauernswerte Patienten brauchen neben
Tabletten täglich eine intramuskuläre Injektion eines Antibiotikums. Leider steht es
um die Spritzen- und Nadelsterilisation sehr schlecht: Die Nadeln liegen in einem
Metallgefäss tagelang im Wasser und weil eine Pinzette fehlt muss man mit den
Händen direkt ins Wasser greifen. Da ist es ratsam aufzupassen, dass man sich nicht
verletzt. Die Patienten setzen sich im "Allzweckraum" (Stationszimmer,
Studentenaufenthalt, Sterilisation) auf den einzigen Stuht wo sie ihre Injektion
erhalten. Diese ist nicht nur wegen der
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stumpfen Nadeln, sondern auch wegen des Medikamentes sehr schmerzhaft. Ein
Patient hat mir einmal eine Streichholzschachtel in die Hand gedrückt. Als ich sie
öffnete, kam ein winziger Wattebausch zum Vorschein: Ich sollte diesen zur
Desinfektion benutzen. Zuerst musste ich Alkohol suchen gehen, denn weil es nie
Watte hatte, machte man normalerweise auch keine Desinfektion. Die Madagassen
beherrschen eine eigentümliche, aber sehr effiziente und wenig schmerzhafte
intramuskuläre Injektionstechnik: Nach zwei, drei schnellen Klopfbewegungen auf
das Gesäss wird die Nadel mit Schwung eingestochen. Obwohl ich diese Technik an
meiner Matratze geübt habe, wurde ich nie besonders geschickt darin.
VISITE
Jeden Morgen findet eine Visite mit dem Oberarzt und einigen Studenten statt.
Schwestern hat es in Befelatanana praktisch keine. Auf einem alten Metallkarren
werden die Krankengeschichten von Türe zu Türe gerollt (das war direkt
"heimelig"!), die Patienten werden begutachtet, es wird auskultiert, diskutiert und
ausgefragt, fast wie bei uns. Es gibt aber doch einige Unterschiede zu unseren
Spitälern: Die Patienten im Spital sind meist extrem schwer krank, wenn nicht sogar
moribund (vorher geht niemand ins Spital!), die Zimmer sind extrem schmutzig (es
hat kein Putzpersonal), das Bettzeug muss selbst mitgebracht werden, unter den
Betten stehen unbedeckte Bettschüsseln und die vielen Fliegen geniessen die
angebrochenen Esswaren. Bitte entschuldigt meine unschöne Schilderung, aber es
war leider wirklich so. Ich war zutiefst schockiert und war zu meinem Beschämen
um meine Rücktransportgarantie durch die Rega froh. In einem solchen Spital will
niemand auch nur einen halben Tag liegen.
Ich habe mich oft gefragt, wie es zu solchen Zuständen kommen konnte. Bis heute
weiss ich keine Antwort. Wahrscheinlich tragen viele einzelne Faktoren zu diesem
grossen Übel bei: Niemand fühlt sich für den Zustand des Spitals verantwortlich, die
meisten haben resigniert. Viele arbeiten nur noch zum eigenen Vorteil. Wenn
Hilfspakete aus dem Ausland kommen, ist innert kürzester Zeit alles verschwunden.
Es hat keine Schwestern und kein Putzpersonal. Viele kommen gar nicht erst zur
Arbeit, so unser Abteilungschef, der als Regierungsbeamter überhaupt nie die Zeit
fand, jemals das Spital zu betreten. Befelatanana ist ein berüchtigtes Spital, aber
gemäss Erzählungen seien die anderen auch nicht viel besser.
Trotz allem, den Abschied von Befelatanana werde ich nie vergessen. Weil auch die
anderen Studenten ihr Praktikum beendet hatten, kauften wir für die Abteilung zwei
kleine Geschenke: Ein Stempelkissen und ein Fieberthermometer, zwei dringend
benötigte Gegenstände.
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RÜCKBLICK
Madagaskar ist ein Land mit vielen Problemen. Wenn man mit den Madagassen
darüber spricht, wirken sie resigniert und niedergeschlagen. Nur noch wir
Ausländer könnten sie retten. Solche Gespräche haben mich immer sehr traurig
gestimmt.
Dann gab es aber auch Momente, wo grosse Lebensfreude und Stolz auf ihr
reichhaltiges kulturelles Erbe zum Vorschein kam.
Ich wünsche mir, dass diese positive Lebenseinstellung in Madagaskar (wie auch
bei uns) Oberhand nimmt.
Vielen Dank für dein Interesse und viel Vergnügen bei deinen Praktika in der
Schweiz oder auch im Ausland.
Esther Iseli
Segelpiroge auf einer kleinen Insel im Norden des Landes.
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