Deutschland? - Heinz-Kühn

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Deutschland? - Heinz-Kühn
Heinz-Kühn-Stiftung
14. Jahrbuch
Mit der
Heinz-Kühn-Stiftung
unterwegs …
Vorwort
Grußwort des Ministerpräsidenten
für das 14. Jahrbuch
Seit fast zwanzig Jahren ist es gute Tradition,
dass junge Journalistinnen und Journalisten,
die mit einem Heinz-Kühn-Stipendium die Welt
entdeckt haben, ihre Erfahrungen und Erlebnisse im Jahrbuch unserer Stiftung veröffentlichen. Gleichzeitig berichten unsere ausländischen Stipendiatinnen und Stipendiaten über
ihre Eindrücke, die sie während ihres Aufenthaltes bei uns in Nordrhein-Westfalen gewonnen
haben. Ich freue mich, dass ich Ihnen nun das
14. Jahrbuch der Heinz-Kühn-Stiftung vorstellen kann.
Wie immer ist es ein buntes Kompendium, das von vielen Teilen unserer Welt
berichtet: „Wie geht es weiter auf Madagaskar?“ oder „Wie ist die Situation in
Chile ein Jahrzehnt nach dem Ende der Pinochet-Diktatur? “Wer weiß schon
Genaueres über ein kleines afrikanisches Land namens Malawi, das sich in
Demokratie übt?“ Schöne Welt für kleine Fluchten – Kino in Kuba oder Indien und
harte Realität – Kinderarbeit in Nepal.... Facetten unserer Welt, die wir durch das
Fernsehen zu kennen glauben, und die, so berichten es die Erfahrungen dieses
Buches, dann doch wieder ganz vielschichtig und eben nicht nur „heil“ sind, wie
es uns zuweilen die Reiseprospekte versprechen. Mit der realen Welt vertraut
werden – darum bemühen sich die Berichte dieses Bandes.
Als ich im Juni an einem Brunch der Heinz-Kühn-Stiftung teilnahm, ist mir in den
Gesprächen mit Stipendiatinnen und Stipendiaten noch einmal bewusst geworden,
welche Chancen sich jungen Leuten, die ja noch am Anfang ihrer journalistischen
Karriere stehen, mit solchen Reisen bieten: Einmal ohne Zeit- und Abgabedruck
nach eigenen Ideen zu einem selbstgewählten Thema in einem Land der eigenen
Wahl recherchieren und schreiben zu können, das sind im journalistischen Alltag
heutzutage schon außergewöhnliche Arbeitsbedingungen.
Wie gut die jungen Journalistinnen und Journalisten die seltene Freiheit genutzt
und diese Aufgabe bewältigt haben, das ist in diesem Jahrbuch zu lesen.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern viel Freude mit dieser abwechslungsreichen und vielfach auch lehrreichen Lektüre, die Sie auf alle Erdteile blicken
lässt und die bei so manchem von uns gewiss auch ein wenig Sehnsucht nach
neuen Eindrücken und Einblicken aufkommen lassen wird.
Wolfgang Clement
Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen
Vorsitzender des Kuratoriums der Heinz-Kühn-Stiftung
Inhaltsübersicht
Erfahrungsberichte
der Heinz-Kühn-Stipendiaten
Abdoulaye Mamadou Bâ aus Mauretanien
Deutschland vom 4. Juli bis 18. Dezember 1999
Catherine Banda Sikombe aus Sambia
Deutschland vom 31. August 1999 bis 17. Februar 2000
Annegret Böhme aus Deutschland
Costa Rica vom 19. September. bis 21. Dezember 1999
Antje Deistler aus Deutschland
Sambia vom 27. Juli bis 07. September 1999
Kerstin Eva Dreher aus Deutschland
Botswana vom 21. Januar bis 21. April 2000
Victoria Eglau aus Deutschland
Chile vom 06.Oktober 1999 bis 06. Januar 2000
Susanne Freitag aus Deutschland
Senegal vom 30 April bis 27. Juli 1998
Chris Hulin aus Deutschland
Nepal vom 09. März bis 09. Juni 2000
Nele Husmann aus New York
Kuba vom 01. November 1999 bis 31. Januar 2000
Marianela J. Mendez aus Costa Rica
Deutschland vom 04. Juli bis 18. Dezember 1999
Mahamadou Koné aus Mali
Deutschland vom 31. August 1999 bis 17. Februar 2000
Markus Mörchen aus Deutschland
Namibia vom 05. Juli bis 04. Oktober 1999
Julia Morgenthaler aus Deutschland
Ghana vom 30. Juni bis 28. September 1999
Natalja Mukasejewna aus Usbekistan
Deutschland vom 09. Juli bis 4. November 1999
Ilija Nikolowski aus Makedonien
Deutschland vom 31. August 1999 bis 17. Februar 2000
Martin Roos aus Deutschland
Madagaskar vom 18. Oktober 1999 bis 15. Januar 2000
Claudia Ruby aus Deutschland
Madagaskar vom 13. März bis 26 April 2000
Almuth Schellpeper aus Deutschland
Malawi vom 12 Juni bis 11. September 1999
Katinka Schröder aus Deutschland
Malawi vom 10. Juli bis 10. Oktober 1999
Jan Tengeler aus Deutschland
Israel vom 12. Juli bis 25. August 1999
Valentin Thurn aus Deutschland
Mexico vom 02. April bis 02. November 1999
Sandra Weiss aus Deutschland
El Salvador vom 1. August bis 2. November 1999
Nicole Wildberger aus Deutschland
Indien vom 01. April bis 30. Juni 2000
Abdoulaye Mamadou Bâ
aus Nouakchott, Mauretanien
Stipendien-Aufenthalt in
Deutschland
vom 4. Juli bis 18. Dezember 1999
Deutschland
Deutschland, ein seltsames Land
Abdoulaye Mamadou Bâ aus Mauretanien
Deutschland, vom 05.07. bis 19.12.1999,
betreut von der Heinz-Kühn-Stiftung
Abdoulaye Mamadou Bâ
Deutschland
Abdoulaye Mamadou Bâ
Inhalt
Zur Person
Ankunft, Eingewöhnen und erste Beobachtungen in Deutschland
In einer deutschen Zeitung
Danke
13
Abdoulaye Mamadou Bâ
Deutschland
Zur Person
Mit ungewissem Geburtstag wurde ich im Jahre 1966 in Aleg, im Süden Mauretaniens geboren. Meine Eltern waren Fulani und Nomaden. Wir hatten
damals keinen festen Wohnsitz, deshalb konnten sie keine Geburtsurkunde für
mich bekommen.
Nach langer Dürre, von 1966 bis 1975 in der ganzen Sahelregion, siedelten meine Eltern sich in Aleg an. Endlich hatte ich eine Möglichkeit in die
Schule zu gehen. Ich verbrachte meine gesamte Schulzeit in Aleg. Danach
ging ich in die Haupstadt Nouakchott und studierte dort Jura.
Im Jahr 1988 arbeitete ich als Journalist und Übersetzer in der Regierungspresseagentur (Agence Mauritanienne d'Information, AMI). Gleichzeitig war ich auch als Redakteur bei der einzigen täglichen Zeitung in Mauretanien tätig. Sie erschien in zwei Versionen "Horizons" auf französich und
"Chaab" wurde auf arabisch. Diese Organe spielten für Journalisten eine
große Rolle. Nur dort konnten Journalisten ein Ausbildung erhalten, weil es
keine Fachschule für Journalisten in Mauretanien gab.
Im Jahre 1991 wurde die Presse von der Kontrolle der Regierung befreit.
Viele Zeitungsorgane wurden eingerichtet. Deswegen verließ ich die Regierungspresseagentur und nahm eine Anstellung bei der Privatpresse an. 1994
wurde ich als Presseassistent und Übersetzer bei der Deutschen Botschaft
angestellt.
Von der Heinz-Kühn-Stiftung bekam ich im Jahr 1999 ein Stipendium. Von
Juli bis Dezember konnte ich einen viermonatigen Sprachkurs am GoetheInstitut Iserlohn besuchen und ein Praktikum beim General-Anzeiger in
Bonn machen.
Ankunft, Eingewöhnen und erste Beobachtungen in Deutschland
Am 5. Juli kam ich in Düsseldorf an und wurde von Frau Op de Hipt am Flughafen abgeholt. Ich war überrascht darüber, dass sie Deutsch mit mir sprach. Ich
versuchte sie zu verstehen. Aber es war so schwer für mich, dass ich kaum etwas
verstand. Gleichzeitig kamen auch andere Stipendiaten an. Es waren Marianela
Jímenez Mendez aus Costa-Rica und Yeshitla Kokeb aus Äthiopien. Sie hatten
die Goethe-Institute in ihrer Heimat besucht und sprachen schon gut deutsch!
Eineinhalb Stunden später kamen wir zum Goethe-Institut in Iserlohn. Nach
einem Aufnahmetest sagte mir der Leiter des Instituts, dass mein Test gut sei und ich
auf Grundstufe 2 Deutsch lernen müsse. Ich hatte keine Ahnung von Grundstufe 2.
In meiner Klasse hatten wir noch 10 Kursteilnehmer aus der ganzen Welt, wie USA,
Israel, Türkei, Schweden, Italien, Schweiz, Spanien, Großbritanien, usw.
Deutschland
Abdoulaye Mamadou Bâ
Wenn ich mich vorstellte, wurde mir immer die Frage gestellt, wo Mauretanien
denn liege? Ich antwortete immer ganz kurz und einfach, dass Mauretanien
zwischen Marocco und dem Senegal liegt.
Im Unterricht war es anstrengend für mich, weil ich kaum einen kompletten Satz auf Deutsch sprechen konnte. Es war klar, dass andere Klassenkameraden Deutsch schon länger als ich gelernt hatten. Deswegen konnte
ich nicht nachlässig sein, sondern besonders fleißig. Ich scheute keine Mühe,
um mein Deutsch zu verbessern. Meine Lehrerin ermunterte mich zum Lernen. Frühzeitig entdeckte sie meine Schwierigkeiten und kümmerte sich
immer um mich. Sie half mir ziemlich viel, mit Deutsch gut umzugehen.
Es war mir verboten, meine Muttersprache im Institut zu benutzen. Doch
unterhielt ich mich manchmal auf Französisch oder Arabisch mit Afrikanern,
die mein Deutsch nicht gut verstehen konnten. Eines Tages rief Frau Op de
Hipt mich an und sagte mir mit erhobener Stimme, dass ich nach Mauretanien zurückgeschickt würde, falls ich weiterhin mit anderen Leuten nicht
Deutsch spräche!
Mein Zimmer im Wohnheim auf der Baarstraße überraschte mich auch. Es
war so klein, als ob ich im Gefängnis wäre. Das Wohnheim liegt an einer verkehrsreichen Straße, deshalb konnte ich kaum einschlafen. Es gab keine
andere Möglichkeit für mich, als entweder in der Mediothek oder in der
Stadtbücherei zu arbeiten.
Die Temperatur in Deutschland war mir unangenehm, weil es fast jeden
Tag im Sommer regnete und im Herbst war es mir unerhört kalt. Mit dem
unbeständigen Wetter zurechtzukommen, fällt einem Afrikaner ungeheuer
schwer. Während der ersten drei Wochen in Iserlohn holte ich mir eine
Erkältung. Meine Lehrerin, Frau Barbara Frankenberg, gab mir ein Geheimrezept. Unglaublich, aber es klappte wirklich, außer, dass ich so viele Kleider anziehen musste, als wenn ich in Sibierien gewesen wäre!
Am Goethe-Institut Iserlohn erschien mir alles interessant. Mit zwei netten und offenen Zivildienstleistenden machte es mir großen Spaß, an einem
Freizeitprogramm teilzunehmen. Durch die Reisen nach Amsterdam, Paris,
Oberhausen, Bonn, Köln, Berlin, Potsdam, Weimar, Erfurt, Dortmund, Düsseldorf und Hamburg konnte ich Deutschland und deutsche Charaktereigenschaften besser kennenlernen. Auf der Reise nach Hamburg lernte ich
deutsche Genauigkeit von den Zivis. Nach dem Programm sollten wir eigentlich um 20 Uhr am Sonntag über Bremen nach Iserlohn zurückfahren. Wir
konnten es jedoch nicht schaffen, weil wir uns zwei Stunden lang auf der
Autobahn verfuhren. Es wäre besser gewesen, zurückzufahren, ohne Bremen
in der Nacht zu besichtigen. Die Zivis bestanden aber darauf, das Programm
genau auszuführen. Endlich um halb vier am anderen Morgen kamen wir zu
Hause an!
Abdoulaye Mamadou Bâ
Deutschland
Die Reeperbahn in Hamburg schockierte mich. Die Lokale sind bis zum
frühen Morgen geöffnet und die Leute arbeiten dort völlig frei, ohne Rücksicht auf die Polizei. In Mauretanien würden sie schon hinter schwedischen
Gardinen sitzen.
Bei meinem Aufenthalt in Deutschland lernte ich nicht nur Deutsch, sondern
auch Kochen! Am Anfang ging ich mit Yeshitla immer zu McDonald's oder in
einen Döner-Imbiss. In Mauretanien brauchen die Männer nicht zu kochen.
Wegen der hohen Ausgaben für das Essen entschloss mich ich, selbst zu kochen.
Ich war unerfahren im Kochen, infolgedessen hatte ich keine Ahnung, wie man
kochen konnte. Im September kam Mahamadou Koné aus Mali, der fünf Jahre
lang Student in Usbekistan war. Er konnte afrikanische Gerichte geschmacklich
verfeinern. Im Verlauf von 2 Wochen wurde ich dank ihm ein guter Koch. Jetzt
kann ich selbst Speisen für acht Personen zubereiten und Kochen macht mir Spaß!
Die Iserlohner waren nett und hilfsbereit. Allerdings gab es auch manche
gefühlskalten und konservativen Menschen. Mit dieser kleiner Stadt war
nicht viel los und sie langweilte mich manchmal. Das Gespräch mit einem
vierjährigen Mädchen auf der Straße blieb mir im Gedächtnis haften. Das
Mädchen fragte mich, ob ich Frau oder Mann sei. Das Geschlecht von Menschen mit anderer Hautfarbe zu unterscheiden fiel ihr schwer.
In Iserlohn lernte ich Leute aus der ganzen Welt kennen und ich sammelte
mehrere Erkenntnisse zu den verschiedenen Kulturen.
In einer deutschen Zeitung
Am 22. Oktober fuhr ich nach Bonn, das selbstverständlich größer als Iserlohn ist. Trotzdem, ich vermisste Iserlohn, wo ich Freunde gewonnen hatte. Am
26. Oktober fing mein Praktikum beim General-Anzeiger an. Beim ersten
Blick auf das Gebäude des General-Anzeiger konnte ich nicht glauben, dass ich
in dem prächtigen Gebäude mein Praktikum machen würde. In Mauretanien
wechselte der Zeitungsitz häufig, weil das Zeitungsbüro immer gemietet wurde.
Beim General-Anzeiger gehört jeder Journalist zu einer bestimmten Redaktion.
Die Journalisten konnten sich im gemütlichen Arbeitsbüro am Computer mit
Fachgebietsartikeln beschäftigen. Am Schreibtisch war es möglich, Auskünfte
im Internet zu suchen. Datenbank und Computer erleichtern ihnen die Arbeit.
Wenn man die Web-Adresse des General-Anzeigers aufruft, kann man sogar die
aktuellen Nachrichten online lesen. Dagegen hetzten sich die Journalisten in
Mauretanien ab. Sie erkundigten sich über Nachrichten, aber erhielten meistens
einen Korb. Manchmal stellte es eine Gefahr dar, die Journalisten zu informieren. Wenn die Nachrichten in der Zeitung erschienen, konnte der Auskunftgeber in Gefahr geraten, denn die Pressefreiheit war noch beschränkt.
Deutschland
Abdoulaye Mamadou Bâ
In Mauretanien hatte nicht jede Zeitung Computer. Manche Journalisten
mussten zuerst Artikel schreiben und dann gingen sie zum Computergeschäft.
Dort gab es Schreibmaschinen und ein Internetangebot. Mit einem Wort: Die
Journalisten in Mauretanien müssen schuften, sie sind nämlich immer unterwegs.
Meine erste Reportage beim General-Anzeiger ging um das Thema: “Was
haben Sie für die Umwelt getan?“ Ein Befragter zeigte uns seine Unterhose,
die eine Frauenunterhose war, und sagte, dass es der beste Stoff zum Umweltschutz sei. Wie bezieht sich das auf Umweltschutz? Ich verstand noch nicht!
Eine andere Reportage am 4. November hinterließ einen nachhaltigen Eindruck bei mir. Zum ersten Mal in meinem Leben machte ich ein Interview mit
einem Transsexuellen. Als Vater hatte Frau Kimberly Marx eine Familie mit
zwei Kindern. Sie war 49 Jahre alt und Pilot vom Beruf. Am 21. Juni 1999
wurde sie nach einer transsexuellen Operation eine echte Frau. Als Mensch
konnte ich ihre Motive verstehen. Aber sie/er würde in der Islamischen
Gesellschaft nicht einfach angenommen. Deswegen fragte ich sie, wie sie über
Gott denke. "Gott besteht aus Schönheit, Freiheit und Natur", erwiderte die
"Blonde Baroness". Manchmal sah ich ein Frachtflugzeug in der Luft fliegen.
Dann kam mir der Gedanke, dass der seltsamste Mensch in meinem Leben
darin sitzen könnte ...
Danke
In diesem wunderschönen Land erlebte ich viel Eindrucksvolles. Es war
wirklich schön, sich mit Leuten aus verschiedenen Hintergründen anzufreunden. Für diese Erinnerung danke ich der Heinz-Kühn-Stiftung, dem
Goethe-Institut Iserlohn, dem General-Anzeiger und Deutschland. Ich würde
gerne nach Iserlohn zurückgehen, wenn es nicht schneien würde.
Catherine Banda Sikombe
aus Sambia
Stipendien-Aufenthalt in
Deutschland
vom 31. August bis 17. Januar 2000
Deutschland
Catherine Banda Sikombe
Leben und Arbeiten in Deutschland
Catherine Banda Sikombe aus Sambia
Deutschland, vom 31.08.1999 bis 17.02.2000,
betreut von der Heinz-Kühn-Stiftung
Deutschland
Inhalt
Zur Person
Akademiker – heute ohne Zukunft?
Integration
Schichtarbeit in Deutschland
Vielen Dank
Catherine Banda Sikombe
Catherine Banda Sikombe
Deutschland
Zur Person
Catherine Banda Sikombe, Jahrgang 1975, studierte Journalismus am Evelyn Hone College in Lusaka, Sambia. Seit Oktober 1996 arbeitet sie als Redakteurin und Reporterin bei Radio Phoenix, einer privaten Radiostation in
Lusaka. Ihre Fachgebiete sind Umweltprobleme und Gesundheitspolitik. Im
Sommer 1999 absolvierte sie ein Praktikum bei Reuters in London. Während
ihres Aufenhaltes als Stipendiatin der Heinz-Kühn-Stiftung in Deutschland
hatte sie Gelegenheit, für zwei Monate in der Englisch-Afrika-Redaktion
der Deutschen Welle in Köln mitzuarbeiten.
Akademiker – heute ohne Zukunft?
Immer mehr Hochschulabsolventen finden nach dem Studium keine Arbeit in
Deutschland. In zehn Jahren, so schätzt das Arbeitsamt, wird es für 3,1 Millionen
Hochschulabsolventen nur 900.000 freie Stellen geben. Die Studenten wissen dies
natürlich und die meisten sehen ihre Zukunft nicht sehr optimistisch. Trotzdem studieren sie weiter. „Was soll ich sonst machen“, fragt die Kieler Germanistik-Studentin Karin Meyer, 22 Jahre alt. Ihr macht das Studium wenig Spaß, weil der Konkurrenzkampf um die späteren Arbeitsplätze heute schon in der Universität beginnt.
Für andere Studenten, wie Dieter Braun, 25 Jahre alt, ist das kein Problem. Dieter studiert Wirtschaftswissenschaft an der Universität Göttingen. „Auch an der
Universität muss man kämpfen. Man muss besser sein als die anderen, dann findet man schon eine Stelle“, meint er, Zukunftsangst kenne er nicht. „Ich werde nicht
arbeitslos. Ich schaffe es bestimmt“, ist er überzeugt.
Brigitte Brauker, 29 Jahre alt, hat es noch nicht geschafft. Sie hat an der Universität Köln Psychologie studiert. Obwohl sie ein gutes Examen abgelegt hat, ist
sie noch arbeitslos. „Ich habe schon über 30 Bewerbungen geschrieben, aber die
Antwort war immer negativ. Man sucht vor allem Menschen mit Berufserfahrung,
und die habe ich noch nicht“, berichtet sie von ihren Erfahrungen bei der Jobsuche. Obwohl sie schon 29 Jahre alt ist, wohnt sie immer noch bei ihren Eltern. Eine
eigene Wohnung ist ihr zu teuer. Vom Arbeitsamt bekommt sie kein Geld, weil sie
noch nie eine Stelle hatte. Aber das Arbeitsamt kann ihr auch keine Stelle anbieten.
Brigitte Brauker weiß nicht, was sie machen soll. Sie arbeitet zur Zeit 10 Stunden pro Wochen in einem Kindergarten. „Die Arbeit dort ist ganz interessant, aber
das ist nicht mein Traumjob. Wenn ich in zwei Monaten noch keine Stelle haben
sollte, dann gehe ich wahrscheinlich wieder zur Universität und schreibe meine
Doktorarbeit“, schildert sie ihre Zukunftspläne. Aber auch für Akademiker mit
einem Doktortitel ist die Stellensuche nicht viel einfacher.
Deutschland
Catherine Banda Sikombe
Integration
„Süden und Norden, Osten und Westen, das sind wunderschöne Seiten, die die
Welt hat. Wenn man eine Seite ausschließt und glaubt, seine eigene Seite sei die
schönere und bessere, dann verliert man so viel“.
Natascha Marosevac weiß, wovon sie spricht. Sie lebte früher in Bosnien, als
Kind aus einer gemischten Ehe. Ihre Eltern gehörten verschiedenen Nationalitäten an, und weil sie nicht die eine Nationalität gut und die andere schlecht finden wollte, blieb ihr nur die Flucht aus ihrer Heimat.
Mittlerweile wohnt sie seit 10 Jahren in Köln. Heute, nach einigen schwierigen Jahren, hat sie eine Arbeit gefunden, die ihr gefällt. Sie arbeitet bei der Schulbehörde als Beraterin und hilft bei Problemen, die bei der Integration von ausländischen Kindern in der Schule entstehen. Integration ist schwierig, nicht nur
in der Schule, aber auch dort. Denn oft kommen Missverständnisse und Intoleranz auch auf Seiten von Lehrern und Eltern vor. Dann ist es unheimlich schwer,
ein Gespräch zwischen den betroffenen Personen herzustellen. Am besten funktioniert Integration, wenn Kinder gemeinsam etwas tun, in der Schule oder in der
Freizeit.
Schichtarbeit in Deutschland
Viele Menschen in Deutschland machen Schichtarbeit. Ihre Arbeitszeit
wechselt ständig. Sie tun es, weil ihr Beruf es verlangt (wie bei Ärzten,
Krankenschwestern, Feuerwehrleuten und Polizisten), oder weil sie mehr
Geld verdienen wollen.
Schichtarbeiter und ihre Familien leben anders. Zum Beispiel Gabriele
Kaiser aus Köln. Sie ist 32 Jahre alt, verheiratet und hat einen 11 Jahre alten
Sohn und eine kleine Tochter von 2 Jahren. Sie arbeitet als Verkäuferin in
einem Bahnhofskiosk jeden Tag von 17 bis 24 Uhr. Seit drei Jahren macht sie
diesen Job. Ihr Mann Thomas, 35 Jahre alt, ist Facharbeiter und arbeitet seit
zehn Jahren in einer Fabrik für Autoreifen. Er arbeitet in der Frühschicht von
5 Uhr morgens bis 13.30 Uhr, oder in der Nachtschicht von 22 Uhr abends bis
6 Uhr morgens. Einen gemeinsamen Feierabend kennen die Eheleute nicht.
Wenn seine Frau arbeitet, hat er frei. Dann sorgt er für die Kinder und macht
das Abendessen.
„In der Woche sehen wir uns immer nur vormittags für ein paar Stunden. Da
bleibt wenig Zeit für Gespräche und für Freunde“, sagt Gabriele Kaiser. Sie muss
alle vier Wochenenden im Monat arbeiten. „Unsere Arbeit ist nicht gut für das
Familienleben, das wissen wir. Mein Mann schläft nicht sehr gut und ist oft ziemlich nervös“, berichtet sie weiter.
Catherine Banda Sikombe
Deutschland
Trotzdem wollen beide noch ein paar Jahre so weiter machen, denn als
Schichtarbeiter verdienen sie mehr. Und sie brauchen das Geld, weil sie sich ein
Reihenhaus gekauft haben. Die Familie Kaiser verdient gemeinsam 10.000 DM
brutto pro Monat. Außerdem bekommen beide noch ein 13. Monatsgehalt und
Thomas erhält auch noch Urlaubsgeld. Dafür können sie sich ein eigenes Haus,
ein Auto, schöne Möbel und eine kleine Urlaubsreise pro Jahr leisten. Aber sie
bezahlen dafür ihren privaten Preis: Weniger Zeit für Freunde und die Familie,
Nervosität und Schlafstörungen. Arbeitspsychologen und Mediziner kennen
diese Probleme und warnen deshalb vor langjähriger Schichtarbeit.
Vielen Dank
Ich bin der Heinz-Kühn-Stiftung sehr dankbar dafür, dass ich dieses Stipendium bekommen habe. Es war eine gute Erfahrung und ich habe sehr gut
deutsch gelernt am Goethe-Institut in Iserlohn. Deutschland gefällt mir sehr.
Danke schön dafür. Ich wünsche der Stiftung alles erdenklich Gute.
Vielen Dank an Frau Op de Hipt von der Heinz-Kühn-Stiftung. Was soll ich
sagen? Sie war immer für uns da, wie eine Mutter. Das hat mir sehr viel bedeutet und Deutschland für mich zu einer zweiten Heimat werden lassen. Vielen
Dank, Frau Op de Hipt und alles Gute für die Zukunft. Es war wirklich wunderschön, Sie kennenzulernen.
Vielen Dank an die Friedrich-Ebert-Stiftung in Lusaka, Sambia und besonders
Herrn Doktor Reinhold Platte. Danke für alles.
Dank auch an Gabriele Albers aus Hamburg, von der Net Bussiness Zeitung.
Du bist eine gute Freundin, die ich nie vergessen werde. Was wäre das Leben
ohne Freundinnen wie Dich?
Dank an Antje Diestler aus Köln. Du bist sehr nett und es war schön, Dich zu
treffen. Dankbar bin ich auch Mahamadou Koné aus Mali und Illiya Nikolovski aus Mazedonien.
An die englische Redaktion bei der Deutschen Welle in Köln ebenfalls vielen
Dank, besonders an Frau Susan Killick und an alle Mitarbeiter. Ich habe viel
gelernt.
Zuletzt möchte ich noch allen anderen danken, die mir geholfen haben.
Annegret Böhme
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Costa Rica
vom 19. September bis 21. Dezember 1999
Costa Rica
Annegret Böhme
Das Beispiel INBio:
Schutz und ökonomische Nutzung der biologischen
Vielfalt im tropischen Regenwald
Von Annegret Böhme
Costa Rica, vom 19.09. bis 21.12.1999
Costa Rica
Inhalt
Zur Person
Eine Datenbank der Artenvielfalt
Lotto ohne Hauptgewinn: Pharmaforschung heute
Unterm Strich: Neue Strategien
Viel Entwicklungshilfe, wenig Profite
Wespen statt Gold: Sammeln für INBio
Gelder für die Kokosinsel
Überholtes Modell: INBio in der Kritik
Bindet CO2 und Touristen: Die Verwertbarkeit des Waldes
Annegret Böhme
Annegret Böhme
Costa Rica
Zur Person
Annegret Böhme, geboren 1965 in Jena, arbeitete in keiner Schülerzeitung
mit und wollte mit 15 Jahren nie wieder einen Aufsatz zum Thema „Kunst ist
eine Waffe im Klassenkampf“ schreiben müssen. Schulzeit in Thüringen,
Ausbildung zur Kindergärtnerin in Ost-Berlin. 1988 Abendschulabitur in
Leipzig. Nach dem Fall der Mauer Studium der Ethnologie, Soziologie und
Psychologie in Marburg, Leipzig und Albany N. Y./USA mit Magisterabschluss 1996. Lebt und arbeitet in Köln, seit 1998 als freie Journalistin.
Eine Datenbank der Artenvielfalt
Pfeifend zieht Manuel Zumbado die Schubladen der Metallschränke auf, um
nach dem Namensvetter des Weltbankchefs zu suchen, dem Käfer Metamasius
Wolfensohni. Aber er hat den Schrank mit den Fliegen erwischt. Ob ich Zeit mitgebracht hätte, sie müssten hier gerade Platz schaffen. Hunderte von Fliegen schillern uns entgegen: Manche vertraut grün, andere Wespen zum verwechseln ähnlich. Manuel zeigt auf eine: „Auch neu – Meromacrus melansoni – irgendein
kanadischer Funktionär“, sagt er und hat schon die nächste Schranktür geöffnet.
„Kanada hat uns auch sehr viel geholfen“.
Manuel Zumbado ist Kurator – spezialisiert auf Fliegen – im „Instituto Nacional de Biodiversidad“, kurz INBio, in Costa Rica. Ein neues Insekt sei wirklich
nichts besonderes, sagt er, aber es dauere mitunter Jahre, bis es vollständig identifiziert sei. Der Käfer Metamasius Wolfensohni gehört zu den rund 400 Arten,
die jährlich bei INBio für die Wissenschaft entdeckt und benannt werden. Forscher, Politiker, Chefs internationaler Organisationen, die die Arbeit des Instituts
unterstützen, wie James Wolfensohn, haben heute gute Chancen, ihren Namen an
Insekten oder Mikroorganismen zu vererben. Denn Costa Rica ist eines der
artenreichsten Länder der Erde. Rund eine halbe Million Arten werden in dem
Land, dass nur etwas größer ist als Niedersachsen, vermutet – eine der höchsten
Konzentration von Biodiversität in der Welt. Doch nur schätzungsweise 17 Prozent davon sind bisher wissenschaftlich beschrieben. Besonders bei Mikroorganismen ist die Dunkelziffer hoch: Über 90 Prozent sind unbekannt.
INBio will das ändern. Etwa 200 Mitarbeiter arbeiten im Institut in Santo
Domingo de Heredia nahe der Hauptstadt San José. Mit Hilfe wissenschaftlicher
Experten aus aller Welt erforschen sie systematisch den Artenreichtum des
mittelamerikanischen Landes. Ziel des privaten Instituts, das 1989 auf Initiative
der Regierung und einiger Wissenschaftler der Universität von Costa Rica gegründet wurde, ist eine möglichst vollständige Bestandsaufnahme der Insekten, Pflanzen, Pilze und Mikroorganismen Costa Ricas – eine Art Datenbank der Arten.
Costa Rica
Annegret Böhme
Doch INBio versucht aus der reichen biologischen Vielfalt auch ökonomisch
Kapital zu schlagen. 1991 schloss es zum ersten Mal einen Vertrag mit dem USamerikanischen Pharmakonzern Merck & Co und wurde damit weltweit
berühmt. Merck erhielt eine bestimmte Anzahl von Insekten, später auch Proben
von Pflanzen und Mikroorganismen, um nach neuen Wirkstoffen für Medikamente zu suchen. Der Multi zahlte 1 Mio. Dollar dafür und half INBio beim Ausbau seiner technischen und wissenschaftlichen Kapazitäten. Dem Institut wurde
außerdem zugesagt, dass es am Gewinn beteiligt wird, sollte Merck aus den costaricanischen Substanzen ein Medikament bis zur Marktreife entwickeln.
Vom Vertrag sollten alle profitieren: Die Pharmaforschung, INBio und der
Umwelt- und Artenschutz. Denn zwischen INBio und dem costaricanischen
Umweltministerium wurde vereinbart, dass INBio in den staatlichen Nationalparks und Reservaten sammeln darf und dafür 10 Prozent der erwirtschafteten
Beträge, sowie 50 Prozent der unter Umständen einmal eingehenden Gewinne
an das Ministerium abtritt. Gelder, die direkt dem Umwelt- und Artenschutz
zugute kommen sollten. Der Staat behielt außerdem ein Vetorecht für alle Verträge dieser Art.
Noch bevor die Konvention über biologische Vielfalt von Rio de Janeiro
1993 in Kraft trat, hatte Costa Rica somit Regeln zum Schutz und zur nachhaltigen Nutzung der Artenvielfalt etabliert. Die INBio-Verträge, die Forschung,
Technologietransfer und Umweltschutz möglich machen, avancierten zum
Modell für eine gelungene Entwicklungshilfe. Und Bioprospektion – die systematische Suche nach Inhaltsstoffen und Genen in Pflanzen, Insekten oder
Mikroorganismen, mit dem Ziel, neue Medikamente, Pestizide, Kosmetika oder
andere Industrieprodukte zu entwickeln – galt seitdem als eine vielversprechende Möglichkeit, Biodiversität ökonomisch zu nutzen. Dementsprechend
hoch waren die Erwartungen.
Doch es gab auch Skeptiker: Das Modell könne nicht funktionieren, denn
Medikamentenentwicklung sei eine langwierige Angelegenheit. Bis Gewinne
eingehen würden, könnte viel Zeit vergehen – zuviel Zeit, um das Artensterben
zu stoppen. Regierungsunabhängige Organisationen in Costa Rica und in den
Industrieländern kritisierten von Anfang an, dass INBio, als ein privates Institut,
Nutzungsverträge über genetische Ressourcen abschließt, die doch nationales
Eigentum sind. Das Institut sei intransparent, denn als privater Geschäftspartner
hält es die Höhe der Gewinnbeteiligung und die Anzahl der an die Multis gelieferten Substanzen geheim. Und das Nord-Süd-Gefälle würde durch die Verträge
lange nicht aufgehoben, denn 1 Million Dollar und ein bisschen Technologietransfer seien Peanuts, gemessen am Umsatz eines Pharma-Multis (Merck hat
einen Umsatz von 10 Milliarden US Dollar im Jahr).
Costa Rica gilt heute als Vorreiter im Umweltschutz. Ein Viertel des Landes
stehen bereits unter Naturschutz. Doch die Euphorie über die Bioprospektions-
Annegret Böhme
Costa Rica
verträge und die kritischen Diskussionen der ersten Jahre sind heute in Costa Rica
einer anderen Realität gewichen: Das Resultat der bisheriger Forschung ist
ernüchternd, die Millionengewinne blieben aus. Die Antwort auf die Frage, was
bisher bei der Bioprospektion herausgesprungen ist, lautet: Jedenfalls kein
Medikament.
Lotto ohne Hauptgewinn: Pharmaforschung heute
Medikamentenentwicklung ist langwierig und teuer. Pharmaforscher gehen
inzwischen davon aus, dass nur eine von 300.000 bis 500.000 Substanzen wirksam ist. Die Kosten pro Medikament belaufen sich auf etwa eine halbe Milliarde
Mark und bevor es Marktreife erlangt, können 10 bis 15 Jahre vergehen.
Hinzu kommt, dass sich die Pharmaforschung in den letzten Jahren grundlegend geändert hat. Neue Technologien, wie Gentherapie und Molekularbiologie,
erobern die westlichen Labors. Neben ihnen nimmt sich die systematische
Suche nach Naturstoffen besonders umständlich und langwierig aus.
„Shaman Loses its Magic“ titelte der „Economist“ im vergangenen Jahr die
Nachricht, dass das US-amerikanische Pharmaunternehmen Shaman Pharmaceuticals seine Naturstoffforschung einstellt. Das Unternehmen hatte versucht, den
langwierigen Prozess der Bioprospektion unter Rückgriff auf traditionelles Heilwissen abzukürzen. Es hat sich nicht gelohnt. Andere Pharmakonzerne schließen
ihre Naturstoffabteilungen oder verringern die dafür vorgesehenen Budgets.
Selbst bei den Befürwortern der Bioprospektionsverträge in Costa Rica ist die
anfängliche Begeisterung abgeflaut. Pedro León ist Professor am Institut für Zellular- und Molekularbiologie der Universität von Costa Rica. Er spricht offen aus,
was andere mir gegenüber so nicht zugeben: Zumindest in der Forschung für den
humanmedizinischen Bereich hat Bioprospektion inzwischen kaum noch eine
Chance. Um ein Produkt neu auf den Markt zu bringen, müsse man etwas finden, das viel besser sei als alles was es schon gäbe. Und das sei bereits eine ganze
Menge. Außerdem dauere Bioprospektion zu lange.
Die biologischen Substanzen müssen zunächst gesammelt, klassifiziert, selektiert, getrocknet und zermahlen werden, um dann die Extrakte im Laborversuch
auf ihre biologische Aktivität zu testen. Zeigt ein Stoff Reaktion, muss der
eigentliche Wirkstoff identifiziert werden. Weitere Versuche folgen. Auch Substanzen, die in ersten Versuchen eine Aktivität zeigten, könnten bei weiteren Testrunden ausscheiden, sagt der Biologe Pedro León: „Man macht einen Haufen
Versuche, aber das Letzte was man erfährt, ist die Struktur des Moleküls. Und
es kann sein, dass das, was man am Ende entdeckt, trivial ist oder uninteressant,
oder dass man es bereits kennt“.
Costa Rica
Annegret Böhme
Die moderne Pharmaforschung ist längst weiter. Mit Hilfe der kombinatorischen Chemie beispielsweise, kann sie den umgekehrten Weg gehen. Hier
werden Moleküle erst entworfen und dann getestet. Die Forscher kennen die
Molekülstruktur schon bevor sie die ersten Experimente machen. In hochmodernen Labors können so binnen viel kürzerer Zeit potentielle Arzneimittel gefunden werden. „Das ist ernüchternd für uns“, sagt Pedro León, „denn
irgendwann haben wir mal geglaubt, Bioprospektion würde eine einfache
Methode sein, die Artenvielfalt zu schützen. Aber wir mussten einsehen,
dass es viel schwieriger ist, als wir erwartet haben“.
Der Wissenschaftler Pedro León berät INBio als Mitglied der Vollversammlung. Er befürchtet, dass INBio sich zu abhängig von den Pharmakonzernen macht, dass deren Interesse weiter nachlassen könnte und die Gewinnbeteiligung in Zukunft immer geringer ausfällt. Etwa ein Dutzend Verträge hat
INBio inzwischen abgeschlossen, beispielsweise mit Bristol Myers Squibb,
Givaudan Roure, Diversa, British Technology Group, Indena oder Ely Lilly.
Und bisher hat es immer Auftragsarbeit erledigt. Gesammelt, klassifiziert und
aufbereitet, was die Multis haben wollten.
„Die Interessen der Konzerne werden von den großen Absatzmärkten
bestimmt, nicht davon, was wir hier brauchen. Unsere Probleme hier müssen
wir selber lösen“, sagt Pedro León. Durch das tropische Klima hätte die
Landwirtschaft in Costa Rica viele Probleme mit Plagen. Deshalb wäre es beispielsweise sinnvoll, via Prospektion nach organischen Pestiziden und neuen
Futtermitteln zu suchen oder mit transgenetischen Pflanzen zu experimentieren, wie es das Molekularbiologische Institut der Universität bereits tut. Es
müssten Produkte für den costaricanischen Markt gefunden werden – Nischen.
Einfache Erfolge sieht der Wissenschaftler León heute nicht mehr voraus: Das
sei nicht die Lotterie, die man am kommenden Sonntag gewinnen könnte, da
bräuchte sich keiner Illusionen zu machen.
Rodrigo Gámez hat diese Illusionen scheinbar noch. Glaubt er selbst noch
an einen Hit, frage ich den Mitbegründer und Direktor von INBio: „In
gleicher Weise, wie irgendeine Person in Costa Rica denkt, dass sie den
Hauptpreis in der Lotterie gewinnen könnte“, antwortet er verschmitzt. Das
denken dort allerdings viele, in den Straßen der Städte floriert der Lotterieverkauf, vor Weihnachten bilden sich regelmäßig große Wettgemeinschaften.
Auf die Frage, ob er eine Spielernatur sei, lacht er und fügt hinzu: „Bedenken
sie: Den Einsatz zahlen unsere Geschäftspartner!“
Annegret Böhme
Costa Rica
Unterm Strich: Neue Strategien
Dass bisher kein Hauptpreis dabei war, stört Direktor Gámez nicht. Er ist
einer von denen, die im Schuppen angefangen haben. Nicht einmal ein Reagenzglas hätte man am Anfang gehabt, sagt der INBio-Mitbegründer. Heute
können die ersten Tests der Substanzen bereits im eigenen Labor gemacht werden. INBio würde längst keine grünen Blätter mehr verschicken. Es verlassen
nur Substanzen das Haus, die bereits biologische Aktivität zeigen. Und für sie
könne das Institut mehr verlangen, sagt Gámez.
Doch auch die INBio-Riege versucht, mit neuen Strategien die ausbleibenden Millionen zu kompensieren. Im Labor treffe ich eine der beiden Chefinnen der Abteilung Prospektion, Ana Lorena Guevara. Im Hintergrund
blubbern braungrüne Breie in großen Glasbottichen. „Wir haben Erfahrungen
gemacht und dazu gelernt“, sagt Ana Lorena Guevara und weisst darauf hin,
dass die Verträge heute anders gestaltet würden als früher.
Seit ein, zwei Jahren vereinbart INBio Milestone-Payments mit den Vertragspartnern, d.h. das Institut erhält in der langen Phase der Medikamentenentwicklung Gelder für Etappensiege. Gezahlt wird also schon, bevor ein
Medikament auf den Markt kommt, sobald die Patentierung beginnt. Außerdem sei beispielsweise mit dem US-Pharmaunternehmen Ely Lilly im Herbst
1999 eine viel höhere Gewinnbeteiligung vereinbart worden, als im MerckVertrag, der nach viermaliger Verlängerung im September 1999 auslief, sagt
Ana Lorena Guevara (nach Angaben des Umweltministeriums wurden mit
Merck 2 bis 3 Prozent ausgehandelt). Genaue Angaben will Guevara nicht
machen. Für Agrarprodukte würden normalerweise 0,5 bis 1 Prozent verhandelt, für pharmazeutische Produkte 1 bis 3 Prozent. „Aber ich kann ihnen
sagen: Es ist soviel, wie die Firmen in den USA untereinander zahlen würden.
Das ist das wichtigste“, versichert Ana Lorena Guevara. Vertreter regierungsunabhängiger Organisationen in Costa Rica behaupten, dass in den
USA „untereinander“ schon mal 10 Prozent gezahlt werden. Direktor Rodrigo
Gámez gibt die Gewinnvereinbarungen mit 1 bis 2, beziehungsweise 2 bis 5
Prozent an, mehr sei für eine rohe Substanz illusionär. Die genaue Höhe der
Gewinnbeteiligung bleibt jedoch weiterhin INBios Geheimnis.
Das Pharmaunternehmen Ely Lilly ist nicht nur an pharmazeutisch verwertbaren Stoffen interessiert. Es sucht auch nach aktiven Substanzen für den
Bereich Tiermedizin und für den Agrarsektor. Eine Gewinnbeteiligung sei
auch in diesen Fällen garantiert, sagt die Prospektionschefin Ana Lorena Guevara. Nur fiele sie geringer aus als im Fall einer erfolgreichen Medikamentenentwicklung. In einigen anderen Verträgen sucht INBio nach Biopestiziden. Auch gab es bereits einen Vertrag mit dem Schweizer Unternehmen
Givaudan Roure, um nach Riechstoffen und Aromen zu suchen. Doch den
Costa Rica
Annegret Böhme
Hauptanteil der chemischen Prospektion macht die Suche nach Substanzen für
den pharmazeutischen Bereich aus.
Die Mitarbeiter der Prospektion träumen von einer eigenen Forschung.
INBio erarbeite eine neue Agenda, sagt Ana Lorena Guevara. „Unsere Idee ist,
parallel zu den Verträgen mit der Privatwirtschaft eine eigene Forschung
aufzubauen. Doch dafür brauchen wir finanzielle Mittel und die haben wir
noch nicht“.
Viel Entwicklungshilfe, wenig Profite
Zehn Jahre nach der Gründung des Instituts sieht Direktor Gámez einen seiner größten Erfolge in der Aufklärung der Bevölkerung. „Als wir anfingen
kam der Begriff ‚Biodiversität’ den Leuten doch chinesisch vor!“ Heute sei ein
großer Teil der Bevölkerung sich des besonderen Reichtums Costa Ricas
bewusst.
INBio kennt fast jedes Kind. Das Institut lädt regelmäßig Schulklassen ein und
gibt didaktisches Material heraus: Spiele und Kinderbücher, in denen Pilze und
Insekten die Protagonisten sind. „Wir führen hier alles durch, vom Kurs für Hausfrauen bis zum Seminar für mittelamerikanische Minister“, sagt Gámez nicht
ohne Stolz. „Bioalphabetisierung“ heißen diese Maßnahmen im Fachjargon
des Instituts. Für die Bildungsarbeit hat es in den letzten 3 Jahren den Etat beinahe verdreifacht. Neben der Inventarisation der Artenvielfalt, in die der größte
Teil des INBio-Budgets fließt, arbeitet INBio außerdem an verschiedenen
Umwelt- und Forschungsprojekten in den Nationalparks mit.
Doch nach wie vor finanziert sich das Institut hauptsächlich über Entwicklungshilfe. Das Geld für die Inventarisation stammt zum größten Teil von internationalen Organisationen oder aus bilateralen Verträgen. Vor allem die Weltbank, Holland, Norwegen, Kanada sowie verschiedene US-Organisationen
unterstützen INBio.
Das wissenschaftliche Erfassen der Artenvielfalt ist eine vordringliche Aufgabe, und die Arbeit der Wissenschaftler im Institut ist weltweit anerkannt.
INBio ist ein privates Institut, das eng mit der Regierung zusammenarbeitet, im
öffentlichen Interesse und ohne eigene Gewinninteressen. Costa Rica ist ein politisch stabiles, demokratisches Land und hat immer wieder gezeigt, dass es den
Umweltschutz ernst nimmt. Als erstes Land der Welt hat es ein umfangreiches
Biodiversitätsgesetz verabschiedet, das die Konvention über biologische Vielfalt
in nationales Recht umsetzt. Viele Regierungen und Organisationen halten hier
Entwicklungshilfe für sinnvoll.
Die Gelder aus den Prospektionsverträgen mit der privaten Wirtschaft machten in den letzten Jahren 10 bis 16 Prozent aller Einnahmen aus. Allerdings: Von
Annegret Böhme
Costa Rica
den Funktionären im Umweltministerium, über die Mitarbeiter von INBio, bis
zu ihrem Chef Gámez weist jeder darauf hin, dass der Technologietransfer und
die Fortbildung des wissenschaftlichen Personals wichtiger und umfangreicher
gewesen seien als die Geldbeträge, die die Bioprospektion bisher gebracht hätte.
Die Angaben schwanken zwischen 3 und 7 Millionen Dollar, die das Institut insgesamt mittels Bioprospektion für Umweltschutz und Forschung landesweit
erwirtschaftet hat. Der Wert des Technologie- und Wissenschaftstransfers käme
hinzu, sei jedoch schwer zu schätzen.
Und auch sein Nutzen. So ist INBio stolz auf ein nuklear-magnetisches Resonanzspektroskop zur chemischen Analyse organischer Substanzen. Das Gerät ist
300.000 Dollar Wert und das einzige in Zentralamerika und Panamá. Bei Bayer
lacht man darüber. „Das ist spätestens in 5 Jahren völlig überholt“, sagt der Chef
der Bayer „Life Science“ Forschungsabteilung, Klaus Frobel. Während sich die
INBio Mitarbeiter noch über die Reagenzgläser freuen, führen die Wissenschaftler in den Labors der Pharma-Multis „Molecular-Modelling“ am Bildschirm durch.
Auch der Wert der Fortbildung wissenschaftlicher Experten kann offensichtlich nicht geschätzt werden. „Wie will man wissen, was Ausbildung bei bestimmten Personen wert ist“, fragt die Prospektionschefin Ana Lorena Guevara. Jeder
Vertrag schließe die Fortbildung des INBio-Personals ein. Die Projektleiter
werden für ein bis zwei Monate in das Projekt eingearbeitet. Seltener gibt es in
Verträgen mit Universitäten auch die Möglichkeit einer Doktorarbeit. Doch
wer hier in Projekten seinen Doktor macht, käme meist von einer costaricanischen Universität, sagt Ana Lorena Guevara. INBio selbst könne seine Wissenschaftler nicht so lange entbehren.
Experten, die die exakte Einordnung der Organismen vornehmen, werden bei
INBio generell „internationale Taxonomisten“ genannt. Gibt es inzwischen
auch costaricanische im Institut? „Nein“, sagt Direktor Rodrigo Gámez, „da ist
keiner dabei. Bis jemand Taxonomist ist, dauert es 20 bis 30 Jahre. Sie müssen
mal überlegen, was das kostet!“ Die Anzahl dieser Experten sei in artenreichen
Länder umgekehrt proportional zur Anzahl der Arten. „Wir können es uns hier
nicht leisten, dass sich jemand auf ein Grüppchen von Nachtfaltern spezialisiert.
Wir haben andere Sorgen!“ Diese Erwartung hatte der INBio-Gründer Gámez
vor ein paar Jahren aber durchaus. Doch noch heute denkt er positiv: „Sehen sie,
die Internationalität der Taxonomisten ist ja wieder ein Vorteil für uns. Sie forschen mit uns, und wir sparen Personalkosten“.
Wie viele INBio Mitarbeiter sich bis zu welchem Grad fortbilden konnten,
kann mir keiner genau sagen. Sicher, Manuel Zumbado beispielsweise, war früher Wächter im Nationalpark, hat als Parataxonomist – also als Sammler – bei
INBio angefangen und ist heute nationaler Spezialist für Fliegen. Viele, die
inzwischen Forschungsprojekte in Nationalparks koordinieren, seien früher
Costa Rica
Annegret Böhme
Sammler gewesen, erklärt Direktor Gámez. „Hier“, sagt er und zeigt auf zwei
Bücher über costaricanische Artenvielfalt, „die Autoren waren früher ganz einfache Parataxonomisten“.
Die Parataxonomisten sind eine Erfindung INBios. Es sind Männer und
Frauen, die von INBio für das Sammeln in den Nationalparks ausgebildet werden, Leute vom Land, die aus ganz unterschiedlichen Berufen kommen. Mit
ihnen wollte INBio die lokale Bevölkerung in die Arbeit INBios einbinden. 39
gibt es zur Zeit im ganzen Land. INBio musste ihre Zahl etwas begrenzen. Der
Grund: Zuviel unidentifiziertes Material staut sich bei INBio an.
Viele möchten als Parataxonomist arbeiten. Doch wer für INBio sammeln
möchte, muss zunächst einen Aufnahmetest bestehen. Zwei von zwanzig wurden im letzten Verfahren angenommen. Khanaki Caballero wurde lediglich
Dritter. Der 24-jährige Guaymi-Indianer, aus einem Dorf an der Grenze zu Panamá kommend, möchte mehr lernen über den Artenreichtum. Seine Leute wüssten eine Menge über Pflanzen, sagt er, aber wenig über Insekten. Wenn er einmal als Sammler arbeiten könnte, begründet er seinen Berufswunsch, würde er
sein Wissen an die Kinder weitergeben wollen, um sie sensibel für den Artenschutz zu machen. In der Hoffnung, beim nächsten Mal nachrücken zu können,
macht Khanaki ein Praktikum bei dem Parataxonomisten Antonio Azofeifa –
einem, der mehr Glück hatte.
Wespen statt Gold: Sammeln für INBio
Antonio Azofeifas Grundstück „Las Agujas“ liegt etwa 3 Stunden Fußmarsch
entfernt von der nächsten Rangerstation im Regenwald, direkt neben dem Nationalpark Corcovado auf der Halbinsel Osa. In der Dämmerung sitze ich mit
Antonio auf der Holztreppe zur Veranda und sehe zu, wie es dunkel wird, ganz
dunkel, denn der Generator ist kaputt. Zwei Tukane schreien abwechselnd, Tropfen fallen auf das Vordach, dann ist es still. Durch eine kleine Schneise kann man
von der Veranda des Holzhauses auf den Golfo Dulce sehen. Am anderen Ufer
flackern die ersten Lichter auf. „Weißt du“, sagt Antonio plötzlich, „irgendeine
bedeutende Person hat mal gesagt: “Jemand der hier eine kleine Finca hat, ist ein
Millionär, aber er lebt in der größten Misere“. – Genauso ist es“.
Antonio darf auf seiner Finca keine Bäume fällen und auch keine neuen
anpflanzen, ebenso wenig wie landwirtschaftliche Nutzpflanzen. Denn Antonios 36 Hektar großes Grundstück liegt im Waldreservat, das wie ein Schutzmantel den Corcovado Nationalpark umgibt. Mit Park und Reservat stehen in
Osa rund 140.000 Hektar Wald unter Naturschutz. Die Nutzung der privaten
Fincas im Waldreservat ist zwar eingeschränkt möglich, doch um eine Genehmigung vom Umweltministerium zu erhalten, müsste Antonio erst einen
Annegret Böhme
Costa Rica
Forstingenieur beauftragen und einen Bewirtschaftungsplan erstellen lassen.
Das alles kostet Geld und das hat Antonio Azofeifa nicht. So wie ihm geht es
fast allen Besitzern kleinerer Fincas im Waldreservat.
Wie die meisten Männer in Osa hat Antonio Azofeifa jahrzehntelang als
Goldsucher gearbeitet. Doch die Arbeit in der Mine hat ihn körperlich ausgelaugt und die Goldsuche bringt heute nichts mehr. Der Corcovado Nationalpark ist eines der Gebiete, in denen INBio biologische Proben sammelt.
Seit etwa 5 Jahren stellt Antonio sein Grundstück als Quartier für einige
INBio-Sammler zur Verfügung. Vier Männer und eine Frau sammeln im
nahen Nationalpark Insekten, Pflanzen und Pilze und arbeiten und übernachten in Las Agujas.
Das Arbeitszimmer hat große Fenster ohne Scheiben. An den Wänden
sind Holztische angebracht, auf denen Mikroskope, Holzschachteln und
Bestimmungsbücher stehen. Hier und da ein Einweckglas mit einem in Alkohol eingelegten Käfer, der für die Wissenschaft sterben musste. Der Praktikant
Khanaki spießt Fliegen auf Stecknadeln, platziert sie neben metallicfarbenen
Wespen in grün, gelb oder azurblau und versieht alles mit winzigen Zettelchen, die er mit seinem Namen und dem Fundort beschriftet hat. INBio hat
das Haus ausgebaut, den Generator angeschafft und übernimmt ein paar laufende Kosten. Pachtgebühren bekommt Antonio nach eigenen Aussagen
nicht. Er stellt das Grundstück zur Verfügung „damit es einen Wert bekommt“.
Doch Antonio hatte Glück. Denn seit etwa 3 Jahren sammelt er selbst
Wespen für INBio. Dafür bekommt er umgerechnet etwa 300 Dollar im
Monat. Das sei ein ganz guter Durchschnittsverdienst, wenn es auch nicht viel
ist für seine sechsköpfige Familie. Antonio ist INBio dankbar. Viele seiner
ehemaligen Gefährten aus der Mine versuchen in der Tourismusbranche
unterzukommen. Aber vor allem Jüngere verlassen die Halbinsel. Und wer
sich gar nicht anders helfen kann, holt sich aus dem Wald was er zum leben
braucht – auch ohne Genehmigung durch die Behörden. Gerade auf der
Halbinsel Osa – eine der ärmsten Gegenden Costa Ricas – haben illegale
Abholzung und Wilderei in den geschützten Gebieten in den letzten Jahren
stark zugenommen.
Gelder für die Kokosinsel
Das Umweltministerium in Costa Rica ist knapp bei Kasse. Fast 15 Prozent
der Böden in den staatlichen Nationalparks sind noch in Privatbesitz. Carlos
Manuel Rodríguez, der Stellvertreter der Umweltministerin, wird ungern
darauf angesprochen: „Das Problem ist, dass wir verpflichtet sind, die Böden
zu bezahlen und das Geld dafür nicht haben. Wir sprechen hier von über 100
Costa Rica
Annegret Böhme
Millionen Dollar, die uns fehlen. Das ist wirklich ein ernsthaftes Problem.“
Auch für eine angemessene Kontrolle in den Nationalparks und für Revisionen der Bewirtschaftungspläne in den Reservaten fehle Personal und Geld,
sagt Rodríguez.
Die Beträge, die das Ministerium bisher von INBio erhalten hat, gibt der Stellvertreter der Umweltministerin mit ein paar hunderttausend Dollar an, keine
ganze Million. Das Geld wurde für den Nationalpark „Isla de Coco“ ausgegeben.
Die „Isla de Coco“ ist ein Eiland im Pazifik – Romanvorlage für Michael Crichtons Bestseller „Jurassic Park“, artenreich aber unbewohnt. Von dem Geld
wurde dort eine Küstenwache eingerichtet, Parkwächter eingestellt und eine biologische Forschungsstation ausgebaut.
Umweltschützern ist das zu wenig: „Laut Konvention über die biologische
Vielfalt, muss die Verteilung der Gewinne gerecht und ausgewogen sein. Es geht
nicht, dass einfach nur der Staat einen Teil bekommt und dann allein entscheidet, was er damit macht. Der Staat hat entschieden, das Geld an die „Isla de
Coco“ zu schicken. Doch dort lebt kein Mensch! Die ganze Idee der gerechten
und ausgewogenen Verteilung in der Konvention ist doch, dass die Bevölkerung,
die im Umfeld der Parks lebt, an den Gewinnen beteiligt wird“. Silvia Rodríguez
ist Soziologin und lehrt an der Nationalen Universität von Costa Rica Umweltwissenschaften. Sie engagiert sich für die Umsetzung der Biodiversitätskonvention in ganz Mittelamerika. In ihrem kleinen Zimmer in der Universität stapeln sich Kartons mit didaktischem Informationsmaterial. Unser Interview wird
11 mal unterbrochen, weil Kongresse und Veranstaltungen organisiert werden
müssen.
INBio ist Silvia Rodríguez auf der einen Seite zu privat, auf der anderen Seite
zu nah an der Regierung. Die Kontakte des Instituts zur Politik seien so gut, dass
es schon gefährlich wäre, denn das Institut hätte auf diese Weise eine sehr große
Macht. So sei der heutige Stellvertreter der Umweltministerin Carlos Manuel
Rodríguez früher Hausanwalt von INBio gewesen – und er ist nur ein Beispiel.
In einem Land, in dem mich der Präsident per Handschlag begrüßt, weil ich im
Journalistentross die einzige bin, die er noch nicht kennt, erscheint es mir skurril, etwas anderes zu erwarten.
Doch Silvia Rodríguez will sich mit solchem Filz offensichtlich nicht abfinden: INBio sei in zu viele Entscheidungsprozesse eingebunden. Die Nutzung
nationaler Ressourcen dürfe nicht einer Privatinstitution überlassen werden.
Zumindest aber müsse die Bevölkerung über die Nutzung biologischer
Ressourcen in ihrem Umfeld informiert werden und ein Mitspracherecht bekommen. Das sähe die Konvention über biologische Vielfalt vor, aber es sei im Fall
von INBio nicht garantiert. Denn als privates Institut wahrt INBio sein Geschäftsgeheimnis und hält Teile seiner Verträge geheim. Keiner wüsste überhaupt, wie
viele und welche Proben INBio sammelt.
Annegret Böhme
Costa Rica
Die Einbeziehung der Gemeinden in der Nähe der Nationalparks, ihre Beteiligung an den Gewinnen, diene letztendlich der Verbesserung ihrer ökonomischen und sozialen Situation, argumentiert die Soziologin und Umweltexpertin
Rodríguez. Die Situation der Landbevölkerung in Costa Rica sei prekär. Wenn
die Regierung das nicht in Betracht zöge, sei Umweltschutz vor Ort nicht durchzusetzen.
Für Silvia Rodríguez ist INBio kein perfektes Modell, denn es ist nicht transparent genug und es ermöglicht keine Partizipation. Wie sie denken viele in Costa
Rica, die sich unabhängig von der Regierung für die Umsetzung der Konvention
über biologische Vielfalt stark machen.
Überholtes Modell: INBio in der Kritik
„Que lindo!“ riefen die meisten meiner Kollegen bei der Tageszeitung La
Nación aus, sobald ich ihnen erzählte, dass ich über INBio recherchieren werde.
„Was für ein schönes Thema“. „Gloria nacional“ titelt die Kommentarseite zum
10 jährigen Bestehen des Institutes im Herbst 1999. Viele Costaricaner sind stolz
auf INBio. Doch in Gesprächen mit Umweltschützern sehe ich eine Menge hochgezogener Augenbrauen und skeptisch nach unten gebogener Mundwinkel.
„Wie kommst du darauf, INBio sei ein Modell?“, fragt mich Gerado, bio-dynamischer Kaffeeanbauer und engagierter Umweltaktivist, während wir im ÖkoImbiss einen Obstcocktail trinken.
In Costa Rica gibt es eine relativ breite Umweltschutzbewegung. Allein zum
Dachverband FECON (Federación Costarricense para la Conservación del
Ambiente) gehören 25 verschiedene Gruppen. Sie fordern Partizipation. Sie
wollen mitentscheiden, wie die Artenvielfalt genutzt wird. Nicht zu Unrecht
sind sie deshalb stolz auf das neue Biodiversitätsgesetz, das 1998 verabschiedet wurde und die Konvention über biologische Vielfalt in nationales
Recht umsetzt. Denn das besondere an diesem Gesetz ist nicht nur, dass es das
erste umfangreiche Biodiversitätsgesetz in der Welt ist, sondern dass es am
runden Tisch entstand. Vertreter der Zivilgesellschaft – auch INBio – und
Regierungsvertreter handelten mehrere Monate lang eine Gesetzesvorlage aus
und verabschiedeten sie im Konsens.
Umwelt- und Artenschutz, sowie nachhaltige Nutzung biologischer Ressourcen soll nicht Chefsache des Umweltministeriums in San José bleiben. Das
sieht das neue Gesetz vor. Die verschiedenen staatlichen und privaten Naturschutzgebiete werden zu kleineren Verwaltungseinheiten zusammengefasst, die
zwar dem Umweltministerium unterstehen, sich aber selbstständig finanzieren
und managen sollen. In sogenannten Lokalräten können Vertreter der lokalen
Bevölkerung über das Management mitentscheiden.
Costa Rica
Annegret Böhme
Außerdem sollen in Zukunft Akademiker, Umweltschutzorganisationen, Bauern und indianische Bevölkerung über nachhaltige Nutzung der biologischen
Vielfalt mitbestimmen können. Ihre Interessenvertreter bilden mit verschiedenen
Ministern, beziehungsweise deren Vertretern, eine nationale Kommission (Comisión Nacional para la Gestión de la Biodiversidad, kurz CONAGEBIO). Diese
entscheidet zukünftig über den Zugang zu biologischen Ressourcen und über die
Verteilung der Gewinne aus ihrer Nutzung. Mit ihr wird in Zukunft jeder – auch
INBio – neue Nutzungsverträge absprechen müssen.
Auch einige Mitglieder der Kommission stehen INBio kritisch gegenüber. Für
Diskussionsstoff sorgen die Geheimklauseln in den Verträgen, die Tatsache,
dass INBio nur dem Umweltministerium Rechenschaft schuldig ist und allein das
Umweltministerium am Gewinn beteiligt wird, sowie die mangelnde Transparenz
– wer kontrolliert INBio und wie kontrolliert INBio die Multis?
INBio war an der Entstehung des Gesetzes beteiligt und hat ihm zugestimmt.
Einige Regeln INBios wurden sogar in das Gesetz aufgenommen. Doch: „INBio
ist ein privates Institut und es wird sich in Zukunft nach den Regeln richten müssen, die wir im Moment erarbeiten“, sagt Isaac Rojas, der die Umweltschutzorganisationen in der nationalen Kommission vertritt. Er ist sich sicher, dass
INBio in Zukunft mit Änderungen seiner Praxis rechnen muss: Sowohl was den
Zugang zu biologischen Ressourcen betrifft, als auch die Verteilung der Gewinne.
INBio-Mitarbeiter legen das Biodiversitätsgesetz anders aus und rechnen
nicht mit Änderungen. Sie empfinden die Kritik als ungerechtfertigt und reagieren gereizt. Die geheimen Klauseln in den Verträgen würden von den Vertragspartner gefordert und seien durch das neue Biodiversitätsgesetz erlaubt. Das
Geschäftsgeheimnis müsse gewahrt bleiben. „Wir haben die Regeln des Kommerzes nicht erfunden“, sagt Direktor Gámez.
Der Stellvertreter der Umweltministerin, Carlos Manuel Rodríguez, bestätigt mir, dass er und die Ministerin selbstverständlich wüssten, wie hoch die
Gewinnbeteiligung sei. Auch gäbe es keinen Grund zur Sorge, dass ein Multi
das Institut über den Tisch ziehen könnte. Die Zusammenarbeit mit den
Unternehmen sei vertrauensvoll. „Sie müssen bedenken“, sagt er „das sind
Wissenschaftler, die da forschen; die haben hohe moralische Prinzipien“ und
fügt hinzu, dass es im Falle eines Zweifels natürlich die Möglichkeit einer
Kontrolle gäbe. INBio sei über ein Computersystem mit Merck verbunden.
Das Institut liefere die Substanzen ohne Namen, aber mit Codes versehen.
Über diese Codes hätte INBio Zugriff auf die mercksche Datenbank. So
könne selbst die Umweltministerin den Weg der Stoffe verfolgen, nachdem sie
INBio verlassen haben – „Im Falle eines Zweifels!“.
Den Vorwurf, dass INBio für eine gerechtere Verteilung der Gewinne sorgen
müsste, wollen die Entscheidungsträger bei INBio nicht gelten lassen. INBio
sammle genau in fünf geschützten Gebieten, die gehören dem Staat und dort
Annegret Böhme
Costa Rica
leben keine Menschen. Der einzige, dem INBio also Rechenschaft und Gewinnbeteiligung schuldig sei, wäre der Staat. Wie der Staat entscheidet wäre seine
Sache.
Direktor Rodrigo Gámez weist mich darauf hin, dass INBio nur biologische
Substanzen sammle. Es würde ganz bewusst nicht auf traditionelles Heilwissen
zurückgreifen, sei also auch hier weder der indianischen Bevölkerung noch
irgendeiner Gemeinde etwas schuldig. Das sei eine politische Entscheidung
gewesen, sagt Gámez, denn diese Dinge legal zu regeln sei zu kompliziert. „Wo
fängt eine Gemeinschaft an und wo hört sie auf? Wer kann sich hier Indianer nennen und wer nicht?“ Doch im Vertrag mit der italienischen Firma INDENA
heißt es, dass nach antimikrobischen und antivirualen Substanzen gesucht werden soll, die in der „traditionellen costaricanischen Medizin“ verwendet würden.
Gámez bestätigt das. Jedoch würde INBio nur auf „volkstümliches, gemeines“
Wissen zurückgreifen. „Der Typ, der samstags auf dem Wochenmarkt in Heredia
Heilpflanzen verkauft, zum Beispiel. Was der weiß, dass ist die Art von Volkswissen, die wir nutzen“. Auch von Akademikern publiziertes gehöre dazu. Also
greifen sie auch auf das zurück, was Anthropologen bei der indianischen Bevölkerung erfragen und erforschen, frage ich ihn. „Nein. Indianisches Wissen nutzen
wir nicht, weder direkt noch indirekt“. Und: Vieles von dem volkstümlichen Wissen sei ohnehin europäischer Herkunft, Kamillentee zum Beispiel. Doch Gámez
widerspricht sich. Im Fall von INDENA hätte man ja nur nach Stoffen für den dermatologischen Gebrauch, für kosmetische Zwecke gesucht: „Und ich kann ihnen
sagen: Von all den Stoffen, denen eine Wirkung nachgesagt wurde, ist im Laborversuch keiner erfolgreich gewesen. Ich will nicht sagen, dass es Indianern nicht
hilft. Aber die leiden vielleicht unter anderen Bakterien und Pilzen als Italiener“.
Der Direktor von INBio beschwert sich darüber, dass sich die Kritiker
nicht richtig informierten. Doch meine eigene Erfahrung bestätigen die von
Umweltschützern, die sich intensiver mit der Arbeit des Instituts beschäftigten: Es ist relativ schwer, verlässliche Informationen zu erhalten. Eindeutiges
Informations- und Zahlenmaterial oder gar Statistiken sind schwer zu
bekommen. Transparenz ist nicht die Stärke der costaricanischen Demokratie. Das gilt auch für INBio.
Bindet CO2 und Touristen: Die Verwertbarkeit des Waldes
Lohnt sich der ganze Aufwand eigentlich? Ist Biodiversität eine Ressource?
Kann sie genutzt werden? „Ja“, sagt der Wissenschaftler Pedro León vom
molekularbiologischen Institut der Universität. „Aber sie ist wie eine große
Bibliothek, in der wir viele Bücher noch nicht gelesen haben. Die Herausforderung besteht darin, an diese Informationen heranzukommen. Doch, es ist
Costa Rica
Annegret Böhme
eine Ressource und das ist ein Grund, warum wir sie schätzen. Vor 100 Jahren hat man die Wälder vernichtet, damit Costa Rica ein zivilisiertes Land
wird. Das hat sich vollkommen geändert“.
„Ja“, sagt auch die Soziologin Silvia Rodríguez, es mache Sinn, Regeln für die
nachhaltige Nutzung aufzustellen. „Aber es muss andere Gründe geben, die
Artenvielfalt zu schützen, als ihre ökonomische Verwertbarkeit“. Nur wie?
Costa Rica sucht weiter nach Möglichkeiten, Umweltschutz zu finanzieren.
Das Land hat die Bedeutung internationaler Verträge erkannt und die schnelle
Umsetzung als Chance begriffen. Die Klimarahmenkonvention beispielweise,
wurde ebenfalls 1992 in Rio de Janeiro verhandelt und trat 1994 in Kraft. Um die
Erwärmung der Erdatmosphäre zu stoppen, verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten den Ausstoß der Gase zu reduzieren, die zum Klimawandel führen –
hauptsächlich CO2.
Auf der Klimakonferenz 1997 in Kioto wurde der Clean Development Mechanism vereinbart. Die Idee: Industriestaaten helfen den Entwicklungsländern bei
Energieversorgung und Klimaschutz. Mittels Technologietransfer und Investitionen ermöglichen sie den Aufbau einer umweltfreundlichen Energieversorgung
in Entwicklungsländern. Die so eingesparten Treibhausgase können sie sich auf
ihre eigenen Klimaverpflichtungen anrechnen lassen. Bereits seit 1996 gibt es
solche Pilotprojekte zwischen Industrieländern und Costa Rica. In San José
wurde eigens ein Büro eingerichtet, das als Ansprechpartner für Investoren
dient. Franz Tattenbach ist dort der Chef: „Wir sehen das CO2-Geschäft als eine
Möglichkeit, unsere Biodiversität zu schützen und den Sektor der erneuerbaren
Energie auszubauen. Es hilft uns, Projekte zu finanzieren, die wir ohnehin
geplant hatten, für die uns aber das Geld fehlt. Natürlich wollen wir erneuerbare,
saubere Energien. Aber Windenergie ist teuerer als Energie aus konventionellen
Kraftwerken“. Kann sich der Investor das eingesparte CO2 für seine Klimaverpflichtungen gutschreiben lassen, kann er den Strom im Endeffekt billiger
anbieten. 10 Prozent der Energie in Costa Rica würde heute schon aus Quellen
kommen, die als Pilotprojekte starteten, so Tattenbach.
Doch Costa Rica setzt nicht nur auf Projekte im Bereich der erneuerbaren
Energien, mit Partnern aus Industrieländern, sondern auch auf das Modell des
Waldes als CO2-Senke. Denn der Wald bindet Kohlendioxid. In Costa Rica
wird das durch den Wald gebundene Kohlendioxid auf Zertifikate umgerechnet:
„Certifiable Tradable Offsets“ (CTOs) repräsentieren eine bestimmte Menge
Treibhausgasemissionen und werden von Costa Rica zum Verkauf angeboten.
Mit dem Erlös sollen zum einen private Landeigentümer entschädigt werden,
wenn sie sich verpflichten, Wald aufzuforsten, nachhaltig zu nutzen oder unter
Naturschutz zu stellen. Zum anderen will der costaricanische Staat mit dem Geld
Land in den Nationalparks aufkaufen, das sich noch in privater Hand befindet,
sowie Projekte mit erneuerbarer Energie unterstützen.
Annegret Böhme
Costa Rica
Durch den Ankauf von Emissionszertifikaten sind Investoren nicht mehr an
ein bestimmtes Projekt gebunden, der costaricanische Staat nimmt die Planung, Finanzierung und Durchführung verschiedener Landnutzungs- oder
Energieprojekte selbst in die Hand. Norwegen hat bereits für 2 Millionen Dollar Emissionszertifikate erworben. Der Preis liegt bei 10 Dollar für eine
Tonne Kohlenstoff oder knapp 3 Dollar pro Tonne CO2. „Wir sind drauf und
dran einen großen Deal über 3 Millionen Dollar mit einem privaten US -Energieproduzenten abzuschließen und wir handeln die Zertifikate jetzt über
ganz normale Börsenmakler in New York, die alle möglichen Güter verkaufen. Das ist die Ökonomie des 21. Jahrhunderts! Wir handeln mit einem Gut,
das zur Ware geworden ist. Saubere Luft ist rar geworden, die Freiheit, CO2
in die Atmosphäre zu blasen, ist kleiner geworden“, sagt Franz Tattenbach,
zündet sich eine Zigarette an und lacht. „Ein Preis hat sich zu entwickeln
begonnen. Es gibt jetzt Mechanismen für den Handel“.
Doch eine ausreichende, rechtliche Grundlage gibt es für den Handel bisher nicht. Die Emissionszertifikate können zwar verkauft und erworben werden. Bisher kann sie sich aber kein Land und kein Unternehmen auf seine
offizielle Klimaverpflichtungen anrechnen lassen. Denn das Klimaschutzprotokoll, das 1997 in Kioto von den Vertragsstaaten vereinbart wurde, ist
noch nicht in Kraft und wird bis zur Klimakonferenz im November 2000 in
Den Haag auch nicht in Kraft treten. Ob dann die Projekte aus der Pilotphase
anerkannt werden, hängt davon ab, ob sie den im Protokoll vorgeschriebenen
Richtlinien für den „Clean Development Mechanism“ im Endeffekt gerecht
werden.
Gerade die Anerkennung der Wälder als CO2-Senken aber ist umstritten, die
USA ist dafür, Europa dagegen. Gestritten wird darüber, inwieweit die Regenwälder das Weltklima beeinflussen und wie sich dies evaluieren ließe. Solange
der Wald nicht abgeholzt und verbrannt wird, bildet er einen geschlossenen
Kreislauf. Erst wenn er verbrannt wird, wird CO2 frei, das die Atmosphäre
zusätzlich belastet. Zum anderen sind Investitionen in Waldsenken-Projekte
in Entwicklungsländern besonders preiswert zu haben. Schätzungen gehen
davon aus, dass, wer ein Windkraftwerk in einem Entwicklungsland baut, etwa
7 bis 10 Dollar investieren muss, um eine Tonne CO2 einzusparen, also etwa
dreimal soviel, wie er für eine Tonne eingespartes CO2 aus dem WaldsenkenProjekt entrichten müsste. Industrieländern würde es so sehr leicht gemacht,
sich von ihren Klimaverpflichtungen freizukaufen.
Für die Außenhandelsbilanz Costa Ricas spielt heute der Export von Mikrochips die größte Rolle. Im letzten Jahr schoss er in die Höhe und erreichte
einen Umfang von 2 Milliarden US-Dollar im Jahr. Die andere wichtige
Devisenquelle Costa Ricas ist der Tourismus. Fast eine Million Touristen
kamen 1998 und ließen über 800 Millionen US-Dollar im Land. Die meisten
Costa Rica
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von ihnen zieht es wegen der Strände und des Regenwaldes nach Costa Rica,
fast 70 Prozent besuchen mindestens einen Nationalpark oder ein Reservat.
Das Land wirbt mit dem ökologischen Image. Hängebrücken und Seilbahnen bahnen sich in rasend schnell zunehmneder Zahl ihren Weg durch den
Urwald. Besucher können Führer anheuern um Meeresschildkröten beim
Eier legen zuzuschauen, Delfine und Krokodile zu beobachten, glühende Lava
aus nächster Nähe zu sehen oder tagelang durch den Regenwald zu streifen.
Vom „Rafting“ in den Flüssen bis zum „Birdwatching“ wird jedes Angebot
mit der Vorsilbe „Öko“ versehen. „Tourismus hat hier eben immer mit Natur
zu tun“, erklärt mir Jimmy Trejos, der Führer, als er mich zusammen mit einer
Gruppe älterer, skandinavischer Hobbyornithologen durch den Urwald von La
Selva führt. La Selva ist eine biologische Forschungsstation, die täglich eine
begrenzte Zahl von Touristen durch ihren Privatbesitz führt und sich so den
Haushalt aufbessert. Der Tourismus ist momentan der einzige Sektor, in dem
Costa Rica aus seinen Naturreichtümern wirklich Kapital schlägt.
Auch INBio zapft diese Quelle an. Der INBio-Park ist zum 10 jährigen Bestehen des Instituts eingeweiht worden. Auf einem 5 Hektar großen Gelände entstand eine Art costaricanischer Mikrokosmos – Nachbildungen von verschieden
Waldtypen mit Lagune, Freilichtbühne und Informationszentrum, das über
Costa Ricas Artenvielfalt und die Arbeit von INBio belehrt. Besucher können auf
asphaltierten Wegen durch Regen- oder Trockenwald schlendern und an „Bioalphabetisierungsmaßnahmen“ teilnehmen. Wer 18 Dollar Eintritt zahlt, ein
Souvenir im „Biodiversitäts-Shop“ kauft und im Restaurant die Diversität costaricanischer Küche testet, kann das Schöne mit dem Nützlichen verbinden: Mit
den Einnahmen will INBio sein Budget aufpäppeln. Denn langfristig möchte das
Institut unabhängiger von seinen Geldgebern werden. „Wir planen, ein Drittel
unseres Haushaltes in Zukunft selbst zu bestreiten“, sagt Rodrigo Gámez.
INBio ist nicht gescheitert. Noch immer drücken sich Delegationen aus der
ganzen Welt im Institut in Heredia die Klinke in die Hand. Die einen lassen Geld
da, um die Arbeit des Instituts zu unterstützen, die anderen holen sich Anregungen. Für viele Regierungen in Mittel- und Lateinamerika hat INBio Beispielfunktion. Andere artenreiche Länder sind inzwischen hellhörig geworden:
Aus Angst vor Biopiraterie – dem Schmuggel biologischer Substanzen für kommerzielle Zwecke – dürfen fast nirgendwo mehr Naturstoffe außer Landes
gebracht werden. Doch nicht überall sind der Zugang zu den biologischen
Ressourcen und ihre nachhaltige Nutzung so eindeutig geregelt wie in Costa
Rica. Und so ist das Land heute das Mekka für Forscher der amerikanischen Tropen. Im Tropenforschungszentrum CCT, dem Forschungsinstitut La Selva oder
bei INBio bieten sich ihnen beste Vorraussetzungen: „Ich habe hier alles: Artenvielfalt, Bibliothek und Computer – und einen leichten, weil geregelten Zugang“,
erklärt mir ein amerikanischer Biologe. In vielen anderen Ländern sei das wis-
Annegret Böhme
Costa Rica
senschaftliche Arbeiten aufgrund der Behinderung durch die Behörden fast
unmöglich geworden.
INBio hat einen Prozess in Gang gesetzt. Das ist sein Hauptverdienst. Die Aufklärung der Bevölkerung und die Inventarisierung der Artenvielfalt machen
Sinn. Aber der großen Herausforderung, die Artenvielfalt ökonomisch zu nutzen,
konnte INBio nicht gerecht werden.
Den Ruf Vorreiter zu sein, wird Costa Rica behalten. Denn auf seine Experimentierfreudigkeit, auf die Beharrlichkeit, mit der es nach neuen Möglichkeiten
sucht, die eigenen Ressourcen zu nutzen und auf die Geschwindigkeit, mit der
es internationale Verträge in Taten umsetzt, kann sich das kleine Land mittlerweile so viel einbilden wie auf seine Artenvielfalt. Vor diesem Hintergrund
wäre ihm ein Lottogewinn durchaus zu wünschen.
Antje Deistler
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Sambia
vom 27. Juli bis 07. September 1999
Sambia
Antje Deistler
Landwirtschaftliche Entwicklungsprojekte
in Sambia
Antje Deistler
Sambia, vom 27. Juli bis 7. September 1999
Sambia
Inhalt
Zur Person
Vorgeschichte: „Geschäftspartner“
Das wahre Afrika
ADMADE – Hilfsprojekte im demokratischen Umbruch
SLAMU – Tierschutz mit Geld und Gewehr
Nachtrag: Apropos Südafrika...
Antje Deistler
Antje Deistler
Sambia
Zur Person
Antje Deistler, geboren 1965 in Mülheim an der Ruhr. Studierte Germanistik,
Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften und Politik an der Uni Köln. Währenddessen Praktika und freie Mitarbeit bei „radio ffn“, dem „Kölner StadtAnzeiger“ und verschiedenen ARD-Sendern. Von 1996 bis ‘98 Redakteurin bei
„Eins Live“, der jungen Hörfunkwelle des WDR. März/April 1998 achtwöchige
Recherchereise nach Südafrika, Swasiland und Mosambik im Rahmen eines Stipendiums der Internationalen Journalisten Programme (ijp). Seit Januar 1999
wieder freie Hörfunk- und TV-Journalistin in Köln.
Vorgeschichte: „Geschäftspartner“
Investment Centre, Lusaka. Die Regierungsbehörde zur Unterstützung der privaten Wirtschaft in Sambia. Ein kleiner, verwinkelter Flachbau an einer der Einfallstraßen. Ich habe einen Termin mit Peter Lintini, Direktor der Abteilung Wirtschaftsförderung, und gerade ist mein Thema geplatzt. „Wir haben seit zwei
Jahren nichts mehr von unseren südafrikanischen „Geschäftspartnern“ gehört“,
sagt er.
Die Anführungszeichen an dem Wörtchen “Geschäftspartnern“ kann ich
förmlich hören, auch wenn sie unausgesprochen bleiben. Denn Mr. Lintini,
ganz Schlips-und-Kragen-Manager, kann seine Geringschätzung hinter den
dicken Brillengläsern nicht verbergen, wenn er von der “South African Chamber for Agricultural Development in Africa“, SACADA, spricht.
Mit dieser Organisation und ihrer Arbeit in Sambia wollte ich mich eigentlich
während meines sechswöchigen Aufenthaltes beschäftigen. Seit 1995 arbeitet
SACADA daran, südafrikanische Farmer in afrikanischen Entwicklungsländern südlich der Sahara anzusiedeln. Dort sollen die auswanderungswilligen
Bauern günstig Land erwerben und sich niederlassen können. Im Gegenzug versprechen sie, ihr Kapital zu investieren und ihr agrartechnologisches Know
How an die lokale Bevölkerung weiterzugeben. Damit soll die landwirtschaftliche Produktion des Gastlandes gesichert und im Anschluss – und mit der aktiven Hilfe der Südafrikaner – Fortschritte in Infrastruktur, in sozialen Bereichen
und natürlich auf dem Arbeitsmarkt erzielt werden.
Interessant an SACADA ist für mich vor allem, dass es sich um eine rein weiße
Organisation handelt. Sie wird zwar vom ANC finanziell unterstützt, doch die
Programme richten sich an Buren. Südafrikanische Farmer mit den benötigten
Möglichkeiten und dem Wissen, um an SACADA-Projekten teilzunehmen,
sind fast ausschließlich Afrikaner. Und damit die ehemaligen Profiteure der Apartheid und, so sehen das zumindest viele von ihnen, jetzigen Verlierer im „New
58
Sambia
Antje Deistler
South Africa“. Außerdem ist die Entwicklungshilfeorganisation eng verbunden
mit der „Freedom Front“ von Ex-General Constand Viljoen. Diese Partei (nicht
zu verwechseln mit der faschistischen „Afrikaaner Weerstandsbeweging“ von
Eugene Terre’Blanche) tritt für einen weißen „Volksstaat“ ein.
Kein Wunder also, dass die Projekte von SACADA von der internationalen
Presse auch schon misstrauisch als „Export der Apartheid“ in andere afrikanische
Länder bezeichnet wurden. Dass Buren, noch dazu Mitglieder oder Sympathisanten der „Freedom Front“, als Wohltäter und Entwicklungshelfer in Schwarzafrika arbeiten wollen, nimmt ihnen kaum jemand ab.
Seit einigen Jahren ist SACADA in Mosambik aktiv. Nach Auskunft des Vorstandsvorsitzenden Dries Bruwer und seiner Tochter Theuna in Pretoria wurden
Anfang 1999 auch die ersten Projekte in Sambia aufgebaut, darunter ein Aufforstungsprojekt in Barotseland im Südwesten. Auch seien ihnen Grundstücke
bei Mkushi im Copperbelt und am Lufubu Fluss zugewiesen worden. Dort
würde ich im August viele mit SACADA zusammenarbeitende Farmer treffen
können, schrieb Theuna Bruwer mir noch im April. Doch je näher mein Abflugdatum rückte, desto weniger Informationen bekam ich aus Pretoria. Zahlreiche
E-Mails, in denen ich nach Kontaktpersonen und konkreten Ansprechpartnern
vor Ort fragte, wurden vage oder gar nicht beantwortet. Fünf Tage vor meiner
Reise gab es dann doch noch einmal eine Nachricht aus der Zentrale: Sorry, hieß
es, wir haben es nicht geschafft. Niemand von SACADA werde in Sambia mit
mir sprechen können, es wird nämlich niemand da sein. Probleme mit dem Fundraising. Andererseits gebe es bereits viele unabhängige südafrikanische Siedler
dort, die später mit SACADA zusammenarbeiten wollen. Vielleicht könnte ich
die ja besuchen?, versucht die Sprecherin mich zu trösten. Und nennt mir Peter
Lintini vom Investment Centre. Der könne mir sicher helfen.
Und da sitze ich jetzt, und der Direktor der Abteilung Wirtschaftsförderung,
mein letztes Fünkchen Hoffnung, zuckt nur mit den Schultern. Natürlich
gebe es eine ganze Menge südafrikanischer Farmer, die sich in Sambia angesiedelt haben. Aber von einer Verbindung zu SACADA weiß er nichts. Schon
gar nicht kann er sich erklären, warum ausgerechnet er mir als Gesprächspartner und Fürsprecher der Organisation genannt wurde. Vor eineinhalb
Jahren hat ihn mal jemand besucht, ja. Ein Vertreter von SACADA, der fette
Investitionen von südafrikanischen Farmern in Außicht gestellt – und sich
dann nie wieder gemeldet hat.
Trotzdem ist dieses Treffen mit Peter Lintini aufschlußreich. Der sambische
Busineßman hält wenig von den selbsternannten Entwicklungshelfern. Dabei
sind ihm die hehren, wohltätigen Ziele, die sich SACADA auf die Fahnen
geschrieben hat, völlig egal. Er ist an Investoren intereßiert, und in dieser Hinsicht haben die südafrikanischen „Geschäftsfreunde“ versagt. Seiner Meinung
nach haben sie einfach nicht genug Geld zusammengekriegt. Ihr Programm, nach
Antje Deistler
Sambia
dem die schwarzafrikanischen Gastgeber solvente neue Siedler erwarten können,
die Kapital ins Land bringen und darüber hinaus auch noch Entwicklungshilfe
leisten, hält er für pure Augenwischerei. Seiner Einschätzung nach ist SACADA
eher eine Hilfsorganisation für verarmte Bauern. Und davon hat Sambia selbst
genug. Findet er.
Sambia ist groß, fast so groß wie Großbritannien und Frankreich zusammen,
hat aber nur rund zehn Millionen Einwohner. Immer mehr Menschen, vor allem
junge Männer auf der Suche nach Arbeit, zieht es in die Städte. Bereits jeder
zehnte wohnt in Lusaka. Durch die Landflucht wachsen die Elendsviertel in den
Städten immens an, die Kriminalität steigt. Auf dem Land versuchen die zurückgelassenen Familien, die inzwischen hauptsächlich aus Frauen und Kindern
bestehen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Von der Landwirtschaft können
immer weniger Menschen leben, daher gehen die Ernteerträge ständig zurück.
Wer in Sambia ein Stück Land erwerben will, braucht in der Regel kein Geld.
Riesige Flächen sind unbesiedelt und liegen brach. Nur ein Zehntel wird bebaut.
Die Regierung freut sich über jeden, der einen ehemals staatlichen Betrieb zu
übernehmen bereit ist oder sogar eine neue Farm aufbauen möchte. Das bedeutet Jobs für die Landbevölkerung und vielleicht eine neue Sandpiste oder Straße
in der nicht selten vollkommen unerschlossenen Wildnis. Deshalb gibt es Grundstücke gratis. Was man braucht, ist Geduld. Für die Anträge, die ihren Weg durch
eine verschlungene Bürokratie nehmen müssen. Und für die Verhandlungen mit
den Autoritäten vor Ort. Denn der traditionelle Chief – oder die Chieftainess –
besitzt alles Land in der Region, in der sein/ihr Stamm lebt. Und er – oder sie –
entscheidet letztendlich, wer sich wo niederlassen darf und wer ein Grundstück
bekommt. Oder eben auch nicht. Wenn der Häuptling ablehnt, ist die Regierung
machtlos.
Doch das Investment Centre und Peter Lintini sind erstmal nicht wählerisch.
Jeder, der Pionierarbeit auf dem Land leisten will, ist willkommen. Ohne Ansehen der Person, ohne irgendeine Überprüfung oder Voreingenommenheit. Die
sambische Botschaft in Südafrika hat die zuständigen Stellen in Sambia über
SACADA informiert. So weiß auch Peter Lintini von den Verbindungen zur
„Freedom Front“ und dem Verdacht, dass diese Südafrikaner die Apartheid jenseits der heimatlichen Grenzen wiederbeleben möchten – auf Kosten des Gastlandes natürlich. „Aber die Buren haben uns viel zu bieten“, meint er. Südafrika
ist eine Wirtschaftsmacht und nach Großbritannien der zweitgrößte ausländische
Investor in Sambia. Da ist es ihm egal, dass südafrikanische Farmer ihren Ruf als
notorische Rassisten nicht loswerden.
Allerdings, räumt er ein, kontrolliere das Investment Centre die geförderten
Projekte. Denn man sei sich der Schwierigkeiten durchaus bewusst. Tatsächlich
beklagten sich immer wieder Landarbeiter über schlechte Behandlung oder
Missbrauch, Schläge und sogar Folterungen durch ihre zugewanderten weißen
Sambia
Antje Deistler
Arbeitgeber. Dann leitet das Investment Centre die Beschwerden an die Polizei
weiter. In besonders schweren Fällen werde der Täter des Landes verwiesen.
Zum Beweis erzählt Lintini mir von einem Mann aus Simbabwe. Der sei ausgewiesen worden, nachdem er seine Arbeiter übel misshandelt hatte. Die Kontrolle funktioniere also gut. Andererseits wussten die Behörden schon bei seiner
Einwanderung, dass der Antragsteller früher für die rhodesische Geheimpolizei
gearbeitet hatte. Peter Lintini bezeichnet ihn ganz offen als „Ex-Folterer“.
Ich kann die Geschichte nicht nachprüfen. Tatsache ist aber, dass die sambische Regierung keinen zukünftigen Investor wegen seiner Vergangenheit oder
auch nur wegen seiner Herkunft ablehnt. Als ich frage, ob nicht ein bisschen Vorsicht gegenüber dubiosen Organisationen oder Einzelpersonen angebracht sei,
lehnt sich Peter Lintini, der Direktor der Abteilung Wirtschaftsförderung beim
Zambia Investment Centre, in seinem Chefsessel nach vorne und zeigt mir
seine Hände. Die kleinen Narben, sagt er, stammen von Zigaretten, die ein paar
Südafrikaner in seiner Jugend darauf ausgedrückt haben. Er schaut mich an wie
um zu überprüfen, ob ich angemessen beeindruckt bin. Trotz dieser alten Wunden, fährt er fort, werde er heute keinen Buren daran hindern, nach Sambia zu
kommen. Denn erstens gebe es Rassismus überall auf der Welt, und zweitens sei
Sambia nach 35 Jahren Unabhängigkeit stark genug, mit diesen importierten
Rassisten fertig zu werden.
Die Zigarettengeschichte ist wieder so eine, die ich ihm glauben kann oder
auch nicht. Aber ich weiß ungefähr, was er mit der „sambischen Stärke“ meint.
Tribalismus und die notorischen gewaltsamen Stammeskonflikte (wie zwischen
Tutsis und Hutu in Ruanda oder zwischen Zulus und Xhosas in Südafrika) sind
in Sambia seit Jahrzehnten nicht vorgekommen. Und auch dem „weißen Mann“
wird viel Toleranz entgegengebracht. Sambier, das habe ich oft bemerkt, gehen
mit dem Thema „Rasse“ erstaunlich entspannt um.
Zum Beispiel Alex. Er ist Kellner im „Chasers“ in Lusaka, einer Bar im
Stadtteil Rhodes Park. Hier treffen sich die, die es sich leisten können, Schwarze
wie Weiße. Darunter Sambier ebenso wie deutsche, schwedische, kenianische
oder südafrikanische Geschäftsleute und Engländer, die hier schon lange leben.
„Expatriates“, wie die niedergelassenen Europäer genannt werden. Alex kennt
die meisten schon lange, viele von ihnen sind Stammgäste.
Nicht alle können sich benehmen. Berühmt-berüchtigt bei den Angestellten ist
Tom Fowler. Der alte Herr hat lange in Kenia, Malawi und Simbabwe gelebt,
bevor er vor ein paar Jahren mit seiner Familie nach Sambia kam. Ein Kolonialist von altem Schlag. Jeder kennt seine rassistische Einstellung Schwarzen
gegenüber, er macht ja auch kein Geheimnis daraus. Von den Kellnern und
Barmännern im „Chasers“ verlangt er, dass sie lächeln sollen. Immer. „Smile!“
befiehlt er, wenn Alex ihm seinen Gin-Tonic bringt, wenn er ihn einschenkt und
später, wenn er die Rechnung bringt. Bei Weißen nimmt sich Mr. Fowler diesen
Antje Deistler
Sambia
Ton nicht heraus. Alex lächelt ihn trotzdem strahlend an. Was Tom Fowler nicht
weiß: Alex ist nicht gehorsam, sondern amüsiert. Seine Kollegen und er lachen
ihn nicht an, sondern aus. Sie finden „seine Macken“ lustig, und sie mögen den
sonnenverbrannten alten „Muzungu“, den Weißen, sogar ganz gern. Er stammt
aus einer anderen, längst vergangenen Zeit. Klar ist Mr. Fowler ein Rassist. Sein
Problem.
Dieses achselzuckende, stets höfliche Selbstbewusstsein weißen Rassisten
gegenüber habe ich in Sambia oft beobachtet. Ob es die mittellosen Landarbeiter auf Megafarmen weißer Besitzer vor der befürchteten Ausbeutung und Misshandlung schützen würde, wie Peter Lintini vom „Zambian Investment Centre“
hofft, bezweifle ich allerdings.
Nach gut einer Woche in Lusaka musste ich mir also ein neues Rechercheprojekt suchen. Ich beschloss, im weitesten Sinn bei landwirtschaftlichen Projekten zu bleiben. Und fand sogenannte „Community Based Projects“ rund um
die sambischen Nationalparks, die nicht nur der Landbevölkerung helfen, sondern auch gegen die Wilderei in den Tierreservaten vorgehen sollen.
Das wahre Afrika
„Zambia – the real Africa!“ heißt der Slogan, mit dem Sambia für sich als touristisches Reiseziel wirbt. Keine hohle Phrase. Das bekommt jeder, der Lusaka
verlässt, körperlich zu spüren. Jedenfalls, wenn man so reist wie die meisten
Sambier, nicht wie die paar Luxustouristen, die sich von einem Nationalpark zur
nächsten 5-Sterne-Lodge fliegen lassen. Der überfüllte Minibus hoppelt über
Teerstraßen, die aus Schlaglöchern bestehen oder über Sandpisten, kaum als solche erkennbar. Eventuell vorhandene Stoßdämpfer haben längst den Dienst
quittiert. Die afrikanische Idylle haut einem fast die Bandscheiben raus.
Draußen, hinter den gesprungenen Scheiben, erfüllt die Natur den Werbespruch. Wildnis über weite Strecken. Abgebrannte Steppen oder dichte Wälder.
Die seltsamen weißen Baobab-Bäume ducken sich kahl und apokalyptisch unter
dem blauen Himmel. Eine Bergkette am Horizont. Lusaka mit seinen Hochhäusern liegt nur ein paar Minuten hinter uns, hier fahren wir an steinzeitlich
anmutenden Dörfern vorbei. Mit Elefantengras gedeckte Lehmhütten. Frauen,
die riesige Krüge – oder Plastikkanister – auf dem Kopf balancieren. Hunderte
von staubigen, lachend winkenden Kindern in zerrissener Kleidung am Wegesrand. Manchmal müssen wir anhalten, weil ein paar magere Kühe oder Ziegen
über die Straße trödeln. Oder weil der Motor oder die Reifen oder die Bremsen
oder was auch immer an diesem Vehikel streiken. Es ist wie in dem Bilderbuch,
das ich als Kind hatte. Wie in „Jenseits von Afrika“. Wie im Klischee.
Sambia
Antje Deistler
Ein paar Tage später sind wir in „Daktari“. South Luangwa Nationalpark. Ein
geschütztes Flusstal östlich von Lusaka. Je weiter man sich vom Hauptort
Mfuwe entfernt, desto schlechter werden die Straßen, bis sie irgendwann ganz
verschwinden. Hier macht die fehlende Infrastruktur den Reiz für die Besucher
aus. Foto-Safaris werden zu Fuß durch den Busch geführt. Auf Tierpfaden –
andere Wege existieren nicht – wandern die Touristen, begleitet von einem
Wildhüter und einem examinierten Führer, von einem Busch-Camp zum nächsten. Durch mannshohes Gras, durch Dickicht oder über weite, fast kahle Ebenen, die in der Regenzeit überschwemmt sind vom Wasser des Luangwa und seinen vielen kleinen Nebenflüssen.
Das Wichtigste ist, was man auf diesen „Walking Safaris“ in den abgelegeneren Teilen des Parks nicht sieht: Andere Menschen. Dafür muss man sich in
acht nehmen vor Elefanten, Flusspferden, Krokodilen, Löwen und Leoparden,
und begegnet immer wieder großen Herden von Antilopen, Zebras, Büffeln oder
einzelnen Giraffen.
Aber so menschenleer und unberührt, wie es scheint, ist es in South Luangwa
nicht. Auch hier leben Leute. Die Touristen nehmen sie nur nicht unbedingt wahr.
Engländer, Italiener, Amerikaner, Deutsche und Südafrikaner kommen, um ein
paar Tage Abenteuer zu erleben. Die Bisa und Ngoni verbringen ihren Alltag hier.
Was für die zahlenden Gäste aus Übersee eine aufregende Wanderung voller
Naturschönheiten ist, ist für die Bewohner dieser Gegend einfach ein verdammt
langer und gefährlicher Weg zum nächsten Geschäft.
40 Kilometer müssen seine Leute zum Arzt oder zum Einkaufen gehen,
erzählt mir Dambwele Mwale, der Headman von Mukasanga Village. Mukasanga ist eine Ansammlung von kleinen Dörfern im Norden des Parks. Die rund
700 Einwohner ernähren sich von dem, was ihre Felder hergeben. Außerdem gibt
es ein paar Hühner, Kühe und Ziegen. Alles, was sie darüber hinaus brauchen,
müssen sie sich im fernen Mfuwe besorgen. Das ist in der Trockenzeit, von Juni
bis Anfang November, schon beschwerlich genug. Während der Regenzeit ist es
komplett unmöglich. Dann könnten die Läden und die Klinik genausogut auf
dem Mond liegen – unerreichbar.
Spätestens im Dezember sind die Steppen und Grasebenen überschwemmt und
zu großen Seen geworden. Ausgetrocknete Flussbetten, die die Touristen in der
Saison mit angenehm klopfendem Herzen entlangspazieren, verwandeln sich in
breite Ströme voller Flusspferde und Krokodile. Im Mai, wenn der Regen nachlässt, machen sich die ersten Dorfbewohner auf den Weg. Bis sie mit frischen
Waren und Medikamenten zurückkommen, kann es Tage oder sogar Wochen
dauern. Einige Flussarme werden noch zu viel Wasser führen, als dass man sie
ohne Boot überqueren könnte. In dem Fall bleibt den Wanderern nur eins: Warten. Sie werden am Flussufer kampieren, ohne Zelt, schutzlos der Witterung, den
Tieren und den Moskitos ausgesetzt. So lange, bis das Wasser zurückgeht. Und
Antje Deistler
Sambia
später den ganzen Weg wieder zurückgehen, diesmal bepackt mit so viel, wie sie
gerade schleppen und auf dem Kopf balancieren können.
Möglicherweise landen sie aber auch erstmal auf dem Krankenbett. Wenn sie
Glück haben, bricht die Malaria nämlich gerade aus, wenn sie in der Nähe der
Klinik sind. Malaria ist in Sambia immer noch die Todesursache Nummer eins.
In den abgelegenen Dörfern werden viele sterben, die während der Regenzeit von
Moskitos infiziert wurden. Ohne ärztliche Hilfe und Medikamente müssen
kranke Kinder und Alte schon viel Glück haben, um zu überleben.
Kein Zweifel, sagt der „Headman“, das Dorf braucht medizinische Unterstützung, einen niedergelassenen Arzt und ein paar Krankenschwestern, und später will er ein Geschäft nach Mukasanga holen. Erreichen will Dambwele
Mwale seine Ziele mit Hilfe des „Department of National Parks and Wildlife Services“, der sambischen Nationalparkbehörde. Die unterhält verschiedene Projekte, die einerseits die Armut der Landbevölkerung bekämpfen und andererseits
die gefährdeten Tiere in den Parks schützen will. Das Geld dafür stammt – ausgerechnet – aus den Einnahmen der Jagd.
ADMADE – Hilfsprojekt im demokratischen Umbruch
Wie in Mukasanga Village bei South Luangwa leben die Menschen überall
rund um die Nationalparks in ihren grasgedeckten Lehmhütten. Sie ernähren sich
von Ackerbau und Viehzucht, wie sie das seit Jahrhunderten getan haben. Früher haben sie gejagt und Wild zur Nahrungsergänzung geschossen. Das dürfen
sie nicht mehr, seit die Tiere, ihr „Essen auf vier Beinen“, von einem Tag auf den
anderen durch die Nationalparks geschützt waren.
Rund um die sambischen Tierreservate liegen sogenannte „Game Management
Areas“ (GMAs), in denen die Jagd ausdrücklich erlaubt ist. Allerdings nur für
viel Geld. Internationale Touristen zahlen mindestens 1000 US Dollar pro Tag,
um einen Löwen, einen Büffel oder einen Leoparden töten zu dürfen. „Residents“, also sambische Staatsbürger, können für weniger Geld einen Jagdschein
für eine bestimmte Anzahl und Sorte Wild bekommen. Meist sind diese einheimischen Jäger Geschäftsleute aus Lusaka oder anderen größeren Städten. Für
Dambwele Mwale und die restlichen Dorfbewohner bleibt das Stück Papier unerschwinglich.
Jahrzehntelang waren die Nachbarn der Parks von ihrer eigenen Umgebung
abgeschnitten und entfremdeten sich dieser. Sie durften nicht jagen, und von dem
Geld, das mit Jagd- oder auch Fotosafaris verdient wurde, sahen sie nichts.
Heimlich wilderten sie für den eigenen Kochtopf – einen Büffel hier, eine Antilope dort. Viel mehr Schaden richteten die kommerziellen Wilderer an. Männer,
die vor allem in den 70er und 80er Jahren von weit her kamen, um den uner-
Sambia
Antje Deistler
sättlichen internationalen Markt für Elfenbein und Rhinozeros-Hörner zu beliefern. Das Horn eines Nashorns, in Asien als Potenzmittel gehandelt, war und ist
Gold wert.
Und so bedienten sich straff durchorganisierte, bis an die Zähne mit alten
Armeegewehren bewaffnete Banden der Ortskenntnis und des Wissens der
lokalen Bevölkerung. Als Führer und Träger verdienten sich die Dorfbewohner ein paar illegale Kwacha dazu. Die wenigen, vom Staat vernachlässigten
und unzureichend ausgerüsteten Wildhüter hatten keine Chance gegen diese
Übermacht. Ende der 80er Jahre waren sowohl Breitmaul- als auch Spitzmaulnashorn in ganz Sambia komplett ausgestorben, die Elefantenpopulation
bedrohlich zusammengeschrumpft. Auch Löwenrudel, Leoparden und Büffel sah man viel seltener als früher. Ihre Köpfe, Felle und Hörner waren vermutlich jahrelang nach Europa und Amerika geschmuggelt worden, um dort
als Trophäen an Wände genagelt zu werden.
Das war die Zeit, in der das „Administrative Management Design“, kurz
ADMADE, entwickelt wurde. 1988 wurde es vom National Parks and Wildlife Services etabliert, nach einer dreijährigen Pilotphase in Lower Lupande,
einem Nachbargebiet von South Luangwa. Dem System lag eine einfache
Erkenntnis zugrunde: Die Menschen müssen etwas von den Nationalparks
haben, wenn sie sie wertschätzen und schützen sollen. Ein lebendes Tier
sollte mehr einbringen als ein totes. ADMADE wurde mit US-amerikanischen
Spendengeldern auf den Weg gebracht, um die Anwohner der Nationalparks
an den Gewinnen aus der Tourismusbranche zu beteiligen. Das ist über zehn
Jahre her.
Dambwele Mwale hat drei Stühle auf den Platz neben dem Dorfbrunnen tragen lassen. Dort sitzen wir im Schatten des Sausage Tree; der graumelierte
Headman, unser Dolmetscher Matthews und ich. Mr. Mwale versteht zwar
Englisch, möchte aber nur in Bisa antworten, einer der 72 verschiedenen
Stammessprachen und -dialekte in Sambia. Die Sonne scheint, und dutzende
von unvorstellbar schmutzigen, neugierigen, fröhlich-rotznasigen Kindern
drängeln sich um uns. An den Anblick von „Muzungus“ in ihren durchfahrenden Jeeps sind sie in dieser Gegend gewöhnt. Aber nicht an weiße Besucherinnen, die mitten auf dem Dorfplatz sitzen. Sie bestaunen hauptsächlich
mein Aufnahmegerät und das Mikrofon, das ich ihrem Headman unter die
Nase halte. Von Zeit zu Zeit kommen sie zu nahe und kichern und tuscheln
laut, dann verscheucht er sie. Die Erwachsenen beobachten uns etwas würdevoller aus der Distanz und halten mühsam die eigene Neugier in Zaum.
Das Oberhaupt des Dorfes ist eine Respektperson, das musste man mir nicht
erst sagen. Rund 60 Jahre alt, so genau weiß er das selbst nicht, die Augen beinahe bläulich blass, aber aufmerksam. Er schafft es, mich milde von oben
herab zu betrachten, obwohl ich ihn im Sitzen überrage. Höflich ist er, ein
Antje Deistler
Sambia
Diplomat, der im Auftrag seines Dorfes nichts eventuell Schädliches sagen
will. Vor allem nicht zu Weißen. Die sind ja dafür bekannt, dass sie es mit dem
Naturschutz haben.
Die Zusammenarbeit mit ADMADE und National Parks and Wildlife funktioniere ganz gut, versichert der Headman. Er ist überzeugt, dass die Wilderei durch die Projekte zurückgegangen ist. Niemand brauche sich jetzt mehr
in den Dienst der illegalen Elfenbein- und Rhinozeroshorn-Jäger stellen.
Das ist schließlich eine gefährliche Arbeit. Man kann erwischt werden und in
die Schusslinie der Scouts geraten. Die standrechtliche Erschießung von
Wilderern ist in Sambia zwar nicht erlaubt. Aber Wildhüter und Wilderer liefern sich zuweilen erbitterte Feuergefechte, in denen es um Leben und Tod
geht. Noch vor kurzer Zeit war ein Wilderer in den Augen der Dorfbewohner
eine Art Robin Hood, der sein Leben riskierte, um den Armen das zu geben,
was die Reichen (die Regierung, die Weißen, die Ausländer...) ihnen vorenthalten wollten: Fleisch. Weil die Anwohner der Parks jetzt einen finanziellen
Vorteil vom Schutz des Wildes haben, bröckelt dieser Mythos.
Etwas zögerlich gibt Dambwele Mwale zu, dass es auch Probleme gibt. Seit
sie keine Tiere mehr schießen dürfen, zerstören Elefanten und Hippos ganz
ungehindert die kleinen Äcker der Bauern. Sie zertrampeln den Mais, grasen
die Pflanzungen ab oder reißen am Ende der Ernte die Getreidespeicher ein
und fressen sie leer. Der Unmut des Headman darüber, dass das Dorf sich
nicht mehr wehren darf, ist deutlich sichtbar. Im täglichen Kampf ums Überleben sind die von den Touristen so geliebten Dickhäuter eben immer noch die
Erzfeinde der Parkbewohner. Und dieses Problem findet sich überall, nicht nur
am Rand des South Luangwa Nationalparks. Mr. Mwale appelliert an die
Nationalparkbehörde, sie solle elektrische Zäune ziehen, um die Menschen
und ihre Ernte zu schützen. Aber dafür ist kein Geld da, lautet die Antwort aus
der Zentrale in Chilanga dann jedesmal.
Der Verteilungsschlüssel sieht folgendermaßen aus: 25 Prozent der erwirtschafteten Einkünfte aus dem Tourismus behält die Regierung. Mit 40 Prozent
werden die Scouts in den Parks unterstützt. Das Geld soll in Jeeps, Gewehre,
Kleidung, Ausrüstung, Häuser und Löhne der Wildhüter fließen. Und in
„Erziehung zum Naturschutz“. So gibt es in vielen Dörfern Imkerkurse.
Anstatt einen unter Umständen jahrhundertealten Baum im Nationalpark zu
fällen, um an den Honig der wilden Bienen in dessen Krone zu gelangen, sollen die Bauern lieber Bienenstöcke anlegen.
35 Prozent der ADMADE-Mittel schließlich kommen den Dörfern direkt
zugute. Damit seien mittlerweile 15 neue Brunnen gebaut, 13 Getreidemühlen angeschafft, 26 Schulen und dreizehn Kliniken neu errichtet oder renoviert
und sieben Autos für die kommunale Entwicklung angeschafft worden.
Sambia
Antje Deistler
Eine der 13 Getreidemühlen steht in Mukasanga Village. Mr. Mwale führt mich
durch das Dorf zu einem – in Deutschland würde man „Bretterverschlag“ sagen.
Dies hier ist eher sowas wie ein „Ästeverschlag“. In der Mitte die metallene
Mühle, von Wespen umtobt, voller Mehl und Staub, steht sie, irgendwie wie vom
Himmel gefallen, da. Doch doch, beteuert der Headman, wenn sie erstmal
benutzbar sei, werde sie eine große Hilfe darstellen. Dann müssten die Frauen
nicht so viel Zeit mit dem mühsamen Zerstampfen der Maiskörner im Mörser verbringen. Statt dessen könnten sie andere Arbeiten verrichten. Vielleicht könne man
mit dem „Posho“ auch noch ein bisschen Geld verdienen. Es fehlt nur noch der
Treibstoff für den Motor. Wo der herkommen soll, kann mir keiner sagen.
Neben dieser modernen Erfindung gibt es noch ein anderes Zeichen des
Fortschritts in Mukasanga: eine Schule. Die ist jedoch hauptsächlich durch Fördermittel der umliegenden Lodges gebaut worden. Eine private Initiative, die mit
ADMADE nichts zu tun hat.
„Wir werden ja sehen, wer bisher auf dem Geld gesessen hat“, sagt Dambwele
Mwale, und äußert sich damit verhalten optimistisch über die Strukturreform bei
ADMADE. Dass sein Dorf – ebenso wie viele andere – kein allzu großes Stück
vom ADMADE-Kuchen gesehen hat, weiß auch Charles Chiwele im „Department of National Parks and Wildlife Services“. Als stellvertretender ProjektKoordinator bei ADMADE gibt er den Chiefs die Schuld an der ungleichen Verteilung der Mittel. Die traditionellen Häuptlinge verwalteten bisher die Gelder
und teilten sie in ihrem – teilweise recht großen – Gebiet auf. Theoretisch.
Praktisch „sitzen“ sie, wie Dambwele Mwale es nannte, auf den Dollars.
Nicht nur er, sondern alle Beteiligten sind davon überzeugt, dass der Löwenanteil grundsätzlich erstmal in die private Tasche der Chiefs floss. Was übrig blieb,
wurde zwar für Schulen, Kliniken und so weiter genutzt. Doch in der Regel profitierte nur die nähere Umgebung des Chiefs. Wo er wohnte, gab es meist sehr
schnell eine Verbesserung der Lebensqualität. Entlegene Siedlungen gingen
lange leer aus. Doch niemand stellte die Häuptlinge zur Rede, verlangte einen
Kassensturz oder fragte nach dem verschwundenen Geld. Ein Chief – oder eine
Chieftainess – ist eine unanfechtbare Autorität, ein feudaler, souveräner Herrscher.
An dieser Macht nagt die Reform bei ADMADE. Die großflächigen Einflussgebiete der Chiefs wurden in kleinere Einheiten aufgeteilt, in „Village
Area Groups“, die die Sambier mit ihrer Vorliebe für Akronyme kurz „VAGs“
nennen. Hier sollen künftig gewählte Kommittees – in jedem VAG eines – über
die Kassen bestimmen.
Das bekommt auch Chieftainess Chiawa zu spüren. Ich treffe sie in ihrem
Stadthaus in Lusaka. Einen traditionellen Häuptling stellt man sich wohl anders
vor. Die Chieftainess wirkt eher wie eine First Lady: Sie ist klein und rund, trägt
keine Federn auf dem Kopf, sondern ein elegantes Hauskleid und sitzt mir tee-
Antje Deistler
Sambia
trinkend auf dem Sofa gegenüber. Nein, sagt sie, sie wisse nicht, ob sie im nächsten Jahr noch Vorsitzende des ADMADE-Ausschusses für Lower Zambezi
sein wird. Es wäre ihr nicht recht, abgewählt zu werden, aber wenn sie die
benötigten Stimmen nicht bekommt, wird sie daran nichts ändern können. Das
weiß sie als erfahrene Politikerin.
Ihr Gebiet, Chiawa, liegt im Süden des Landes. Man betritt ihren Machtbereich, nachdem man, von Chirundu kommend, den kreuzenden Fluss Kafue auf
abenteuerliche Weise mit einem Ponton überquert hat. Es ist ein kleines
Gebiet, ein schmaler Streifen den Sambesi entlang, das aber auch den Lower
Zambezi Nationalpark einschließt. Für die rund 50 Kilometer vom Kafue bis
zu den Campingplätzen und Lodges am Reservat braucht ein Wagen mit Vierradantrieb mindestens zwei Stunden. Hier lebt das Volk der Goa in den typischen kleineren und größeren Dörfern am Rand der unbefestigten Straße. Ein
einziges Haus besteht nicht aus Lehm und Elefantengras: Das der Chieftainess.
Es ist einfach zu finden, denn es steht auf einem Hügel, zwei Stockwerke hoch,
aus Stein gebaut, mit einem bizarren gelben Türmchen auf dem Dach. Doch
meist wohnt sie in ihrem Stadthaus in Lusaka. Die Kinder gehen aufs College
in Kanada.
Wie sie sich das alles leisten kann, darüber haben die Betreiber der Tourismusunternehmen am Lower Zambezi keinen Zweifel: Mit unserem Geld,
sagen sie – hinter vorgehaltener Hand. Die ADMADE Projekte am Lower
Zambezi werden seit kurzem mit dänischen Mitteln gesponsert. Doch die
„Game Management Areas“, die umliegenden Jagdgebiete, werfen hier nicht
sehr viel ab. Zu viel Dickicht, internationale Jäger tragen ihr Geld lieber
woanders hin. So haben sich Campingplatz- und Lodgebetreiber in Eigeninitiative selbst dazu verpflichtet, einen Teil ihrer Gewinne in den lokalen
ADMADE-Topf zu spenden. Seit drei Jahren tun sie das. Mit Erfolg, wie sie
sagen. Die Wildhüter im Park können mit besserer finanzieller Unterstützung
effektiver arbeiten. Noch im letzten Jahr, erzählt Chris Liebenberg, Inhaber des
„Chongwe River Camp“, seien 56 Elefanten von Wilderern erschossen worden.
Dieses Jahr erst drei.
Auf die Chieftainess, die Verwalterin ihrer Spendengelder, ist er trotzdem
nicht gut zu sprechen. Viel mehr könnte vor allem für die Dorfbevölkerung
getan werden, meint er. Wenn sie nicht so viel für ihren eigenen aufwendigen
Lebensstil abzweigen würde.
Chieftainess Chiawa dagegen verteidigt, auf dem Sofa sitzend, das System
der Chiefs als Kassenwarte. Bevor die Landbevölkerung durch den Kolonialismus von ihren eigenen Ressourcen und ihrer Umwelt entfremdet worden
seien, habe Naturschutz immer in den Händen der Häuptlinge gelegen. Sie
bestimmten, wer wann jagen durfte, nie wurde zu viel Schaden angerichtet. Mit
ADMADE, sagt sie, sei die gute alte Tradition langsam wieder zurückgekehrt.
Sambia
Antje Deistler
Charles Chiwele, der Mann von der Nationalparkbehörde, will diese Sicht
der Dinge nicht mehr unterstützen. Die Chiefs zu eigenmächtigen Kontolleuren der Gelder zu machen, habe nur die Korruption gefördert. Es gehe jetzt
darum, sagt er, der Korruption durch mehr Demokratie zu begegnen.
SLAMU – Tierschutz mit Geld und Gewehr
In der „Post“, einer der in Lusaka erscheinenden Tageszeitungen, stoße ich
beim Frühstück auf eine Anzeige: Die „South Luangwa Area Management
Unit“ (SLAMU), vormals „Luangwa Integrated Resource Development Project“
(LIRPD), gibt bekannt, dass größere Mengen Flusspferdfleisch zu verkaufen
sind. Es habe wieder eine Tötungsaktion im South Luangwa Nationalpark stattgefunden. Der Gewinn komme den ländlichen Projekten von SLAMU zugute.
Mit Aktionen wie diesen machen sich die Betreiber von SLAMU nicht unbedingt Freunde. Schließlich haben sie sich, ebenso wie ADMADE, neben der
Bekämpfung der ländlichen Armut, dem Tierschutz verschrieben. Das Prinzip ist,
bis auf Details, das gleiche: Die Landbevölkerung wird an den Gewinnen aus der
Tourismusbranche beteiligt.
„Culling“, also der systematische Abschuss ganzer Herden von Hippos oder
Elefanten, wenn die Populationen zu groß werden, ist grundsätzlich umstritten.
Befürworter nennen diese Maßnahmen „aktiven Naturschutz“, Kritiker finden
„das Morden“ grausam und überflüssig. Sie vertrauen darauf, dass die Natur das
Problem der Überbevölkerung selbst löst, durch Krankheiten oder Hunger beispielsweise.
Doch diesmal sind nicht nur Naturschützer erbost. Dr. Brian Childs, einer der
Verantwortlichen, hatte sich mit wütenden Hotelbesitzern, einem beleidigten
Chief und mehreren indignierten ADMADE-Vertretern auseinanderzusetzen. Ein
Teil des „Culling“ fand nämlich zur Hauptsaison statt, in der Nähe einer der teuersten Lodges in Mfuwe. Die zahlenden Gäste auf der Hotelterrasse wollten niedliche dicke Hippos beim Planschen im Fluss beobachten. Statt dessen mussten
sie durch ihre Ferngläser ein Blutbad mitansehen.
Ein anderer Teil des in Lusaka inserierten Fleisches stammte aus einer Aktion
im Norden des Parks. Der dortige Chief war nicht gefragt worden – in seinen
Augen eine unglaubliche Demütigung und Majestätsbeleidigung. Ganz zu
schweigen von der Tatsache, dass der Norden eigentlich „ADMADE-Gebiet“ ist
– Wilderei auf dem Boden der Konkurrenz lautete der dritte Vorwurf.
Das alles weiß ich, als ich Brian Childs in der Mfuwe Lodge gegenüber
sitze. Denn von seinen Projekten reden viele in South Luangwa. Selten haben
Lodgebetreiber oder Safariguides Gutes zu sagen.
Antje Deistler
Sambia
Dr. Childs hat zehn Minuten Zeit, SLAMU berät in der Luxusherberge
gerade mit den norwegischen Geldgebern die Finanzierung für das kommende Haushaltsjahr. Der gebürtige Brite guckt mich müde an, als wolle er
sich darüber beschweren, dass immer wieder dieselbe Kritik kommt. Tatsächlich hat SLAMU einen schlechten Ruf. Vielleicht klingen die Rechtfertigungen deshalb so routiniert.
Das „Culling“ betreibt SLAMU schon seit Jahren, sagt er, aber nicht zum
Spaß, wie er betont. Die Hippo-Bestände seien zu groß. Sie gefährdeten die
Umwelt und sind auch selbst nicht mehr gesund. Ja, man könne zwar damit
rechnen, dass irgendeine Seuche die Population schon auf natürliche Art und
Weise dezimieren werde, aber davon haben die Dörfer rund um Mfuwe
nichts. Durch Abschuss und Verkauf der überzähligen Flusspferde könne
wenigstens etwas Geld für die Projekte gesammelt werden, und so komme
man der Natur doch nur zuvor. Darüber hinaus habe „National Parks and
Wildlife“, die Zentralbehörde in Chilanga, von der umstrittenen „Culling“Aktion im Norden gewusst und sie genehmigt. Die Wut des Chiefs führt
Childs auf Kommunikationsprobleme zurück – er sei einfach nicht informiert
gewesen, wahrscheinlich wegen irgendeiner nicht funktionierenden Funkanlage. Was allerdings nichts daran ändert, dass der Chief vom Erlös aus dem
Verkauf „seiner“ Herde nichts gesehen hat und auch nichts sehen wird. Das
Geld kommt ganz selbstverständlich den Projekten weiter südlich zugute, ein
anderer Chief und andere Dörfer werden davon profitieren.
Was SLAMU von ADMADE unterscheidet, ist im wesentlichen das System
der Mittelverteilung. Zum Teil wird das Geld in Projekte investiert, zum Teil
aber auch einfach in bar an die Dörfer verteilt. Kritiker – darunter Unternehmer in der Tourismusbranche, die Foto-Safaris im Luangwa-Tal betreiben –
führen den Bevölkerungszuwachs rund um Mfuwe auf diese Praxis zurück.
Es spreche sich natürlich herum, wenn irgendwo Geld verteilt wird, deshalb
seien sämtliche Verwandte der hier ansässigen Familien aus ganz Sambia ins
Tal gekommen. Die Folge: Schlechtere Lebensbedingungen und ein Zuwachs
der Wilderei – die Leute müssen schließlich essen.
Adam Pope glaubt trotzdem nicht, dass dieser Schuss grundsätzlich nach
hinten losgegangen ist. Der „Expatriate“ koordiniert die Naturschutzaktionen
der Europäischen Union in Lusaka. Dass der Bevölkerungsdruck, und damit
auch die Gefahr für die Parks gestiegen ist, kann er bestätigen. Er wertet dies
jedoch erstmal als Zeichen des Erfolgs von SLAMU. In South Luangwa
gebe es Arbeitsplätze und Geld, und Regionen mit guter wirtschaftlicher
Prognose ziehen überall auf der Welt Menschen an. Ganz normale Migration
also. Das Problem sei jetzt die weitere Planung. Um die habe sich, das zeigt
seine Erfahrung vor allem mit den Geberländern und auch mit der sambischen
Regierung, niemand bisher ausreichend gekümmert. Es gebe keine Fort-
Sambia
Antje Deistler
schritte in der Infrastruktur und kaum ein Konzept für die weitere Entwicklung der Tourismusindustrie. Darüber hätte ich gern mit einem Vertreter vom
„Ministry of Tourism“ gesprochen. Leider konnte ich in den verbleibenden
vier Wochen keinen Termin bekommen. Weder mit Minister Reverend
Kapawa selbst, noch mit einem seiner Sekretäre.
Seit SLAMU in der Gegend rund um Mfuwe aktiv ist, ist die Anzahl der
Lodges von einer Handvoll auf beinahe 40 gestiegen. Brian Childs führt
dies ursächlich auf die Arbeit seiner Organisation zurück. Der Zuwachs an
Tourismusbetrieben sei auch der Grund für den Bevölkerungszuwachs, sagt
er, nicht das verteilte Bargeld. Das „Safari Business“ bedeutet Arbeitsplätze.
Eine von SLAMU durchgeführte Studie habe noch 1990 ergeben, dass 80 Prozent der Leute gegen das Tourismusgeschäft gewesen seien. Heute unterstützten es 95 Prozent der hier lebenden Menschen, weil sie – direkt oder indirekt – davon profitierten.
Die fehlende Planung, von der Adam Pope spricht, macht auch Brian Childs
zu schaffen. Gerade erst hat er Verhandlungen mit den verschiedenen Chiefs und
allen anderen Autoritäten wie dem „Ministry of Land“ aufgenommen, um einen
Nutzungsplan zu erstellen: Wer darf sein Hotel/Lodge/Camp wo aufbauen und
wo darf überhaupt nichts mehr gebaut werden? Doch bis die Aufstellung fertig
und offiziell ist, werde es noch lange dauern, prognostiziert er. Auch müsse der
Zuzug und die weitere Ansiedlung von immer mehr Menschen kontrolliert werden, aber wie das funktionieren soll, darauf hat er keine Antwort.
SLAMU wird in den nächsten Jahren versuchen, finanziell unabhängig und
autark zu arbeiten. Dafür wurde der Etat bereits von 1,8 Millionen im Jahr
1998 auf eine Million Dollar zusammengekürzt. Langfristig will man ohne
Spendengelder aus dem Ausland auskommen. In vier bis fünf Jahren wird sich
NORAD, der norwegische Geldgeber, zurückziehen. Childs will verhindern, dass
mit SLAMU dann passiert, was in diesem Fall normalerweise mit allen durch
Spenden unterstützten Projekten in Sambia geschieht – eine neue Hilfsorganisation, ein neuer Spender springt ein oder das Projekt kollabiert. Also braucht
SLAMU mehr Abgaben aus der Tourismusindustrie, die nur fließen, wenn noch
mehr Veranstalter nach South Luangwa gehen. Mehr Straßen, eventuell noch ein
oder zwei Flugplätze und eine bessere Infrastruktur werden die Folge und
gleichzeitig die Bedingung für den gewünschten wirtschaftlichen Boom sein.
Doch da droht die nächste Falle – wie überall auf der Welt, wo die Tourismusindustrie Fuß fasst. Noch sind Sambias Nationalparks relativ unberührte
Naturlandschaften, die sich gerade von der Wilderei erholen. Doch mit immer
mehr Touristen, besseren Straßen und besserer Erreichbarkeit werden Gebiete
wie das noch unzugängliche South Luangwa-Tal zum eingeebneten, befahrbaren Zoo für die internationale Touristengemeinde. Aber eben möglicherweise
auch zu einer etwas weniger feindlichen Umwelt für die Einwohner.
Antje Deistler
Sambia
„Zambia – the real Africa“ – Wenn der Werbespruch Erfolg hat, wird er sich
bald von selbst erledigt haben.
Welchen Nutzen Projekte wie ADMADE und SLAMU grundsätzlich für
den Wildbestand in den Nationalparks haben, darüber streiten sich Förderer und
Kritiker. Die Wilderei sei zurückgegangen, bestätigt Wildhüter Goliath Muniama
die Darstellung der Nationalparkbehörde. Er geht in South Luangwa Streife und
findet heute nur noch vereinzelte Drahtschlingen, aber keine kommerziellen Wildererbanden mehr, sagt er. Ebenso wie Muniama sind die Anlieger des Lower
Zambezi davon überzeugt, dass ihre Unterstützung für die Projekte bereits
Erfolg gezeigt hat. Klare Zahlen über die Entwicklung der Tierpopulationen liegen aber nicht vor. Kritiker glauben, dass die Initiativen grundsätzlich zu spät
gekommen seien. In ihren Augen erholen sich die Elefantenherden seit dem Ende
der 80er Jahre nur deshalb wieder, weil in der „Convention on International Trade
in Endangered Species“ (CITES) von 1989 ein weltweites Handelsverbot für
Elfenbein ausgesprochen wurde.
Für das Rhinozeros kamen alle Aktionen zu spät. Die Art ist in ganz Sambia
restlos ausgestorben. Nur im kleinen Mosi oa Tunya Nationalpark auf der sambischen Seite der Victoriafälle gibt es wieder ein paar Breitmaulnashörner. Sie
sind aus Südafrika importiert.
Nachtrag: Apropos Südafrika...
Wieder zuhause in Köln, habe ich mich noch einmal meinem ursprünglichen
Thema gewidmet und die „South African Chamber of Agricultural Development
in Africa“, SACADA, per E-Mail um eine Stellungnahme gebeten. Nachdem
Sprecherin Theuna Bruwer mir vor einigen Monaten nur ausweichende bis
keine Informationen gegeben hatte, antwortete sie jetzt prompt. Die Organisation befinde sich in einer Phase der Umstrukturierung, antwortet die Tochter des
Vorstandsvorsitzenden Dries Bruwer. Der Eindruck, dass SACADA eine Art
„Joint Venture“ zwischen ANC und Freedom Front war, hatte so viele private
Investoren abgeschreckt, dass in letzter Zeit kaum noch Spenden gesammelt werden konnten. Mit einer politischen Körperschaft wollte niemand aus der Wirtschaft in Verbindung gebracht werden. Die derzeitige Umstrukturierung, von
einer Stiftung hin zu einer unabhängigen öffentlichen Handelsgesellschaft, soll
dieses Image abschaffen und die Investoren zurückholen. Den Plan, „ihre“ Farmer möglichst bald in Sambia anzusiedeln, hat SACADA noch nicht aufgegeben.
Über das Bild des rassistischen Afrikaaners ist man sich bei SACADA durchaus bewusst. Man nennt die „Vorliebe“ der Buren, „unter sich zu bleiben“, aber
lieber nicht „rassistisch“, sondern „ethno-kulturell“. „Natürlich“ vermischten sich
die südafrikanischen Farmer nicht gern mit der lokalen Bevölkerung. Deshalb
Sambia
Antje Deistler
sollten sie nicht als Einwanderer, sondern besser als ausländische Investoren
angesehen werden.
Das Thema „Volkszugehörigkeit“ sei von der sambischen Regierung jahrelang
durch die Einführung der englischen Sprache als Amtssprache heruntergespielt
worden, so denkt Theuna Bruwer in ihrer E-Mail schriftlich nach – vielleicht
könnten die Sambier deshalb so wenig mit der traditionellen Einstellung der
Buren anfangen.
Ich frage mich, ob dieses Unverständnis so ein großer Nachteil ist.
Kerstin Eva Dreher
aus Deutschland
Foto fehlt
Stipendien-Aufenthalt in
Botswana
vom 21. Januar bis 21. April 1999
Botswana
Kerstin Eva Dreher
Botswana –
ein Paradies für Afrikanische Elefanten?
Von Kerstin Eva Dreher
Botswana, vom 21. Januar bis 21. April 2000,
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
Botswana
Kerstin Eva Dreher
Inhalt:
Zur Person
1.
Einführung:
1.1 Wo, bitte schön, liegt Botswana?
1.2 Willkommen in Afrika
2.
Elefanten – sind sie zu groß für diese Welt?
3.
Botswana – ein Paradies für Elefanten? Ein Lagebericht
3.1 „Uns fragt keiner“
3.2 CITES-Konferenz 1997 und die Folgen
3.3 Wilderei – kein Thema in Botswana?
4.
Tourismus: das Geschäft der Zukunft
4.1 „A long way to go“
4.2 Safari de luxe – Abu’s Camp
4.3 Umwelterziehung in Mokolodi
5.
Wildlife-Management in Botswana
5.1 Funktioniert das System des „Community based97
natural resources management“?
5.2 Großwildjagd – auf der Suche nach dem ultimativen Kick
5.3 Culling – die einzige Alternative?
6.
Die 11. CITES- Konferenz in Nairobi – Ergebnisse
und Beurteilung
7.
Schlussbemerkung
8.
Dankeschön
Kerstin Eva Dreher
Botswana
Zur Person
Kerstin Eva Dreher, geboren am 28.8.1968 in Überlingen am Bodensee.
Nach dem Abitur 15-monatiger Au-Pair-Aufenthalt in Paris. 1990 – 94 Studium der Germanistik, Anglistik und der Politischen Wissenschaften in Köln.
Volontariat beim Burda Verlag und der Deutschen Journalistenschule in
München und Offenburg. Seit 1997 freie Journalistin in Köln, hauptsächlich
tätig für das WDR-Fernsehen.
1. Einführung
1.1. Wo bitte schön liegt Botswana?
Ein dreimonatiges Stipendium in Afrika? Das ist ja toll! Und wo genau?
Botswana? Davon hab ich ja noch nie etwas gehört! Wo um alles in der Welt liegt
das denn? In West- oder Ostafrika? Am Meer? – So ähnlich verlief fast jedes
Gespräch mit Kollegen oder Freunden, wenn ich von meinem bevorstehenden
Afrika-Aufenthalt erzählte. Und das ist auch keinem zu verdenken. Wann hört
oder liest man denn Nachrichten aus Afrika? Wenn irgendwo mal wieder ein Bürgerkrieg tobt, eine Naturkatastrophe herein bricht oder die Nigerianer mal wieder herrlichen Fußball spielen. All das hat Botswana nicht zu bieten. Das Fußballteam ist trotz internationaler Betreuung eher lausig, Unwetter toben hier so
gut wie nie (es gibt allenfalls lange Dürreperioden) und einen Bürgerkrieg oder
politische Unruhen hat es auch schon lange nicht mehr gegeben. Im Gegenteil
– Botswana gilt als die Vorzeige-Demokratie Afrikas. Über Südafrika und zwischen Namibia, Sambia und Simbabwe gelegen, ist das Land mit ca. 582000
Quadratkilometern größer als Frankreich, hat auf dieser riesigen Fläche aber
lediglich 1,6 Millionen Einwohner. Botswana ist einer der größten Rohdiamantenproduzenten der Welt, ist auch in Europa bekannt als erstklassiger RindfleischLieferant und aufgrund dessen im Vergleich zum restlichen Afrika relativ wohlhabend. Wenn Botswana in deutsche Schlagzeilen gerät, dann höchstens
aufgrund der alarmierend hohen Aids-Quote (jeder Vierte ist HIV-positiv!).
Ansonsten dürfte das Land nur Natur- und Tierliebhabern bekannt sein, denn
Botswana ist mit der Kalahari, dem Chobe National Park und dem OkawangoDelta ein Paradies für Millionen wilder Tiere, allen voran für den Afrikanischen
Elefanten.
Botswana
Kerstin Eva Dreher
1.2 Willkommen in Afrika
Mit diesen Informationen im Gepäck trat ich meine Reise an. Gut informiert und bestens vorbereitet – wie ich dachte. Nach 13 Stunden Flug landete
ich endlich in Gaborone auf dem «Sir Seretse Khama»-Airport, dem kleinsten
internationalen Flughafen, den ich je gesehen hatte. Das erste, was mir auffiel, war das angenehme Sommerklima. Es war warm, aber nicht heiß und die
Luftfeuchtigkeit war erträglich. Da war ich aus Westafrika ganz anderes
gewohnt. Noch etwas war ganz anders, als ich es erwartet hatte: Jeder sagte
freundlich «Dumela Ma» (Guten Tag), war hilfsbereit, nahm aber auch nicht
weiter von mir Notiz. Eine allein reisende Weiße ist nichts besonderes in Botswana. Das Land kannte nie eine Apartheid und es leben viele Weiße hier:
Batswana, Südafrikaner und auch einige Europäer. Also: Keine aufdringlichen Kofferträger, Taxifahrer, Geldwechsler oder Kettchenverkäufer am
Flughafen. Niemand, der sich auf mich stürzte, von mir zum Essen eingeladen werden wollte oder eine Zigarette schnorrte. – Herzlich willkommen in
einem ganz anderen Afrika!
Doch nicht nur wir in Europa wissen wenig über Land und Leute in Botswana,
auch umgekehrt herrscht Unkenntnis. Es gibt nur eine einzige Tageszeitung, die
aber de facto weniger eine Zeitung als vielmehr ein kostenloses, staatliches Informationsblatt mit nur vier bis sechs Seiten ist. Die restlichen Publikationen sind
Wochenzeitungen. Der staatliche Fernsehsender, der eigentlich seit einem Jahr
„on air“ sein sollte, befindet sich noch immer im Aufbau, und die wenigen Radiostationen sind meist nur in der Hauptstadt zu empfangen. Nur selten finden internationale bzw. europäische Schlagzeilen den Weg in die Nachrichten. Über
Deutschland sind nur die gängigen Klischees bekannt: Die Deutschen trinken
Unmengen von Bier und fahren nur Porsche oder Mercedes. Um so erstaunter
waren meine Kollegen vom Botswana Guardian, als ich mir nach zwei Wochen
einen alten, klapprigen Ford zulegte. Ganz einfach, weil ich die Warterei auf völlig überfüllte Minibusse, Taxifahrer und Kollegen, die mich abholen wollten und
nie oder mit mindestens zwei Stunden Verspätung kamen, leid war. Und das achso-typische deutsche Bier hat mir auch noch nie geschmeckt. Dabei hatte mich
Collin, der Auszubildende vom Botswana Guardian, mit seiner Frage: „Is it true
that you have beer-pipelines in every German household and that you pay the bill
at the end of the month?“ eigentlich auf eine prima Geschäftsidee gebracht.
Auf beiden Seiten war es ein hartes, aber äußerst vergnügliches Stück Arbeit,
mit den Vorurteilen aufzuräumen. Die wichtigsten und prägendsten – aber auch
härtesten – Lektionen für mich waren: „Auch wenn es nicht danach aussieht, es
wird schon klappen“ und „Zeit ist relativ“.
Kerstin Eva Dreher
Botswana
2. Elefanten – sind sie zu groß für diese Welt?
Loxodonta africana africana, so der lateinische Name des afrikanischen
Savannenelefanten, ist ein ganz besonderes Tier. Mit einer Schulterhöhe von
bis zu 2,90 Metern und einem Gewicht von bis zu 7.500 Kilogramm ist er das
größte Landsäugetier. Er lebt gesellig in Gruppen mit einer festen Sozialstruktur. Diese Gruppen sind Familienverbände von durchschnittlich 10 Tieren, manchmal schließen sie sich auch zu einem ganzen Clan mit 60 oder 70
Angehörigen zusammen. Die Gruppen werden immer von einem weiblichen
Tier angeführt, Bullen sind nur bis zum Alter von ca. 15 Jahren in der Herde
gestattet. Danach ziehen sie alleine oder in einer kleinen Gruppe von Junggesellen umher. Nur zur Paarung, die ein paar Tage dauern kann, schließen sie
sich kurzzeitig den Gruppen wieder an.
Das Gefühl, einen dieser Riesen nicht im Zoo oder Zirkus, sondern in
Freiheit, ohne Zäune oder Grenzen zu sehen, ist unbeschreiblich. Egal, ob man
einen der großen Bullen durch die unendlich weite Savuti-Marsch stolzieren
sieht oder eine mehrere hundert Tiere umfassende Herde beim Grasen am
Chobe beobachtet – ich musste mich selbst immer wieder in den Arm kneifen, um zu begreifen, dass das kein Film oder Traum, sondern Realität war.
Stundenlang konnte ich dort sitzen und einfach nur zuschauen. Sehen, wie
sich Mütter mit ihren wenige Tage alten Kälbern im Schlamm suhlten, zwei
Halbstarke ein kleines Kämpfchen veranstalteten, wie eine Herde durch den
Grenzfluss ins benachbarte Namibia schwamm oder ein besonders vorwitziger junger Bulle mein Auto inspizierte und seinem Rüssel mehrfach um den
Seitenspiegel schlang. Dass zu sehen macht süchtig, davon kann man einfach
nicht genug bekommen. Man mag es einfach nicht wahrhaben, dass es nur
noch wenige Länder geben soll, in denen dieses Schauspiel zum Alltag
gehört! Es fällt schwer zu glauben, dass diese sensiblen, sanften und erstaunlich sozialen Tiere zu groß für diese Welt sein sollen. Warum eigentlich?
Elefanten sind äußerst schlechte Futterverwerter, ein Großteil der aufgenommenen Nährststoffe wird einfach wieder ausgeschieden. Deshalb sind sie
auch fast den ganzen Tag mit Fressen beschäftigt. Bis zu 200 kg Gras, Blätter, Wurzeln, Rinde und Früchte verschwinden jeden Tag im Magen eines
erwachsenen Elefanten. Je nach Jahreszeit bevorzugen Elefanten unterschiedliche Pflanzenteile eines bestimmten Baumes oder Busches, manchmal
sind es die Blätter, dann wieder die Rinde oder die Wurzeln. Die nahrhaften
Mophane-Bäume gehören zu ihrer Lieblingsspeise, und das sieht man den
Mophane-Wäldern im Norden Botswanas leider auch an. Nicht nur, dass
viele Bäume, darunter auch die riesigen Baobabs (Affenbrotbäume), regelrecht geschält oder leergefressen werden – Elefanten lieben es auch, sich an
ihnen kräftig zu reiben, Äste abzubrechen oder sie einfach umzustoßen. Bei
Botswana
Kerstin Eva Dreher
einer großen Elefantenpopulation wird der „Schaden“, den sie durch dieses
Verhalten anrichten, natürlich immer größer. Vor allem in der Trockenzeit werden die kargen Stellen rund um die wenigen Wasserlöcher und ein deutlich
gelichtetes Flußufer am Chobe sichtbar. Ob die große Anzahl Elefanten die
Vegetation zerstört oder lediglich verändert – darüber streiten sich die Experten. „Die weiten Steppen und Savannen Kenias oder Tansanias waren früher
auch einmal Wälder – heute sind sie es nicht mehr. Und? Stört das heute
jemanden? Wir Menschen denken einfach nur in viel zu kleinen Zeitschritten.
Die Welt verändert sich eben – und wir Menschen können das sicher nicht aufhalten“ – behaupten viele. Die Gegenseite argumentiert: „Die Elefanten verdrängen andere, kleinere Tierarten, indem sie diesen das Wasser streitig
machen. Außerdem verändern sie das gesamte Ökosystem Botswanas, indem
sie die hiesige Fauna zerstören und so einen Nährboden für fremde, nicht heimische Pflanzen schaffen“. Jede Seite hat also gute Argumente, doch zählen
diese wenig, solange sie nicht belegt sind. Und genau das ist der Knackpunkt:
Es gibt noch viel zu wenig wissenschaftliche Ergebnisse.
Licht ins Dunkel sollen einige laufende Forschungsprojekte bringen. Eines
davon nennt sich «BONIC» und ist ein fünfjähriges Gemeinschaftsprojekt der
Regierungen Botswanas und Norwegens. Das Projekt untersucht den Einfluss
von Elefanten, anderen großen Pflanzenfressern und Buschfeuern auf die Entwicklung des Baumbestandes in der Chobe-Region. Gestartet wurde
«BONIC» 1998, mittlerweile wurden Verwaltungsräume bereit gestellt, ein
Camp für die Forscher errichtet und sogar erste Daten gesammelt. Forscher
(und solche, die es werden wollen) nehmen die Vegetation der Chobe-Region
genau unter die Lupe. In einem zweiten Schritt sollten sogenannte „Exclosures“ vom Nationalpark-Gelände abgeschirmt und die Entwicklung der
Pflanzen dort genauestens untersucht werden. Der erste Teil der 150 Meter
langen und 130 Meter breiten „Exclosures“ sollte komplett eingezäunt werden, so dass kein Pflanzenfresser auf das Gelände zur Nahrungsaufnahme
gelangt. Der zweite, genauso große Teil würde von einem Zaun umgeben sein,
der im unteren Bereich offen ist, also kleineren Pflanzenfressern Zutritt
erlaubt, Elefanten jedoch fernhalten soll. Der dritte Teil würde gar nicht eingezäunt, er sollte nur als Kontrollfeld dienen, um die unterschiedliche Entwicklung zu den beiden anderen Teilen dokumentieren zu können. Als ich dort
war um mir das Projekt anzusehen, sollten sechs der «Exclosures» schon lange
stehen und die Forschungen eifrig vorangeschritten sein – so stand es zumindest auf dem offiziellen Zeitplan. Es hat mich einige Überredungskunst
gekostet, den „District Wildlife Officer“ und Projektleiter Mr. Othomile zu
überzeugen, mir das Projekt doch bitte zu zeigen. Als wir endlich an einer der
«Exclosures» angekommen waren, wurde mir klar, weshalb. Der Zaun (der
offensichtlich kurzzeitig wirklich gestanden hatte), war komplett zerstört. Ein-
Kerstin Eva Dreher
Botswana
fach umgetrampelt. Von Elefanten, Büffeln oder anderen Tieren. So konnte
hier natürlich nicht geforscht werden, denn jedes Tier hatte hier überall
Zutritt. Mr. Othomile war darüber nicht einmal verärgert. „Wir haben die
Firma, die die Zäune aufbauen sollte, ja noch nicht bezahlt“, war sein Kommentar. „Außerdem kommen die Norweger ja nächsten Monat. Die sollen
ruhig mit eigenen Augen sehen, dass das hier eben nicht alles so funktioniert,
wie es auf dem Papier steht!“ Das etwas enttäuschende Fazit: „BONIC“, ein
Projekt, in dessen Ergebnisse viel Hoffnung gesetzt wurde, klappt offensichtlich nicht. Und man kann nur hoffen, dass vielleicht ein anderes Projekt
funktioniert und endlich die ersehnten Forschungsergebnisse bringt.
3. Botswana – das Paradies für Elefanten? Ein Lagebericht
Siebzehn Prozent der gesamten Fläche Botswanas sind als Nationalparks,
weitere 20 Prozent als „Wildlife Management Areas“ ausgewiesen. Bis auf
einen etwa 500 km langen, relativ dicht besiedelten Landstrich im Osten des
Landes kann man tagelang durch die Kalahari fahren, ohne auch nur einer einzigen Menschenseele zu begegnen. Den Kalahari-Highway im Westen und die
wenigen Straßen im Süden säumen freilaufende Esel, Ziegen und Rinderherden. Ein anderes Bild bietet sich im Norden und in den Nationalparks, wo
es genügend Flüsse und Wasserstellen gibt: Dort sind es Elefanten, Büffel,
Zebras, Nilpferde, Antilopen, Krokodile und Löwen, denen man begegnet.
Botswana hat die größte Elefanten-Population der Welt. Laut dem „Department of Wildlife and Nationalparks“ (DWNP) sind es mittlerweile 106.000
Tiere, mit einem jährlichen Wachstum von circa 5 Prozent, die sich in einem
etwa 80.000 Quadrat-kilometer großem Gebiet aufhalten. Den Elefanten
scheint es hier zu gefallen, in den letzten Jahrzehnten immigrierten immer
mehr aus den umliegenden Ländern. Kein Wunder, denn Botswana bietet –
zumindest aus Elefantensicht – das einzige friedliche Terrain der Region. In
Angola tobt seit langem ein Bürgerkrieg, bei dem Elefanten immer wieder
zwischen die Fronten geraten. Das gleiche gilt für den Caprivi-Strip in Namibia, in Simbabwe wird gecullt (d.h. bei einer Überbevölkerung werden ganze
Herden abgeschossen) und in Sambia ist Wilderei ein großes Problem. Die
Folge: Die Elefanten treffen sich in der friedlichen Mitte – in Botswana.
Und obwohl die Nationalparks im Norden Botswanas weitläufig sind, wird es
eng – und die Konkurrenz um Wasserlöcher, das Chobe-Ufer oder das Okawango-Delta, vor allem in der Trockenzeit, größer. Die Folge: Wildtiere,
allen voran die Elefanten, drängen massiv auch in andere, nicht geschützte
Gebiete vor.
Botswana
Kerstin Eva Dreher
Damit sind wir auch schon beim größten Konflikt der Region: Flächenmäßig ist Botswana zwar riesengroß, aber es gibt nur relativ wenig fruchtbare
und wasserreiche Regionen außerhalb der Nationalparks, und um die konkurrieren die Rinderzüchter auf der einen und die wilden Tiere auf der anderen Seite. Rinder-, Esel-, Ziegen- oder Hühner-Haltung ist in der Kultur der
Batswana tief verankert. Rinder zu besitzen ist gleichbedeutend mit Wohlstand
– und das seit Jahrhunderten. Ein einflussreicher Mann ist immer auch ein
Viehzüchter. Auch das traditionelle Brautpfand wird in Rindern, und nicht in
der Landeswährung Pula festgelegt. Botswanas ganzer Stolz ist der gigantische Schlachthof bei Lobatse, der größte des gesamten Kontinents. Rindfleisch ist nach Diamanten der einzige Exportschlager des Landes und somit
ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Die Tradition der Viehzucht hat auch heute
noch nicht an Einfluss auf den Alltag der meisten Batswana verloren. Zu
Beginn meines Aufenthalts wunderte ich mich immer wieder, wie schwer es
doch war, mich mit meinen Kollegen vom Botswana Guardian am Wochenende zu verabreden. Die meisten fahren nach Hause, in ihre Heimatdörfer –
dachte ich! Als ich mir den x-ten Korb von meinem Kollegen Keke holte,
fragte ich dann aber doch mal genauer nach. Ergebnis: Er fuhr am Wochenende auf seine „Cattle Post“. Das sind weit entlegene Weiden, auf denen junge
Männer das ganze Jahr über die Herden hüten. Bei diesem Gespräch erfuhr
ich auch, dass Keke sein Geld nicht auf der Bank einzahlte, sondern in Ziegen, Hühnern und Esel investierte. Irgendwann werde er sich dann auch sein
erstes Rind kaufen, verkündete er mit stolz geschwellter Brust. Einem Europäer mag das seltsam vorkommen, für einen Batswana ist es das normalste der
Welt. Auch unter Politikern. Als der botswanische Botschafter in den USA
nach langer Zeit mal wieder nach Hause kam, verschwand er zunächst. Tage
später hatten ihn die Medien dann aufgespürt: Natürlich auf seiner „Cattle
Post“ – wo sonst?
Durch diese Geschichten wird klar, dass Rinder und andere Nutztiere bei
den Batswana einen deutlich höheren Stellenwert als Wildtiere haben. Dabei
spielt sicherlich die Tatsache eine große Rolle, dass die jeweiligen Viehhalter ihre Rinder, Esel und Ziegen besitzen und über ihre Schlachtung bestimmen, während Wildtiere Eigentum des Staates sind. Nur das „Department of
Wildlife and Nationalparks“ kann bestimmen, wann ein Wildtier getötet werden soll. Wenn beispielsweise ein Löwe eine kleine Siedlung im Busch
bedroht, darf dieser von den Einwohnern nicht einfach so erlegt werden.
Zunächst einmal muss etwas passieren, dann muss das DWNP eingeschaltet
werden, das über das weitere Schicksal des Löwen bestimmt. Wird an den
Schreibtischen in der fernen Hauptstadt Gaborone dann beschlossen, den
Löwen zu töten, rückt die sogenannte „Problem Animal Controll Unit“ aus
und erlegt das Tier. Ein Prozess, der mehrere Tage oder Wochen dauern kann.
Kerstin Eva Dreher
Botswana
3.1 „Uns fragt keiner“
„Fragen des Arten- und Naturschutzes sind für die Einwohner in den
betroffenen Regionen kaum von Interesse, da müssen Sie erst gar nicht nachfragen!“ – Diesen Spruch bekam ich von Regierungsoffiziellen zu hören, als
diese von meinen Plänen erfuhren, in einige betroffene Dorfgemeinschaften
zu fahren und die Leute vor Ort zu befragen. Um so erstaunlicher, was für
Ergebnisse ich in den vielen Stunden sammelte, die ich auf dem Boden sitzend
in Kgotlas (traditionelle Versammlungsorte in Dörfern) und im Schatten
eines großen Baobabs (Affenbrotbaum) verbrachte. Die Einwohner von
Khwai, Sankuyo und die Mitglieder des „Chobe Enclave Community Trust“
hatten – nach anfänglicher Scheu – nämlich durchaus etwas zu sagen. Mit
wenigen Ausnahmen waren alle davon überzeugt, dass die Wildtiere, allen
voran die Elefanten, die durch ihre Gebiete zogen, der Gemeinde durchaus
Wohlstand verschaffen könnten. Auch wenn die meisten Angst vor Elefanten
hatten und in ihnen vielfräßige Riesen, die ihre wenigen Felder zerstörten,
sahen, erkannten sie durchaus, dass eine gesunde Wild- und Elefantenpopulation ihnen Arbeitsplätze im Tourismusbereich schaffen und sichern kann.
Vor allem das vor wenigen Jahren eingeführte „Community based natural
resources management“ (kurz CBNRM, mehr dazu in Kapitel 5) begrüßen sie,
denken aber gleichzeitig, sie seien nicht genug integriert. Sie fühlen sich
bevormundet von ihrer Regierung, aber vor allem von selbsternannten europäischen oder amerikanischen Elefanten-Experten, die die Tiere vielleicht ein,
zwei Jahre studiert haben. „Uns fragt keiner und dabei leben wir doch seit
Jahrhunderten mit diesen Tieren, Tag für Tag. Wir dürfen sie nicht besitzen,
wir müssen nur mit ihnen leben. Wie – das interessiert doch keinen. Uns hat
noch keiner gefragt, was wir von einem aktiven Elefanten-Management halten und wie das unserer Meinung nach aussehen sollte“. Bei dieser Antwort
erstaunt es wirklich nicht, dass die meisten Einwohner Botswanas kein Verständnis für die meist sehr emotional geführten Diskussionen der weißen Tierund Artenschützer aufbringen können. Sie fühlen sich von ihnen bevormundet und reagieren mit Ignoranz und scheinbarem Desinteresse. Eine kleine
Gruppe älterer Männer, die sich meine Fragerei zunächst tagelang in gebührendem Abstand angesehen hatte, kam schließlich auch zu mir und schilderte
mir ihre Sicht der Dinge. Am Ende sagten sie mir, dass ich die erste Weiße
gewesen sei, die an ihrer Meinung in bezug auf den zukünftigen Umgang mit
den Elefanten interessiert gewesen sei.
3.2 Was für Konsequenzen hatte die CITES-Konferenz 1997?
Die 10. Internationale Artenschutz Konferenz fand im Juni 1997 in Harare
statt. Dort beschlossen die CITES-Staaten (CITES = Convention on International Trade in Endagered Species of Wild Fauna and Flora) das generelle Han-
Botswana
Kerstin Eva Dreher
delsverbot mit Elefantenprodukten (Elfenbein, Häute, Lebendtiere, etc.) für
Namibia, Simbabwe und Botswana aufzuheben. Der afrikanische Elefant wurde
von Appendix I des Washingtoner Artenschutzabkommens (vom Aussterben
bedrohte Tiere) auf Appendix II (gefährdete Tiere) herabgestuft. Für die drei Länder bedeutete dieser Entschluss, dass sie ihre Elfenbeinvorräte unter strengen
Kontrollen und in beschränktem Umfang veräußern durften. Die Verkäufe waren
genau geregelt, die Menge und Herkunft des Elfenbeins war den CITES-Kontrolleuren im Detail bekannt und alles war registriert. So verkaufte Botswana im
vergangenen Jahr völlig legal 17,2 Tonnen Elfenbein an Japan. Das Geld aus dem
Verkauf floss in einen Fond und wurde bislang nicht angetastet. Zugute kommen
soll das Geld dem Elefantenschutz und Gemeinden, die in Elefantengebieten liegen. Die Gemeinden müssen lediglich einen Antrag an das „DWNP“ stellen, dieser wird dann geprüft und gegebenenfalls wird ein Betrag ausgezahlt. Auch von
Elefanten verursachte Ernteschäden sollen damit beglichen werden. Eine gute
Sache, darüber sind sich die meisten Batswana einig. Tier- und Artenschützer,
Regierungsmitglieder und vor allem die Dorfbewohner. Warum soll man denn
nicht von toten Elefanten profitieren? Ja, warum eigentlich nicht?
In Botswana scheint der Handel mit Elfenbein – der ja nur einmal statt fand
– gut geklappt zu haben. Die Wilderei hat nicht zugenommen (siehe Kapitel 3.3),
es gibt nach wie vor genug Elefanten im Land, und die Regierung hat ein paar
Millionen Dollar mehr auf dem Konto. Im staatlichen Elfenbeinlager in Gaborone stapeln sich immer noch 25 Tonnen Elfenbein, die noch mehr Geld bringen
könnten. 25 Tonnen Elfenbein, das sind 5616 Stoßzähne, davon wurden 1021 von
Wilderern beschlagnahmt, 3896 stammen von Elefanten, die eines natürlichen
Todes gestorben sind und 648 Stoßzähne hat die „Problem Animal Controll Unit“
beim „Department of Wildlife and National Parks“ abgegeben. „Monatlich
kommen hier etwa 50 Stoßzähne rein – wir platzen bald aus allen Nähten“,
berichtet Ebi Elias, Wildlife Officer und Herr der Stoßzähne. Damit das nicht
passiert, gibt’s im nächsten Jahr ein neues Elfenbein-Lagerhaus. 1021 beschlagnahmte Stoßzähne, das klingt zunächst einmal sehr viel – aber man darf nicht vergessen, dass das Elfenbein hier seit Jahren gelagert wird. „Pro Jahr sind es nur
etwa 20 Stoßzähne, die den Wilderern abgenommen werden“, bestätigt Wildlife
Officer Elias.
Auf meine Frage, wie man denn feststellen könne, ob ein Stoßzahn aus illegalen Beständen komme, antwortet Ebi Elias: „Jeder einzelne Stoßzahn ist
gekennzeichnet, und an der Markierung erkennt man ganz genau, wo, wann und
unter welchen Umständen das Tier gestorben ist“. Da die Markierung lediglich
aus einem mit einem dicken Edding aufgetragenen Zahlen- und Buchstabencode
besteht (und leicht zu entfernen oder zu ersetzen ist), zweifle ich allerdings an dieser Behauptung.
Kerstin Eva Dreher
Botswana
3.3 Wilderei – Kein Thema in Botswana?
„Gibt es in Botswana Wildererei?“ – „Nein, das ist bei uns überhaupt kein
Problem!“ – „Und weshalb nicht?“ – Ich weiß nicht, wie oft ich während meiner drei Monate in Botswana diesen Dialog geführt habe. Die Antworten fielen sehr unterschiedlich aus. Von „Batswana sind eben ehrliche Leute“ bis
„Weil wir so eine gute Anti-Poaching Unit haben“ war alles dabei. Ich hatte
ständig das Gefühl, den Leuten mit dieser Frage auf die Nerven zu gehen.
Dementsprechend vielsagend waren auch die Antworten. Wer schon einmal
in Afrika war, wird bestätigen können, dass man hier auf beinahe jede Frage
eine Antwort bekommt, denn es gilt als unhöflich, nicht zu antworten. Auch
wenn der Gefragte die richtige Antwort nicht kennt, wird etwas gesagt. Einem
Fremden gegenüber wird nicht zugegeben, dass man etwas nicht weiß. Das
führt (vor allem bei Fragen nach dem richtigen Weg) oftmals zu Verwirrungen, in diesem Fall war es genauso. Deshalb lasse ich lieber die Fakten sprechen. Vor allem in den ärmeren Ländern rund um Botswana, allen voran Sambia, ist Wilderei auch heute noch ein Thema. Auch in Kenia und Uganda
glaubt man, durch die Lockerung des Elfenbeinhandels im südlichen Afrika
wieder mehr Elefanten an Wilderer verloren zu haben. In Botswana ist das –
zumindest nach offiziellen Angaben – nicht der Fall. Lediglich acht bis zehn
Elefanten verliert man pro Jahr an Wilderer. Der Verdienst der „Anti Poaching
Unit“ kann das allerdings nicht sein. Es gibt lediglich vier regionale Basistruppen, mit jeweils etwa 20 Männern. Eine 80 Mann starke Anti-WildererEinheit für dieses riesige Land kann nicht genug sein. Dazu kommt, dass das
Material, das dieser Truppe zur Verfügung steht, in den meisten Fällen veraltet
ist. Das gleiche gilt auch für die „Botswana Defense Force“, die an den
Grenzen patroulliert und die „Anti Poaching Unit“ in ihrer Arbeit unterstützt. Man braucht sie nicht zu sehen – man hört sie. Mit ohrenbetäubendem
Getöse fuhr einmal ein kleines Motorboot auf dem Chobe an mir vorbei. Dem
Geräusch nach zu urteilen, war ich felsenfest davon überzeugt, dass jetzt
gleich ein Hubschrauber um die Ecke biegen würde! Dennoch: Die Statistiken zeigen, dass nur wenige Elefanten den Wilderern in die Hände fallen. Was
wohl vor allem daran liegt, dass es vor allem Einheimische sind, die auf illegale Jagd gehen. Und zwar wegen des Fleisches, und nicht wegen des Elfenbeins. Eine Antilope schmeckt einfach besser als ein Elefant, und die Jagd ist
natürlich viel weniger aufwendig. Oft reicht schon eine geschickt aufgestellte Falle und ein Messer. Es bleiben kaum Spuren: Das Fleisch wird
gegessen, die Knochen vergraben und die Felle entweder als Decke benutzt
oder über die nahegelegenen Grenzen (meist nach Simbabwe) geschleust. Das
bestätigte mir zumindest Bill, ein Farmer aus Panamatenga, dem östlichsten
Stützpunkt in Botswana. Wird doch einmal ein Einheimischer beim Wildern
erwischt, so erwartet ihn meist eine milde Strafe. Zumindest, wenn es sich um
Botswana
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einen Fall nicht kommerzieller Wilderei handelt. Die Höchststrafe für solch
ein Vergehen sind 1000 Pula (ca. 400 DM) und bis zu einem Jahr Gefängnis.
Handelt es sich um einen Elefanten, der gewildert wurde, sieht das schon
anders aus: 50.000 Pula (20.000 Mark) und bis zu zehn Jahren Gefängnis. Bei
den mittlerweile sehr selten gewordenen Nashörnern (in ganz Botswana
leben nur noch 24 Breitmaulnashörner unter strengster Bewachung, die Spitzmaulnashörner sind mittlerweile komplett ausgerottet) liegt die Strafe noch
höher: 100.000 Pula (40.000) Mark und bis zu 15 Jahre Gefängnis. Ob es
daran liegt, dass kommerzielle Wilderei in Botswana kaum ein Thema ist?
Oder liegt es in der Natur der Batswana, dass sie mit dem Gesetz nur ungern
in Konflikt kommen? In keinem anderen Land Afrikas gibt es schließlich so
wenig Korruption! Hinter das Geheimnis dieser Fragen bin ich nicht gekommen.
4. Tourismus: Das Geschäft der Zukunft
Es ist gar nicht so einfach, in Gaborone das „Department of Tourism“ zu
finden. Es liegt zwar in der „Main Mall“, deren Geschäfte man spätestens
nach dem zweiten Tag in der Hauptstadt auswendig kennt, doch die winzigen
Geschäftsräume liegen im vierten Stock über einer Bank versteckt. Passanten
auf der Straße danach zu fragen macht wenig Sinn – das musste ich dann nach
einer halben Stunde auch feststellen. Egal, Mr. Mpulubusi, der Leiter des Instituts, wartete auf mich. Als ich dann endlich – 20 Minuten zu spät – vor ihm
saß, war er doch sichtlich erfreut, jemanden gefunden zu haben, der ihm
Gehör schenkte. Viele scheinen das nicht zu tun. Und so legte er auch sofort
los: „Der Tourismus in Botswana hat eine große Zukunft vor sich. Doch es
muss noch viel getan werden. Im Moment kommen 90 Prozent aller Besucher,
um Wildtiere zu beobachten, vor allem die Big Five (Löwe, Elefant, Nashorn,
Büffel und Leopard). Doch es gibt noch viel mehr Potenzial. Zum Beispiel die
unendlichen Weiten der Kalahari. Dort gibt es zwar nicht so viel Großwild,
aber es ist einfach ein unglaubliches Gefühl, über Tage hinweg nichts anderes als diese unendlich weite Wildnis um sich zu haben. Vogelbeobachter kommen dort übrigens auch auf ihre Kosten“. Mr. Mpulubusi hatte sein Thema
gefunden: Die Kalahari. Etwa eine halbe Stunde erzählte er, was dort noch
alles zu tun sei und wieviel Potenzial doch in der Steppenwüste stecke. Er
wurde derart enthusiastisch, dass man hätte glauben können, er bekäme für
jeden Kalahari-Besucher ein paar tausend Pula auf sein privates Konto überwiesen. Als er dann irgendwann einmal eine kleine Pause machte um Luft zu
holen, war ich endlich am Zug und fragte ihn nach ein paar Fakten. Die
Reaktion war ein langes Stöhnen, dann verschwand er hinter einem riesigen
Kerstin Eva Dreher
Botswana
Papierstapel, schließlich fand er die Akte, die er gesucht hatte. „Die genaue
Anzahl der Besucher kennen wir nicht, wir können lediglich sagen, wie viele
Leute die Parks besucht haben. Im vergangenen Jahr waren das z.B. 142.943
Touristen, die die nördlichen Parks im Okawango Delta, Chobe und in den
Salzpfannen aufgesucht haben. Das heißt die Regierung verdiente 9.082.290
Pula (ca. 3,7 Millionen DM) allein an Park-Eintrittsgebühren“. Was 1998
anbelangt, konnte mir Mr. Mpulubusi sagen, wieviel insgesamt mit den Touristen umgesetzt wurde: 648 Millionen Dollar. Das ist mehr, als die verarbeitende Industrie umgesetzt hat. Und da die Viehwirtschaft im vergangenen
Jahr auch erstmalig rote Zahlen schrieb, ist Tourismus nach der Diamantenförderung mittlerweile der zweit- wichtigste Wirtschaftszweig. Als eines der
„Big-Five“-Tiere ist der Elefant einer der entscheidenden Faktoren, die zu diesem Ergebnis führten. „Tourismus ist in Botswana das Geschäft der Zukunft.
Bodenschätze gehen nämlich irgendwann einmal zu Ende, bis dahin müssen
wir eine andere, neue Einnahmequelle aufgebaut haben – und das könnte die
Tourismus-Industrie sein“ schwärmte Mr. Mpulubusi weiter.
Mit seinen Plänen liegt der Leiter des Instituts sicherlich richtig, damit aber
die Bevölkerung das auch so sieht, ist noch viel Aufklärungsarbeit vonnöten.
Es müssen neue Wege gefunden werden, die Einheimischen an dem Geschäft
mit den Touristen zu beteiligen. Das sah Mr. Mpulubusi genauso: „Unser Ziel
ist es, dass die Gemeinden rund um die Nationalparks eines Tages mit den
Wildtieren mindestens genauso viel Geld verdienen wie mit der Landwirtschaft heute. Das ist der Schlüssel zur Zukunft, daran müssen wir arbeiten“.
4.1 „A long way to go“
Die frustriertesten Menschen, die ich in Botswana getroffen habe, waren ein
Deutscher und ein Ire, die im Rahmen eines EU-Projekts ein Tourismus-Konzept
für Botswana entwickeln sollten. Die beiden waren nicht mehr ganz jung, übten
ihren EU-Job schon eine ganze Weile aus und waren viel in der Welt rumgekommen. „Ich dachte eigentlich, ich sei mit allen Wassern gewaschen, doch das
war vor dem Botswana-Auftrag“, erklärte der irische Vertreter seinen Verdruss.
Doch warum ist es so schwer, ein Tourismus-Konzept für Botswana zu entwickeln? Immerhin gilt das Land doch als eines der exklusivsten Reiseziele des gesamten Kontinents. „Ja, ja, das ist auch so“, bestätigte Ian, der Ire, und fuhr fort:
„Aber nur, wenn man sich in einer erstklassigen, privaten Lodge im Norden oder
im Nationalpark einmietet. Am besten, man setzt sich in ein Flugzeug, fliegt ins
Delta oder zum Chobe, genießt den Busch für ein oder zwei Wochen und fliegt
dann wieder zurück in die Heimat. Auf diese Weise hat ihr Reisebüro, die Fluglinie und der Lodge-Betreiber viel Geld mit Ihnen gemacht. Auch Botswana hat
an Ihnen verdient, schließlich müssen sie ja auch die Park-Gebühren zahlen. Bei
den Einheimischen ist aber fast nichts von diesem Geld angekommen“. Recht hat
Botswana
Kerstin Eva Dreher
er. Denn mit Botswanas Tourismus-Strategie „Low impact, high income“ (mit
einer kleinen Zahl Touristen so viele Devisen wie möglich ins Land zu holen)
verfolgt das Land zwar ein Programm, das den Kriterien der Umweltverträglichkeit zu folgen versucht, aber die Einheimischen haben herzlich wenig davon.
Der traditionelle Batswana ist Viehzüchter oder Bauer, aber kein Unternehmer.
„Dienstleistungsgewerbe“, „Service“ und „Infrastruktur“ sind Fremdwörter für
die Einheimischen, und das macht es den Touristen, die sich auch außerhalb der
Lodges bewegen wollen, nicht gerade einfach. Öffentliche Verkehrsverbindungen zwischen der Hauptstadt im Süden und dem touristischen Norden sind den
wenigsten Touristen zuzumuten. Die einzige – zudem ziemlich heruntergekommene – Eisenbahn des Landes fährt nur bis nach Francistown, etwa die
Hälfte der Strecke. Die Alternative sind Busse, die meist völlig veraltet, dreckig,
ständig überfüllt und natürlich ohne Klimaanlage sind. Auf der gesamten, ca.
1000 Kilometer langen Strecke gibt es nicht ein einziges nettes Café oder Restaurant, das zum Halt und somit zum Geld ausgeben einladen würde. Ganz zu
schweigen von unannehmbaren sanitären Einrichtungen.
Kleine Einzelhändler oder Souvenirhändler gibt es so gut wie gar nicht. Das
Kunsthandwerk, das in Botswana angeboten wird, stammt meist aus dem
benachbarten Simbabwe. Handarbeit „Made in Botswana“ ist eine echte Seltenheit, es gibt nur ganz wenige Initiativen (meist Entwicklungsprojekte), die
Souvenirs anfertigen. Es gibt eine Handvoll Schnitzer in Serowe, ein paar
Weberinnen in Odi und die Korbflechterinnen in Etsa und Gumare. Die wenigen öffentlichen Campingplätze in den Nationalparks sind nicht nur runtergekommen und eigentlich nicht einmal einem Profi-Hardcore-Camper zuzumuten, sie sind auch noch zusätzlich zur Parkeintrittsgebühr (mittlerweile 25
Dollar am Tag) zu bezahlen. Sogar in Gaborone sind Taxis eine Seltenheit,
aber wenigstens ein Café mit Sonnenterrasse gibt es im Stadtzentrum. Ein einziges. Ansonsten trifft man sich eben in einem der zwei großen, internationalen Hotels, dem „Gaborone Sun“ oder dem „Grand Palm“.
Doch zurück zu Ian, der immer noch niedergeschlagen an seinem Rock
Shandy süffelte: „Tourismus müsste viel mehr integriert werden, man muss
den Fremden heutzutage etwas bieten, einen Grund geben, weshalb sie hier
in Botswana ihr Geld ausgeben sollen. Und wenn dann die Bevölkerung
auch noch etwas von dem Devisenbatzen abbekäme .....aber bis dahin ist’s hier
noch ein langer, langer Weg. Die Menschen hier lieben ihre Rindviecher, das
Geschäft mit den Touristen interessiert die wenigsten“.
4.2 Safari de luxe – Abu’s Camp
Das sich mit Elefanten viel Geld verdienen lässt, zeigt das Beispiel von Randall Moore, der mit seinem Unternehmen „Elephant Back Safaris“ die teuerste
Lodge des gesamten Landes, das „Abu’s Camp“ betreibt. „Low impact, high
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Botswana
income“ – die Touristikstrategie Botswanas ist in „Abu’s Camp“ perfekt umgesetzt worden. Die im westlichen Teil des Okawango Deltas gelegene Lodge kostet am Tag stolze 1200 Dollar, Mindestaufenthalt sind fünf Tage. Dafür ist dann
aber auch alles inklusive: Das täglich frisch gebackene Brot, die italienische Kupferbadewanne und natürlich die Ausritte mit den Elefanten. Die 15 gezähmten
Elefanten machen das Camp zu etwas ganz besonderem, denn wer einmal die
herrliche Natur des Okawango Deltas vom Rücken eines Elefanten aus entdecken
durfte, will nie wieder etwas anderes. Die Tiere bewegen sich sicher in ihrem
natürlichen Lebensraum, Hindernisse wie dichtes Buschwerk, tiefes Wasser
und Sumpflöcher sind für sie kein Problem. Außerdem hat man aus drei bis vier
Metern Höhe eine grandiose Sicht, und man kommt viel näher an Wildtiere
heran, als in einem Auto mit störenden Motorengeräuschen. 1200 Dollar täglich,
ein ganz schön dicker Batzen, aber offensichtlich gibt es genug Leute, die sich
das leisten können. Randall Moore muss sich um seine Zukunft wenig Sorgen
machen: Er ist für die nächsten Jahre ausgebucht.
Randall Moore arbeitete jahrelang bei einem amerikanischen Wanderzirkus –
als Betreuer und Trainer für Elefanten. Durch den Tod seines letzten Arbeitgebers in den USA kam er an afrikanische Zirkus-Elefanten, die er in den 80er Jahren nach vielen Widrigkeiten zurück in ihre afrikanische Heimat brachte und dort
in die Freiheit entließ. Die Finanzierung dieses ungewöhnlichen Abenteuers
gelang ihm mittels vieler Sponsoren und einer Buchveröffentlichung („Back to
Africa“, Randall Jay Moore, 1989, Unifoto, Cape Town). Als Randall Moore
einige Jahre später für ein Filmprojekt wieder auf der Suche nach trainierten, afrikanischen Elefanten war, fand er sie wiederum in Amerika. Auf diese Weise
sahen dann auch die drei Afrikanischen Elefanten „Abu“, „Benny“ und „Cathy“
ihre angestammte Heimat wieder. Dieses Mal fand sich für die drei aber kein
geeignetes Wildreservat, in das Randall Moore sie hätte entlassen können. Nach
lang em hin und her hatte Moore die zündende Idee: „Elephant Back Safaris“ und
das „Abu’s Camp“, benannt nach „Abu“, dem heute 36-jährigen Elefantenbullen, der zusammen mit der 37-jährigen „Cathy“ die Herde anführt. Von den restlichen elf Elefanten im Camp stammen die meisten aus Culling-Operationen im
Krüger-Nationalpark, zwei weitere wurden im „Pilanesberg Game Reserve“ in
Südafrika gefangen. Der einzige Elefant, der aus Botswana stammt, ist die fünfjährige „Kitimetsi“ (Dankeschön). Sie hatte den Anschluss an ihre Herde verloren
und kam – in unterernährtem Zustand – von ganz alleine ins Camp. Die Versuche, sie von der Gruppe fernzuhalten und zurück in den Busch zu schicken, blieben erfolglos. Sie wollte sich der Herde Moores’ anschließen.
An einem normalen „Arbeitstag“ tragen die Elefanten Touristen zweimal
durch den Busch: Ganz früh morgens zum Sonnenaufgang und dann noch einmal am späten Nachmittag. Von 10 bis 16 Uhr dürfen die Elefanten – unter Aufsicht ihrer Mahouts (Trainer und Betreuer) – fressen, baden und spielen. „Ele-
Botswana
Kerstin Eva Dreher
phant Back Safaris“ beschäftigt allein für die Elefanten 17 Mahouts, dazu kommen weitere 30, die im Camp für die Betreuung der Gäste oder im Büro für die
Verwaltungsarbeit zuständig sind. Von Dezember bis Februar ist „Abu’s Camp“
geschlossen, in dieser Zeit werden die Elefanten oft für Filmprojekte engagiert,
denn Moores’ Elefanten sind die größte gezähmte Herde afrikanischer Elefanten in Afrika und zudem eine der größten Herden gezähmter Bullen in der Welt
überhaupt. Nur wenige Kilometer vom Touristencamp entfernt eröffnete Moore
in seinem Konzessionsgebiet im vergangenen Jahr die „Botswana Elephant
Training School“, eine Ausbildungsstätte für Elefanten und Mahouts. Darüber
hinaus soll die Schule auch Forschern oder Filmcrews als Camp zur Verfügung
stehen. Dort soll geprüft werden, inwiefern sich trainierte Elefanten in der
Landwirtschaft und Flurbereinigung einsetzen lassen. Im nächsten Jahr soll
dort auch ein Waisenhaus für Elefanten entstehen, denn bisher werden verwaist
gefundene Jungtiere in Botswana sich selbst überlassen. Im Busch ist das für
Jungtiere der sichere Tod. Auch Tiere, die durch die Zerstörung von Feldern oder
ähnlichem aufgefallen sind und eigentlich ein Fall für die „Problem Animal Controll Unit“ wären, könnten hier ein neues Zuhause finden. „Wenn es uns gelingt,
diese Tiere zu zähmen und sie in unsere Gruppe zu integrieren, wäre das doch
eine gute Alternative zum Erschießen“, erklärt Moore. Das wichtigste Anliegen
der „Elephant Training School“ ist jedoch, den Batswana eine Möglichkeit zu
geben, Elefanten genauer kennenzulernen und zu sehen, dass die riesigen Tiere
den Menschen nicht nur Schaden, sondern auch Nutzen bringen können. Ein
wichtiger Aspekt ist auch, dass Moore mit dem lange herrschenden Vorurteil aufräumte, afrikanische Elefanten ließen sich nicht zähmen. Der Selfmade-Millionär
Moore ist der Auffassung, dass Wildtierschutz nur dann von Interesse für die Einheimischen sein kann, wenn diese begreifen, dass sich damit auch Geld machen
lässt. Er selbst ist das beste Beispiel dafür, dass diese Rechnung aufgehen kann.
Eines jedoch darf beim Unternehmen „Elephant Back Safaris“ nicht vergessen werden: Das Thema Sicherheit. Denn auch wenn Moores Elefanten gezähmt
sind, so bleiben sie doch wilde Tiere. Und wilde Tiere sind eben nicht immer und
in jeder Situation berechenbar. Moores Elefanten im Okawango Delta bewegen
sich im Busch und nähern sich täglich Löwen, Schlangen, Krokodilen und vielen anderen wilden Tieren – und das ist immer ein Sicherheitsrisiko. Bisher hatte
es in der Geschichte von „Elephant Back Safaris“ nie einen ernsthaften Unfall
oder ähnliches gegeben. Doch das änderte sich. Wenige Wochen vor meiner
Abreise aus Botswana passierte das Unfassbare: „Nyaka Nyaka“, ein 27-jähriger Bulle aus Randall Moores Gruppe, tötete seinen Trainer. Bei einer Rast im
Busch näherte sich der erfahrene Mahout und Forscher einem seiner Elefanten
von hinten, der Elefant erschrak und attackierte den Südafrikaner. Die Verletzungen waren so schwerwiegend, dass dieser sofort in einen Schock fiel und
wenige Minuten danach starb. Am nächsten Tag wurde „Nyaka Nyaka“ auf Ran-
Kerstin Eva Dreher
Botswana
dall Moores’ Befehl erschossen. Die Schlagzeile zu dem Zeitungsartikel, der in
der darauffolgenden Woche von dem tödlichen Unfall erschien, lautete: „Killer
Elephant“. Ein besseres Beispiel dafür, wieviel Arbeit noch vor Randall Moore
oder dem „Mokolodi Nature Reserve“ (siehe 4.3) liegt, hätte ich nicht finden
können.
Während meines Aufenthalts in Botswana ereigneten sich noch weitere tödliche Zwischenfälle mit wilden Tieren: Ein Tourist und sein Führer starben nach
der Attacke eines Nilpferds, eine Frau wurde beim Beerenpflücken ebenfalls von
einem Nilpferd zertrampelt, ein leichtsinniger Tourist wurde beim Angeln im
Chobe von einem fünf Meter langen Krokodil gefressen und ein Jäger wurde von
einem angeschossenen Leoparden angegriffen. Bei näherer Betrachtung dieser
Unfälle stellte sich jedoch meist heraus, dass die Opfer einen Fehler gemacht hatten oder unaufmerksam waren. Wildtiere entscheiden sich in der Regel eher für
die Flucht als für den Angriff. Wie schnell so ein Unfall aber passieren kann,
wurde mir bewusst, als ich eines Morgens mein Badezimmer in einem Camp in
Maun betrat und eine „Mosambique Spitting Kobra“ gerade dabei war, den Raum
durch das geöffnete Fenster zu verlassen. Fühlen sich diese Schlangen bedroht,
spucken sie ihrem Gegner mit einem ätzenden Gift aus bis zu drei Metern Entfernung zielsicher in die Augen. So bleibt ihnen genug Zeit zu verschwinden oder
den gehandicapten Gegner anzugreifen. Wenn sie sich für letzteres entscheiden,
kommt meist jede Hilfe zu spät, denn ihr Gift ist tödlich. Zu meinem Glück
befand sich der Kopf der Kobra schon außerhalb des Fensters. Eines habe ich daraus gelernt: Im Busch gelten andere Regeln, mit denen wir nicht vertraut sind und
deshalb oft Fehler machen – im Busch sollte man ein Fenster nicht einfach so
über Nacht offenstehen lassen!
4.3 Umwelterziehung in Mokolodi
Ein gutes Beispiel, wie man Geld verdienen und Arbeitsplätze sichern kann,
Wildtierschutz sinnvoll betreibt und dabei Wissen vermittelt, ist das Programm
des „Mokolodi Nature Reserves“, einem kleinen privaten Naturschutzpark
nahe der Hauptstadt Gaborone. Das 5000 Hektar große Gebiet war früher einmal eine Rinderfarm, auf der neun Leute ihr tägliches Brot verdienten. Nachdem
aber das Land von den Rindern überweidet war, entschloss sich der damalige
Besitzer, die Viehzucht aufzugeben und stellte das Grundstück einer eigens
dafür ins Leben gerufenen privaten Stiftung, der „Mokolodi Wildlife Foundation“, zur Verfügung. Zu den Vorsitzenden dieser Stiftung gehört u.a. der ehemalige Präsident Sir Ketumile Masire. Schirmherr ist der derzeitige Vize-Präsident General S. K. L. Khama, Sohn des Staatsgründers Sir Seretse Khama.
Neun Jahre nach der Gründung 1991 sind auf der ehemaligen Ranch 70 Leute
beschäftigt und zahlreiche Tierarten, wie zum Beispiel Giraffen, Krokodile,
Nilpferde, Elefanten, Antilopen, Gnus und Leoparden zuhause. Sie leben dort
Botswana
Kerstin Eva Dreher
wie in freier Wildbahn, Gehege gibt es lediglich für die Geparden, die vor vier
Jahren als Waisen in den Park gebracht wurden, sowie für die angeschlossene
Tierpflegestation. Zahlreiche Zucht- und Wiederansiedlungspro-gramme, etwa
das Breitmaulnashorn-Zuchtprojekt oder das Elefanten-Waisenhaus, werden in
Mokolodi, ähnlich wie in vielen deutschen Zoos, durchgeführt. Die einzigen
Tiere, die im Park nicht wieder angesiedelt wurden, aber normalerweise in
Botswana ihre Heimat haben, sind Büffel und Löwen. „Das ist leider nicht
möglich, weil wir sonst mit unseren Schulklassen nicht mehr durch den Busch
laufen können“, erklärte Tebelelo Tsheko, der Leiter des angeschlossenen „Enviromental Education Centers“. Das „Education Center“ ist das Herz des Parks.
Jede Woche sind Schulklassen zu Besuch, für die der Park für ein paar Tage zum
Freiluft-Klassenzimmer wird. In Mokolodi werden sie von erfahrenen Rangern
und Guides in Sachen Natur- und Artenschutz unterrichtet. Sie sollen ihre
Umwelt und die Tiere und Pflanzen, die in ihr leben, kennen- und schützen lernen. Sie sollen zum Beispiel begreifen, dass Elefanten nicht nur nichtsnützige,
zerstörerische Vielfraße, sondern schützenswerte Lebewesen sind, die friedlich
mit Menschen zusammenleben und sogar für sie arbeiten können. Sie gehen
gemeinsam mit den Rangern in den Busch und beobachten die wenigen, verbliebenen Breitmaulnashörner Botswanas oder fangen sogar eine ausgewachsene
Python, die dann jeder auch anfassen kann. Umwelterziehung – eine große
Aufgabe und eine Investition in die Zukunft. „Diese Kinder sollen einen Sinn für
den natürlichen Reichtum Botswanas entwickeln und lernen, diesen für künftige
Generationen zu erhalten“, sagt Puso Kirby, der Parkmanager. Ein schöner
Gedanke, der jedoch erst einmal finanziert werden muss. Kosten gibt es genug:
Die Schülerbesuche müssen gesponsert, die Gehälter der 70 Angestellten (ParkRanger, Mechaniker, Erzieher, Biologen, Tierärzte etc.) bezahlt, der Fuhrpark in
Ordnung gehalten und Futter gekauft werden. Doch auch das gelingt dem
Mokolodi Wildlife Trust. Ein wichtiger Faktor sind diesbezüglich die Touristen,
die an Gamedrives, Elefanten- oder Nashorn-Walks teilnehmen können. Bei
einem solchen „Walk“ haben sie die Gelegenheit, Elefanten beim Baden zu
beobachten oder ein Buschpicknick auf dem Gelände zu veranstalten; desweiteren ist es ihnen möglich, sich in eines der Chalets mit herrlichem Blick auf den
Park einzumieten. Ein verpachtetes Restaurant auf dem Gelände bringt weiteres
Geld, genauso wie das geplante Fortbildungs-Center für Manager. Sogar der Elefanten-Dung wird verkauft – als Gartendünger. Der Rest der Kosten wird durch
Spenden, die aus aller Welt eintreffen, finanziert. Alles in allem ist das „Mokolodi Nature Reserve“ ein gelungenes Projekt, das Natur- und Artenschutz in den
Alltag vieler Batswana einbindet und richtungsweisend für viele weitere Projekte
dieser Art sein könnte.
Kerstin Eva Dreher
Botswana
5. Wildlife-Management in Botswana
Wie die letzten Kapitel gezeigt haben, ist es Botswanas wichtigste Aufgabe,
die Bevölkerung in den Tourismussektor zu integrieren. Denn der einzige
Weg, sie für den Natur- und Artenschutz zu interessieren, führt über ihren
Geldbeutel. „Nur wenn es gelingt, Batswana am Geschäft mit den Touristen
zu beteiligen, steigt auch ihre Bereitschaft, sich aktiv am Natur- und Artenschutz zu beteiligen. Am Ende des Monats müssen sie sehen, dass es sich
gelohnt hat – und das geht nur über den Geldbeutel“, meint Paul Schaller. Er
hat sich ein ganzes Leben lang für den Wildtierschutz eingesetzt, unter anderem war er jahrelang Vorsitzender der „Kalahari Conservation Society“ und
vieler anderer „NGOs“ (Non-Gouvermental-Organisations), die sich für den
Artenschutz eingesetzt haben. Mittlerweile betreibt Paul mit Freunden ein
kleines Camp in Maun und organisiert Ausflüge ins Delta und die umliegenden Nationalparks. Dabei achtet er darauf, so viele Batswana wie möglich
anzuheuern. Sei es der Bootsführer, der die Touristen in seinem „Mokoro“
(Einbaum) durch das Delta schippert, die Köchin im Camp oder der Nachtwächter. „Das ist der einzige Weg, aktiven Naturschutz zu betreiben“, erklärt
Paul. „Ich habe mir jahrelang den Mund fusselig geredet, das bringt nicht viel.
Die Einheimischen haben es satt, wenn mal wieder ein selbsternannter
Experte oder ein Regierungsangehöriger daherkommt und ihnen sagt, was sie
tun und lassen sollen. Jetzt versuch ich’s eben im Kleinen. Bisher gelingt das.
Meine Leute begreifen, dass sie nur Arbeit haben, weil ihre Umwelt intakt ist
und die Touristen Tiere zu sehen kriegen“.
Doch nicht nur im Kleinen, auch im Großen soll dieses Konzept zukünftig
umgesetzt werden. So hat auch Botswanas Regierung bereits 1993 ein Konzept entworfen, das die Gemeinden, die in den Nationalparks oder deren
unmittelbarer Nähe liegen (und für die Viehzucht aus diesem Grund verboten
ist), am Geschäft mit den Touristen beteiligt. Das Projekt heißt „Community
Based Natural Resources Management“, kurz CBNRM, und steckt eigentlich
noch in den Kinderschuhen. Lediglich zwei Gemeinden praktizieren es seit ein
paar Jahren, der „Chobe Enclave Trust“ im Chobe Nationalpark und die
Gemeinde Sankuyo, die an den Moremi Nationalpark grenzt. CBNRM ist der
Versuch, die Gemeinden an den natürlichen Resourcen ihres Gebietes zu
beteiligen, indem die Regierung ihnen das Management und die Verwaltung
dieses Gebietes überlässt. Eigentümer bleibt jedoch der Staat. Die Gebiete, die
die Gemeinden zu verwalten haben, sind oft mehrere hunderttausend Hektar
groß – keine leichte Aufgabe und für die Gemeindemitglieder gar nicht zu
schaffen. Die wenigsten haben eine schulische Ausbildung, geschweige denn
Ahnung von Tourismus und Marketing. Deshalb sieht das CBNRM vor, dass
sich die Gemeinden einen Joint Venture Partner, also ein privates Safari-
Botswana
Kerstin Eva Dreher
bzw. Tourismus-Unternehmen suchen, das diese Aufgaben für sie übernimmt.
Das geschieht per Ausschreibung, um die sich die – meist von weißen Südafrikanern, Amerikanern oder Europäern geleiteten – Safari-Unternehmen
bewerben. Wer der Gemeinde die besten Konditionen – und natürlich das
meiste Pachtgeld – anbietet, erhält den Zuschlag. Zunächst einmal für ein Jahr.
Sind beide Seiten mit dem Joint Venture zufrieden, verlängert sich der Vertrag
um weitere drei Jahre und nach diesen um weitere fünf Jahre. Ein fairer
Deal, denn Safari-Unternehmen wird eine bestimmte Anzahl von Betten
gestattet, und für bestimmte Tiere gibt es eine Jagdquote. Sie investieren auf
dem gepachteten Gebiet, bauen Camps für Touristen und gehen mit ihnen dort
auf Beobachtungstour. Meist wird das Gebiet geteilt. Ein Teil wird für FotoSafaris genutzt, der andere für die – seit 1996 wieder erlaubte – Trophäenjagd.
Das Personal für die Camps und die Safaris muss aus der Gemeinde rekrutiert
werden, denn so sollen die Einheimischen das für den Tourismus nötige
Know-how erlernen. Außerdem haben die Gemeinden großes Mitspracherecht, was auf ihrem Gelände geschieht. Egal, ob eine Brücke gebaut, ein
Dach repariert werden muss oder jemand entlassen werden soll – nichts geht
ohne die Zustimmung des Gemeinderats. Schließlich sollen sie auf lange Sicht
irgendwann einmal selbst das Gebiet managen können. Für die Gemeinden ist
dieses System oft die einzige – allerdings höchst lukrative – Einnahmequelle, denn das unternehmerische Risiko liegt ganz allein bei den SafariUnternehmen.
5.1 Funktioniert das System des „Community Based Natural Resources
Management“?
Ist CBNRM nur ein weiteres Projekt, das sich auf dem Papier wunderbar
liest, aber in der Realität nicht umgesetzt wird, oder geht das Konzept auf? Das
wollte ich von Karl-Heinz Gimpel, dem Inhaber des „Crocodile Camps“ in
Maun, wissen. Sein Unternehmen ist mit der Gemeinde Sankuyo ein Joint
Venture eingegangen.
„Im Prinzip ist das Konzept sinnvoll, weil es die Gemeinden wirklich einbindet und sie ein großes Mitspracherecht haben. Das Problem ist nur, dass
die Batswana keinerlei Erfahrungen in dem Geschäft mitbringen und es ist
relativ schwer ist, sie wirklich dafür auszubilden und zu interessieren. Denn
das Geld, das durch das Safari-Unternehmen bezahlt wird, kommt ja ohnehin
rein. Man muss also in der Gemeinde erst mal jemanden finden, der eine
Schulausbildung hat und überhaupt lernen will, wie man die natürlichen
Resourcen am besten managt. Doch nur so entwickeln die Gemeindemitglieder auch ein Verantwortungsgefühl für ihre unmittelbare Umwelt“.
Was ist mit den Tieren, die im Konzessionsgebiet leben? Fühlen sich die
Dorfbewohner dafür verantwortlich?
Kerstin Eva Dreher
Botswana
„Oh ja, denn die Gemeinden bekommen von der Regierung nur eine Jagdquote, wenn der Bestand in ihrem Gebiet nicht gefährdet ist. Je mehr Tiere,
desto höher die Quote. Und mit den Jagdquoten machen sie nun einmal das
meiste Geld“.
Wie das? Es kommen doch viel mehr Touristen als Jäger, oder nicht?
„Schon, aber mit den Jägern verdient man wesentlich mehr Geld. Auf
unserem 100.000 Hektar großen Konzessionsgebiet darf ich 16 Betten für
Foto-Safari-Touristen und 16 Betten für Jäger haben. Ein Foto-Tourist zahlt
zwischen 200 und 400 US-Dollar am Tag. Ein Jäger lässt in zwei Wochen
schon mal 50.000 US-Dollar im Land. Dafür wird er dann aber auch von 20
Leuten – die übrigens auch alle aus der Gemeinde kommen und bezahlt werden müssen – den ganzen Tag umhegt“.
Das ist ja eine schöne Stange Geld!
„Allerdings. Die Jagd auf einen Elefanten inklusive der Trophäen kostet den
Kunden zwischen 30.000 und 40.000 US-Dollar, der Jagdunternehmer muss
10.000 Pula (ca. 4000 DM) an das „Department of Wildlife“ für die Lizenz
abführen. Die Gemeinde bekommt etwa 20.000 bis 30.000 Pula (ca. 10.000
DM), inkusive der Jagdgebühren bringt ihnen ein Elefant fast 10.000 US Dollar. Ganz gleich, ob der Elefant nun geschossen wird oder nicht, denn die
Dorfgemeinschaft hat ihre Quote ja an das Safari-Unternehmen weitergegeben, und es ist deren unternehmerisches Risiko, sie an einen Trophäenjäger zu
verkaufen oder nicht“.
Deren Risiko? Ist es nicht vielmehr Ihres?
„Nein, wir kümmern uns ausschließlich um die Fototouristen, die ganze
Jagdgeschichte habe ich an ein anderes Unternehmen weiterverpachtet.
Wegen mir müsste es die Jagd gar nicht geben, aber mit Foto-Safaris ist einfach nicht so viel Geld zu verdienen. Der Verkauf der Jagdquoten ist die
Haupteinnahmequelle der Gemeinde“.
Wie hoch ist denn die Quote für Elefanten?
„Zwölf Elefanten können wir schießen, das ist die maximale Quote für ein
Konzessionsgebiet. In den kommerziellen Jagd-Gebieten sind es sechs, für
ganz Botswana 120. Allerdings nutzen viele Gemeinden ihre Quoten noch
nicht, das wird erst in den nächsten Jahren kommen. Insgesamt werden zur
Zeit ca. 80 Elefanten pro Jahr durch Trophäenjäger geschossen“.
Was sind die Vorteile von CBNRM?
„Ein Vorteil ist sicherlich, dass die Dorfbewohner mehr auf ihre Umwelt
achten. Konkret heißt das: Wenn jemand mitbekommt, dass illegal Jagd auf
einen Elefanten gemacht wird, wird das sofort gemeldet. Denn wenn die
mitkriegen, hey, da schießt jetzt jemand was von unserer Quote, bezahlt aber
nichts dafür, werden sie sauer. Der Jagd-Safari-Unternehmer zahlt nämlich
nicht nur für die Quote, sondern muss auch das Fleisch, die Haut und die Felle
Botswana
Kerstin Eva Dreher
im Dorf abliefern. Nur die Trophäen darf der Jagdkunde behalten, dafür hat
er ja schließlich gezahlt“.
Gibt es auch Nachteile?
„Meiner Meinung nach sollten die Dorfgemeinschaften auf lange Sicht
Eigentum an dem Land und der ganzen Touristenoperation erwerben können.
Das heißt auch, dass sie am unternehmerischen Risiko des ganzen Unternehmens beteiligt wären. Manchmal muss man in diesem Geschäft einfach
auch mal Fehler machen. Fehler, die unter Umständen eben auch mal wehtun
können. Nur so lernt man wirklich dazu“.
5.2 Auf der Suche nach dem ultimativen Kick – Großwildjagd im afrikanischen Busch
Großwildjagd in Afrika – bei diesem Gedanken gefriert den meisten Tierschützern das Blut in den Adern, Jäger wiederum, bekommen ein Glitzern in
den Augen. Als ich dieses Projekt in Angriff nahm, zählte ich mich eher zur
ersten Gruppe. Nach langem hin und her fand sich dann schließlich auch ein
ansässiger Berufsjäger, der sich bereit erklärte, mich zwei seiner (von der Idee
wenig begeisterten) Klienten unterzuschmuggeln. Je näher der Termin für die
Jagd rückte, desto unsicherer wurde ich. Wollte ich wirklich mitansehen,
wie eines dieser wunderbaren Tiere, die ich oft stundenlang beobachtet hatte,
abgeschossen wurde? Ja, ich wollte – dazu war ich ja schließlich hier. Zu einer
Recherche gehören eben mehrere Seiten – auch wenn sie nicht immer angenehm sind.
Mittlerweile hatte ich nämlich auch einige interessante Fakten über die Trophäenjagd gesammelt, die mich meine – doch eher europäische Sicht der
Dinge – noch einmal überdenken ließen. Meine Suche nach Tierschützern, die
das Wohlergehen der Tiere über das der Menschen und das der Vegetation stellen (die gibt es in Europa und Amerika schließlich zuhauf), blieb in Botswana
erfolglos. Die Leute, die sich am meisten für ihre Umwelt interessierten, Tiere
und Pflanzen genau kannten und sich für ihren Schutz einsetzten, waren fast
alle Jäger. Eigentlich klar, denn Jäger gehen mit offenen Augen durch den
Busch, sie kennen jede Vogelstimme, orten jedes Geräusch und beobachten
Vegetation und Tiere genau. Jäger lieben den Busch, sie fürchten ihn nicht.
Und sie schützen ihn, auch vor Wilderern. Wer eine Konzession für ein Jagdgebiet hat, bewacht das Gebiet und das darin lebende Wild. Die Konzession
bedeutet schließlich sein finanzielles Auskommen, und Wilderer haben kein
leichtes Spiel. Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, die der Meinung
waren, dass Länder wie Kenia oder Tansania heute wesentlich gesündere
Elefantenpopulationen beheimaten würden, wenn sie die Jagd auf Elefanten
in den 60er Jahren nicht völlig abgeschafft hätten. Ein weiteres Problem dieser Länder war aber sicherlich auch, dass sich auch oberste Funktionäre am
Kerstin Eva Dreher
Botswana
Geschäft mit Elfenbein – und somit auch an der Wilderei – beteiligten. Das
gab es in Botswana nicht. Ein Jagdverbot für Elefanten gab es trotzdem, allerdings erst sehr viel später, 1983 nämlich. Man befürchtete damals, dass der
genetische Pool für Bullen mit großen Stoßzähnen durch starke Bejagung zu
klein werden könne. Klingt kompliziert, ist aber ganz einfach: Jäger schießen
in der Regel Elefantenbullen mit großen Stoßzähnen, schließlich wollen sie
sich ja auch eine große Trophäe an die Wand hängen. Doch die sogenannten
„Big Tusker“ sind nicht allzu häufig und Jagdgegner befürchteten, dass die
„Big Tusker“ noch vor der Weitergabe dieser genetischen Veranlagung an die
nächste Generation abgeschossen würden. Dieses Argument der Jagdgegner
ist übrigens auch heute noch nicht ganz aus der Welt. Trotzdem: In Abstimmung mit CITES gibt es in Botswana seit 1996 wieder eine Jagdquote für Elefanten. 120 erwachsene Bullen dürfen seitdem wieder jedes Jahr von Trophäenjägern geschossen werden. 120 Elefanten, bei einer Gesamtpopulation
von offiziell 106.000 Tieren, das ist durchaus vertretbar, wenn man die Vorteile sieht, die die Trophäenjagd Land und Leuten bringt: Jährlich kommen
knapp 200 ausländische Jäger (75 Prozent Amerikaner, 23 Prozent Europäer
und 2 Prozent Afrikaner) und bescheren Botswana zirka 20 Millionen USDollar. Außerdem sichern sie etwa 1000 Einheimischen eine feste Anstellung,
zum Beispiel als Spurenleser, Führer, Koch, Wächter, Wäscherin oder Putzfrau.
Mit diesem Wissen im Gepäck trat ich also zu meiner ersten Großwildjagd
an. Wenigstens fühlte ich mich in guten Händen. Paul Klotsch, ein Deutscher,
lebte schon seit mehr als 30 Jahren als Berufsjäger in Afrika. Ein alter, erfahrener Hase also. Seine zwei Kunden waren auch Deutsche, einer kam zum
Jagen, der zweite war nur zum Zuschauen mitgekommen. Als Paul und ich die
beiden am Flughafen in Maun abholten, war erst mal ganz schön schlechte Stimmung. Die Kunden waren nämlich erst mal sauer. Der Gewehrkoffer war nicht
auf dem Anschlussflug mitgekommen und lag noch irgendwo in Johannesburg
herum. Zwei Tage später wurde er dann schließlich doch noch nachgeliefert. In
der Zwischenzeit adaptierten sich Joachim und Peter erst einmal an das afrikanische Klima, inspizierten das First-Class-Camp – das sie, wie alle Jäger, ganz
für sich alleine hatten – und tauschten abends am Feuer ihre bisherigen Jagderlebnisse aus. Weitere Themen waren Kalibergrößen, Stutzen, Gewehrtypen
– auf alle Fälle jede Menge Jägerlatein, von dem ich noch nie in meinem
Leben etwas gehört hatte. Ich genoss das tolle Camp (in dem man immer von
ca. 20 Leuten gleichzeitig bedient wurde), mein Luxuszelt (mit eigenem Badezimmer und fließend Warmwasser selbstverständlich) und bestaunte jeden
Morgen mit Paul die Fährten, die Elefanten, Leoparden und Löwen in der
Nacht im Camp hinterlassen hatten. Nachdem die Gewehre angekommen
waren, ging die Jagd dann los. Joachim merkte man das Jagdfieber richtig an,
Botswana
Kerstin Eva Dreher
schließlich war er gekommen, um einen Büffel, einen Elefanten, ein Warzenschwein und eventuell auch einen Leoparden zu erlegen. Und gleich an diesen
ersten Jagdtag hatte er Glück, beziehungsweise ein Büffel Pech. Doch ganz von
vorne: Mit einem Geländejeep gingen wir vier plus einem Fahrer, einem Fährtensucher und Begleitleuten aus der Gemeinde auf die Suche nach Wild. Wir
fuhren quer durch das Jagdgebiet, und nach nur einer halben Stunde stießen wir
auf eine riesige Herde Büffel, etwa 500 Tiere. Wir folgten der Herde, und Paul
und Joachim suchten mit dem Fernglas nach dem Bullen mit den größten Hörnern. Der war dann auch ziemlich schnell ausgemacht, also folgte das Fahrzeug
im Schritttempo der Herde – und zwar solange, bis Joachim den Bullen gut ins
Visier bekam. Dann ging alles ganz schnell. Joachim schoss und verfehlte das
Herz des Bullen nur ganz knapp. Als der Schuss erschallte, hörte man auf einmal ein dunkles, lautes Grollen und sah minutenlang nur noch eine Staubwolke:
Die Herde rannte davon, hunderte Hufe stoben über den festen Sandboden. Der
angeschossene Büffel blieb jedoch nach etwa 30 Metern stehen. Als der aufgewirbelte Staub verflogen war, verließen Paul, Joachim und ich den Wagen und
näherten uns zu Fuß. Der zweite Schuss ging in die Hüfte, so war die Gefahr,
dass der Bulle uns angreift oder wegläuft, gebannt. Der dritte Schuss ging
dann mitten ins Herz. Der Büffel brüllte ein letztes Mal. Laut, tief und unheimlich. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich es mir eingebildet habe, aber ich
glaubte eine Antwort, einen letzten Gruß seiner Herde aus dem Busch gehört zu
haben. Seit dem ersten Schuss waren kaum zehn Minuten vergangen, und der
eben noch so stolze Büffel war nichts anderes mehr als ein riesiger Klumpen
Fleisch, der auf dem staubigen Boden lag. Joachim war voller Stolz – er hatte
eine kapitale Trophäe erlegt. Sofort wurden die üblichen „Jäger-mit-BeuteFotos“ geschossen und dann der Büffel an Ort und Stelle ausgenommen. Die
Geier, die in freudiger Erwartung schon die ganze Zeit dem Fahrzeug gefolgt
waren, sammelten sich schon über unseren Köpfen. Viel wurde ihnen nicht
gelassen – gerade mal der Mageninhalt, also ein riesiger Berg vorverdautes Gras
und der meterlange Darm. Der Rest wurde verladen und ins Camp gebracht.
Abends gab es dann ein köstliches „Buffalo Stew“. Das, die Hörner und der
Schwanz waren das einzige, was Joachim von dem Büffel wiedersah. Der Rest
ging an die Dorfgemeinschaft. Ich fragte Joachim, was er denn nach so einer
Jagd fühle. Seine Antwort: „Stolz und Zufriedenheit“.
Eine Woche verbrachte ich in Pauls Jagdcamp. Ich hatte genug Erfahrungen gesammelt. Es reichte auf alle Fälle, um mir ein Bild über die Trophäenjagd zu machen – ich musste nicht auch noch einen Elefanten sterben
sehen. Was ich aus dieser Erfahrung gelernt habe? Ich kann mittlerweile die
Faszination, die von der Großwildjagd ausgeht, nachvollziehen – wenn auch
nicht verstehen. Ich lehne sie nicht mehr völlig ab, denn ich habe gelernt, dass
die Trophäenjagd viel Geld in eine Dorfgemeinschaft bringt. Geld, mit dem
Kerstin Eva Dreher
Botswana
Schulen oder Krankenstationen gebaut werden. Außerdem werden viele
Arbeitsstellen für Einheimische geschaffen. Selbst für das Wild ist es nicht
von Nachteil, denn Wilderei kann man in Jagdgebieten nahezu ausschließen.
Vielleicht ist das der einzige Weg, die restlichen Wildtiere zu schützen. Dennoch: Meine Sache ist die Jagd nicht.
5.3 Culling – die einzige Alternative?
„Die einzige Möglichkeit, die Elefanten-Überpopulation auf lange Sicht bei
uns in den Griff zu kriegen, ist Culling“. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich
diesen Satz während meiner Recherchen gehört habe. Von Safari-Unternehmern, Leuten aus dem DWNP, Regierungsoffiziellen – und auch von einigen,
um die Pflanzen- und Artenvielfalt besorgten Naturschützern. Erst einmal zur
Erklärung: Beim „Culling“ handelt es sich um das Abschießen ganzer Elefantenherden (die meist nur aus Elefantenkühen und Kälbern bestehen). Es ist
ein grauenvolles Gemetzel, bei dem mit viel technischem Aufwand (Hubschrauber, Maschinengewehre, etc.) so viele Elefanten wie möglich getötet
werden. Manchmal verschont man bei solchen Operationen die Jungtiere, um
sie an Zoos oder andere Parks zu verkaufen. „Culling“ scheint – auch wenn
es blutig zugeht und zunächst einmal fürchterlich grausam sein mag – die
beste Methode zur Reduzierung des Elefantenbestandes in einem bestimmten Gebiet zu sein.
„Culling“ ist in Botswana schon länger ein Thema, schließlich gab es in den
Nachbarländern Südafrika und Simbabwe solche Operationen schon vor
zehn Jahren. Aber noch zögert die Regierung Botswanas. Das liegt in erster
Linie daran, dass weder die technische Ausrüstung noch das Know-how, das
eine solche Operation erfordert, vorhanden sind. Außerdem fürchtet man
auf internationaler Ebene an Reputation zu verlieren, denn vor allem das Beispiel Südafrika hat gezeigt, dass „Culling“-Operationen große Proteste nach
sich ziehen. Da Botswana mit seiner Tourismus-Strategie „Low impact, high
income“ nur die Reichen unter den Reisenden erreichen will, und diese
Schicht nicht allzu groß ist, fürchtet man das Ausbleiben der Touristen – und
ihrer Devisen.
Aber auch im Land selbst ist „Culling“ umstritten. Ian Kharma, amtierender Vize-Präsident und sehr wahrscheinlich nächstes Staatsoberhaupt, ist, wie
viele andere Tierschützer, ein entschiedener Gegner des Abschlachtens. Seine
Argumente sind nicht von der Hand zu weisen. Die Frage „Wo soll man in
Botswana denn cullen?“ können nicht einmal die Befürworter zufriedenstellend beantworten. „Cullt“ man dort, wo der Druck auf die Fauna am größten
ist, nämlich in den Nationalparks, drängen die Elefanten in die Gebiete
außerhalb der Parks: In die Dörfer und in die landwirtschaftlich genutzten
Gebiete, wo sie viel mehr wirtschaftlichen Schaden anrichten können. Wird
Botswana
Kerstin Eva Dreher
außerhalb der Parks „gecullt“, konzentrieren sich die riesigen Herden nur noch
auf das Nationalpark-Gebiet – und der Druck auf die kleineren Tierarten und
die Vegetation wird noch verstärkt. „Culling“ mag also in einem wesentlich
kleineren, eingezäunten Gebiet – wie zum Beispiel dem Krüger Nationalpark
– funktionieren, ist aber für die riesigen, glücklicherweise nicht eingezäunten
Nationalparks in Botswana ungeeignet.
Welche Methoden, eine Elefantenpopulation unter Kontrolle zu halten,
gibt es noch? Zwangsumsiedlungen oder Kontrazeption, das heißt die AntiBaby-Pille, wären weitere Möglichkeiten. Diese sind aber zum einen sehr
teuer und aufwendig, zum anderen noch nicht genügend erforscht.
Es drängt sich die Frage auf, ob es wirklich sinnvoll ist, dass der Mensch
zum Schutz der Natur gegen eine übermäßige Vermehrung der Elefanten eingreift. Schafft sich die Natur nicht vielleicht langfristig selbst eine Lösung,
indem sie zum Beispiel bei einer stark überbeanspruchten Vegetation die
Geburtenzahl der Elefanten absenkt? Der Gedanke ist gar nicht so abwegig,
bei Mäusen zum Beispiel ist genau das der Fall. Einige Wissenschaftler mutmaßen außerdem, dass – sollte es in Botswana wirklich zu eng und das Futter zu knapp werden – ein Großteil der Elefanten wieder zurück in die umliegenden Länder emigrieren würden
Der Druck auf die Vegetation Botswanas kann noch nicht so groß sein, wie
die Regierung vermutet, denn sonst würden nicht weiterhin so viele Tiere aus
den Nachbarländern einwandern. Botswana scheint für Elefanten also trotz
aller Schwierigkeiten und Probleme immer noch ein Paradies zu sein. Wer
kann überhaupt mit Bestimmtheit festlegen, wieviele Elefanten die großen
Parks im Norden Botswanas verkraften? Schon 1991, als man ca. 50.000 bis
60.000 Elefanten in Botswana vermutete, hieß es, die Kapazität sei damit
erschöpft. Heute leben – zumindest nach offiziellen Zählungen, denen ich nur
bedingt Glauben schenke – 106.000 Elefanten im gleichen Gebiet. Und auch
wenn sie ihre Spuren an manchen Stellen eindeutig hinterlassen, gibt es
heute noch keine verlässlichen Forschungsergebnisse, die eindeutig bestätigen können, dass es in Botswana eine Elefanten-Überpopulation und ein
dadurch verursachtes ökologisches Problem gibt.
Kerstin Eva Dreher
Botswana
6. Die 11. CITES Konferenz in Nairobi – Ergebnisse und Beurteilung
Am gegen Ende meiner Recherchen fand in Nairobi, Kenia, die elfte
CITES-Konferenz statt. Die erste nach dem gestatteten Elfenbeinhandel in
Namibia, Simbabwe und Botswana. Dieses Thema kam auf der Konferenz
natürlich auch wieder zur Abstimmung, denn Namibia, Simbabwe, Botswana und Südafrika hatten den Verbleib des afrikanischen Elefanten im
Appendix II des Washingtoner Artenschutzabkommens (WA) beantragt.
Außerdem forderten die vier Länder eine jährliche Elfenbein-Handelsquote;
für Botswana sollten das 12 Tonnen pro Jahr sein. Desweiteren wollten sie mit
Elefantenprodukten Handel treiben und forderten zudem die Erlaubnis ein,
Lebendtiere ausführen zu dürfen. In Botswana versprach man sich davon die
wachsende Elefanten-Population besser in den Griff zu kriegen und zusätzlich
jedes Jahr ca. 20 Millionen US Dollar einzunehmen. Geld, das wieder in den
Artenschutz zurückfließen sollte. Gegner dieses Antrags waren in erster
Linie Kenia und Indien. Wieder wurden tagelang Argumente vorgetragen, hitzig debattiert und gestritten. Dann kam die Konferenz zu einer Entscheidung:
Der afrikanische Elefant wurde für die Länder des südlichen Afrikas auf
Appendix II des WA eingestuft, und auch Lebendtiere sollten weiterhin –
natürlich streng kontrolliert – an angemessene und akzeptable Bestimmungsorte weitervermittelt werden dürfen. Der Handel mit Elefantenprodukten,
also auch mit Elfenbein, wurde nicht wieder gestattet.
Dieser Kompromiss ist durchaus sinnvoll, auch wenn das die wenigsten
Menschen in Botswana verstehen werden. Die internationale Staatengemeinschaft hat den Elfenbeinhandel für die nächsten Jahre zwar untersagt, will
den Antrag Botswanas, Südafrikas, Namibias und Simbabwes aber noch einmal zur Abstimmung bringen, wenn die zwei Langzeit-Kontrollprogramme,
MIKE (Monitoring Illegal Killing of Elephants) und ETIS (Elephant Trade
Information Systhem) neue Erkenntnisse gebracht haben. Diese Programme
sind zwar schon länger angedacht, aber noch nicht vollständig aufgebaut
und bislang nur in kleineren Pilottests erprobt. Bis zur nächsten CITESKonferenz wird es hierzu sicherlich neue Ergebnisse geben und die Frage, ob
Elfenbeinhandel für das südliche Afrika gestattet werden soll, neu diskutiert
werden.
7. Schlussbemerkung
Wenn es um die Zukunft des afrikanischen Elefanten geht, schlagen die Emotionen immer hoch. Doch man darf dieses Thema weder so romantisch verklärt, wie
einige Tierschützer sehen, noch unter rein kommerziellen Aspekten betrachten. Die
Botswana
Kerstin Eva Dreher
Lösung liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte. Ich bin der Meinung, dass die
Regierung Botswanas mit dem „Community Based Natural Resources Management“ einen ganz guten Kompromiss zwischen Mensch und Tier in den betroffenen Gebieten geschaffen hat. Doch eines gilt es festzuhalten: Es gibt noch viel zu
wenig wissenschaftliche Erkenntnisse über den Bestand und die Wanderungen der
Elefanten und ihre langfristige Wirkung auf die Umwelt. Dies wird eine der
Hauptaufgaben der nächsten Jahre sein – für Botswana und die angrenzenden Länder. Überhaupt: Meiner Meinung nach ist eine langfristige Lösung für Elefanten
(und viele andere Tiere) im südlichen Afrika nur länderübergreifend möglich. Denn
es nutzt nur wenig, wenn man ausschließlich in Botswana ein sinnvolles Artenschutzsystem hat: Ein solches muss es für die gesamte Region, das heißt Botswana,
Namibia, Angola, Simbabwe und Sambia, geben. Die Idee ist gar nicht so abwegig, erst im vergangenen Monat haben die Regierungen Botswanas und Südafrikas den ersten grenzüberschreitenden Nationalpark gegründet. Im Falle der Elefanten ist nun SADC (South African Development Community, eine 1980
gegründete Kooperationsinitiative für Staaten des südlichen Afrikas) gefragt. Elefanten halten sich nämlich nicht an Staatsgrenzen und wenn sie in Namibia, Simbabwe, Sambia und Angola eines Tages auch wieder in Frieden leben können, kann
aus der gesamten Region ein Paradies werden. Ein Paradies, in dem man vielleicht
eines Tages die letzten afrikanischen Elefanten in Freiheit beobachten kann.
8. Dankeschön
All die wunderbaren, lehrreichen und manchmal auch erschreckenden Erfahrungen, die ich in meiner Zeit in Botswana machen durfte, bleiben unvergessen.
Genauso wie die Hilfsbereitschaft vieler Menschen, die mich unterstützt haben,
meine vielen Pläne in die Tat umzusetzen. Michael Meier von der Friedrich-EbertStiftung, Klaus Thüsing vom DED, Christian Nels von der GTZ, Herrn Schregle
von der Deutschen Botschaft, Karl-Heinz Gimpel vom „Crocodile Camp“, dem
Berufsjäger Paul Klotsch, Glenn Grant, meinen Kollegen und Kolleginnen vom
Botswana Guardian und der Midweek Sun und allen anderen, die mich auf diesem Weg begleitet haben, ein ganz großes Dankeschön. Natürlich auch an die
Daheimgebliebenen, allen voran die Heinz-Kühn-Stiftung und ganz besonders
Erdmuthe Op de Hipt. Danke für die vielen einmaligen Erlebnisse, die intensiven
Eindrücke und die große Chance, eine andere Welt kennenzulernen.
Victoria Eglau
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Chile
vom 06. Oktober 1999 bis 06. Januar 2000
Chile
Victoria Eglau
Ein Land, durch das sich Risse ziehen – Chile ein
Jahrzehnt nach dem Ende der Pinochet-Diktatur
Victoria Eglau
Chile vom 6. Oktober 1999 – 6. Januar 2000,
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
Chile
Victoria Eglau
Inhalt
Zur Person
„Welcome to the country that doesn’t want to remember the past“
„Pinochet, unser wichtigster Export-Artikel“
Oktober 1999: „Coooooperativa!“ – vier Wochen Hospitanz bei
einer Radio-Legende –
Einblicke in die chilenische Medienwelt von heute
„Mit der Waffe der Wahrheit“
Manola Robles – die „Stimme der Wahrheit“
„Eine billige journalistische Arbeitskraft, jeden Tag stärker ausgenutzt“
Plausch mit dem Noch-Präsidenten
Präsidentschaftswahl 1999 – für die Concertación ist die Zeit
der leichten Siege vorbei
Keiner spricht von Pinochet
Ein Spiegelbild der chilenischen Gesellschaft? – Besuch auf
dem „Cementerio General“
Als die Menschenrechte mit Füßen getreten wurden – die Opfer,
zehn Jahre nach dem Ende der Diktatur
Pedro Matta: Gegen das Vergessen
Mario Sottolicchio: Mitleid für die Täter
Leo Luna: Physisch zerstört, nicht psychisch
Dr. Elena Gómez: Die „Verkapselung“ des Traumas
Viviana Díaz: Für Wahrheit und Gerechtigkeit
Nelson Caucoto: Wenn sich Türen plötzlich öffnen
Nachtrag
Chile
Victoria Eglau
Wenn man die Heimat kaum noch wiedererkennt – die Rückkehr
aus dem Exil
Ein Ort mit einer doppelten Geschichte: Chacabuco
„Die Ausbeutung von Menschen durch Menschen“:
Salpeterstadt María Elena
Wie auf einem anderen Planeten – Armut und soziale
Unterschiede in Chile
„Eine titanische Aufgabe“ – Indios suchen Wege
aus dem wirtschaftlichen Abseits
„Die historische Schuld des chilenischen Staates“ – Aufstand
der Mapuche
Dank an...
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Victoria Eglau
Chile
Zur Person
Victoria Eglau, geboren am 6. März 1970 in Hamburg. Studierte Politologie,
Neuere Geschichte und Spanisch in Bonn. Immer wieder Fernweh, gestillt
durch Auslandsaufenthalte in den USA, Frankreich und Spanien. Journalistische
Erfahrung gesammelt durch Praktika, freie Mitarbeit und Vertretungen in den
Semesterferien, u.a. bei Agence France Presse, Berliner Morgenpost, RIAS,
Deutsche Welle und der Emigrantenzeitung „AUFBAU“ in New York. Nach dem
Volontariat beim DeutschlandRadio als freie Rundfunkjournalistin tätig, vor
allem für DLF, DeutschlandRadio Berlin und Deutsche Welle. Vertretungen bei
WDR und EuroNews. Zur Zeit Redakteurin beim Deutschlandfunk.
„Welcome to the country that doesn´t want to remember the past“
„Willkommen in dem Land, das sich nicht an seine Vergangenheit erinnern
will.“ Juan Diego Spoerers Stimme klingt bitter, als er mich kurz vor der Landung
auf dem Flughafen von Santiago de Chile in seiner früheren Heimat willkommen
heißt. Während des sechzehnstündigen Fluges von Zürich habe ich meinen Sitznachbarn ein wenig kennengelernt. Der etwa Vierzigjährige mit dem graugesträhnten Bart hatte Chile kurz nach dem Militärputsch 1973 verlassen und lebt
seitdem in Schweden, einem der Staaten, die die meisten chilenische Exilanten
aufnahmen. Inzwischen verbringt der Rundfunk-Journalist wieder mehrere
Monate pro Jahr in Chile, recherchiert dort für Reportagen und Berichte. Doch
ständig leben zu wollen, in dem entlegenen Andenstaat, scheint Juan Diego
nicht. „Ich bin sehr enttäuscht von Chile“, sagt er. Das Gespräch mit ihm hat mich
eingestimmt auf meinen dreimonatigen Aufenthalt „am Ende der Welt“, hat Fragen aufgeworfen. Welche Rolle spielt im heutigen Chile die siebzehnjährige
Pinochet-Diktatur, die der neue Staatspräsident Ricardo Lagos wenige Monate
später als „die größte politische Tragödie des 20. Jahrhunderts“ bezeichnen wird?
Will sich das Land wirklich nicht an seine Vergangenheit erinnern? Welche Spuren hat dieses dunkle Kapitel der chilenischen Geschichte in der Gesellschaft
hinterlassen? Und was denken die, die aus dem Exil zurückgekehrt sind (oder nur
„halb“ zurückgekehrt sind, wie Juan Diego Spoerer) über Chile? Was für ein Land
haben sie vorgefunden, wie sind sie dort empfangen worden?
„Pinochet, unser wichtigster Export-Artikel“
Zwei Tage später, Samstag abend an der Plaza Nunoa in Santiago. Mit Maricel
Contreras und Carolina Espinoza, zwei jungen Journalistinnen, sitze ich in einer
Kneipe, die sich auch in Köln oder Paris befinden könnte. Maricel stellt mir die
Frage, die ich in den kommenden Monaten immer wieder hören werde: „Was wis-
Chile
Victoria Eglau
sen die Deutschen über Chile“? Ich druckse ein wenig herum, erkläre den beiden
schließlich, dass in Deutschland die Berichterstattung über Chile meist in
Zusammenhang mit Pinochet steht, dass also viele meiner Landsleute den lateinamerikanischen Staat wahrscheinlich immer noch mit der Militärdiktatur assoziieren. Als habe sie meine Antwort erwartet, sagt Maricel mit einer Mischung aus
Ironie und Resignation „Tja, Pinochet ist eben unser wichtigster Export-Artikel“.
Ich fühle mich ertappt. Auch ich bin ja hier, um mich über die Nachwirkungen der
Diktatur zu informieren. Auch ich denke ja bei Chile erst einmal an Pinochet. Ich
nehme mir vor, während meines Aufenthaltes zu versuchen, die „deutsche Brille“,
die „europäische Brille“ abzunehmen, und meinem Gastland möglichst offen und
unvoreingenommen zu begegnen. Und meinen Blick zu erweitern auf die gesamte
Vielfalt der Themen, die die Chilenen heutzutage beschäftigen.
Oktober 1999: „Coooooperativa!“ – vier Wochen Hospitanz bei einer
Radio-Legende – Einblicke in die chilenische Medienwelt von heute
Die Vielfalt der politischen Themen kennenlernen – wo wäre das besser möglich als beim meistgehörten Informationssender Chiles. Radio Cooperativa – das
kennt in Chile jeder. Cooperativa hören die Taxifahrer in Santiago, und für den
einsamen Wärter der Ruinenstadt Chacabuco in der nordchilenischen Wüste, der
kein Telefon besitzt, bedeutet Radio Cooperativa die Verbindung zur Außenwelt.
Wen man in Chile auf den beliebten Radiosender anspricht, der spitzt sofort die
Lippen, um den einprägsamen Jingle „Cooooooperativa“ nachzuahmen. Mit
einer sonoren, Glaubwürdigkeit und Seriosität versprechenden Stimme, ist dieses Erkennungslogo gesprochen. Doch den Ruf der Glaubwürdigkeit kann dem
Sender sowieso keiner mehr nehmen. Er wurzelt in der Zeit der Diktatur, in der
der Sender zu einem Synonym für mutige, offene und ausgewogene Berichterstattung wurde. Als in den achtziger Jahren die Proteste gegen das PinochetRegime immer lauter wurden, als jeden Abend Demonstrationen auf den Straßen stattfanden und der Staat seinen Unterdrückungsapparat in Gang setzte, da
wurde das Hören der Cooperativa-Informationssendungen für die Chilenen zu
einem täglichen, jedes Mal voller ängstlicher Spannung erwarteten Ritual.
„Mit der Waffe der Wahrheit“
„Unsere Waffen waren die Wahrheit und die Genauigkeit“, erinnert sich
Arnoldo Carreras García, der 1983 als junger Reporter bei Radio Cooperativa
anfing. „Nach dem Putsch, während der siebziger Jahre, gab es nur eine Wahrheit in Chile: Die offizielle. Wir aber wollten ein breitgefächertes Bild von dem
vermitteln, was in Chile geschah“. Als einziger Sender in Chile begann Radio
Cooperativa in den Nachrichten über das Zitieren offizieller Quellen hinauszu-
Victoria Eglau
Chile
gehen. Die Journalisten thematisierten Tabus wie das Verschwinden von Menschen, ließen dabei Familienangehörige und Freunde der Opfer zu Wort kommen,
doch lieferten sie stets auch die amtliche Version der Vorkommnisse. Damit habe
sich der Sender unangreifbar gemacht, meint Arnoldo, auch von den Vertretern
des Militärregimes sei er mit der Zeit respektiert worden. Das rettete Radio Cooperativa wohl vor dem definitiven Sendeverbot, von dem viele andere Medien
betroffen waren. Doch Drohungen und vorübergehende Schließungen gehörten
für die Redakteure zum Alltag. Gehälter wurden mit großer Verspätung, in
Raten und manchmal sogar in Naturalien ausgezahlt. Gab es doch keine Werbeeinahmen, weil die diktatur-freundliche Wirtschaft den Sender boykottierte.
„Manchmal haben wir auf der Straße gestanden und gebettelt“, blickt Arnoldo
Carreras García auf die schwierige Zeit zurück. Wie die Journalisten das ausgehalten hätten, frage ich ihn. „Wir fühlten, dass wir eine lebenswichtige Mission gegenüber dem Land erfüllten“, antwortet der hochgewachsene, weißhaarige Mann, der heute die Internet-Seiten des Radios betreut, mit großer
Selbstverständlichkeit.
Nicht nur hart, sondern auch „romantisch und schön“ sei die Arbeit während
der Diktatur gewesen, betont Arnoldo und erzählt eine der vielen unglaublichen
Geschichten, die Radio Cooperativa berühmt gemacht haben. Der Moderator der
morgendlichen Informationssendung, Sergio Campos, wollte einmal auf eine für
den Abend um acht Uhr geplante Protest-Aktion gegen das Pinochet-Regime hinweisen, die darin bestehen sollte, dass Chile in Dunkelheit versank. Alle Bürger
sollten in ihren Wohnungen das Licht löschen. Weil eine direkte Ankündigung
unmöglich war , benutzte Campos einen Trick: „Es ist acht Uhr abends, es ist acht
Uhr abends“, sagte er in der, wie gesagt, am Morgen ausgestrahlten Sendung an
– und ließ dann einen Chanson von Charles Aznavour einspielen, der mit den
Worten begann: „Mach das Licht aus...“. Die Botschaft wurde verstanden.
Manola Robles – die „Stimme der Wahrheit“
Vormittags gegen elf in der Calle Antonio Bellet 223 im schicken Santiagoer
Stadtviertel Providencia. Die grau-verwitterte Villa, in der Radio Cooperativa
untergebracht ist, wird von einer hohen Mauer umgeben. Durch das enge Großraumbüro im ersten Stock bewegt sich rastlos eine kleine, zierliche Frau um die
fünfzig. Nach vorne gebeugt läuft sie rauchend ihren Parcours ab: Von ihrem
Arbeitsplatz ins kleine Tonstudio, von dort zum Computer mit den Agenturmeldungen, schließlich zu einem der beiden ständig klingelnden Telefone, und
wieder an den Schreibtisch. Manola Robles bereitet „El Diario de Cooperativa“
vor, das mittägliche Informationsprogramm des Senders. Wie jeden Tag ist sie
auch heute um fünf Uhr morgens ins Büro gekommen.
Mit Manola Robles arbeiten viele Kollegen nicht gerne zusammen. Sie sei
anspruchsvoll und fordernd, heißt es. Außerdem verbreite sie nervöse Hektik, ihr
Chile
Victoria Eglau
Arbeitsstil sei chaotisch. Während der Sendung am Mittag wirkt Manola konzentriert und abwesend zugleich. Mit ihren großen, ausdrucksvollen, ein wenig
traurigen Augen blickt sie zuweilen nachdenklich auf einen unbestimmten Punkt
an der Studiodecke. Dann wieder rauft sie sich den kurzen, rötlichen Haarschopf
und nimmt einen tiefen Zug an ihrer Zigarette. Manolas Interviewpartner müssen sich auf bohrende, schonungslose Fragen gefasst machen. Die Journalistin
nimmt kein Blatt vor den Mund. Das hat sie noch nie getan, auch nicht während
der Diktatur, und dafür ist sie in Chile berühmt geworden. Von vielen Chilenen
wird der Name „Manola Robles“ mit Ehrfurcht ausgesprochen. Er steht für Mut,
für die bedingungslose Verpflichtung zur Wahrheit in einer Zeit, in der es lebensgefährlich war, die Wahrheit auszusprechen.
„Ich habe niemals daran gedacht, ins Exil zu gehen“, sagt die Moderatorin von
Radio Cooperativa heute. „Ich habe Angst gehabt, mehr als einmal, doch die
Angst hat mich nicht gelähmt“. Aufhören, das stand für Manola, die während der
Pinochet-Zeit als Reporterin des Senders arbeitete, niemals zur Diskussion.
Auch nicht, nachdem die Diktatur ihr eigenes Leben schmerzlich berührt hatte.
1982 fand der militärische Geheimdienst bei einigen verhafteten Personen, die
der Kommunistischen Partei nahestanden, die Telefonnummer von Manola
Robles. Die junge Journalistin, im siebten Monat schwanger, machte gerade
Urlaub am Meer. Zufällig – der ehemalige Staatspräsident Eduardo Frei Padre
war gestorben – rief sie beim Sender an und erfuhr dadurch, dass sie vom
Geheimdienst gesucht werde. Ihr Chef empfahl ihr, sofort nach Santiago zurückzukehren und auf Sendung zu gehen, so, als wäre nichts geschehen. „Es war
furchtbar, sich hinter das Mikrophon zu setzen, in dem Bewusstsein dass sie dich
suchten und jeden Moment auftauchen konnten“, erinnert sich Manola. Der psychische Stress, die Angst und die dann folgenden Verhöre waren zuviel: Die
schwangere Frau verlor ihr Baby. „Pinochet me debe un hijo“ – „Pinochet
schuldet mir ein Kind“, sagt die kleine Frau bitter, aber ohne Hass. Ein Kind, das
in keiner Opferstatistik auftaucht.
Viele Kollegen wissen es nicht einmal: Nach der Sendung um 14 Uhr geht
Manola Robles zu ihrem zweiten Arbeitgeber – der Ärzte-Gewerkschaft. Ihr
Mann, ein Wirtschaftswissenschaftler, war 1976, wenige Jahre nach dem Putsch,
verhaftet worden. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis wurde bei ihm Kehlkopf-Krebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert. Seit ihm der Tumor entfernt wurde, ist er stumm, hat nie wieder Arbeit gefunden. Deswegen hat Manola
einen Zweitjob – sie bringt die Familie durch. Das ihre beiden Kinder studieren
können und dafür keinen Kredit aufnehmen mußten, darauf ist sie stolz. „Ich
wollte nicht, dass sie sich verschulden wie so viele Studenten. Ihre Ausbildung
möchte ich ihnen als Erbe mit auf den Weg geben.“
Victoria Eglau
Chile
„Eine billige journalistische Arbeitskraft, jeden Tag stärker ausgenutzt“
‘„Ältere Semester“, wie Manola Robles und Arnoldo Carreras García, gibt es
bei Radio Cooperativa kaum noch. Fast alle Reporter sind jung, die meisten unter
dreißig. Alejandra Córdova zum Beispiel, 25, berichtet für den Sender aus „La
Moneda“, dem chilenischen Regierungssitz. Elf Stunden Arbeit sind für sie das
durchschnittliche Tagespensum, mindestens jedes zweite Wochenende arbeitet
sie auch, selten gibt es dafür freie Tage zum Ausgleich. Rund 1.800 Mark verdient Alejandra im Monat, für eine eigene Wohnung oder wenigstens ein Zimmer reicht das nicht, schließlich muss die junge Journalistin ja auch noch ihren
Studienkredit abstottern. Wie viele ihrer Kollegen wohnt sie also noch bei den
Eltern.
Auch bei anderen chilenischen Medien sind auffallend viele sehr junge
Leute beschäftigt, die viel arbeiten und wenig verdienen. Jedes Jahr verlassen
Tausende von Absolventen die Journalismus-Studiengänge der zahllosen
chilenischen Hochschulen und Privatunis. Das Überangebot junger Arbeitssuchender drückt die Gehälter. Wer einen Job ergattert, schätzt sich glücklich
und beklagt sich höchstens hinter vorgehaltener Hand über Arbeitsbedingungen und schlechte Bezahlung. „Ein Desaster“, nennt Manola Robles
diese Situation. „Um guten Journalismus zu machen, muß man auch gut
zahlen. Du kannst keinen guten Journalismus machen mit ganz jungen Leuten, die noch keine Erfahrung haben und denen Du nichts bezahlst. Das ist
fatal. Die Jungen sollen ja arbeiten, aber sie müssen noch lernen. Folgendes
passiert in diesem Land: Eine sehr billige journalistische Arbeitskraft, jeden
Tag billiger, jeden Tag stärker ausgenutzt, ohne Alternative. Und die politische
und wirtschaftliche Rechte, die alles kontrolliert. Welche Ethik kann es denn
da geben?“, fragt Manola. „Welche Ethik kannst Du von einem 24jährigen
verlangen, dem sie nichts bezahlen? Unglaublich gefährlich ist das, unverantwortlich!“
Die chilenischen Medien stehen überwiegend rechts. Achtzig Prozent des
Zeitungsmarktes etwa, teilen sich die beiden der politischen Rechten nahestehenden Konzerne „El Mercurio“ und „Copesa“ untereinander auf. In der
Fernsehlandschaft sieht es ähnlich aus. Canal 2, ein junger Sender, der durch
seine seriöse und gleichzeitig frische Berichterstattung auffiel, musste im vergangenen November von einem Tag auf den anderen schließen. Im Gegensatz
zu ihren Kollegen hatten die Moderatoren des Canal 2 die Dinge beim Namen
genannt: Die Jahre zwischen 1973 und 1989 nannten sie „Diktatur“ und
nicht schamhaft „Militärregierung“. Und Pinochet hieß bei ihnen „Ex-Diktator“ und nicht nur vorsichtig „Senator auf Lebenszeit“. Seine Unabhängigkeit wurde dem Sender wohl zum Verhängnis – die Werbeeinnahmen blieben
aus.
Chile
Victoria Eglau
Manola Robles von Radio Cooperativa macht die Concertación, die seit
einem Jahrzehnt regierende Mitte-Links-Koalition, für die fehlende Pluralität auf
dem chilenischen Medienmarkt verantwortlich. „Die Politiker der Concertación
haben es nicht verstanden, dass eine Vielfalt von Medien notwendig ist, die das
gesamte politische Meinungsspektrum dieses Landes widerspiegelt, damit die
Demokratie bestehen kann und sich legitimiert. Hier gibt es weniger demokratische Medien als während der Diktatur – kannst Du das verstehen?“ Unverzeihlich sei das, sagt Manola. „Sie haben den chilenischen Journalismus wirtschaftlichen Interessengruppen überlassen“.
Plausch mit dem Noch-Präsidenten
Jeden Freitag ist „Frei-Tag“ bei Radio Cooperativa. Noch-Staatspräsident
Eduardo Frei kommt ins Studio, um die sonntägliche Sendung „Conversando con
el presidente“ („Unterhaltung mit dem Präsidenten“) voraufzuzeichnen. Der
Plausch mit dem Regierungschef sei etwas ganz Neuartiges im chilenischen
Rundfunk, erfahre ich. Für den Christdemokraten Frei ist die Sendung, die bis
einige Wochen vor der Präsidentschaftswahl jeden Sonntag ausgestrahlt wird, in
erster Linie ein Heimspiel. Radio Cooperativa steht seit 1979 der chilenischen
Christdemokratie nahe. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dem
Präsidenten hier ein ideales Forum geboten wird, um kurz vor dem Ende seiner
Amtszeit, diese vor breitem Publikum im besten Licht darzustellen. Frei kann
zwar nicht wiedergewählt werden, doch werden ihm Ambitionen für die Präsidentschaftswahl im Jahre 2005 nachgesagt.
In der heutigen Talk-Sendung geht es zunächst um Chiles größte indianische
Minderheit, die Mapuche. Es werden O-Töne von einem Besuch Frei‘s in einer
Schule eingespielt, die von Mapuche-Kindern besucht wird. Chile sei ein Land,
in dem jeder seine Kultur entfalten könne, darf dann der Präsident erklären, und
die Mapuche-Kultur bereichere Chile. Das die Mapuche-Sprache Mapudungun
in den Schulen nicht unterrichtet wird, dass viele Indios unzufrieden sind mit
ihrer Stellung im chilenischen Staat und dass während Frei‘s Amtszeit, in einigen Gebieten im Süden des Landes, Mapuche zum Aufstand übergegangen
sind, erwähnen weder der Präsident noch der Moderator.
Unterdessen verfolgt der Tross des Regierungschefs, ein persönlicher Referent
und zwei Presseleute, die Aufzeichnung genau, vergleicht immer wieder mit dem
Ablaufplan. Gegen Ende der Sendung dürfen Hörer Fragen zu allen möglichen
Themen stellen. Die Anrufe sind allerdings aufgenommen und vorselektiert
worden. Eine junge Frau will wissen, was der Präsident davon halte, dass in ihrem
Ort ein Mädchen von der Schule flog, weil es geheiratet hatte. Der Präsident reagiert mit Empörung und starken Worten, spricht von einer „Schande für Chile“,
verwechselt dann aber im Laufe seiner Antwort die Heirat mit einer Schwangerschaft. Frei‘s Presseleute werden nervös: „Das müssen wir schneiden.“
Victoria Eglau
Chile
Schließlich kommt die Sprache noch auf den in London inhaftierten ExDiktator Pinochet. Frei macht deutlich, dass er nur eine Frage zulassen will,
und die Antwort darauf ist nicht neu, er hat sie schon unzählige Male gebetsmühlenartig wiederholt: Pinochet müsse in Chile vor Gericht gestellt werden,
nicht im Ausland. Nach der Aufzeichnung verabschiedet sich Chefredakteurin Gema Contreras mit einem Augenzwinkern von dem hohen Gast: „Das
nächste Mal reden wir dann aber wirklich über Pinochet...“
Von einem „Desaster“ des chilenischen Journalismus‘ hatte Manola Robles
gesprochen. Ist es das, was sie gemeint hat?
Präsidentschaftswahl 1999 – für die Concertación ist die Zeit der leichten Siege vorbei
Schon von weitem ist die Musik zu hören. Cooler Hip-Hop und mitreißende
Schlager dröhnen aus riesigen Lautsprechern, lassen die Zehenspitzen wippen an diesem sonnigen Vormittag in einer Armensiedlung von Santiago. In
eine schmale Straße, zwischen niedrigen Häusern, ist eine Menschenmenge
gequetscht worden. An langen Tischen wird den Menschen ein Frühstück serviert. Und dann kommt der, der auf der Bühne gleich eine gut inszenierte EinMann-Show bestreiten wird: Joaquín Lavín, rechter Kandidat bei der chilenischen Präsidentschaftswahl 1999. Langsam schiebt sich der noch junge
Mann durch die fahnenschwenkende Menge, küsst Frauen und Kinder auf die
Wange, lässt sich feiern. Lavín gibt sich gern als Mann aus dem Volk. Nie vergisst er bei Wahlkampfauftritten seine Frau und seine sieben Kinder zu
erwähnen. Der populistische Diskurs des Kandidaten ist stets der gleiche:
„Los problemas de la gente“, die Probleme der einfachen Leute wolle er anpacken: Überfüllte Arztpraxen, Arbeitslosigkeit und gestiegene Kriminalität. Das
er regieren könne, habe er ja bewiesen: Als Bürgermeister von Las Condes,
einer der reichsten Kommunen des Landes.
Es ist kein Zufall, dass Lavín auf seiner Wahlkampfreise durch Chile vor
allem die sozial benachteiligten Viertel besucht. Ein großer Teil der Stimmen
der reichen Oberschicht ist ihm sicher, doch die Armen zählen nicht zur
klassischen Klientel der Rechten. Aber diesmal werden so viele von ihnen
rechts wählen wie noch nie. „Hier sehen Sie Henriqueta Pinto“, ruft Joaquín
Lavín in die Menge und zeigt auf eine Frau an seiner Seite. „Henriqueta wartet seit Jahren auf einen Zuschuss für eine Wohnung. Sie spart für diese
Wohnung. Dieses Problem haben viele.“ Lavín hält eine bunte Broschüre in
die Höhe. „Hier, in meinem Heft mit sechzig konkreten Lösungen, können sie
es nachlesen: Keine Familie, die sich anstrengt, wird mehr als drei Jahre auf
eine Wohnung warten. Drei Jahre.“
Chile
Victoria Eglau
Bei vielen Chilenen, die von der Sozialpolitik der seit zehn Jahren regierenden Concertación enttäuscht sind, fallen diese Versprechen auf fruchtbaren Boden. Ich komme mit ein paar Frauen ins Gespräch, frage sie, ob sie für
Lavín stimmen werden. „Ich wähle ihn“, sagt eine von ihnen, der ein Vorderzahn fehlt. Und warum? „Porque me gusta“ – „Weil er mir gefällt“, antwortet sie. „Ach was, Du wählst ihn doch nur, weil er Dir ein Frühstück schenkt“,
ruft eine andere dazwischen. Und sie? „Ich werde für Lagos stimmen, weil ich
will, dass die Demokratie bleibt.“
Das er während der Diktatur Mitarbeiter Pinochets war, erwähnt Joaquín
Lavín nie. Auch nicht, dass viele der sozialen Probleme, die er anpacken will,
ihre Wurzeln in der Zeit der Militärherrschaft haben. Von Pinochet hält der
Kandidat der rechten „Allianz für Chile“ mittlerweile größtmögliche Distanz.
Lieber präsentiert sich Lavín als unverbrauchter, unpolitischer „Macher“,
der in die Zukunft blickt. Mit seinem Slogan „Viva el cambio“ – „Es lebe der
Wechsel“, hat er das ganze Land überzogen. Kaum eine Mauer, die nicht mit
dem gelben Spruch auf blauem Grund bepinselt wurde. „Viva el cambio“ steht
auf unzähligen Postern und „Viva el cambio“ lautet der Refrain der eingängigen Popsongs. Ein Erfolgsrezept, meint der Politologe Ricardo Israel von
der „Universidad de Chile“: „Lavín hat etwas sehr Beeindruckendes getan, das
Teil seines Erfolgs ist. Er hat Ricardo Lagos das Konzept des Wechsels weggenommen. Der Begriff des Wechsels war entscheidend für Clinton, für
Blair, für Schröder, für de la Rua in Argentinien und für Cardoso in Brasilien.
Sich mit dem Wechsel zu idenfizieren, war ein sehr wichtiges Element ihres
Wahlkampfes. Und hier hat Lavín es Lagos weggenommen.“
Erst sehr spät merkt Ricardo Lagos, Kandidat des Mitte-Links-Bündnisses
Concertación, dass ihm in Joaquín Lavín ein gefährlicher Herausforderer
erwachsen ist. Plötzlich muss er kämpfen. Seitdem sich in den achtziger
Jahren Chiles Christdemokraten und Sozialisten, Sozialdemokraten und Radikale zu einer Koalition gegen die Diktatur zusammenschlossen, haben sie alle
wichtigen Wahlen gewonnen. Erst hatte die Concertación mit ihrer Kampagne
für das „Nein“ zur Diktatur Erfolg – beim Referendum 1988 wählten die Chilenen Pinochet ab. Dann gewann sie die Präsidentschaftswahlen 1989 und
1993 – jeweils mit einem haushohen Vorsprung. 1999 ist alles anders. Wegen
diverser Krisen – vor allem der Wirtschaftskrise, die die Arbeitslosigkeit auf
mehr als 11 Prozent hat steigen lassen – sind die Popularitätswerte der MitteLinks-Regierung erstmals dramatisch abgesunken. Ricardo Lagos repräsentiert diese Regierung, steht für Kontinuität, doch hat die Kontinuität plötzlich
einen negativen Touch bekommen. Davon profitiert der rechte Joaquín Lavín
mit seinem Schlagwort des Wechsels. Und Ricardo Lagos hat noch ein anderes Problem: Er ist der erste sozialistische Kandidat der Concertación. Zwar
hat er sich bei den koalitionsinternen Vorwahlen deutlich mit siebzig zu drei-
Victoria Eglau
Chile
ßig Prozent der Stimmen gegen den Christdemokraten Andres Zaldivar durchsetzen können. Doch stehen viele Chilenen, auch viele traditionelle Wähler
des Mitte-Links-Bündnisses, dem Sozialismus immer noch misstrauisch
gegenüber, erinnern sich mit Unbehagen an die Instabilität der Regierung
Allende.
Santiago, an einem Sonntagnachmittag Ende November. Von einem wild
hupenden Autokorso wird Ricardo Lagos zu einem Versammlungsplatz im
Stadtteil Pudahuel eskortiert, wo er eine Wahlkampfrede halten wird. „Ricardooooooo“, feuert eine junge Frau, in einem der Schrittempo fahrenden
Wagen, den sozialistischen Kandidaten an. Ein Passant schaut durchs heruntergekurbelte Fenster und sagt: „Ich bin Christdemokrat.“ „Na und!“, ereifert sich der Fahrer, „Wir haben doch auch zweimal für Euren Kandidaten
gestimmt – für Aylwyn und für Frei.“ Eine Szene, die symptomatisch ist für
die aufbrechende Spaltung innerhalb der Concertación, für die Skepsis konservativer Wähler gegenüber Lagos.
Bei der Wahl am 12. Dezember gelingt es dann keinem der beiden Spitzenkandidaten, die absolute Mehrheit zu erringen. Der Vorsprung der Concertación gegenüber der „Allianz für Chile“ beträgt hauchdünne 0,5 Prozent.
Die Rechte triumphiert, die Mitte-Links-Koalition leckt ihre Wunden. Zum
ersten Mal in der chilenischen Geschichte wird es eine „segunda vuelta“,
einen zweiten Wahlgang zwischen den beiden stärksten Kandidaten geben.
Neu für Chile ist neben der Spannung dieses Wahlkampfes auch sein DuellCharakter, die Zuspitzung auf zwei Kandidaten. Die vier sogenannten „kleinen“ Bewerber für das Präsidentenamt – die Kommunistin Gladys Marín, die
Grüne Sara Larraín, der Humanist Tomás Hirsch und der rechte unabhängige
Kandidat Arturo Frei Bolívar – erhalten zusammen nur einen Bruchteil der
Wählerstimmen. Doch das Ricardo Lagos bei der zweiten Wahlrunde am 16.
Januar 2000 schließlich triumphiert, verdankt er einem Teil der kommunistischen Wähler.
Das der rechte Kandidat Joaquín Lavín, nachdem seine Niederlage feststeht,
ins Hotel Carrera, dem „Hauptquartier“ der Concertación fährt und dem
Sieger Lagos die Hand schüttelt, ist ein ungewohnter Anblick für die Chilenen. Die Geste wird als Zeichen der politischen Aussöhnung und der Demokratisierung der Rechten gewertet. Chile wird nun zum zweiten Mal in seiner
Geschichte von einem Sozialisten regiert werden. Und Monica und Leo,
Karla und Manola, all meine Bekannten, die bei einem Wahlsieg Lavíns das
Land verlassen wollten, können zuhause bleiben. Doch das die seit einem
Jahrzehnt regierende Concertación irgendwann einmal die Macht abgeben
wird, erscheint nach dieser Wahl erstens wahrscheinlicher und zweitens weniger bedrohlich. Chile ist ein gutes Stück weiter auf dem Weg zu einer vollständigen Demokratie.
Chile
Victoria Eglau
Keiner spricht von Pinochet
Für die ausländische Beobachterin ist es auffällig: Der in London inhaftierte
Ex-Diktator Augusto Pinochet spielt im chilenischen Wahlkampf so gut wie
keine Rolle. Vor allem die beiden Spitzenkandidaten vermeiden es, den Senator
auf Lebenszeit auch nur zu erwähnen. Das sei logisch, meint der Politikwissenschaftler Ricardo Israel: „Keine Debatte wird die Meinung eines Chilenen zu
dem, was Pinochet getan hat, verändern. Er ist entweder dafür oder dagegen. Also
kann es keinem der Kandidaten ins Konzept passen, das Thema anzuschneiden,
denn es ist unmöglich, damit Stimmen zu gewinnen. Er kann höchstens die eigenen Parteigänger überzeugen.“ Pinochet, sagt Israel im November, habe durch
seine lange Abwesenheit aufgehört, das Zentrum der chilenischen Politik zu sein.
Für den Chefredakteur der linken Zeitschrift „Punto Final“, Manuel Cabieses, ist
Pinochet bereits „politisch tot“, er sei eine zu schwere Last für alle gesellschaftlichen Gruppen: „Im Grunde glaube ich, dass es für alle politischen und
wirtschaftlichen Sektoren, selbst für die militärischen, eine enorme Erleichterung
ist, dass sich Pinochet seit mehr als einem Jahr im Ausland befindet – auch wenn
sie das so deutlich nicht sagen würden, und manche von ihnen Pinochet sogar
verteidigen. Meiner Meinung nach fänden es alle besser, wenn Pinochet komplett
aus der chilenischen Wirklichkeit verschwinden würde.“
Der rechte Kandidat Lavín habe durch die Abwesenheit Pinochets sogar eindeutig profitiert, glaubt der Politologe Israel: „Lavín hat die Gelegenheit
genutzt und den General (Pinochet) nicht erwähnt, hat stattdessen von den
Problemen geredet, die heutzutage wichtig für die Leute sind, wie Gesundheit
und Bildung. Und deswegen hat er im Wahlkampf Erfolg gehabt. Wenn Pinochet in Chile wäre, wäre es Lavín wahrscheinlich nicht so gut ergangen wie
das jetzt der Fall ist, denn alle würden nur darüber reden, was der General sagt
oder nicht sagt.“
Ein Spiegelbild der chilenischen Gesellschaft? – Besuch auf dem
„cementerio general“
Normalerweise preisen die fliegenden Händler in Santiagos Bussen Eis am
Stiel und Kaugummi, Kniestrümpfe und Krimskrams für den Haushalt an.
Doch heute, an Allerheiligen, haben sie ihre Ware dem Tag angepasst und verkaufen Blumensträußchen, das Stück zu zwei Mark. Sie finden reißenden
Absatz, denn die halbe Hauptstadt ist an diesem strahlend-schönen 1. November unterwegs zu ihren verstorbenen Angehörigen. Ich selbst fahre mit einem
überfüllten Bus zum „cementerio general“, dem Zentralfriedhof von Santiago.
Was als kurzer Besuch geplant ist, wird zu einem tagesfüllenden, eindrucksvollen Erlebnis.
Victoria Eglau
Chile
Der „cementerio general“ hat zwei Eingänge. Ich komme von der Avenida
Recoleta und muss mich erst an unzähligen Ständen mit Blumen, Getränken und
Snacks vorbeischieben, bevor ich inmitten eines Menschenknäuels auf den
Friedhof gelange. Dieser Zugang scheint mir der „populärere“ zu sein. Von
dort ist es nicht weit zum Mahnmal für die Opfer der Pinochet-Diktatur. Eine
breite, hohe Wand aus hellem Stein, in welche die Namen all der Ermordeten und
Verschwundenen eingemeißelt wurden, mit dem Datum ihrer Verhaftung und
ihrem Alter. Knapp 3000 Namen sind es. Vor dem Monument befindet sich eine
Art kleiner Graben, zwischen Steinen liegen frische Blumen und Fotos von „detenidos desaparecidos“, von verschwundenen Häftlingen.
Ich beobachte die Menschen, die vor diesem riesigen, symbolischen Grabstein stehen, und kann die Tränen kaum zurückhalten. Ein älteres Ehepaar
wendet sich nach einer Weile des starren Dastehens ab, resigniert und in
Trauer vereint – so kommt es mir vor – und geht gebückt und ohne sich noch
einmal umzuschauen davon. Natürlich weiß ich gar nicht, ob der Name ihres
Sohnes oder ihrer Tochter auf der weißen Wand steht, aber ich stelle es mir so
vor. Eine Frau hält mahnend ein Plakat hoch, mit dem Schwarz-Weiß-Foto
eines jungen Mannes: „Wann werde ich endlich wissen, wo ich ihm eine
Blume hinlegen kann“, steht darauf. Als ich ein paar Stunden später noch einmal wiederkomme, ist sie immer noch da.
Ein Typ, der mich schon seit längerem von der Seite angeschaut hat, spricht
mich an. Was ich von all dem halten würde, will er wissen. Ich erkläre ihm,
dass mich dieser Ort erschüttert und gebe die Frage an ihn zurück. Er antwortet ein wenig verschwommen, rückt schließlich mit der Sprache heraus:
Die Angehörigen würden schon wissen, warum die Namen ihrer Kinder dort
auf der Wand stehen. Es klingt wie eine Rechtfertigung des Mordens. Der
junge Mann bemerkt meinen verwunderten Blick und fügt hinzu: „Yo soy
pinochetista“, „Ich bin Anhänger Pinochets“.
Das Grab von Victor Jara muss man kennen, ansonsten hilft nur Durchfragen.
Die Asche des 1973, kurz nach dem Putsch, brutal ermordeten, populären Volkssängers ist versteckt in einer langen, hohen Wand kleiner Urnengräber. Von diesen „Urnen-Regalen“ gibt es unzählige auf dem Zentralfriedhof. Vor der quadratischen Plakette, hinter der die Urne steht, befinden sich so viele frische
Blumen, dass der Name nicht zu erkennen ist. Nur ein Baum in der Nähe, in den
Namen und Sprüche eingeritzt sind, läßt erahnen, dass der gefolterte und gequälte
Victor hier seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Vor dem kleinen Grab, das sich
etwa drei Meter über dem Boden befindet, stehen einige Menschen. Um dort eine
Blume einzustecken, muß man eine etwas wacklige Leiter besteigen. Ein Mann
um die vierzig hält die Leiter fest, wenn wieder jemand hinaufklettert, oder übernimmt es selbst, die Blume zu befestigen. Zwischendurch macht er ironische
Bemerkungen. Ich frage ihn, ob er Victor Jara persönlich gekannt hat. Nein, sagt
Chile
Victoria Eglau
er, persönlich nicht, aber er sei doch ein „companero“ gewesen, ein Genosse. Jara
war Mitglied der Kommunistischen Partei.
Chiles erster sozialistischer Präsident liegt in einem modern gestalteten
Mausoleum begraben. Ein paar hochaufragende Stehlen aus hellem Stein,
zwei Treppen, die zum Eingang der Gruft Salvador Allendes herabführen.
Dort treffe ich einen mageren, älteren Herrn mit schütterem Haar und schlechen Zähnen, der sehr korrekt gekleidet ist. Er trägt einen Anzug, der schon
bessere Tage gesehen hat, Krawatte, Trenchcoat und Schal. In seinen Armen
hält er so viele frische, bunte Blumen, dass er dahinter fast verschwindet. Aus
dem Garten, erklärt er. Zu Ehren von Allende, seines Idols seit Jugendtagen,
hat er sie hierher geschleppt, zusammen mit einer alten Kamera. Der Mann,
der Ernesto Orellana heißt, bittet mich, ihn mit den Blumen zu fotografieren:
Oben, auf dem Plateau über der Gruft und unten vor dem Eingang. Zum
Andenken. Regelmäßig erweist Senor Orellana „seinem“ Präsidenten, der sich
am 11. September 1973 im von den Putschisten bombardierten Regierungspalast „La Moneda“ das Leben nahm, die Ehre. Am Jahrestag des Putsches sei
er auch hier gewesen, erzählt er. Da seien noch viel mehr Menschen gekommen, und ein riesiges Polizeiaufgebot habe die Lage unter Kontrolle gehalten.
„Ich bin Sozialist“, sagt Orellana. Nach dem Putsch sei er ein halbes Jahr im
Gefängnis gewesen. Er wirkt verbittert, älter, als er wahrscheinlich ist, ein
wenig verwirrt. Er redet mit lauter Stimme von der Vergangenheit. Ein paar
Besucher hören interessiert und voller Anteilnahme zu, andere wenden sich
ab. Einer, der auf der Empore steht, fängt an, ihn von oben zu provozieren. Der
kleine Mann lässt sich auf die politische Diskussion ein, ereifert sich, regt sich
auf. Er tut mir leid.
Vom Allende-Grab ist es nicht mehr weit zu dem wunderschönen, parkähnlichen Teil des Zentralfriedhofs, den man von der Avenida de la Paz aus
betritt. Inmitten hoher Bäume befinden sich hier die Mausoleen der einflussreichen, chilenischen Familien, von Präsidenten und Industriellen. Prunkvolle steinerne Gebäude, so groß wie die Häuser der Lebenden. Dazwischen
der vergleichsweise bescheidene kleine Grabstein von Orlando Letelier, dem
in Washington D.C. ermordeten Außenminister der Regierung Allende.
Zuletzt besuche ich den sogenannten „Patio 29“. Auf einer Wiese mit gelben Blumen lange Reihen von identischen, rostigen Eisenkreuzen, einige mit
der Aufschrift N.N. Zwischen den Gräbern Wege, die zum Teil völlig zugewuchert sind. Wenige Besucher verirren sich zu diesem Teil des Zentralfriedhofs, auf dem nach 1973 Opfer der Diktatur anonym verscharrt wurden.
Von einem Friedhofswärter erfahre ich, dass die Leichen der Opfer inzwischen
identifiziert und umgebettet wurden.
Auf dem Weg zum Ausgang komme ich an den dicht an dicht liegenden
Gräbern der ganz normalen Leute vorbei. Es ist ein schönes, buntes Bild:
Victoria Eglau
Chile
Familien drängen sich auf den schmalen Wegen, bewaffnet mit Schaufeln,
Vasen und Blumenerde bepflanzen sie liebevoll die Beete. Die schlichten weißen Eisenkreuze sind umgeben von einem herrlichen Blumenmeer, das in
allen Farben des Frühlings leuchtet. Es herrscht eine Atmosphäre der Geschäftigkeit, die nicht hektisch wirkt. Nach getaner Arbeit setzen sich manche einen
Moment lang an den Rand der Gräber oder halten einen Plausch mit den
Nachbarn.
Es scheint mir, als habe ich auf dem „cementerio general“ so etwas wie ein
Spiegelbild der chilenischen Gesellschaft entdeckt. Dieser Friedhof ist mehr
als nur eine Ruhestätte der Toten. Er ist ein Ort der Vergangenheit und der
Gegenwart, des Grauens und der Schönheit, der Opfer und der Täter und der
Unbeteiligten, der Rechten und Linken, der Politischen und Unpolitischen, der
verzweifelten Trauer und der stillen Andacht, der Reichen und der Armen und
vor allem ein Ort des Todes und des Lebens.
Als die Menschenrechte mit Füßen getreten wurden – die Opfer, zehn
Jahre nach dem Ende der Diktatur
Pedro Matta: Gegen das Vergessen
Der Taxifahrer kennt den „Parque de la Paz“ nicht. Mit Hilfe der Adresse
und des Stadtplans finden wir das Ziel gemeinsam. Der Friedenspark im Santiagoer Stadtteil Penalolen ist auf den ersten Blick ein idyllischer Ort.
Gepflegte Rasenflächen, schattenspendende Bäume und ein Rosengarten
laden zum Spazierengehen ein. Die Andenkordillere mit ihren schneebedeckten Gipfeln ist von hier aus besonders gut zu sehen. In dem kleinen Park
ist es still, nur der leise Regen der Rasensprengeranlage ist zu hören, und in
der Ferne rauscht der Verkehr. Das sich hier von 1974 bis 1978 eines der grausamsten Folterzentren der Pinochet-Diktatur befand, die berüchtigte Villa
Grimaldi, übersteigt mein Vorstellungsvermögen. Eine große Tafel aus
grauem Stein listet die Namen derer auf, die hier gepeinigt wurden. Insgesamt
etwa fünftausend Menschen wurden in der Villa Grimaldi festgehalten, fast
alle von ihnen gefoltert. Mindestens 240 Häftlinge starben oder verschwanden danach. Die Militärs selbst rissen das Haus schließlich ab, um die Verbrechen, die dort stattgefunden hatten, zu vertuschen.
Ich bin mit Pedro Matta verabredet. Pedro wurde im Mai 1975 in die Villa
Grimaldi verschleppt und dort zwei Wochen gefoltert. Er studierte damals Jura
an der Universidad de Chile, war Mitglied der Sozialistischen Partei und aktiv
in der Studentenpolitik. Nach einer Odysee durch verschiedene Lager und
Gefängnisse wurde Pedro Matta im Juni 1976 freigelassen und floh in die
USA. Erst 1991 kehrte er aus dem Exil nach Chile zurück. Die Geschichte der
Chile
Victoria Eglau
Villa Grimaldi hat er seitdem Tag für Tag rekonstruiert. Durch unzählige
Gespräche mit Opfern, Ex-Agenten des damaligen Geheimdienstes DINA und
ehemaligen Kollaborateuren, auch durch die Auswertung von Gerichtsaussagen kennt er jedes Detail der fast vier Jahre währenden Barbarei, die diesem Ort seine traurige Berühmtheit verschafft hat.
„Hier kamen die Gefangenen an“. Pedro Matta steht an dem Eisentor,
durch welches damals die Kleintransporter der DINA zur Villa Grimaldi
rollten. Drei Agenten hätten in der Regel das Opfer in Schach gehalten, ihm
die Augen mit Tesafilm zugeklebt. „Nachdem die Person aus dem Wagen
gestoßen worden war, wurde sie von acht bis zehn Leuten umringt und
geschlagen und getreten, bis sie halb bewusstlos war“, so der hochgewachsene
Mann weiter. „Ein Standard-System“. Nachdem in den ersten Monaten in
Chile „experimentell“ gefoltert worden sei, hätten sich die Methoden Mitte
1974 „systematisiert“, erzählt Pedro Matta. Die Villa Grimaldi sei ein Ort der
systematischen Folter gewesen. Wir gehen über den Rasen. Pedro zeigt die
Grundrisse von Kammern, in denen Menschen stundenlang Elektroschocks
ausgesetzt wurden. Er führt mich zu der Stelle, an der sich die Opfer von der
Misshandlung „erholen“ durften. „Gefoltert wurde meist nur einmal am
Tag“, sagt Pedro. Die DINA-Agenten hätten vermeiden wollen, dass Gefangene starben, bevor sie die erhoffte Information preisgegeben hatten. Wenn ein
Häftling die Erwartungen nicht erfüllte und nicht „auspackte“, wurde er mit
weiterer Folter bestraft.
Pedro Matta schildert die perversen Quälereien in einem betont sachlichen
Tonfall. Zwischendurch muss er sich immer wieder räuspern. Er erzählt,
wie die Köpfe der Menschen in eine stinkende Brühe aus fauligem Wasser,
Urin und Exkrementen getaucht wurden, bis sie keine Luft mehr bekamen.
„Feuchtes U-Boot“ hätten die Folterer diese Methode genannt. Beim „trockenen U-Boot“ wurde dem Opfer eine Kapuze übergestülpt, die am Hals
zugeschnürt wurde. Sie wurde erst wieder abgenommen, wenn die Person
kurz vor dem Ersticken war. Der unvorstellbare Hass und die Menschenverachtung der DINA-Agenten wird an einer Geschichte Pedros besonders deutlich. Ein Führungsmitglied der linken Partei MIR war 1975 in die Villa Grimaldi verschleppt worden. Für den Mann hatten sich die Folterknechte eine
besondere Quälerei ausgedacht: Er wurde in eine niedrige Holzkiste gesteckt.
Wenn man ihn dann gelegentlich herauskommen ließ, konnte er sich nicht
mehr aufrichten und musste auf allen Vieren laufen. Von den Wärtern wurde
er deshalb als „kleiner Köter“ verhöhnt. Im Januar 1976 verschwand der
Gefangene spurlos und tauchte nie wieder auf. Von einem Ex-Agenten der
DINA erfuhr Pedro Matta bei seinen Recherchen, dass dem MIR-Politiker
damals ein Tollwut-Virus injiziert wurde, an dem er dann vermutlich gestorben ist.
Victoria Eglau
Chile
Zwanzig Prozent der Häftlinge in der Villa Grimaldi waren Frauen. Sie
seien meist jung gewesen, viele Studentinnen, sagt Pedro. Man habe sie
genauso grausam behandelt wie die Männer. Neben Folter und Schlägen
hätten sie außerdem die Vergewaltigungen der Agenten und Wärter über sich
ergehen lassen müssen.
Eigentlich wollte Pedro Matta seinen Lebensabend in den USA verbringen.
1991, zwei Jahre nach dem Ende der Diktatur, kam er eigentlich nur nach
Chile, um im Prozess um das Verschwinden eines Freundes auszusagen.
„Als ich hier war und die Versprechen von Gerechtigkeit und Wahrheit hörte,
entschied ich, dass ich vielleicht etwas dazu beizutragen hätte. Und ich
beschloss, zurückzukommen.“ Ich frage Pedro, ob er sich von dem, was er als
junger Mann in der Villa Grimaldi erlebte, jemals erholen konnte. Nach
einem kurzen Zögern antwortet er: „Eine Sache, die ich mir vorgenommen
hatte, war, nicht zu vergessen. Und das bedeutet auch einen gewissen Grad
von psychischer Verletzung“. Pedro räuspert sich. „Eine der einfachsten
Möglichkeiten, sich von dem Erlebten zu erholen, ist ja gerade das Vergessen.
Also ist der Vorsatz, nicht zu vergessen, aus psychologischer Sicht ein destabilisierendes und anormales Element.“ Pedro Matta hat den schmerzhaften
Weg gewählt: Damit die zukünftigen Generationen Chiles erfahren werden,
was in der Villa Grimaldi geschah, damit es eine Villa Grimaldi nie wieder
geben wird.
Mario Sottolicchio: Mitleid für die Täter
Mario Sottolicchio ist Mitglied in Chiles sozialdemokratischer Partei PPD,
will sich bei den nächsten Kommunalwahlen für das Bürgermeisteramt in seiner Stadt San Felipe bewerben. Vor kurzem schrieb er eine „carta abierta“,
einen offenen Brief, an den Oberbefehlshaber der chilenischen Marine. Dieser hatte in einem Fernsehinterview erklärt, während der Diktatur habe es in
der Marine keine Folter gegeben. Mario Sottolicchio weiß es besser: Er selbst
wurde zwischen 1973 und 1976 zweimal, jeweils zehn Tage lang gefoltert: In
Stützpunkten der Seestreitkräfte. Danach ging er für 13 Jahre ins Exil in die
Bundesrepublik.
Mario wurde damals zusammen mit einem seiner Brüder gefoltert – gleichzeitig und im gleichen Raum. Bis heute können die beiden nicht darüber sprechen, was sie gemeinsam erlebt haben. Eine frühere Freundin Marios hat ihm erst
vor kurzem, nach mehr als zwanzig Jahren, gestanden, dass auch sie während der
Diktatur Opfer von Folter war. Nur durch Zufall wurde er darauf aufmerksam,
erst nach langem Drängen habe sie unter Tränen über ihre schreckliche Erfahrung sprechen können, erzählt Mario.
Er könne die Folterer nicht hassen, sagt der bekennende Christ, er empfinde
eher Mitleid für sie. Er habe zwar gelitten, doch habe er sich immer daran fest-
Chile
Victoria Eglau
halten können, dass er es für seine Ideale, seine Träume tat. Die Folterer von
damals aber müßten damit leben, aus purem Haß gehandelt und in den meisten Fällen blind Befehle befolgt zu haben. Mario erzählt die Geschichte
eines Mannes, der im vergangenen Jahr in die von ihm geleitete „Beratungsstelle für Familien mit Problemen“ in San Felipe kam. Dieser Mann war
Militär, er hatte im Alter von siebzehn Jahren den Befehl ausgeführt, einen der
Linkspartei MAPU nahestehenden Priester zu erschießen. Wenige Tage nach
seinem Besuch in der Beratungsstelle brachte der Mann seine Frau und deren
Tochter um und nahm sich dann selbst das Leben. Vielleicht habe er seine
eigene Vergangenheit nicht ertragen können, vermutet Mario Sottolicchio.
Leopoldo Luna: Physisch zerstört, nicht psychisch
Leo Luna war während der Regierung Salvador Allendes Student und Mitglied der christlichen Linkspartei MAPU. Vor dem Militärputsch 1973 war er
maßgeblich an einer Spionage-Aktion beteiligt, bei der es darum ging, mit
Hilfe von Kontaktpersonen Informationen über die Arbeit, Umtriebe und
politischen Einstellungen der Marinesoldaten in Valparaíso zu beschaffen. Die
Rache kam unmittelbar nach dem Putsch: Leo wurde festgenommen und
gefoltert, ein halbes Jahr lang, bis seine Peiniger die Hoffnung aufgaben, etwas
aus ihm herauszuholen. Sie zerstörten Leos Rücken. Erst nach insgesamt fünfjähriger Haft kam er frei, wurde operiert und dann in die Bundesrepublik
Deutschland ausgeflogen.
Physisch hätten sie ihn zerstört, sagt der heute Fünfzigjährige, doch psychisch nicht. Das nimmt man diesem positiv wirkenden Menschen ab. Doch
ist er in Chile nicht wieder richtig auf die Beine gekommen. Leo hadert mit
diesem Staat, in den er Mitte der neunziger Jahre zurückkehrte. Eine Existenzgründung scheiterte, er hat keinen festen Job, und die Ehe mit einer
Deutschen ist zerbrochen. Wie auch die Ehe von Mario Sottolicchio.
Den Mann, der seinen Folterern die Befehle gab, wird Leo nie vergessen.
Erst vor kurzem ist er zufällig auf seine Adresse gestoßen. Was passieren
würde, wenn er ihm auf der Straße begegnen würde? Leo lächelt. Vor allem
würde sich wohl der andere bei seinem Anblick vor Angst in die Hosen
machen, meint er dann.
Dr. Elena Gomez: Die „Verkapselung“ des Traumas
„Es gibt eine Art von Verkapselung des Traumas. Und den bewußten Wunsch,
die traumatische Situation zu vergessen. Das sie quasi von einer Membran
umgeben wird, die den Zugang verhindert. Doch was passiert? Es ist bekannt,
dass tief-traumatische Erfahrungen, die nicht verarbeitet werden, Auswirkungen
haben. Also zeigen sich diese Auswirkungen später. Etwa in Schwierigkeiten mit
dem Partner, in einer sehr schlechten Beziehung zu den Kindern.... In diesem
Victoria Eglau
Chile
Moment suchen die Betroffenen Hilfe.“ Dr. Elena Gómez ist Psychaterin. Sie
arbeitet bei ILAS, dem „Lateinamerikanischen Institut für Psychische Gesundheit und Menschenrechte“ in Santiago. Die private Organisation behandelt traumatisierte Opfer der Pinochet-Diktatur, vor allem Menschen, die gefoltert wurden. Immerhin fünfzig Patienten waren 1999, im zehnten Jahr der Rückkehr zur
Demokratie, bei ILAS in Behandlung. Die meisten von ihnen haben wenig
Geld und können sich eine Behandlung in einer privaten psychotherapeutischen Praxis nicht leisten. Die Therapiestunden bei ILAS sind umsonst, höchstens ein kleiner Solidarbeitrag wird erhoben. Im letzten Jahr stand das Institut
plötzlich selbst vor dem finanziellen Aus – die Ärzte und Therapeuten behandelten kostenlos weiter. ILAS bekommt keinen Pfennig vom chilenischen Staat,
es finanziert sich über Zuschüsse ausländischer Organisationen.
In Chile gab es niemals eine Entschädigung der Opfer von politischer Haft und
Folter und der Angehörigen der Ermordeten und Verschwundenen. Auch nach
der Rückkehr zur Demokratie nahm sich der Staat nur in sehr begrenztem
Umfang der Betreuung derer an, die unter der Diktatur gelitten hatten. Unter der
ersten demokratischen Regierung Aylwyn wurde zwar das Programm PRICE ins
Leben gerufen. Dr. Elena Gómez selbst arbeitete drei Jahre lang im Gesundheitsministerium, war dort an der Ausbildung von sieben interdisziplinären
Teams beteiligt, die im ganzen Land zur Behandlung der Opfer von Menschenrechtsverletzungen eingesetzt wurden. Doch „verwässerte“ PRICE nach einiger
Zeit, weil sich das Programm plötzlich auch um allgemeine, soziale Probleme
von Familien kümmern sollte.
„Die chilenische Gesellschaft hat das Thema der Menschenrechtsverletzungen
unserer Auffassung nach schlecht behandelt“, sagt Dr. Elena Gómez, eine
schmale Frau Ende vierzig mit ungestümem Wuschelhaar und einem einnehmenden Lachen. Es gebe nur eine partielle, vage soziale Anerkennung der Folter, und das, obwohl bekannt sei, wieviele Menschen gefoltert worden seien, an
welchen Orten und auf welche Weise. „Die Politiker der Concertación haben
zwar anerkannt, dass sich die Verletzungen der Menschenrechte nicht auf das
Ermorden und Verschwindenlassen von Menschen beschränken, sondern dass
auch Folter und Exil dazugehören. Aber um den Opfern wirklich Gerechtigkeit
und Genugtuung widerfahren zu lassen, hätte man die Täter konsequent verfolgen müssen, und das ist nicht geschehen.“ Die Möglichkeiten der Therapeuten
sieht Dr. Elena Gómez als begrenzt. Die Bewältigung des Traumas hänge doch
ganz stark mit äußeren gesellschaftlichen Einflüssen zusammen, etwa damit, mit
welcher Konsequenz Menschenrechtsverletzungen verfolgt würden. Manchmal, sagt die Psychaterin, würden Traumata auch erst durch externe Ereignisse
„entkapselt“. „Der Tag, an dem Pinochet stirbt, wird ein ganz wichtiger Tag sein.
Sicherlich werden viele Patienten noch einmal zu uns in die Therapie kommen“.
Chile
Victoria Eglau
Viviana Díaz: Für Wahrheit und Gerechtigkeit
„Dónde están?“ – „Wo sind sie?“, steht in großen, schwarzen Buchstaben auf
einem Plakat. „Dónde están?“ ist auch in den silbernen Anhänger eingraviert, der
an einer langen Kette um den Hals von Viviana Díaz baumelt. „Dies sind die
Gesichter der verschwundenen Häftlinge. Hier sieht man Männer, Frauen,
Jugendliche und Kinder, die während der Militärdiktatur von den Geheimdiensten verschleppt wurden, und die wir bis heute nicht gefunden haben“. Viviana
Díaz steht im Innenhof des Büros der AFDD, der „Vereinigung der Angehörigen
verschwundener Häftlinge“ und zeigt auf eine lange Reihe von Schwarz-WeißBildern an der Wand. Mehr als tausend Menschen, die während der Diktatur
spurlos verschwanden, werden in Chile heute noch vermisst. Einer davon ist der
Vater von Viviana Díaz, der im Mai 1976 vom Geheimdienst DINA entführt und
vermutlich in der Villa Grimaldi gefoltert wurde, und seitdem nicht wieder aufgetaucht ist. Seitdem kämpft Viviana um die Wahrheit. „Mit der Zeit wurde mir
klar, dass das, was ich erlebte, alle Angehörigen von Verschleppten erlebten. Da
beschloß ich, alles beiseite zu lassen, mein ganzes persönliches Leben, um
mich nur noch der Suche nach den Verschwundenen zu widmen. Und ich habe
es nicht bereut“. Nach dem Tod der langjährigen Vorsitzenden Sola Sierra im vergangenen Jahr übernahm Viviana Díaz die Leitung der AFDD. Die etwa fünfzigjährige, einfach und natürlich wirkende Frau, deren dunkles, nach hinten
gebundenes Haar mit grauen Strähnen durchzogen ist, strahlt Ruhe und Güte aus.
Wenn sie spricht, tut sie es auf bescheidene und gleichzeitig entschlossene
Weise.
„Wo wir auch hingingen, sagte man uns, dass unsere Angehörigen nicht festgenommen worden waren, dass es gegen sie keinen Haftbefehl gab, dass wir
logen, dass wir uns das alles nur ausdachten“, erinnert sich Viviana an die Zeit,
als sie die Verschwundenen in Polizeikommissariaten, Gefängnissen und Lagern
suchten. „Und lange Zeit waren wir die angeblichen Angehörigen der vermeintlich verschwundenen Häftlinge. Denn in Chile wurde jahrelang systematisch die Existenz dieses Problems geleugnet. Also dauerte es sehr, sehr lange,
bis wir unseren Landsleuten beweisen konnten, dass das, was wir erlebten,
Wirklichkeit war.“ Mit Demonstrationen und Hungerstreiks machte die AFDD
unermüdlich auf das Problem der Verschwundenen aufmerksam. Die während
der demokratischen Regierung von Patricio Aylwyn eingesetzte „Nationale
Wahrheits- und Versöhnungskommission“ dokumentierte zwar im sogenannten
„Rettig-Bericht“ die Verbrechen der Diktatur. „Doch die Frage nach dem Verbleib
der Verschwundenen wurde nicht beantwortet“, sagt Viviana Díaz. Und auch die
Namen der Täter tauchten nicht auf.
Im Hof der AFDD hängt bei meinem Besuch im November 1999 eine Art
Kalender. Er zählt die Tage des Arrestes von Ex-Diktator Pinochet in London.
Das der General mittlerweile nach Chile zurückgekehrt ist, war für die Ange-
Victoria Eglau
Chile
hörigen-Organisation eine große Enttäuschung. Viviana Díaz glaubt nicht daran,
dass es möglich ist, Pinochet in Chile vor Gericht zu stellen (Stand November
1999).
Auf die Arbeit der AFDD hatte Pinochets lange Abwesenheit eine positive
Auswirkung: „Vor der Verhaftung von Pinochet war es in unserem Land sehr
schwierig, von den Verletzungen der Menschenrechte zu sprechen. Wir wurden
zum Beispiel nicht von der chilenischen Presse interviewt. Erst als Pinochet verhaftet wurde und die ausländischen Journalisten uns interviewten, hat auch das
chilenische Fernsehen sich stärker für uns interessiert. Wir hatten vorher niemals
die Möglichkeit gehabt, mit unserem Anliegen ständig im Fernsehen zu erscheinen.“ Ihre Organisation fühle sich heute nicht mehr allein, betont die AFDD-Vorsitzende. „Wir fühlen, dass es Unterstützung gibt. Zum Beispiel kam vor kurzem
eine Delegation der politischen Jugendorganisationen zu uns. Von der christdemokratischen bis zur kommunistischen Jugend. Sie haben uns gesagt, dass wir
sie alle zusammentrommeln können, wenn versucht werde, mit einem Gesetz
einen Schlussstrich unter die Verbrechen der Diktatur zu ziehen. Sie würden sich
mit uns dagegen mobilisieren. Und das ist wichtig für uns“. Und doch gibt es
auch Rückschläge: Wegen Drohungen ultrarechter Gruppen steht Viviana Díaz
seit einiger Zeit unter Polizeischutz.
Schließlich erzählt sie noch davon, wie schmerzhaft es war, zu begreifen, dass
die Verschwundenen nicht mehr am Leben sind. Trotz allem wollten sie weiterkämpfen „bis zum letzten Tag unseres Lebens“, sagt sie. Nicht nur für die volle
Wahrheit, sondern auch dafür, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden.
„Keiner wird uns das Leben unserer Angehörigen zurückgeben, aber wir wollen
Gerechtigkeit“.
Nelson Caucoto: Wenn sich Türen plötzlich öffnen
Nelson Caucoto sitzt in seinem winzigen Büro unter der an die Wand gehefteten Universellen Erklärung der Menschenrechte. Sein Wartezimmer ist voll,
und ich bin froh, dass er eine halbe Stunde Zeit für mich gefunden hat. Nelson
Caucoto ist einer der bekanntesten chilenischen Anwälte. Seit 1976 setzt er sich
für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein. Nelson Caucoto arbeitete
während der Diktatur unter dem Dach der Katholischen Kirche; dadurch habe er
sich niemals wirklich gefährdet gefühlt, erinnert er sich. Über seine damalige
Arbeit sagt der Anwalt heute: „Es bedeutete, gegen den Strom zu schwimmen,
an Türen zu klopfen, die sich niemals öffneten, eine Gerechtigkeit anzustreben,
die niemals waltete“. Erfolgserlebnisse waren selten, unzählige Prozesse wurden
geschlossen – das Amnestiegesetz, das Pinochet 1978 erließ, machte es möglich.
„Es gab eine Zeit, da war ich der einzige Anwalt, der in den Prozessen um das
Verschwinden von Personen auftrat. Ich hatte alle diese Prozesse. Und es war ein
immenser Schmerz, dass trotz meiner ganzen Bemühungen, vor den Militärge132
Chile
Victoria Eglau
richten, dem Kriegsgerichtshof und vor dem Obersten Gerichtshof, es kein
Gehör für das gab, was ich sagte. Nie gaben sie mir recht, niemals.“
In den neunziger Jahren beginnt in der chilenischen Justiz ein langsamer
Prozess des Wandels. Es gibt personelle Veränderungen, und es herrschen
andere Rahmenbedingungen. Nelson Caucoto: „Die Richter merken heute, dass
sie mehr Freiheit haben, mehr Autonomie. Sie werden nicht mehr von der
Macht, der Diktatur unter Druck gesetzt“. Im Januar 1998 wird die erste Klage
gegen Pinochet eingereicht. Der Anwalt gibt zu, dass er damals nicht an einen
Erfolg glaubte: „Obwohl wir einen Prozess des Übergangs zur Demokratie
erreicht hatten, hatten wir immer noch das Gefühl, dass Pinochet eine absolut
unberührbare Person sei, dass keine juristische Aktion gegen ihn jemals Früchte
tragen würde. Und das hat sich von heute auf morgen geändert – unsere Wahrnehmung hat sich geändert“. Heute liegen dem chilenischen Sonderrichter Juan
Guzmán Tapia bereits 75 Klagen gegen den Ex-Diktator vor. Und wenn es
gelingt, Pinochet sein Amt als Senator auf Lebenszeit und damit die Immunität
zu entziehen, könnte er sogar vor Gericht gestellt werden. Nelson Caucoto
spricht von einem neuen Klima, dass in der Justiz, in der Gesellschaft und beim
Thema Menschenrechte herrsche. Die Verhaftung Pinochets in Europa sei dafür
zweifellos von Bedeutung gewesen.
Nach seinem größten Erfolgserlebnis gefragt, wehrt Caucoto erst ab: Das
könne er nicht sagen. Doch dann sprudelt es aus ihm heraus: Ein Erfolg sei es
doch, dass 19 Personen wegen der Mordaktion „Operación Albania“ hinter Gitter gebracht wurden, und dass die Verantwortlichen des Mordes an dem Journalisten José Carasco im Gefängnis sitzen, und dass Ex-DINA-Chef Manuel
Contreras wegen des Mordes an David Silbermann, dem damaligen Chef der
Kupfermine Chuquiquamata, vor Gericht gestellt wurde. Und dann sei es doch
als großer Fortschritt zu werten, dass die Justiz seit einiger Zeit mit dem Tatbestand des „secuestro permanente“, der „andauernden Entführung“, das Amnestiegesetz umgehe. Von Bedeutung ist dieser Tatbestand vor allem für die Fälle der
Verschwundenen. Prozesse um das Verschwinden von Personen hatten in der Vergangenheit kaum eine Chance, weil diese Verbrechen von der für die Jahre
1973 bis 1978 geltenden Amnestie abgedeckt wurden. Der Trick ist nun, das Verschwindenlassen einer Person als „andauernde Entführung“ zu interpretieren,
denn dieser Tatbestand kommt im Amnestiegesetz nicht vor.
Noch unklar ist hingegen, wie den Angehörigen der Opfer politischer Morde
Gerechtigkeit verschafft werden könnte. Nelson Caucoto ist von der Witwe des
1973 gefolterten und ermordeten Sängers Victor Jara damit beauftragt worden,
ihre Klage vor der chilenischen Justiz zu vertreten. „Richter Guzmán hat noch
keinen Entschluss gefasst, wie er bei den Fällen der Ermordeten vorgehen will“,
sagt der Anwalt. Für ihn steht allerdings fest, dass im Prozess gegen die Mörder
Jaras die Genfer Menschenrechtskonvention Anwendung finden muß: „Victor
Victoria Eglau
Chile
Jara war Kriegsgefangener. Und einen Kriegsgefangenen darf man nicht töten,
schon gar nicht so, wie man Jara getötet hat.“
Nachtrag
Bevor ich mich mit Pedro Matta im „Parque de la Paz“ getroffen habe, hatte
ich mir in einem kleinen Lebensmittelladen neben dem Park etwas zu trinken
gekauft. Warum ich nicht lieber auf dem Santa Lucía-Hügel spazierengehen
würde, oder in einem anderen Park, fragt mich die Verkäuferin. „Weil mich dieser Ort interessiert“, antworte ich. Sie habe den Friedenspark noch nie betreten,
sagt die Frau, sie sei apolitisch. Als ich sie frage, ob sie hier schon gearbeitet habe,
als nebenan noch die Villa Grimaldi stand, will sie erst bejahen, sagt dann
schnell „Nein“. Nach kurzem Zögern fügt sie hinzu: „Ihr in Deutschland habt ja
auch nichts getan, bei Euch sind doch schreckliche Dinge geschehen und ihr habt
nichts dagegen gemacht“. Der Vorfall macht mich nachdenklich. Offenbar hat die
Frau meine Frage als Vorwurf verstanden, und hatte das Gefühl, sie müsse sich
rechtfertigen. Dann hat sie mir etwas an den Kopf geworfen, was mich in einen
Rechtfertigungszwang brachte. Mir wird deutlich, was ich vorher bereits geahnt
hatte: Das ich mich als Deutsche für die Menschenrechtsverletzungen in Chile
interessiere, stößt hier nicht nur auf Verständnis.
Wenn man die Heimat kaum noch wiedererkennt – die Rückkehr aus
dem Exil
„Das Chile, in das wir zurückkamen, war nicht das Chile, das wir verlassen
hatten. Es war ganz anders“, sagt Karla Stein heute über ihre Rückkehr aus dem
deutschen Exil. Als Grundschülerin hatte sie 1973 kurz nach dem Putsch mit
ihrer Familie Chile verlassen, als Abiturientin kehrte sie 1981 zurück, zu einem
Zeitpunkt, als das Ende der Pinochet-Diktatur noch nicht abzusehen war. Hinter Karla lagen acht Jahre in Ostberlin, Jahre, in denen sie Wurzeln geschlagen
hatte und es ihr gut ging. Auch ihre Eltern hatten in der DDR Fuß gefaßt,
schnell Arbeit und Freunde gefunden. Die langersehnte Rückkehr in die Heimat
war nicht leicht für die Familie: „Es war schwer für uns, für uns alle. Für meine
Eltern, weil sie keine Arbeit bekamen. Wir hatten sehr viele finanzielle Schwierigkeiten. Ich habe mit einem Kredit an der Uni studiert, also ich bezahle mein
Studium heute noch“. Karlas Vater, ein Gesangsprofessor, der vor dem Exil in der
Kommunistischen Partei Chiles aktiv war, wurde nach der Rückkehr zunächst
von keiner Universität beschäftigt. Erst im vergangenen Jahr fand er wieder eine
feste Anstellung. Die Mutter, eine Journalistin, verkaufte Kuchen und Torten,
bevor sie nach ein paar Jahren schließlich begann, ein paar Stunden an einem
Institut für Kommunikationswissenschaft zu unterrichten.
134
Chile
Victoria Eglau
Karla selbst fühlte sich nach ihrer Rückkehr fremd in Chile. „Ich konnte die
Zwiespältigkeit der Gesellschaft einfach nicht ertragen. Die Leute haben nie
das gesagt, was sie meinten. Also, ich hatte ständig den Eindruck, dass die
Leute alle lügen. Das hing mit verschiedenen Sachen zusammen. Politisch
konntest Du Dich überhaupt nicht ausdrücken. Du musstest ständig auf der
Hut sein. Du wusstest nicht, mit wem Du reden und wem Du was sagen konntest. Das war zu jener Zeit noch sehr gefährlich.“ Auch die moralische Zwiespältigkeit habe sie gestört, erinnert sich Karla. Das etwa Freundinnen nicht
zugeben wollten, dass sie schon seit Jahren mit ihrem Freund schliefen.
„Damit konnte ich nicht sehr gut leben“.
Exil und Rückkehr beschreibt der chilenische Schriftsteller und Dramaturg
Carlos Cerda in einer Romantrilogie. Das erste Buch „Morir en Berlin“ („In
Berlin sterben“) beschreibt das Leben der Exilanten in der DDR. Im zweiten
Roman „Una casa vacía“ („Ein leeres Haus“) geht es unter anderem um die
Rückkehr in die Heimat. Der Exilant Andrés kommt einige Jahre vor dem
Ende der Diktatur nach Chile zurück und findet ein verändertes Land, veränderte Menschen vor. „Ich habe den Eindruck, die Rückkehr kann schrecklicher sein als das eigentliche Exil“, meint Cerda, der selber elf Jahre in OstBerlin lebte. „Wenn Du das Land, in das Du zurückkehrst, kaum
wiedererkennst, gibt es keinen anderen Ort mehr, an den Du zurückkehren
kannst. Es war das einzige, was Deins war, und jetzt ist es nicht mehr Deins“.
Die meisten Rückkehrer kämen mit großen Erwartungen, sagt Loreto
Schnaake, Vorsitzende der Vereinigung für Chilenisch-Deutsche Freundschaft. „Sie denken: Ich komme nach hause, in mein Land, und alles wird
leichter sein“. Meistens gestalte sich die Rückkehr aber sehr schwierig, und
vielen falle es schwer, das zu akzeptieren. Loreto Schnaake, die Chile mit dreizehn verlassen hatte, kehrte Mitte der neunziger Jahre aus der Bundesrepublik
in ihr Land zurück: „Ich habe in vier Ländern im Exil gelebt. Ich habe die
Sprachen gelernt, studiert, gearbeitet. Ich habe mich immer integriert. Und als
ich zurück nach Chile kam, war es schwieriger. Es war viel schwieriger. Ich
hatte hier gar kein soziales Netz, ich kannte praktisch niemanden. Ich fühlte
mich eigentlich sehr fähig, aber nach einigen Monaten war mein Selbstwertgefühl im Keller.“ Noch gut erinnert sich Loreto an die mühsame Arbeitsuche: „Ich habe gesucht, so wie man in Deutschland Arbeit sucht. Aber das
bringt einem hier nichts. Hier funktioniert das anders. Aber ich hatte auch
keine Freunde, die mir gesagt haben, wie es funktioniert. Also wurde ich
deprimiert, ich fühlte mich frustriert, ich hatte das Gefühl, dass ich zu nichts
zu gebrauchen bin“. Hinzu kamen die Probleme als Frau: „Ich wußte ja,
dass Chile ein machistisches Land ist. Aber es ist noch etwas anderes, Tag für
Tag in einem solchen Land zu leben. Zum Beispiel hat keiner verstanden, dass
ich mit Anfang dreißig nicht verheiratet war und keine Kinder hatte. Es gab
Victoria Eglau
Chile
immer Witze, sozialen Druck: Paß auf, Du wirst den Zug verpassen und so.
Eine Stigmatisierung von Frauen, die keine Kinder haben, die nicht heiraten
oder die geschieden sind. Und ich kam doch froh und frei aus Europa“.
Heute sei sie glücklich in Chile, sagt Loreto Schnaake. Längst hat sie einen
guten Job gefunden, wurde mittlerweile sogar zur Stadträtin von SantiagoInnenstadt gewählt. Doch sie weiß, dass es längst nicht allen „retornados“ so
ergangen ist wie ihr. Nach dem Ende der Diktatur sei die Freude über die Rückkehr der Exilanten zwar groß gewesen. Doch bei vielen Chilenen sei die Euphorie schnell Gefühlen wie Neid oder Mißtrauen gewichen. Häufig wurden die
Rückkehrer als „Kommunisten“ über einen Kamm geschoren und als potentielle
Aufrührer betrachtet – was die Jobsuche erschwerte. Dennoch glaubt Loreto
Schnaake, dass sich die Mehrheit wieder integriert habe. „Sie haben es geschafft,
hier zu leben, und zu überleben. Manche waren erstmal einige Jahre lang arbeitslos, manche mußten ganz von vorne anfangen, andere lange bei Verwandten
wohnen, einige machten schwere psychische Krisen durch. Aber mit großen
Schwierigkeiten haben es die meisten geschafft.“
Karla Stein, die heute bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Santiago arbeitet,
schloss sich nach ihrer Rückkehr in den achtziger Jahren der Protestbewegung
gegen das Pinochet-Regime an. Sie erinnert sich daran, wie verängstigt und eingeschüchtert sie und ihre Freunde damals waren. „In diesen Jahren sind noch
viele Leute umgebracht worden. Man hatte ständig Angst. Man hat trotzdem
Sachen gemacht, aber immer mit Angst“. Auch Karla fühlt sich heute wohl im
chilenischen Staat. Zwar hat sie viel auszusetzen am politischen System und an
der Politik der „Concertación“ in den letzten zehn Jahren. Doch habe sich Chile
seit der Diktatur grundlegend verändert: „Ich habe zum Beispiel noch die Angst
vor der Polizei im Körper. Aber ich weiß, ich kann über die Straße gehen und
sagen, was ich will, und nichts wird passieren. Es kann sein, dass mich irgendjemand zusammenschlägt. Aber es kann nicht sein, dass man mich verhaftet, oder
dass ich verschwinde, oder dass man mich umbringt und das niemand etwas
dagegen machen kann. Das ist eine ziemlich große Veränderung“.
Auch der Schriftsteller Carlos Cerda zieht eine positive Bilanz: „Die autoritären Enklaven, sowohl im Heer als auch in der Justiz als auch in anderen staatlichen Institutionen, haben zwar eine vollständigere Demokratisierung verhindert. Aber obwohl diese Demokratie nicht perfekt ist, ist sie unendlich viel
besser als die Diktatur“. Eines habe sich allerdings nicht verändert, meint Cerda.
Die Chilenen seien immer noch so gespalten wie während der Diktatur: „Ohne
gemeinsames historisches Projekt“.
Chile
Victoria Eglau
Ein Ort mit einer doppelten Geschichte: Chacabuco
Chacabuco? Verständnislose Blicke am Ticketschalter von „Turbus“ in Antofagasta. Ist das nicht eine der vielen stillgelegten Salpeter-Minen in der AtacamaWüste? Und was will die junge Frau mit dem Rucksack wohl dort? Die junge
Frau mit dem Rucksack interessiert vor allem die Frage: Welchen Bus muß sie
nehmen, um den Ort, von dem sie schon so viel gehört hat, zu erreichen? Ein Einheimischer mischt sich ein: Mit dem Bus nach Arica komme man auf der Panamericana in unmittelbarer Nähe Chacabucos vorbei.
Am nächsten Morgen fahre ich gespannt meinem Ziel entgegen. Nach eineinhalbstündiger Reise durch die Wüste hält der Bus, der Fahrer gibt mir ein Zeichen zum Aussteigen. Mit meinem Rucksack bleibe ich in der beige-braunen
Ödnis zurück. Endlose Weite, ringsum kein Baum, kein Strauch, kein Mensch.
Mit dem Bus verschwindet auch das Motorengeräusch, nach wenigen Minuten
umfängt mich eine Stille, wie ich sie noch nie erlebt habe. Eine vollkommene,
irgendwie tote Stille. Instinktiv gehe ich ein paar Schritte, lasse meine Sohlen auf
dem Schotter knirschen. Rechts von der Straße sehe ich jetzt die Ruinenstadt, die
sich mit ihren grau-braunen Tönen kaum von der Landschaft abhebt: Chacabuco.
An einer Mauer entlang laufe ich etwa zehn Minuten bis zu einem mit einer
Eisenkette lose verschlossenen Tor. Daneben ein Schild, auf dem die Geschichte
des Ortes stichwortartig zusammengefasst ist. Die Geschichte der Salpeterstadt, nicht aber die Geschichte des Lagers für politische Gefangene der PinochetDiktatur.
Ich löse die Haken der Eisenkette und betrete die Geisterstadt. Links vom Eingang befindet sich ein kleines Museum, in dem stumpfe Glasflaschen und rostige Dosen, Patronenhülsen und alte Theater- und Kinoprogramme an die Salpeterstadt Chacabuco erinnern. Rufend laufe ich durch die offenen Räume,
finde mich schon damit ab, dass der Wärter wohl in die Weihnachtsferien gefahren ist – da tritt mir Roberto Zaldivar entgegen, ein alter Mann mit Shorts und
Baseball-Mütze. In seinem kleinen Wohnzimmer neben der grossen Küche,
deren Mittelpunkt ein uralter, rostiger Herd ist, lernen wir uns kennen. Ich frage
Roberto, wie er die Einsamkeit aushalte. „Ich bin nicht einsam, ich habe meine
Erinnerungen“, sagt er. „Es gibt so viele Dinge, über die ich am Ende meines
Lebens nachdenken muß, so viele Fragen, die ich mir noch beantworten will“.
Außerdem gelte es doch, die Erinnerung an die Vergangenheit wachzuhalten, und
deswegen habe er die Aufgabe übernommen, Chacabuco zu bewachen und
Besuchern die Ruinenstadt zu zeigen.
Roberto Zaldivar stammt aus der Wüsten-Hafenstadt Antofagasta. Ein Arbeiter, der immer politisch aktiv war, der in den sechziger Jahren Volkstheater in den
Armenvierteln organisierte und damit die Kulturpolitiker aus der Hauptstadt Santiago beeindruckte. Ein Autodidakt, ein hochgebildeter Mann, und mit seinen
Victoria Eglau
Chile
siebzig Jahren immer noch ein geachteter Lokalpolitiker. Zur Zeit der Regierung
Salvador Allendes gehörte Roberto der Linkspartei MAPU an, und nach dem
Putsch wurde er als politischer Häftling in Chacabuco interniert.
Chacabuco ist ein von allem Leben abgeschnittener Ort, auf den die Sonne
vom Vormittag bis zum späten Nachmittag unbarmherzig herunterknallt. Die
ehemaligen Anlagen zur Gewinnung und Verarbeitung des „weißen Goldes“ Salpeter wurden zum Teil abgebaut, zum Teil sind sie in sich zusammengefallen.
Eisengerüste ragen wüst und sinnlos in den Himmel. Chacabuco ist ein Ort mit
einer doppelten Geschichte – der Salpeter-Arbeiter und der politischen Häftlinge.
Die niedrigen Häuser, in denen in der ersten Jahrhunderthälfte die Arbeiter und
in den siebziger Jahren die Gefangenen hausten, sind nur noch Skelette, zum Teil
Trümmerberge. An manchen Wänden sind Strichlisten zu sehen, Zeichen des
Wartens auf die Freiheit. Auf der „Plaza“ der Geisterstadt zeugen zwei Bäume
mit Schnitzereien vom Leiden und von den Träumen der Eingesperrten. Einen
der Stämme hat ein Gefangener mit sparsamen Schnitten so verändert, dass darin
der sterbende Jesus zu erkennen ist. In den anderen Baum schnitzte er das Profil einer Frau und darüber einen Engel.
Bald nach ihrer Ankunft im Herbst 1973, hatten die rund 1.500 politischen
Gefangenen angefangen, sich zu organisieren. Ein Ältestenrat wurde eingesetzt,
und eine Reihe von Kommissionen, darunter eine Kultur-Kommission. Bald
wurden Sprach- und Yogakurse angeboten, ein Astronom beobachtete die Sterne,
es wurde Theater gespielt, es gab eine Wandzeitung und eine Literaturwerkstatt.
„Es ging darum, den Zustand als politische Häftlinge so gut wie möglich zu überleben“, erinnert sich der Schriftsteller Jorge Montealegre. Er kam damals als
19jähriger in das Lager und fing dort mit dem Schreiben an. Beim „Festival des
Liedes und der Poesie“, das die Lagerinsassen organisierten, wurde ein Gedicht
von Jorge ausgezeichnet – die vergilbte Urkunde zeigt er noch heute mit Stolz. Das
wichtigste literarische Thema der Chacabuco-Häftlinge sei die sehnsüchtig vermißte Familie oder die Geliebte gewesen, erzählt Jorge Montealegre. Er selbst hatte
keine Verwandten – seine Gedichte drehen sich ausschließlich um das Leben in
Chacabuco.
Die „companeros“ forderten Jorge auf, nach der Befreiung aus der Haft „zu
erzählen, was passiert ist“. Deswegen hat er es sich zur Aufgabe gemacht, die
Geschichte dieses Ortes zu dokumentieren. „Es ist die Geschichte der Folter
erzählt worden, der Menschenrechtsverletzungen, der Morde. Ich möchte
diese Geschichte nicht ersetzen, aber ihr etwas hinzufügen. Und zwar eine
Geschichte, die der Gefangenschaft ein menschliches Gesicht gibt. Die etwas
mit Kreativität und Humor zu tun hat“. Wenn er an Chacabuco denke, sagt
Jorge Montealegre, empfinde er eine „widersprüchliche Nostalgie“. Auch
wenn es ein außergewöhnliches kulturelles Leben gab, das von den Soldaten
und Bewachern weitgehend toleriert wurde – Chacabuco war und blieb doch
Chile
Victoria Eglau
ein Gefängnis. Es herrschte militärischer Drill, „als wären wir Rekruten“,
blickt Jorge zurück. Manchmal mußten die Gefangenen stundenlang in der
glühenden Sonne stehen. Doch Folter wie etwa im berüchtigten Estadio
Nacional in Santiago, in dem Jorge zuvor interniert war, gab es in Chacabuco
nicht. „Die große Folter war die Ungewißheit“.
Roberto Zaldivar zeigt mir, was in Chacabuco heute noch an Pinochet‘s
Gefangene erinnert. In einem Haus befinden sich einfache Malereien an den
Wänden – es wurde als katholische Kirche genutzt. In dem Raum, in dem der
evangelische Gottesdienst abgehalten wurde, ziert ein Relief die Wände. Der
Künstler kehrte vor einigen Jahren zurück, um sein Werk zu restaurieren.
Schließlich führt mich Roberto zu der Ruine des Hauses, in dem von 1973 bis
1974 der bekannte Musiker Angel Parra wohnte – zusammen mit sieben
anderen Häftlingen. Parra komponierte in Chacabuco ein folkloristisches
Weihnachtsoratorium nach Lukas. Gewerkschafter aus der Wüstenstadt María
Elena besorgten ihm eine Gitarre, dann studierte Parra das Stück ein: Mit Studenten und Arbeitern, Ärzten und Bauern. „Wir haben es zum ersten Mal am
Weihnachtsabend 1973 gesungen, dort in Chacabuco“, erinnert sich Parra. „Es
war sehr bewegend. ... Natürlich hatte keiner erwartet, dass in diesem Leiden,
dieser Angst, diesem Nicht-Wissen, was mit uns, mit unserem Leben geschehen würde, ein Werk entstehen würde. Ein geistliches Werk, als Antwort auf
die Gewalt, als Antwort auf den Schmerz“.
Am 23. Dezember 1999 wird das Lukas-Oratorium erstmals nach 26 Jahren wieder in Chile aufgeführt. Angel Parra ist dafür aus Paris gekommen, wo
er heute lebt. Die San Franciso-Kirche in Santiago ist bis auf den letzten Platz
gefüllt, viele Besucher hören stehend zu. Kein Satz im Programmheft weist
sie darauf hin, wo und unter welchen Umständen das Oratorium komponiert
wurde. Doch der Geistliche, der ein paar einleitende Worte spricht, konfrontiert das Publikum mit der Geschichte des Werkes. Die Musik, die dann zu
hören ist, berührt einen im tiefsten Inneren, sie ist gleichzeitig heiter und
schmerzvoll, melancholisch und hoffnungsvoll. Als die letzten Takte verklungen sind, klatschen die Menschen bewegt und langanhaltend Beifall.
Die Stimmung ist feierlich. Vielleicht hat Angel Parra ja etwas von dem
erreicht, was er wollte: Einen Beitrag leisten zur Versöhnung der Chilenen.
Was Roberto Zaldivar in Chacabuco leistet, ist ein Beitrag gegen das Vergessen. Wie lange er das noch kann, weiß keiner. Roberto ist krank. Die
Zukunft der ehemaligen Salpeterstadt sieht er pessimistisch. Es gebe politische Kräfte, die den Ort mit der doppelten Historie für die Öffentlichkeit
schließen wollen. Und das liegt möglicherweise nicht nur an den geringen
Besucherzahlen, sondern auch an der Botschaft, die Chacabuco als ein Schauplatz der Diktatur aussendet. Die Regionalregierung hat zwar einen kleinen
Teil zur Restaurierung des chilenischen Nationalmonuments beigetragen.
Victoria Eglau
Chile
Doch sieht sie die Geisterstadt auch als geeigneten Ort für Popkonzerte und
andere Massenevents. Und die hinterlassen Spuren – Graffitis an den Wänden zum Beispiel.
In frischem Glanz erstrahlt seit einigen Jahren das frühere Theater der Salpeterstadt. Die Restaurierung hat das Goethe-Institut in Santiago übernommen. Seit
Leiter Dieter Strauß Chacabuco vor zehn Jahren zufällig entdeckte, liegt ihm die
Ruine am Herzen. „Das Thema Salpeterstadt – Salpeterstadt, die auch Mahnmal
sein kann, weil sie Konzentrationslager war – hat natürlich unheimlich viel auch
mit uns zu tun. Also erstmal der ganze Aspekt, wie ich mit meiner Vergangenheit umgehe. Da kann man gegenseitig eine ganze Menge voneinander lernen.
Und zum anderen war es ja so, dass die Deutschen – nicht so stark wie die Engländer, aber auch sehr stark – am Salpeterbergbau beteiligt waren. Und drittens,
wenn chilenische Partner sagen: Wir sind interessiert daran, mehr für den Denkmalschutz zu tun, überhaupt daran, das Denkmalschutzbewusstsein in unserem
Land zu entwickeln, dann ist das natürlich eine Aufgabe für uns“.
„Die Ausbeutung von Menschen durch Menschen“ – Salpeterstadt María
Elena
Aus den Trümmern Chacabucos in die letzte bewohnte Salpeterstadt Chiles,
María Elena. Etwa zwei Stunden brauche ich: Per Anhalter und zu Fuß. Doch mir
kommt es so vor, als würde ich ans Ende der Welt fahren. Die letzten Kilometer lege ich im Transporter eines Obstverkäufers zurück, der in Antofagasta Wassermelonen gekauft hat. Drei Stunden Hinfahrt, drei Stunden Rückfahrt durch
die Wüste. Wassermelonen sind in der Wüstenstadt María Elena Luxus. Sie erinnern mich an Juan Samuel, einen Bekannten aus Santiago. Juan wuchs in María
Elena auf, zog – achtjährig – mit seinen Eltern in die Hauptstadt. Nach Jahren des
politischen Exils in Deutschland kehrte Juan ein einziges Mal an seinen Geburtsort zurück – mit einer Wassermelone, die er auf dem Hauptplatz von María Elena
an die Kinder verteilte.
Auf diesem Platz, der „Plaza de Armas“, lässt mich der Obstverkäufer aussteigen. Der Mittelpunkt eines kleinen Städtchens mit schnurgeraden, staubigen
Straßen. Vor manchen der niedrigen, heruntergekommenen Häuschen mit den
vergitterten Fenstern sitzen Menschen – sie unterhalten sich oder starren ins
Leere. Am Platz befinden sich eine Geschäftspassage und die Kirche, ein Theater und das Gewerkschaftshaus. Dort wohnt die 79-jährige Haydee Cayos. Als
junges Mädchen war sie 1945 in die Salpeterwüste gekommen. Damals war
María Elena noch eine Boomtown des „weißen Goldes“. Haydee wollte arbeiten, und Arbeit fand sie sofort, in einer Konditorei. Noch heute schwärmt die
adrette und liebenswürdige, alte Dame von dieser Epoche, als die „gringos“, die
Chile
Victoria Eglau
Nordamerikaner, in María Elena die Herren des Salpeterabbaus waren. Schöne,
saubere Straßen und Häuser habe es in diesen Jahren gegeben, sagt sie. Und in
den Geschäften habe man gut und billig einkaufen können. „Man lebte gut. Man
sah keine Armut, wie man sie heute sieht“.
Bevor die „gringos“ kamen, waren die Salpeterminen in der nordchilenischen Wüste vor allem in den Händen von Engländern, Chilenen und Deutschen.
Mit dem Abbau des „weißen Goldes“ war um 1840 herum begonnen worden.
Nach einer langen Anlaufzeit bescherte diese Industrie dem Land einige Jahrzehnte lang großen Reichtum. Salpeter diente vor allem zur Herstellung von
Dünger und Schießpulver und wurde in vielen Ländern gebraucht. Doch der soziale Preis des Salpeterbooms sei groß gewesen, meint Claudio Castellón, Gründer und Leiter des anthropologischen Museums von María Elena: „Wir dürfen
nicht vergessen, dass die Salpeterindustrie die Ausbeutung von Menschen durch
Menschen zur Grundlage hatte. Die Leute erhielten keine Gegenleistung für
soviel Schweiß, soviele Opfer, soviele Tränen. Die Leute erhielten nicht einmal
ein würdiges Gehalt. Sie bekamen Metallmünzen, Marken. Damit konnten sie
im fabrikeigenen Laden Lebensmittel einkaufen. Das heißt, Du hattest gar keine
Möglichkeit, Geld zu sparen, um etwas anderes in deinem Leben zu erreichen.
Du hast nur gearbeitet, um zu essen“.
Chile sei praktisch mit dem Salpeter entstanden, sagt Claudio. „Es war eine
Epoche großen Wohlstands. Aber man darf sich nicht täuschen. Das war kein
Wohlstand für die Arbeiter, das war Wohlstand für die Unternehmer“. Gewinne
seien weder an die Beschäftigten weitergegeben, noch in die Forschung investiert
worden. Als während des ersten Weltkriegs von dem deutschen Unternehmen
Haber und Bosch ein Verfahren erfunden wurde, das eine synthetische Herstellung der Salpetersäure ermöglichte, wurden die chilenischen Salpeter-Barone
davon quasi überrascht. Die Hoch-Zeit des „weißen Goldes“ war damit vorbei.
Hört man Claudio Castellón zu, hat man bald den Eindruck, dass sich seit der
ersten Jahrhunderthälfte für die Salpeter-Arbeiter gar nicht so viel geändert hat.
Von den Nordamerikanern hatte der chilenische Staat die Industrie übernommen,
nach dem Putsch kam dann die erneute Privatisierung. Die letzte funktionierende
Salpetermine Chiles, María Elena, wird heute von dem Unternehmen Soquimich
betrieben. Die Stadt María Elena gehört Soquimich. Und dennoch gibt es auf diesem privaten Territorium eine gewählte Stadtverwaltung. „Das Absurdeste, das
es auf der Erde geben kann“, spottet Claudio Castellón, der selber Stadtrat der
sozialdemokratischen PPD ist. Die Stadtverwaltung, traditionell mit einem rechten Bürgermeister an der Spitze, sei dem Unternehmen untergeordnet, ihre Politik von Soquimich abhängig. Und auch die Wähler würden von ihrem Arbeitgeber unter Druck gesetzt. „Dieses Dorf ist eine kleine Colonia Dignidad. Wenn
Du hier in María Elena irgendjemanden fragst, wen er wählen wird, wird er
sagen: Ich werde für Lavín (den rechten Präsidentschaftskandidaten) stimmen.
Victoria Eglau
Chile
Und das muss er sagen. Denn wenn er sagt, dass er Lagos (den Mitte-Links-Kandidaten) wählt, muss er Angst haben, dass sein Chef das mitkriegt und ihn feuert“. Eine rechte Regierung wäre in Chile ein Garant dafür, dass sich an der unternehmerfreundlichen Arbeitsgesetzgebung, die noch aus der Diktatur stammt und
den Beschäftigten kaum Rechte einräumt, nichts ändert. Aber auch die seit
zehn Jahren regierende Mitte-Links-Regierung hat bisher vergeblich versucht, die
schwachen und gespaltenen Gewerkschaften zu stärken – die Reformversuche
scheiterten an der rechten Mehrheit im Senat.
Wer von Soquimich entlassen wird, verliert auch sein bescheidenes Häuschen
in María Elena. Eine Form von moderner Sklaverei, wenn sowohl der Job als
auch die Wohnung vom Gutdünken des Arbeitgebers abhängen. Das ihr Schicksal in den Händen des Unternehmens liegt, wurde den Menschen in María
Elena vor einigen Jahren knallhart vor Augen geführt. Pedro de Valdivia, benachbarte Salpeterstadt, Nationalmonument und ebenfalls im Besitz von Soquimich, gibt es nicht mehr. Ein Videofilm, der im Museum von María Elena
angeschaut werden kann, zeigt Pedro de Valdivia als einen Ort pulsierenden
Lebens, mit schmucken Häuschen, Arztpraxis, Schwimmbad und Konzerthalle.
Heute ist es eine Geisterstadt. Nachdem Soquimich beschlossen hatte, dass der
Standort nicht mehr rentabel sei, löste es die Siedlung auf. Die Bewohner mussten ihre Wohnungen verlassen. Damit auch wirklich keiner zurückblieb, wurden die Häuser beschädigt und damit unbewohnbar gemacht. Viele der Arbeiter
verloren auch den Job, oder sie wurden nach María Elena umgesiedelt.
Die Bürger dort haben Angst, dass es ihnen ähnlich ergehen wird. Das Unternehmen spricht zwar davon, María Elena noch acht bis zehn Jahre weiter zu
betreiben. Doch manche fürchten, dass früher Schluss sein wird. Die 79jährige
Witwe Haydee Cayos, die im Gewerkschaftshaus putzt und dafür dort ein Zimmer bewohnen darf, wüsste nicht, wo sie in diesem Fall hingehen sollte. „Für
mich gibt es nach Gott nichts besseres als María Elena. Ich lebe so gut hier, ich
habe mich so daran gewöhnt. Wenn die Leute sagen: María Elena wird es nur
noch bis zu diesem Jahr geben, dann tut mir das weh. Ich sage mir: So etwas kann
es doch nicht geben“.
„Wie auf einem anderen Planeten“ – Armut und soziale Unterschiede in
Chile
Reise nach Jerusalem und Sackhüpfen, Kasperletheater und Tanzwettbewerb –
die Hüttensiedlung Jesús Obrero in Santiago feiert ihr dreijähriges Bestehen mit
einer ausgelassenen „fiesta“, bei der vor allem die Kinder auf ihre Kosten kommen. Auf der staubigen Straße unterhalb der Siedlung haben sich an diesem sonnigen Nachmittag im November rund siebzig Familien versammelt. Seit Ende
Chile
Victoria Eglau
1996 wohnen sie hier, am Rande der chilenischen Hauptstadt. Das Grundstück,
das die überwiegend wohnungslosen Menschen damals besetzten, war zuvor
ein grüner Hügel. Heute ziehen sich kleine Behausungen aus Holz, Pappe und
Wellblech den Hang hinauf, der sich bei Regen in eine schlammige Rutschbahn
verwandelt.
„Die Häuschen stehen auf Stelzen, falls der Kanal über die Ufer tritt, den wir
hier in der Nähe haben“, erklärt mir Paula Cartéz-Ortega. Sie gehört zu den Gründerinnen der Hüttensiedlung Jesús Obrero. Eine richtige Küche und ein eigenes
Badezimmer besitzt sie ebensowenig wie die anderen Bewohner – dafür gibt es
vier Gemeinschaftsbäder. Mit ihrem Ehemann und den beiden Töchtern, der fünfjährigen Estefanie und der zehnjährigen Macarena, wohnt Paula in zwei winzigen
Zimmern – die ganze Familie schläft in einem Raum. Der Priester José Coneco
von der Diözese Santiago, zuständig für Jesús Obrero, hält diese Lebensbedingungen für unzumutbar: „Die Leute haben zwar ihr Zimmer, ihr Häuschen, aber
es ist ein sehr bescheidener Ort zum Leben. Ein Ehepaar hat hier keine Privatsphäre, keine Intimität. Manche Kinder haben keinen Ort zum Spielen oder um
ihre Hausaufgaben zu machen. Und es ist nicht möglich, Gäste zu empfangen“.
Als die Bewohner Jesús Obrero vor drei Jahren gründeten, brachten einige ihr
Häuschen mit, doch die meisten schliefen erst einmal in Zelten. Das schmutzige
Wasser des Kanals diente zum Waschen und Kochen. Paula Cartéz-Ortega
erinnert sich mit Schrecken an den ersten Winter in dem behelfsmäßigen Lager.
Finanzielle Unterstützung kam nach anfänglichem Zögern – schließlich handelte
es sich um eine illegale Grundstücksbesetzung – von der Bürgermeisterin des
Stadtteils. Das die Nachbarn heute feiern, ist nicht zuletzt ein Zeichen von Stolz:
Wir haben es geschafft, wir haben hier überlebt.
Die Menschen von Jesús Obrero gehören zu den 21,7 Prozent der Chilenen, die
der letzten Erhebung des Planungsministeriums zufolge in Armut leben. Das sind
mehr Arme als unter der Regierung des sozialistischen Präsidenten Salvador
Allende, Anfang der siebziger Jahre, jedoch deutlich weniger als vor zehn Jahren.
Damals, nach dem Ende der Pinochet-Diktatur, erfüllten fast vierzig Prozent der
Bevölkerung Armutskriterien. Das sich die Zahl heute auf ein Fünftel verringert
hat, führt der Soziologe Jaime Ruiz-Tagle, vom Büro der Internationalen Arbeitsorganisation in Santiago, vor allem auf die positive Entwicklung der chilenischen
Wirtschaft zurück: „Es hängt mit dem Wirtschaftswachstum im Allgemeinen
zusammen, mit dem Beschäftigungsanstieg – das war sehr wichtig – und vor allem
mit der Zunahme der sogenannten sekundären Beschäftigung. Junge Leute und
Frauen, die vorher meist nicht berufstätig waren, faßten plötzlich auf dem Arbeitsmarkt Fuß“.
Die Vertretung der Internationalen Arbeitsorganisation befindet sich im wohlhabenden Stadtteil Vitacura, in einer gepflegten Straße mit vornehmen Villen und
blühenden Vorgärten. Die Hüttensiedlung Jesús Obrero ist nur wenige Kilometer
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Chile
entfernt, doch scheint sie auf einem anderen Planeten zu liegen. Chile gehört zwar
nicht zu den ärmsten Ländern Lateinamerikas, doch sind die sozialen Unterschiede dort besonders groß. Was die Ungleichheit der Einkommensverteilung
betrifft, wird der Andenstaat nur noch von Brasilien übertroffen. „Crecer con igualdad“ – „Wachstum mit mehr sozialer Gerechtigkeit“, hieß denn auch der Wahlslogan des neuen Staatspräsidenten Ricardo Lagos. Der Sozialist Ricardo Solari,
mittlerweile Minister für Arbeit und Soziales, skizziert die sozialen Reformvorhaben der neuen Regierung: „Die erste Maßnahme, zu der sich Lagos verpflichtet hat, ist die Einführung einer Arbeitslosenversicherung, die es in Chile nicht gibt
und die von wesentlicher Bedeutung ist. Zweitens der Gesundheitsbereich. Durch
eine Versicherung soll allen Chilenen das Recht auf ein Minimum an Leistungen
durch den Staat garantiert werden. Drittens muß das System der Sozialversicherung reformiert werden, denn die Zahl der Chilenen, die sich außerhalb dieses Systems befinden, ist sehr groß“.
Das die Einführung einer Arbeitslosenversicherung ganz oben steht auf der
Agenda der neuen Mitte-Links-Regierung, hängt nicht zuletzt mit der Erfahrung
der Wirtschaftskrise zusammen, die das Land bis vor kurzem lähmte. Als die
Arbeitslosigkeit von offiziell knapp sechs auf mehr als elf Prozent schnellte, fehlte
das soziale Netz, um die Entlassenen vorübergehend aufzufangen. Wer sich nicht
mit Gelegenheitsjobs durchschlagen konnte, rutschte in die Armut ab. Die Deutsche Christa Fietz, die in Conchali, einem der ärmsten Stadtteile Santiagos, als
Sozialarbeiterin tätig ist, hat dort im vergangenen Jahr bei einigen Kindern
Unterernährung festgestellt. Viele Väter, die vorher auf Baustellen tätig waren, fanden plötzlich keine Arbeit mehr, überdurchschnittlich viele Mütter sind alleinerziehend. Mit regelmäßiger Sozialhilfe können sie nicht rechnen, höchstens mit
sporadischen Leistungen durch die Gemeinde oder durch wohltätige Organisationen.
Christa Fietz beschreibt die Armut in Conchali als eine verdeckte. Hinter
hohen Mauern würden oft Großfamilien auf engstem Raum zusammenleben. Die
Sozialarbeiterin arbeitet für Pro Nino, eine Organisation, die sich um die Aufdeckung der Misshandlung von Kindern bemüht und missbrauchte Kinder therapiert. Der Kindesmissbrauch würde durch die Probleme der Armen – Arbeitslosigkeit, in Alkohol ertränktem Frust, beengte Wohnverhältnisse – begünstigt,
glaubt Christa Fietz: „Wenn dann der betrunkene Onkel nach Hause kommt und
sich zu der 14jährigen Nichte ins Bett legt, dann lädt das natürlich eher dazu ein,
als wenn man sein eigenes Haus hat und sein eigenes Zimmer, und den Kindern
auch andere Räumlichkeiten bieten kann. Was natürlich nicht heißen kann: Die
Armen missbrauchen ihre Kinder. Das ist immer ein bißchen schwierig. Es ist halt
nur eine Häufung von Risikofaktoren, die woanders nicht so da ist. Das heißt, in
anderen Bevölkerungsschichten gibt es auch den sexuellen Missbrauch. Der
wird dann nur besser verdeckt und findet unter anderen Voraussetzungen statt“.
Chile
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Endlich nicht mehr in Armut leben will Paula Cartéz-Ortega aus Jesús Obrero.
Noch in diesem Jahr möchte sie die Hüttensiedlung verlassen und in das eigene
Heim ziehen, für das sie schon so lange spart: „Das wünsche ich mir von ganzem Herzen für mich und meine Kinder. Ich muss doch auf die Gesundheit meiner Töchter achten. Hier gibt es herumstreunende Hunde, und aus dem Kanal
kommen Ratten. Wegen all dieser Dinge muss man sich Sorgen machen um seine
Kinder, und ich glaube, deswegen kämpfen viele Leute dafür, hier rauszukommen.“
„Eine titanische Aufgabe“ – Indios suchen Weg aus dem wirtschaftlichen
Abseits
Es ist ein hübsches Haus, das sich Ricardo Huaracán gebaut hat. Mit seiner
Frau Teresa führt er mich durch das Wohnzimmer mit den großen Fenstern, zeigt
mir die moderne Küche, das schöne Bad. Eine massive Holztreppe führt ins
Obergeschoss, das ebenfalls komplett aus Holz besteht. Es riecht gut, es sieht
warm und gemütlich aus. „Pinien und Zypressen“, erklärt mir Ricardo. Bäume,
die er selbst gepflanzt hat, damals, bevor er sein Land in der Nähe der südchilenischen Stadt Temuco verließ und nach Santiago kam. Aus diesen Bäumen hat
er sich nun, 26 Jahre später, sein Haus in der neuen Heimat gebaut.
Ricardo ist einer von rund 500.000 Mapuche-Indios in Santiago. Etwa die
Hälfte aller Mapuche wohnen in der Hauptstadt, die anderen leben im Süden des
Landes. Ricardo kam 1973 mit seinem Bruder, seiner Frau und der kleinen Tochter nach Santiago. Wie so viele Mapuche entfloh er der Armut und Perspektivlosigkeit auf dem Lande, wollte sich in der Stadt eine Existenz aufbauen. Mit
einem Kredit der Staatsbank gründeten er und sein Bruder damals eine Mechanik-Werkstatt. Ricardo hatte nur vier Jahre lang die Volksschule besucht. Schwierig sei die erste Zeit gewesen, erinnert er sich, als Indio und ohne Ausbildung.
Doch er war fleißig und lernte schnell. Heute ist Ricardo Huaracán Chef eines
gutgehenden Betriebes für Präzisionsmechanik mit drei Angestellten. Angst, wie
damals, als er mit nichts in der Hand sein Dorf verließ, hat er nicht mehr. Ruhig
macht ihn vor allem das Wissen, dass er seinen drei Kindern ein Studium
ermöglicht hat – für ihn die wichtigste Investition. „Ich habe meine Familie durch
die Ausbildung nach vorne gebracht“. Diskriminierung, sagt der kleine kräftige
Mann mit den dichten schwarzen Haaren, spüre er nicht mehr.
Längst nicht allen Mapuche ist es in der Stadt so gut ergangen wie Ricardo
Huaracán. Die meisten schuften als schlechtbezahlte Lohnarbeiter, vor allem in
Bäckereien. Die Indios werden als billige Arbeitskraft betrachtet. „Dadurch
werden sie noch ärmer und rückständiger“, meint Eladio Antilef, selbst ein
erfolgreicher Unternehmer. Mit seinem Bruder besitzt er eine Firma, die Bau-
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Chile
fahrzeuge verkauft und verleiht. Etwa 25 Mitarbeiter beschäftigt er, doch davon
sind nur die wenigsten Mapuche. Die fehlende Qualifizierung und Spezialisierung der Indios mache es unmöglich, geeignete Beschäftigte zu finden, sagt der
Chef. Genau das aber will die „Asociación de Empresarios Mapuche“ (Vereinigung der Mapuche-Unternehmer) ändern, die Eladio Antilef im vergangenen
Jahr gegründet hat. Sie will unter anderem ein technisches Ausbildungszentrum
für junge Indios aufbauen. „Unsere Idee ist, nicht den Fisch zu schenken, sondern zu zeigen, wie man angelt“, erklärt Eladio. „Wir halten uns für fähig, wir
halten uns für stark, um unserem eigenen Volk als Vorbild zu dienen, und für die
Mapuche eine harmonische Entwicklung anzustreben“.
Eine „titanische Aufgabe“ sei das, glaubt Eladio Antilef. Er selbst hat die Diskriminierung der Indios kennengelernt. Man kann diesem Mann sicher nicht
nachsagen, dass er seine indianische Abstammung verleugnet. Er fühlt sich als
Mapuche in Chile und nicht als Chilene. Doch als Unternehmer würde er lieber
„Juan Perez“ heißen, als seinen Mapuche-Namen zu tragen. „Es ist doppelt so
schwer, als Mapuche Unternehmer zu sein, als wenn man kein Mapuche ist“.
Gerade als erfolgreicher Firmengründer stieß Eladio Antilef in seiner chilenischen Umwelt oft auf Misstrauen, gelten doch die Indios bei vielen als faul.
Nachtrag: Die Bemühungen der „Vereinigung der Mapuche-Unternehmer“,
ihrem Volk durch Qualifizierung bessere Berufschancen und damit einen Weg
aus der Armut zu ermöglichen, haben im Dezember 1999 einen traurigen Rückschlag erhalten. Ihr Vorsitzender Eladio Antilef ist plötzlich und unerwartet
gestorben. Jetzt führen Ricardo Huaracán und die anderen „empresarios Mapuche“ seine Initiative fort.
„Die historische Schuld des chilenischen Staates“ – Aufstand der Mapuche
Mapuche heißt: Mensch der Erde. Rund eine Million der rund 14 Millionen
Chilenen identifizieren sich als Mapuche. Die Mapuche sind kämpferisch: Von
allen Indio-Völkern haben sie am längsten den Spaniern widerstanden. Als ethnische Gruppe sind die Mapuche in der chilenischen Verfassung nicht anerkannt.
Ihre Sprache „Mapudungun“ wird in keiner Schule unterrichtet. „Dies ist ein uniformes Land, in dem es heißt: Wir sind alle Chilenen“, meint Adolfo Millabur.
„Vielleicht sind wir alle Chilenen, aber zuerst bin ich Mapuche“. Adolfo Millabur stammt aus Tirúa, einem Dorf im Süden, doch mittlerweile ist er im ganzen
Land bekannt. Nicht nur ist er der erste und einzige Mapuche-Bürgermeister Chiles, er ist auch einer der führenden Köpfe der Lafkenche-Bewegung. Die Lafkenche, das sind die Mapuche, die an der Küste leben. Das Meer („Lafken“) hat
für sie eine besondere spirituelle Bedeutung.
Chile
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Von Temuco, der Hauptstadt der Region Araukanien, will ich nach Tirúa fahren. Da der einzige Direktbus des Tages leider nicht kommt, nehme ich einen
Minibus und steige dann in ein klappriges Gefährt um, das sich einige Stunden
lang Schotterstraßen auf und ab quält. Für die etwa hundert Kilometer lange Strecke brauche ich den ganzen Nachmittag. Wir fahren durch Weizenfelder, Wiesen und Wälder – eine idyllische Landschaft. In dieser Gegend zwischen Temuco
und dem Meer befindet sich auch das Dorf, in dem die Eltern von Teresa Huaracán aus Santiago wohnen. Erst im vergangenen Jahr hätten sie Elektrizität
bekommen, hat mir Teresa erzählt. Die Wasserversorgung klappe immer noch
nicht, und die Zufahrtsstraße zum Ort sei nicht asphaltiert, so dass die Bewohner im Winter von der Außenwelt abgeschnitten seien. So gehe es den meisten
Dörfern, in denen überwiegend Mapuche leben, erzählt Tirúas Bürgermeister
Adolfo Millabur. Die Regierung Frei habe damit begonnen, Infrastruktur und
Gesundheitsversorgung zu verbessern. Das sei zwar gut, aber auch längst überfällig – schließlich gehe es um ein Bürgerrecht. „Weil wir Mapuche sind, müssen wir doch nicht auf Straßen, auf Elektrizität und auf Wasser verzichten“.
Tirúa liegt in der „zona de conflicto“, der Konfliktzone im Süden des Landes.
Dort hat während der im März 2000 zu Ende gegangenen Regierungszeit von
Staatspräsident Eduardo Frei der Aufstand der Mapuche gegen die Forstunternehmen begonnen. Die Indios wehren sich mit Gewalt gegen die Abholzung der
Urwälder, die sie als ihr historisches Eigentum, ihre Erde betrachten. Während
der Fahrt nach Tirúa habe ich die gerodeten Flächen und die Anpflanzungen
schnellwachsender Tannen- und Eukalyptusbäume mit eigenen Augen gesehen. Holz, und aus Holz gewonnene Stoffe wie Zellulose, sind wichtige Exportprodukte der chilenischen Wirtschaft. Während der Pinochet-Diktatur konnten
die Forstunternehmen Waldgrundstücke zu oft lächerlichen Preisen erwerben.
Viele dieser Ländereien waren traditionelles Mapuche-Land, wurden auch nach
wie vor von den Indios genutzt, gehörten aber offiziell dem Staat. Und der überließ sie den Holzexporteuren.
Einen Baum zu fällen, ist für einen Mapuche ein Sakrileg. „Es gibt eine Tradition, dass jedesmal, wenn ein Baum gefällt wird, der zu Brennholz verarbeitet wird, zwei neue gepflanzt werden müssen – und wenn ein Obstbaum abgeholzt wird, sind es vier“, hat mir Eladio Antilef in Santiago erzählt. Der
Lafkenche Luis aus Tirúa saß 1999 eine Woche im Gefängnis, weil er die Abholzung des Urwalds nicht hinnehmen wollte. Bei Zusammenstößen mit der Polizei am Lleu-Lleu-See wurde er verhaftet und „der Brandstiftung, des Raubes und
des Anschlags auf Privateigentum“ angeklagt. Luis zufolge haben die Lafkenche einige Waldgrundstücke bereits „befreit“. Sie würden dort Tag und Nacht
patrouillieren, und die Forstunternehmen hätten das Land aufgegeben. Die chilenische Presse berichtet fast täglich über den Konflikt im Süden. An Nachrichten
über die Zerstörung von Forstmaschinen und über Auseinandersetzungen zwi-
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Chile
schen Indios und dem Wachpersonal der Holzfirmen haben sich die Zeitungsleser gewöhnt. Die Täter werden in der Berichterstattung nicht selten als Terroristen bezeichnet, die die innere Sicherheit gefährden. Insgesamt 400 Mapuche
seien 1999 festgenommen worden, weiß Luis, der einer der Führer der Lafkenche-Bewegung ist. Im „Lafkenche-Zentrum für Menschenrechte“ in Tirúa finden sie juristischen Beistand.
Bürgermeister Adolfo Millabur unterstützt den Aufstand der Mapuche. „Die
sozialen Konflikte funktionieren nicht per Brief. Auch nicht durch Versammlungen. Sie werden durch die Mobilisierung, durch die Proteste der Menschen
gelöst.“ Auch die Mapuche könnten dieser Logik nicht entgehen. Das sie Gewalt
anwenden, sei also legitim. Millabur sieht eine „historische Schuld“ des chilenischen Staates. Er erzählt von der sogenannten „Befriedung Araukaniens“ in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Völkermord wie im Kosovo sei das
gewesen, nur habe die Welt es wegen der fehlenden Kommunikationsmittel
nicht mitbekommen. Doch die Mapuche hätten überlebt, genauso wie sie die Versuche des Pinochet-Regimes überlebt hätten, ihre auf Gemeinschaftsbesitz
basierenden Lebensformen zu zerschlagen. Jetzt müsse der Staat Verantwortung
übernehmen und „eine neue Haltung zum Volk der Mapuche finden, es anerkennen und es auf eine Weise behandeln, die die Heilung der historischen Wunden erlaubt“.
Die Ureinwohner-Behörde CONADI hat in den vergangenen Jahren Ländereien von den Forstunternehmen für die Mapuche zurückgekauft. Von einem
Konflikt, der den ganzen Süden erfaßt hat, will ihr Direktor Rodrigo Gonzalez
nichts wissen. Höchstens zwei Dutzend der mehr als 1.800 Mapuche-Gemeinschaften würden „gewisse Gewaltakte“ verüben, und die fänden in den rechts stehenden Medien nun einmal eine überdurchschnittlich große Beachtung. Dadurch
entstehe der falsche Eindruck eines ausgedehnten Konfliktherdes, versichert der
Politiker. Immer wieder betont Gonzalez, wie außerordentlich gut das Verhältnis der staatlichen CONADI zu den Indios sei. „Die Welt der Mapuche ist viel
ruhiger, heiterer und traditionsbezogener, als es durch dieses Gewalt-Image
scheint. Und zu dieser Welt, die ihre Traditionen, ihre Kultur und ihre Rituale hat,
zu dieser Welt haben wir eine kontinuierliche, direkte Beziehung.“ Chile, so
Rodrigo Gonzalez, habe in den kommenden Jahren die Chance, anzuerkennen,
dass es ein multikulturelles Land sei.
„Was wir wollen, ist, dass man uns nicht als eine Last betrachtet, sondern als
eine Bereicherung für die Gesellschaft“, betont Adolfo Millabur. Als Beispiel
nennt er die nachhaltige Entwicklung, die in den Reden der Politiker zum Modewort geworden sei. „Für uns Mapuche ist sie weder eine Mode, noch die erneute
Erfindung des Rades. Sie war und ist für uns alltägliche Praxis“. Werte, wie den
Respekt vor der Umwelt, wollten die Mapuche in die gesellschaftliche Entwicklung einbringen. Dafür erwarteten sie aber auch, Entscheidungen über ihre
Chile
Victoria Eglau
eigenen Belange selber treffen zu können. „Wir sind keine Minderjährigen.
Wir sind ein erwachsenes Volk. Also wollen wir auch die Autonomie und die
Freiheit haben, zu entscheiden, was wir machen wollen, und was uns für uns am
besten erscheint“.
Dank an ...
... die Heinz-Kühn-Stiftung für die unvergessliche und unersetzliche Erfahrung, Frau Op de Hipt, die Friedrich-Ebert-Stiftung in Santiago, die Kollegen von
Radio Cooperativa, die „Casa Luna“, meine chilenischen Freunde und Stephan
Voellmicke.
Susanne Freitag
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt im
Senegal
vom 30. April bis 27. Juli 1998
Senegal
Susanne Freitag
Zwischen Marabouts und Modernisierung
Susanne Freitag
Senegal, vom 30.04. – 27.07.1998,
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
Senegal
Susanne Freitag
Inhalt
Zur Person
Ein Traum, den es nicht gibt
Ein Freitag in Dakar
Die Marabout-Gesellschaft
Musterschüler in der Krise oder „System D“
Der Wunsch nach dem Wechsel
Zwischen Meetings und Marabouts – Der Wahlkampf
Der Wahltag
Das Ergebnis
Ein Marabout im Parlament – Cheikh Abdoulaye Dièye
Cheikh Amadou Bamba Superstar – Pilgern zum großen Magal
Touba, die heimliche Hauptstadt
Frauen im Senegal
Das Dorf am Rande der Wüste
„Das kann nur der Marabout entscheiden“
Die Wahrsagerin
Entwicklung beginnt im Kopf – Der Marktgarten
Abschied
Susanne Freitag
Senegal
Zur Person
Geboren 1967 in Wissel (heute Kalkar) am Niederrhein. Nach dem Abitur
ein Jahr Au-Pair in Paris. Danach Studium der Politikwissenschaft und Germanistik in Stuttgart. Während des Studiums freie Mitarbeit bei verschiedenen Zeitungen. Nach dem Abschluss Volontariat bei SAT.1. Anschliessend
freie Mitarbeit beim ZDF, Landesstudio NRW, und bei den WDR Redaktionen „NRW am Mittag“ und „Westpol“. Seit Januar 2000 Redakteurin im ZDF
Landesstudio NRW.
Ein Traum, den es nicht gibt
„Viele, die hier herkommen, haben einen ganz bestimmten Traum von
Afrika im Kopf, und genau dieser Traum geht hier gnadenlos den Bach runter“. Harte Worte, denke ich, als mir Berthold Franke, der Leiter des Goethe–Instituts in Dakar, seine Erfahrungen mit den zahlreichen Europäern
schildert, die er hier hat kommen und gehen oder auch bleiben sehen. Die vielen Reisereportagen vermitteln ihn gerne: Den klassischen Traum von einem
Afrika mit Elefanten, Giraffen und imposanten Naturschauspielen. Dieses
Afrika findet man im Senegal tatsächlich nicht. Aber man findet etwas anderes. Amadou, ein Mitarbeiter der Friedrich-Ebert–Stiftung bringt mich nach
8 Stunden Flug in mein Hotel. Schon auf dem Weg vom Flughafen in die vor
Autos überquellende und vor Leben strotzende Hauptstadt Dakar, wird dem
Besucher das vor Augen geführt, was in diesem Land am meisten beeindruckt:
Seine Gegensätze. Eben noch fährt Amadou an einer riesigen, wilden Müllkippe vorbei. Nach der nächsten Kurve eröffnet sich ein faszinierender Blick
über das in der Sonne glitzernde Meer. Wir fahren vorbei an großen, herrschaftlichen Häusern, vor denen Bougainvilleen in allen Farben leuchten; ein
paar Schritte entfernt Menschen, die am Strand in notdürftig zusammengestellten Pappkartons hausen, am Wegrand liegt eine tote Kuh. Amadou schaltet den Kassettenrekorder ein. Yossou N’Dour singt einen seiner Hits. An einer
Kreuzung lacht sein Portrait von einem riesigen Plakat: Zahnpastareklame.
„Hast du Kinder?“ fragt Amadou. Ich verneine. „Ich habe 10“, sagt er stolz.
Ich sehe ihn fast bewundernd an. „Aber ich habe 2 Frauen“, fügt er erklärend
hinzu und lacht, als er mein Gesicht sieht. Wir halten an einer Ampel. Sofort
steht ein gebückt gehender Mann mit einem zerrissenen Hemd an der Autoscheibe und hält die Hand durchs offene Fenster. Sitzen Weiße in einem
Fahrzeug, „Toubabs“ nennt man sie hier, könnte es sich lohnen. Toubabs sind
für sie reich, unendlich reich.
Senegal
Susanne Freitag
Mein Hotelzimmer, in dem ich ein paar Tage wohnen werde, ist dunkel und
wenig einladend. Ganz in der Nähe ruft der Muezzin sein „Allahu Akbar“ – Gott
ist allmächtig. Ein krächzender Lautsprecher sorgt dafür, dass er im ganzen Viertel gehört wird. Spätestens jetzt ist mir klar, dass mich hier etwas erwartet, das
alle meine Vorstellungen vollständig über den Haufen werfen wird. Wer glaubt
nicht gerne den Reisereportagen, die einen Traum vermitteln wollen?
Ein Freitag in Dakar
Es ist ein Gefühl, als ob plötzlich die Straßen vibrieren. Nichts geht mehr in
der „Rue El Hadj Amadou Assane Ndoye“, zwischen dem zentralen „Place de
l’Independance“ und einer mehrere hundert Meter entfernten Moschee. Normalerweise herrscht hier betriebsame Gelassenheit. Fliegende Händler bieten
Batikhosen, T-Shirts, falsche Markenuhren und vereinzelte Schmuckstücke
zweifelhafter Herkunft an, Frauen verkaufen Mangos am Straßenrand, ein paar
Kinder betteln. Jetzt sieht man nur noch Männer. Sie strömen zu Hunderten zum
Freitagsgebet – Pflicht für männliche Muslime, wenn nicht schwerwiegende
Gründe wie Krankheit dagegen sprechen. Sie sind gut gekleidet. Viele tragen das
Nationalgewand, den Boubou. Die Kleidung muss sauber sein zum Gebet. Auf
der Straße breiten sie ihre Gebetsmatten aus, weil in der Moschee kein Platz mehr
ist. Viele tragen eine bunte Plastikkanne mit Wasser bei sich, für die rituellen
Waschungen vor der Zwiesprache mit ihrem Gott. Dann neigen sich hunderte
Körper gleichzeitig Richtung Mekka. Ich stehe plötzlich mittendrin, versuche,
zu meiner Wohnung zu gelangen – zwecklos. Die Marktstände am Straßenrand
sind geschlossen. Ich komme mir fehl am Platze vor, will die religiöse Konzentration nicht stören, stolpere trotzdem über eine Gebetsmatte und ziehe mich
schließlich ins nahegelegene, französische Kulturzentrum zurück. Noch Stunden
später klingen die Gebetsgesänge aus der Moschee.
Für Ibrahim ist Freitag ein besonders guter Tag. Freitag ist Almosentag, dann
verdient er viermal so viel wie sonst. Ibrahim ist Bettler, eine Polio–Erkrankung
hat seinen Körper verkrüppelt. Jeden Morgen sitzt er vor „seiner“ Moschee. Er
ist aufs Betteln angewiesen. Der Glaube ist seine Lebensgrundlage und zugleich
überlebensnotwendig. Die Gabe von Almosen ist Pflicht für jeden Moslem. Vor
Gott sind alle gleich. Unabhängig von ihrer Rasse, ihrer Ethnie und ihrer sozialen Herkunft. Bei den Eigentumsverhältnissen darf es Unterschiede geben, sie
sind sogar gottgewollt, sofern sie das Ergebnis eines gottgefälligen Verhaltens
sind. Die reicheren Mitglieder der religiösen Gemeinschaft, der „Umma“, sind
nach dem Koran dazu verpflichtet, die ärmeren zu unterstützen. Deshalb kann
Ibrahim sich über Wasser halten. Es kommt vor, dass am Freitag eine glänzende
Limousine neben ihm hält, das Fenster fährt fast lautlos herunter, der gutbetuchte
Susanne Freitag
Senegal
Fahrer steckt ihm ein paar Francs zu. Weder Ibrahim noch dem Limousinenfahrer
kommt das irgendwie komisch vor. Senegalesische Realität.
Die Marabout–Gesellschaft
Weit über 90 % der Senegalesen sind Moslems. Die Religion ist in den letzten Jahren immer wichtiger geworden. Seit vor vier Jahren die nationale Währung, der Francs CFA, um 50 % abgewertet wurde, geht es den Menschen
schlechter. Die Gegensätze verschärfen sich. Vor allem in Dakar schockieren die
Kontraste zwischen arm und reich jeden Tag aufs Neue. Der Islam hat deshalb
eine integrative Funktion bekommen. Mit der Religion haben die Menschen
einen Anlaufpunkt, eine letzte, wirklich verlässliche Größe im Leben. Vielleicht ist es die Überzeugung, dass alles ganz genau so sein muss, die die Menschen so aufgeschlossen, freundlich und hilfsbereit macht. Jeder gibt gerne
Auskunft, auch wenn man als „Toubab“ nach ihrem Glauben fragt. Der Islam im
Senegal ist tolerant. Andere Glaubensgemeinschaften werden gleichberechtigt
behandelt. Staatschef Abdou Diouf ist zum Beispiel mit einer Christin verheiratet.
Was zählt, ist der Mensch.
Schon im 11. Jahrhundert brachten Berberstämme aus der Sahara und später
Marokkaner den Islam in den Senegal. Die Ausbreitung erfolgte langsam, ließ
Platz für Elemente der früheren Naturreligionen. Mit der Zeit erhielt der Islam
im Senegal eine ganz besondere Ausprägung. Die Gläubigen sind in Bruderschaften organisiert. Diese Form der Organisation gibt es auch in anderen Ländern, aber nirgendwo ist ihre Bedeutung politisch und gesellschaftlich so groß
wie hier. Etwa ein halbes Dutzend solcher Bruderschaften existieren im Senegal.
Der Großteil der Gläubigen gehört zu den zwei größten Gruppen: Den Mouriden und den Tidjanen.
Die Bruderschaft der Mouriden gilt als die bedeutendste im Senegal. Sie
wurde im 19. Jahrhundert von dem inzwischen legendären Cheikh Amadou
Bamba gegründet. Bamba war ein bedeutender religiöser Führer. Er lehnte sich
gegen die Kolonialherren auf, und wurde deshalb mehrfach ins Exil verbannt.
Seine Rückkehr aus dem Exil wird noch heute mit dem großen Magal gefeiert,
der sich zu einem der größten Pilgerereignisse Westafrikas entwickelt hat. Der
Gründer der Bruderschaft wird inzwischen wie ein Heiliger verehrt. In der weiteren Entwicklung prägten die Mouriden den Ausbau der Erdnuss–Monokultur,
später auch den Handel und das Transportwesen. Damit verstärkte sich auch ihre
Bedeutung in der Politik des Landes. Ihre heilige Stadt Touba ist fast ein Staat im
Staat, ähnlich dem Vatikan. Eine eigene Polizei achtet darauf, dass das Rauchund Alkoholverbot tatsächlich eingehalten wird. Grundlagen des Mouridismus
sind die heilige Schrift, das Gebet und vor allem die Arbeit. Die Bruderschaft ist
Senegal
Susanne Freitag
streng hierarchisch gegliedert. An der Spitze steht der Khalif. Die folgende
Ebene bilden rund 200 große Marabouts. Ihnen folgen bedingungslos die zahlreichen Anhänger des Glaubens, die Talibés. Dem Befehl der Marabouts und dem
Befehl des Khalifen, Ndigel genannt, müssen sie folgen.
Die Bruderschaft der Tidjanen ist zahlenmäßig größer als die der Mouriden
und wesentlich älter. Um 1765 wurde sie von Cheikh Ahmed Tidiani gegründet.
Ihr religiöses Zentrum liegt in Tivaouane, einer kleinen Stadt nordöstlich von
Dakar. In der Wirtschaft sind die Tidjanen weniger präsent. „Wir bevorzugen Studium und Frömmigkeit, die Mouriden die Arbeit und das Geld“, sagte einst einer
ihrer Anhänger. Die Tidjanen sind mehr an der arabischen Welt orientiert. Das hat
allerdings keinen Einfluß auf das tolerante, senegalesische Bewusstsein im Hinblick auf alle anderen Religionen. Vor allem in der Mittelschicht und in ländlichen
Gebieten ist dieses Bruderschaft verbreitet.
Die Marabouts, die spirituellen Führer der Bruderschaften, haben die absolute
religiöse Autorität und eine beträchtliche soziale und wirtschaftliche Macht. Sie
haben eine Funktion als Mittler zwischen Allah und den Menschen auf der
Erde. Diese Position in der gesellschaftlichen Ordnung und das tiefe Vertrauen,
das ihnen die Glaubensgemeinschaft der Talibés entgegenbringt, sichern ihnen
die Unterstützung vom Bettler bis zum Politiker. Von den Mitgliedern der religiösen Gemeinschaft mit reichlich Spendengeldern bedacht, wird ihnen ein
angenehmes, luxuriöses Leben ermöglicht. Viele Marabouts fahren große
Limousinen und leben im Luxus. „Cadillac Marabouts“ nennt sie der Volksmund,
ohne daran etwas auszusetzen. Stehen, wie in diesem Jahr, Wahlen ins Haus, sieht
man häufig Staatskarossen in den heiligen Städten vorfahren. Dann wollen
auch die Politiker von den Mittlern zwischen Allah und den Menschen profitieren. Sie geben ihnen Geld, und erhoffen sich davon ein gutes Wort in der
Öffentlichkeit, oder sogar einen Ndigel für die Wahl. Ohne die Marabouts läuft
nichts im Land, die Religion ist die treibende Kraft im Senegal.
Musterschüler in der Krise oder „System D“
„Das ist der Senegalese nach der Geldabwertung“. Moustapha zeigt auf eine
abstrakte Holzfigur, die den Kopf auf die Hände stützt. „Sie heißt der Denker“, erklärt der 22jährige Händler, „zu denken haben wir im Moment genug“.
Moustapha ist einer von den vielen fliegenden Händlern Dakars. Sein Gebiet
liegt in der Nähe des „Place de l’Independance“. Der erste Eindruck: Moderne
Bankenhochhäuser, Hotels und andere Prachtbauten. Ganz in der Nähe die
„Avenue Georges Pompidou“, die „Ponty“. Eine Einkaufs- und Flaniermeile,
Paradies für Gutbetuchte, Taschendiebe, Straßenhändler. Mit etwas Phantasie
könnte Dakar auch eine südeuropäische Großstadt sein. Wäre da nicht der
Susanne Freitag
Senegal
Müll in den Straßen, wäre da nicht der Bettler, der sich auf einem rollenden
Holzbrett mit den Armen abstößt. „Ein paar Francs Madame, bitte“. Dakar,
dazu gehören auch die Hausfrauen, die sich mit dem Verkauf rosafarbener
Kolanüsse durchschlagen, die das Gefühl von Hunger und Durst für Stunden
beseitigen können. Die Kinder in ihren zerrissenen Kleidern, die mit sonoren
Stimmen „He, Monsieur“ rufen, sich minutenlang an die Fersen der Bankiers
heften, damit diese ein paar Geldstücke in die Konservendose werfen, die einst
das Tomatenmark für das Reisgericht zu Hause enthielt. Und eben Menschen wie Moustapha, die hier täglich versuchen, ihre Waren an den Mann zu
bringen, damit sie ihre Familie ernähren können. Auf den Straßen Dakars
herrscht das System D. D wie Debrouillardise – D wir Durchschlagen.
Lange galt der Senegal als Vorzeigestaat, ein „Musterländle“ in Afrika.
Demokratie, Toleranz, politische und religiöse Offenheit – diese Attribute
schrieb man dem Land auf die Flagge, und diese Attribute rechneten sich auf
den Staatskonten. Die Entwicklungsgelder flossen mehr als üppig. Alles
sollte noch schöner werden. Als IWF und Weltbank 1985 ein langfristiges
Strukturanpassungsprogramm einführten, sollte die Grundlalge für ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum geschaffen werden. Mehr Privatisierung,
Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien, Effizienzsteigerung in der
Landwirtschaft, Diversifizierung der Außenwirtschaft – mit diesen schönen
Schlagworten aus der Welt der großen Industrienationen sollte der Senegal
auch auf dem ökonomischen Sektor zum Vorzeigebeispiel werden. Die Wirtschaftsdaten sehen auf den ersten Blick wirklich gut aus. 5% Wachstum, eine
minimale Inflationsrate, ein nicht nennenswertes Staatsdefizit.
Die internationalen Geldgeber sind zufrieden. So zufrieden, dass die Institutionen von Bretton Woods in diesem Jahr nochmal einen Kredit von 2
Milliarden Francs CFA zugeschossen haben. Die Menschen im Senegal aber
sind nicht zufrieden. Der Staat legt ihnen keine Rechenschaft ab, keiner
weiß, wo die Entwicklungsgelder eigentlich geblieben sind.
Einen der schwersten Schocks erlebte das Land bei der Abwertung des
Francs CFA im Januar 1994. Der FCFA ist mit einem festen Wechselkurs an
den französischen Francs gekoppelt. 100 FCFA entspreche einem französischen Francs. Seit der Abwertung stößt der Musterländle–Mythos an seine
Grenzen. Zwei Drittel der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, nur
in 16,7% der Haushalte gibt es fließendes Wasser, nur 23% haben einen
Stromanschluss. Die einst erfolgreichen Exportgüter, wie Erdnüsse, Baumwolle und Reis, finden kaum noch Absatz, damit erlebt die Landwirtschaft
eine ihrer schwersten Krisen, mit sichtbaren Folgen in den ländlichen Regionen des Landes. Lediglich der Export von Fisch und der Tourismus boomen
noch, ansonsten ist der Senegal weitgehend auf Importe angewiesen. „Der
Staat versagt total“, sagt Ibrahim Gueye, ein Wirtschaftsexperte, der sich seit
Senegal
Susanne Freitag
Jahren um Investoren aus dem Ausland bemüht. „Es gibt gute Fachleute in der
Privatwirtschaft, mit hervorragenden Qualifikationen, aber sie werden nicht
gefördert. Sie sitzen mit ihrem Know–How zu Hause und sind arbeitslos.
Existenzgründungen werden verhindert, und die Wirtschaft geht derweil weiter den Bach runter“. Geld bekommt der Staat immer dann, wenn er Entwicklungsprojekte in Aussicht stellt. Was aber aus den einzelnen Projekten
wird, danach fragt schon ein Jahr später niemand mehr. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit investierte vor ein paar Jahren in ein
ehrgeiziges Staudammprojekt nördlich von St. Louis. Die Vorgabe war, dass
der Staat damit 50 % des Stromaufkommens produziert. Der Staudamm
steht, hat inzwischen zu einer Bilharziose–Epidemie in der Bevölkerung
geführt, aber noch keine einzige Kilowattstunde Strom erzeugt.
„He Toubab, Neckermann macht’s möglich, billig billig“. Vor mir steht ein
grinsender Händler und hält mir einen piepsenden, rosafarbenen Plastikwecker entgegen – „Made in Asien“. Ich stehe mitten im Getümmel, in den verwinkelten Straßen des Sandaga Marktes, in denen sich ein Marktstand an den
anderen reiht, und Weiße besonders beliebte Opfer aufdringlicher Verkaufsstrategien sind. Der Sandaga–Markt ist fest in den Händen der Mouriden. Sie
kontrollieren fast den gesamten Handel des Landes, und fast das ganze Transportwesen ist in den Händen der Marabouts von Touba. Ein Taxifahrer muss
für sein Fahrzeug etwa 30 Mark am Tag bezahlen. Er zahlt sie meist an ein
Transportunternehmen, das einem Mouriden gehört. Um einen Tagesverdienst einzufahren, muss er einen ganzen Tag, und manchmal auch die halbe
Nacht, Fahrgäste transportieren. Ein Taxifahrer verdient am Tag zwischen fünf
und sechs Mark, aber Taxifahren ist ein beliebter Job im System D. An manchen Tagen hat man in Dakar den Eindruck, dass es mehr Taxen als Einwohner gibt. Dass sie für die Mouriden unterwegs sind, ist ihren Autos leicht anzusehen. Aufkleber und Zeichnungen im Auto tragen das deutlich zur Schau:
„Allah is the greatest“, Portraits von Cheikh Amadou Bamba, Fotos des großen Kalifen, oder die Aufschrift „Talibé“.
Über 90% der Senegalesen arbeiten in diesem informellen Sektor. Sie zahlen keine Steuern und schlagen sich mit gelegentlichen Jobs durch. Über 90%
dieses informellen Sektors wiederum ist in den Händen der Mouriden. Die
Umsätze der Branche kommen der Wirtschaft des Landes nicht zugute. 3
Gruppen verdienen an dem schnellen und unsicheren Geschäft auf der Straße:
Die Importeure, die mit Säcken voll Bargeld nach Asien reisen, um dort ihre
Waren bar zu zahlen; die Zöllner, die Bestechungsgelder erhalten, damit die
Billigwaren eingeführt werden können und natürlich die Marabouts. Die
Gewinne werden nicht bei den Banken deponiert, sondern zu Hause gehortet.
Sie helfen der Familie im System D zu überleben. Geplant wird bis morgen,
dann wird man weiter sehen. Dem Land gehen auf diese Weise Milliarden ver-
Susanne Freitag
Senegal
loren. „Wir befinden uns in einer gefährlichen Sackgasse“, sagt Momar
Comba Diop, Sozialwissenschaftler am „Institut Fondamental de l’Afrique
Noire“, IFAN. „Wir leben inzwischen in einem System des Neokolonialismus. Die Wirtschaft hier wird bestimmt von der Weltbank und von den großen französischen Unternehmen. Die senegalesischen Unternehmer haben gar
nichts davon. Und das, was im informellen Sektor an Wirtschaft betrieben
wird, ist reine Basar–Kultur“.
Die internationalen Geldgeber setzten Großes voraus. Das Bildungswesen
und die Gesundheitsversorgung sollten sich weiterentwickeln. Aber daraus ist
nichts geworden. Nach wie vor sind in den ländlichen Gebieten 70% der
Bevölkerung Analphabeten. Nur knapp über 60% aller Kinder können eine
Schule besuchen. Und in den Krankenhäusern fehlen die notwendigen Materialien und Medikamente. „Ich habe in der letzten Woche neun Kinder sterben sehen“, erzählt mir Sarah. Sie arbeitet auf der Kinderstation des Hopital
Dantec. „Hätte ich die richtigen Medikamente gehabt, ich hätte sie retten können. Aber Medikamente verschwinden hier sofort“. Sie hat beobachtet, dass
sich Schwestern und Pfleger Medikamente in die eigene Tasche stecken. Im
Ernstfall werden sie unter der Hand an Patienten verkauft. Auch das ist das
System D.
Eines ist trotz aller ökonomischen Schwierigkeiten geblieben: Die „Teranga“, die senegalesische Gastfreundschaft. Für einen Gast werden die letzten „Sous“ zusammengekratzt, damit er mit den Gastgebern Essen und Trinken kann. „Komm, setz dich zu uns“, heißt es dann, „mach es dir bequem und
fühl dich wie zu Hause“.
Der Sengal steht vor einer Zerreissprobe. Ständig wird der Strom abgestellt.
Die Studenten kämpfen auf der Straße für eine bessere Ausbildung, und in der
bei Touristen beliebten Ferienregion im Süden des Landes, der Casamance, ist
der Separatistenkrieg wieder aufgeflammt. Die Leidtragenden des von aussen
kontrollierten Wirtschaftswachstums sind die „Mamadou Normalverbraucher“. Ihr Geld besitzt seit der Abwertung keine Kaufkraft mehr. Der Niedergang der klassischen Landwirtschaft zieht immer mehr junge Menschen in die
großen Städte, in denen es immer weniger Arbeit und immer mehr Kriminalität gibt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung im Senegal ist unter 20 Jahre
alt. Mehr als die Hälfte dieser Bevölkerungsgruppe hat keinen Job. Das ist ein
Grund dafür, dass die Religion, vor allem auch bei jungen Menschen, immer
wichtiger wird. Im Wahljahr 1998 stehen die Parteien vor großen Herausforderungen. Die Bevölkerung hat das Vertrauen in die Politik verloren. Wie
Moustapha mit seinem „Denker“, der jetzt den nächsten Touristen anspricht:
„Das ist der Senegalese nach der Franc–Abwertung. Ich mache Dir einen
guten Preis“.
Senegal
Susanne Freitag
Der Wunsch nach dem Wechsel
„Es sind doch seit Jahren die gleichen, die da oben sitzen und uns regieren.
Ich habe genug davon“. Niang klingt resigniert. Es ist Wahlkampf im Senegal. In drei Wochen wird ein neues Parlament gewählt. Niang befürchtet, das
es mal wieder so ausgeht, wie immer. Seit 1970 leitet Abdou Diouf die
Staatsgeschäfte, und schon lange vorher, unter dem ehemaligen Staatschef
Senghor, regierte die „Parti Socialiste“, die PS. Sie meint Niang, wenn er von
„denen da oben spricht“. Oppositionsparteien sind seit 1976 zugelassen.
Seitdem ist auch Abdoulaye Wade von der politischen Bildfläche nicht mehr
wegzudenken. Er ist Chef der „Parti Démocratique Sénegalais“ (PDS), der
„einzigen wirklichen Oppositionspartei“, wie er selber sagt. Wade, das Urgestein, inzwischen 73 Jahre alt, will auch in diesem Jahr wieder versuchen, aus
der ewigen Opposition herauszukommen. 18 Parteien stehen zur Wahl. Seit
kurzem gibt es für Diouf und Wade eine ernste Herausforderung. Djibo Leïti
Kâ, früher Mitglied der Regierung, sogar Ziehkind von Abdou Diouf, verließ
mit einigen Parteikollegen unvermittelt die PS, um eine eigene Partei zu
gründen. Jetzt sieht man ihn in Siegerpose auf zahlreichen Wahlplakaten, die
glauben machen wollen, dass „Le Renouveau – Die Erneuerung“, der Schlüssel zur Veränderung sein soll. Niang mag auch daran nicht so recht glauben.
Die Veränderung wird vom Volk geradezu beschworen. „Sopi“ heißt Wechsel
und ist eines der magischen Worte, in diesen Wochen vor der Wahl. Das zweite
Schlüsselwort heißt „Fraude“ und bedeutet Betrug. Wahlbetrug. Glaubt man
Abdoulaye Wade, hätte er schon die letzten Wahlen gewonnen, hätte Dioufs
Partei nicht massiv gepfuscht. Es ist wieder soweit. Mai 1998. Jeden Tag füllen „Fraude“ –Geschichten und –gerüchte die Titelseiten der Tagespresse, und
die Sendungen der oppositionellen Privatradios. Wahlkarten sollen gefälscht
worden oder einfach verschwunden sein. Falsche Ausweise und Führerscheine sind im Umlauf. In den Computern suchen zahlreiche Senegalesen
ihren registrierte Namen, vergeblich. Statt dessen finden sie die Namen von
Toten oder Säuglingen.
Niang hat seine eigenen Erfahrungen mit der „Fraude“ gemacht. „Vorgestern kam ein Freund zu mir“, sagt er. „Er hat mir 10.000 Francs CFA geboten,
damit ich ihm meine Wahlkarte überlasse!“ 10.000 Francs CFA, das sind rund
30 Mark. Für viele Familien ist das mehr, als sie in einer Woche verdienen können. Ein kleines Vermögen, cash auf die Hand. Auch für Niang ist das viel Geld.
Aber er hat abgelehnt. „Mein Freund hätte mit seiner Karte die PS gewählt. Es
ist ein Skandal, was in diesem Land gerade abläuft. Stell dir mal vor, er geht zu
einer Mutter, die gerade nicht weiß, wie sie den Reis und den Fisch für ihr „Thieboudienne“ bezahlen soll – ist doch klar, wie sie sich entscheidet. Ich will, dass
sich hier etwas ändert. Ich werde selbst wählen“.
Susanne Freitag
Senegal
Am Eingang des Betriebshofes des öffentlichen Busunternehmens SOTRAC
sitzen etwa 60 Männer und Frauen. „Wir wollen unser Geld“, haben sie an die
Mauer geschrieben. Sie streiken. Seit vier Monaten haben sie ihren Lohn nicht
bekommen. Man munkelt, die Regierungspartei habe sich mit den Kosten für den
Wahlkampf übernommen, so dass jetzt kein Geld mehr da sei, um die eigenen
Arbeiter zu bezahlen. Streik bei öffentlichen Verkehrsmitteln gibt es regelmäßig,
das Problem ist immer das gleiche.
Der Schulhof im Dakarer Stadtviertel HLM 4 B. Ein sandiger Platz, von der
Straße abgetrennt durch eine Mauer. In der Mitte ein großer Baum. In seinem
Schatten sitzen vier Männer auf einer Bank, ein paar andere stehen zusammen
und diskutieren. In dieser Schule sollen sie ihre Wahlkarten abholen, und seit drei
Tagen ist der zuständige Beamte nicht aufgetaucht. „Seit Tagen nehme ich mir
ein paar Stunden frei“, sagt ein Mann nachdenklich, „und immer ist es umsonst.
Ich will doch demokratisch wählen. Manchmal schäme ich mich ein bisschen,
hier im Senegal zu leben. Seit Jahren versuchen sie hier eine Demokratie einzurichten, aber es funktioniert einfach nicht. Ich glaube, die da oben sind schon
zu lange die gleichen“. Der Wahlbeamte kommt auch heute nicht.
Und trotz allem sollen es in diesem Jahr die demokratischsten, transparentesten
Wahlen seit der Unabhängigkeit werden. Zum ersten Mal gibt es bei den Parlamentswahlen ein unabhängiges Kontrollgremium, die ONEL (Observatoire
national des élections législatives). 165 Mitarbeiter sollen eine durchschaubare,
demokratische Wahlabwicklung sichern, „Fraude“-Vorwürfen nachgehen. Sie
haben schon vor der Wahl alle Hände voll zu tun. „Wir tun alles, damit die Wahlen transparent sind“, sagt der ehemalige General Mamadou Niang, Präsident der
ONEL. Er hat den Status eines neutralen Beobachters, denn senegalesische
Militärs, egal ob im Dienst oder in Rente, können weder wählen, noch gewählt
werden.
„Die ONEL ist ein großer Fortschritt in der Wahlgeschichte des Senegal. Sie
gibt ein bisschen von dem verlorenen Vertrauen zurück“, sagt Penda Mbow. Sie
lehrt Geschichte an der Universität Cheikh Anta Diop in Dakar. „Die demokratischen Institutionen sind doch ansonsten nur leere Hüllen. Wenn man zum
wiederholten Mal sieht, dass eine Wahl zu nichts führt, dann gibt man irgendwann eben auf.
Zwischen Meetings und Marabouts – Der Wahlkampf
Gedränge auf dem großen Platz vor dem Hafen von Dakar. Die Sonne brennt
unerbittlich vom wolkenlosen Himmel. Tausende sind dem Aufruf der Regierungspartei gefolgt, am „Megameeting“ der „Parti Socialiste“ teilzunehmen.
Ousaman Tanor Dieng, Spitzenkandidat der Partei, wird zum Volk sprechen, zum
Senegal
Susanne Freitag
letzten Mal, bevor an den Urnen eine Entscheidung getroffen wird. „Comitée
d’organisation du Megameeting“ steht auf den Anstecknadeln der Ordner, die
inzwischen einige Mühe haben, die aufgeheizte Menge zu kontrollieren. „Meetings“ heißen die bunten Werbeveranstaltungen der 18 Parteien. Seit Wochen touren ihre Vertreter in alle Regionen des Landes, damit jeder sie sehen kann. Politik zum Anfassen. So wollen es die Senegalesen, das hat eine Studie der
Universität St. Louis ergeben.
Bei den „Meetings“ der letzten Wochen gab es Tote und zahlreiche Verletzte.
Die Stimmung wird vorher gründlich aufgeheizt. „Meetings“ beginnen niemals pünktlich, sondern immer so spät, dass die Frauen, die der Partei nahestehen, Zeit haben mit einem bunten Fest die Menge in Stimmung zu bringen. „Wir
sind Menschen des Tanzes, deren Füße Kraft bekommen, wenn sie den harten
Boden stampfen“, so beschrieb der Ex–Präsident und Schriftsteller Leopold Sedhar Senghor den Tanz auf seine poetische Art und Weise. Die Parteien hoffen,
dass auch sie durch den Tanz der Frauen Kraft bekommen, ihr Volk zu überzeugen. Das ist in diesen Tagen nicht leicht. Die Polizei hat eine Eisenbarriere
aufgebaut, um die Ehrentribüne, auf der Ousman Tanor Diengs Rednerpult
bereitsteht, abzuschirmen. Die Menschen harren seit fast vier Stunden auf dem
Platz aus, die Masse tobt. Dann fährt „Tanor“, begleitet vom Geheul zahlreicher
Sirenen, vor. Gut gesichert durch breitschultrige Bodyguards mit Militäranzügen,
Spiegelsonnenbrillen und Handys betritt er die „Meetingarena“. Jetzt gibt es kein
Halten mehr. Die Barrieren fallen, Menschen stolpern übereinander. Ich wundere
mich, dass keine Panik ausbricht. Alle wollen in seiner Nähe sein. Zwei Minuten spricht der Mann, auf den alle gewartet haben, zum Volk, dann zieht er unter
tosendem Beifall wieder zu seiner klimatisierten Limousine, steigt ein und fährt
zum nächsten Termin. Danach löst sich die Menge auf, als sei nichts gewesen.
Der Marktplatz in Rufisque bietet ein ähnliches Szenario. Hier spricht der Vertreter der großen Oppositionspartei, Abdoulaye Wade. Bevor der mit seinem Diskurs beginnt, betet er einige Koranverse. Das haben sie sich immer mehr angewöhnt, die Politiker. Religion ist vielleicht kein Opium fürs Volk, aber sie ist der
wichtigste Faktor in ihrem Leben. Ohne die Grundlage Religion könnten auch
die Politiker nicht überleben. Insgeheim hoffen sie, damit auch die Vertreter der
religiösen Bruderschaften auf ihre Seite zu ziehen. Aus Erfahrung wissen sie,
dass eine Empfehlung des Marabout ihren Wahlsieg bedeuten kann.
Das war noch eine schöne Zeit für Abdou Diouf, als er sich der Unterstützung
der Marabouts gewiss sein konnte. In schöner Regelmäßigkeit verkündete der
große Khalif von Touba seinen „Ndigel“ zur Wahl. Die Talibés folgten und wählten Abdou Diouf. Inzwischen hat sich einiges verändert. Der neue Khalif der
Mouriden, Serigne Saliou Mbacké, interessiert sich weniger für die Politik.
„Meetings“ in der heiligen Stadt hat er streng verboten, und einen „Ndigel“
spricht er nicht aus.
Susanne Freitag
Senegal
„Die Marabouts sind schlauer geworden“, sagt Boubacar Kanté, Rechtswissenschaftler an der Universtität St. Louis und im Spitzengremium der Wahlkontrollorganisation ONEL. „Sie wissen, dass die Wahlen trotz allem immer
demokratischer werden, dass es tatsächlich immer weniger Möglichkeiten gibt,
zu pfuschen. Sie wissen auch, dass sie für eine direkte Wahlempfehlung verantwortlich gemacht werden können. Und sie können sicher sein, dass die Politiker nach wie vor bei jeder großen Entscheidung nach Touba oder Tivaouane fahren, um den Segen für ihr Vorhaben zu bekommen. Sie haben ihre Strategie
verändert und legen sich einfach nicht mehr fest“.
Tatsächlich fahren die Staatskarossen oft in die heiligen Städte. Djibo Ka, der
abtrünnige Ex-Minister der PS, wurde unter großem Interesse der Öffentlichkeit
beim Marabout der Mouriden in Touba gesehen, kurz bevor er das Regierungsbündnis verließ, um mit seiner eigenen Partei in den Wahlkampf zu ziehen.
Inzwischen haben sich die Marabouts auch andere Möglichkeiten der Einflussnahme geschaffen. Mit Handy und Laptop findet man sie an den Schnittstellen zwischen Politik und Wirtschaft. „Marabout Mondains“ nennt man diese
neue Generation, die sich geschickt zu Strippenziehern in politischen und wirtschaftlichen Unternehmen gemacht hat. Die Bedeutung der Marabouts bei den
Wahlen ist nach wie vor da, aber immer schwerer zu durchschauen.
Der Wahltag
Dakar, 24. Mai. An den Kassen des Riesenstadions Iba Mar Diop drängen sich
die Menschen. Sie wollen keine Karten für ein Fußballspiel kaufen, sondern ihre
Wahlkarten abholen. Ich bin mit einem Reportage–Team von „Sud FM“ dabei.
„Sud FM“ ist die größte, private Radiostation im Senegal und zur Zeit einer der
am meisten gehörten Radiosender im Land. Seit fast vier Wochen arbeite ich
dort, und von Anfang an haben mich meine Kollegen wie eine von ihnen behandelt. Mein Kollege Birima Fall und ich sind „Mannschaft 5“. Aus sechs Wahlbezirken werden wir über den Tag hinweg live berichten. Heute sind alle Kollegen ausnahmslos im Einsatz. Alle sind ausgeflogen, in die verschiedenen
Stadtteile Dakars und in die Regionen des Landes. Alle stehen jetzt auf Schulhöfen, in Klassenzimmern, beobachten, fragen, analysieren und berichten. Vier
Wochen Wahlkampf liegen hinter uns, vier Wochen durcharbeiten, ohne einen
einzigen freien Tag, in einem Studio, in dem es überall an Material fehlt.
Die Menschen stehen Schlange vor den abgeschabten Türen einer Schule im
Stadtteil Gibraltar. Auf dem sandigen Schulhof und in den Schulklassen, in
denen sonst Kinder Lesen und Schreiben lernen, drängen sich heute ihre Eltern
und Großeltern. Viele Menschen halten sich kleine Transistorradios ans Ohr. Das
Radio ist das Medium Nummer 1, erst recht seit man im Senegal zwischen meh-
Senegal
Susanne Freitag
reren Sendern wählen kann. Vor 5 Jahren war das undenkbar. Die Privatradios
haben aufgeholt. „Sud FM“ war die erste Radiostation, die überregionale Informationen in französischer Sprache, aber auch in Wolof gesendet hat. Inzwischen
sind andere nachgezogen. Sehr zum Verdruss der Regierungspartei, die bei
ihrem staatlichen Haussender RTS penibel darauf achtet, dass keine Kritik über
den Äther geht. Ein Mann spricht uns an: „Ihr müsst mal da rüber, in die Schule
gehen. Da gibt es Probleme mit der Tinte. Das müsst ihr mal berichten. Sonst
wird doch wieder derselbe Pfusch betrieben, wie beim letzten Mal“.
Die, die ihre Stimme abgegeben haben, erkennt man an ihrem leuchtend pinken Zeigefinger. Den nämlich muss jeder Wähler in einen Topf mit Tinte tauchen,
die man nicht entfernen kann. In die Kabine geht jeder mit 18 Wahlzetteln. Der
„richtige“ Zettel kommt in den Umschlag, 17 andere werden weggeworfen.
Noch Monate später werden die Brotverkäufer in ihren kleinen Holzbuden die
Baguettes in Wahlzettel einwickeln.
Wir folgen dem Rat des aufmerksamen Hörers und gehen in die andere
Schule. Dort ist der Schulhof für die Menschenmassen viel zu eng. Stimmen
werden laut, zwei Leute streiten sich, es kommt zu einem Gerangel. Ein
empörter Wähler kommt aus dem Waschraum. „Da, siehst du, ich habe mir
gerade die Hände gewaschen. Die Tinte ist weg. Das ist „Fraude – Betrug“.
Die Mitglieder des unabhängigen Wahlkommitees sind unterwegs, um neue
Tinte zu besorgen, aber das kann dauern. In einem anderen Raum gibt es
Ärger, weil ein falscher Pass entdeckt wird.
Im Klassenraum 4 kommt ein alter Mann, nachdem er seine Stimme abgegeben hat, zum zweiten Mal herein. „Ich möchte gerne noch einmal wählen“,
sagt er. Die Vorsitzende des Wahlbüros und die Vertreter der ONEL versuchen
ihm zu erklären, dass das nicht geht. Der Mann sieht sie verständnislos an:
„Aber das habe ich bei den letzten Wahlen doch auch immer gemacht“.
Wir treffen Abdoulaye Wade in seiner schattigen, gut klimatisierten Villa im
Nobelviertel Point E. Der in einen blauen Boubou gekleidete, ewige Oppositionelle ist in seinem Element. „Diese Regierung ist schon wieder dabei, uns
zu betrügen“. Längst hat er über das Radio von den vereinzelten Problemen
gehört. „Die Tinte ist abwaschbar, die Büros haben viel zu spät aufgemacht,
Wahlzettel fehlen“. Er zählt die Unregelmäßigkeiten auf, die im Laufe des
Vormittags bekannt geworden sind. Wieder ist von „Fraude“ die Rede. Er kritisiert Staatschef Abdou Diouf, der am Morgen unter großem Aufwand und
großem Medieninteresse in einer Schule gewählt hat. Das sei Wahlkampf.
Diouf habe damit verbotenerweise die Wahlkampagne verlängert. Er selbst ist
optimistisch, dass er der Sieger der Wahlen sein wird.
In der Parteizentrale der „Parti Socialiste“ herrscht schon am frühen Nachmittag Partystimmung. Man gibt sich siegessicher. Musik kommt aus großen
Lautsprechern, die Vorbereitungen für die Wahlparty am Abend laufen schon,
Susanne Freitag
Senegal
obwohl es noch nicht einmal vorläufige Ergebnisse gibt. Wir werden in ein
Besprechungszimmer geführt und dürfen in einer bequemen Sitzecke Platz
nehmen. Man bringt uns eisgekühlte Cola, Wasser, Kaffee und eine große
Dose mit Keksen. Die Partei hat Geld und zeigt es auch. Wir sprechen die Parteifunktioäre auf die Vorwürfe von Wade an. „Das ist typisch für ihn. Aber
offen gesagt: Ihr bei Sud FM tut auch immer so, als sei die PS der einzige
große Wahlbetrüger. Eure Berichterstattung ist wirklich einseitig. Eigentlich
ist es nämlich die PDS, die betrügt“.
Den Vorwurf der einseitigen Berichterstattung lässt Birima nicht auf sich
sitzen, denn gerade bei Sud FM wird auf Ausgewogenheit und Diskurs viel
Wert gelegt. Man diskutiert ein bisschen, bestimmt, aber höflich, wie es
üblich ist im Senegal. Nichts ist so wichtig, wie der Dialog. Selten gehen Menschen im Streit auseinander, ohne eine Lösung gefunden zu haben. Sie bringen sich immer Respekt entgegen, auch am Wahltag.
Hochrechnungen kommen an diesem Tag von uns, den Journalisten. Die
Wahlhelfer zählen die Stimmen per Hand aus. Militärs bewachen die fest verschlossenen Türen, keiner kommt dort hinein. Die Anzahl der Stimmen wird
in vorgedruckte Tabellen eingetragen, und sobald wir die ersten Ergebnisse in
den Händen halten, wird live berichtet.
Das Ergebnis
Die endgültigen Wahlergebnisse werden erst Wochen später bekanntgegeben. Die PS hat erkennbar die meisten Stimmen. Doch vor allem im Großraum Dakar hat sie einige Bezirke verloren. Im Viertel HLM 4B hat sie
keine Mehrheit bekommen. Abdoulaye Wade hat unter anderem in Touba die
meisten Stimmen erhalten. Er hatte dort einen Marabout als Kandidaten aufgestellt. Das bringt Punkte. Die Regierungspartei musste empfindliche Dämpfer hinnehmen. Ihr Abtrünniger Djibo Ka fuhr ein fulminant gutes Ergebnis
ein. „Es ist ein Schritt in die richtige Richtung“, meint Birima, „wir sind auf
dem Weg, eine Demokratie zu werden.“
In den Wochen nach der Wahl wird noch viel über das Ergebnis diskutiert.
Abdoulaye Wade und sechs andere Oppositionsparteien wollten die Wahl für
ungültig erklären. Mamadou Diop, Bürgermeister von Dakar und Kandidat
der PS, weigerte sich, anzuerkennen, dass er von den politischen Gegnern in
manchen Bezirken der Hauptstadt aus dem Rennen geschlagen wurde. Die
„Fraude“–Diskussion ist nach dem Wahltag noch lange nicht vorbei. Eines ist
klar: Einen wirklichen Wechsel hat es nicht gegeben. Die PS bleibt die dominierende Kraft im Staat. „Aber“, so Boubacar Kanté von der ONEL, „das
Bewusstsein des Wählers hat sich verändert. Sicherlich hat es Unregelmä-
Senegal
Susanne Freitag
ßigkeiten gegeben, aber sie kamen keinesfalls nur von Seiten der PS, sondern
von allen Parteien gleichermassen. Ich glaube, sie hatten nicht einmal Einfluss
auf das Endergebnis“. Im neuen Parlament hat die „Parti Socialiste“ nun 93
von 140 Sitzen, Abdoulaye Wade und seine PDS haben 23 Sitze gewonnen.
Djibo Ka und seine „Renouveau“ sind nach ihrer „Wir sind der Schlüssel zum
Wechsel“– Kampagne mit 11 Sitzen im Parlament vertreten. Damit steht in
diesem Jahr fest: Es ist nicht mehr gottgegeben, dass die Regierungspartei
immer an der Spitze steht. Zum ersten Mal haben die Wähler gesehen, dass
ihre Stimme etwas bewirkt.
Ein Marabout im Parlament – Cheikh Adoulaye Dièye
Sein schneller Einzug ins Parlament hat viele überrascht. Cheikh Abdoulaye Dièye, der Marabout, zog mit seiner Partei FSDBJ (Front pour le Socialisme et la Democratie – Benno Jubel) auf Anhieb ins neue Abgeordnetenhaus ein und stach damit viele der kleinen Parteien aus, die schon seit Jahren
auf dem politischen Plan sind. Ich treffe Cheikh Abdoulye Dièye in seinem
Haus. In einem großen, kahlen Raum sitzen vier Männer auf dem Boden.
Einer beginnt zu beten, ein anderer singt Koranverse. Dièye ist ihr Lehrer. Ein
blendender Rhetoriker. Kenner sagen, er habe eine der besten Wahlkampagnen gemacht, aber auch eine der demagogischsten. Er ist ein sehr umstrittener Parlamentarier. Vor allem deshalb, weil er als spiritueller Führer einer Bruderschaft der in der Verfassung festgeschriebenen Trennung von Kirche und
Staat entgegensteht, und zudem nur eine religiöse Minderheit vertritt. Er
selbst sieht das anders. „Ich bin nicht als Mouride angetreten, sondern als Politiker. Ich setze mich dafür ein, dass die Grundwerte wieder in die Politik
zurückgebracht werden. Außerdem haben mich nicht nur Mouriden gewählt,
sondern auch Vertreter anderer religiöser Gruppierungen“. Er übt heftige
Kritik an der Politik, in der immer mehr gelogen werde.
Für viele mag er eine Art letzte Rettung gewesen sein. Wie nie klammern
sich die Menschen an die Religion, und damit hatte er als Marabout von
Anfang an gute Karten. „Das Problem ist, dass die Menschen die Politiker
nicht mehr ernst nehmen können. Sehen sie sich das Schauspiel doch an.
Immer wenn sie etwas Wichtiges tun müssen, fahren sie nach Touba und nach
Tivaouane, um sich den Segen ihres Marabout zu holen. Anstatt die Religion
zum Ausgangspunkt ihres Handelns zu machen, handeln sie erst, und holen
sich dann die spirituelle Genehmigung dafür. Die Religiösen werden von den
Politikern missbraucht, sie werden als Zugpferde für eine bestimmte Wählerschaft gesehen, weil man sie, je nach Interesse, manipulieren kann. Dann
benutzt man sie in der heißen Phase des Wahlkampfes, um sie anschließend
Susanne Freitag
Senegal
wieder fallen zu lassen. Ab ins Kämmerlein, zum Beten. Das ist doch unseriös“. Seine Worte klingen wie gedruckte Wahlbroschüren, er mustert mich
mit einem direkten und doch ein bißchen abschätzigen Blick.
Dièye will zurück zur traditionellen senegalesischen Familie, ist ein Befürworter der Polygamie. Von dem 1972 eingeführten Gesetz zum Schutz der
Familie hält er wenig. Das seien Werte aus der westlichen Welt, und dort könne
man schließlich sehen, dass die gesellschaftliche Moral immer mehr verfalle.
Befürworter einer modernen Gesellschaft im Senegal sind skeptisch. Vor
allem Frauenverbände befürchten, dass die Wahl von Cheikh Abdoulaye
Dièye für die Durchsetzung ihrer Interessen einen Rückschritt bedeuten
kann. „Frauen können sich jetzt scheiden lassen“, sagt er, „aber schauen Sie
doch, wo das hinführt. Was wird aus den Kindern? Diese verlorenen Kinder
gab es früher nicht. Wenn ein Staat ein neues Familienrecht einführt, dann
muss er auch die Verantwortung tragen.“ Die traditionelle senegalesische
Familie als Dreh- und Angelpunkt des Lebens – damit ist auch klar, welche
Rolle der Frau in der Gesellschaft zukommt.
„Mit ihm kommen diese ganzen alten Fragen wieder hoch“, fürchtet Codou
Bop, die an einem Frauenforschungsprojekt arbeitet. „Die Verbesserungen, die
im Laufe der letzten zwanzig Jahre erstritten wurden, werden plötzlich wieder in Frage gestellt“. Tatsache ist, dass der Marabout in der Beliebtheitsskala
der Bevölkerung sehr weit oben steht. Die Wähler halten ihm zugute, dass er
sich im Wahlkampf und bei der Eröffnung der neuen Legislaturperiode vor
allem in einem Punkt von anderen Politikern unterschieden hat: Er stellt das
Volk und die Menschen in den Mittelpunkt, nicht das Geld und die Macht. Das
hat es bei den etablierten Parteien schon lange nicht mehr gegeben, und
damit ist er zwar ein konservativer, aber ein glaubwürdiger Politiker.
Cheikh Amadou Bamba Superstar – Pilgern zum großen Magal
An der Nationalstraße 1 von Dakar nach Rufisque steht eine riesige Menschentraube. Mit großen Gepäcktaschen im Arm oder auf dem Rücken warten sie auf die selten gewordenen Transportmittel, die sie in die heilige Stadt
Touba bringen sollen. Dort findet an diesem Wochenende das größte religiöse Ereignis des Jahres statt: Die große Pilgerfahrt des Magal. Drei Tage lang
wird die Rückkehr des Sektengründers Cheikh Amadou Bamba aus dem
Exil gefeiert. Ich sitze gemeinsam mit meinem Kollegen Khaly Seck und
Ahmad, einem Zeitungskollegen, im Teamwagen von Sud FM. Aus dem
Cassettenrekorder tönen Männergesänge. Es sind Lieder, die das Leben
Cheikh Amadou Bambas besingen. Es klingt, als hätten sie sich in Trance
gesungen, fremdartig für europäische Ohren. Der Magal zieht in jedem Jahr
Senegal
Susanne Freitag
weit mehr als eine Millionen Menschen aus dem Senegal und aus anderen islamischen Staaten an. In diesem Jahr werden 1,5 Millionen Pilger erwartet,
mehr als je zuvor. Beobachtet man das Straßenszenario, erscheint das durchaus glaubwürdig. Schon wenige Kilometer hinter der Stadtausfahrt von Dakar
geht auf den Straßen gar nichts mehr, und am Rand stehen immer noch Tausende und warten.
Khaly Seck, der als Radiokorrespondent über das religiöse Superereignis
berichten wird, ist aufgeregt. Auch dem Kollegen der Zeitung merkt man die
Spannung an: Beide sind selbst überzeugte Mouriden. Ich sitze mit gemischten Gefühlen auf der Rückbank. Wie wird es sein, wenn sich Millionen Menschen in einer einzigen Stadt drängen? „Der Magal ist unser größtes Fest“,
begeistern sich meine Kollegen, „du wirst schon sehen, das ist wirklich etwas
besonderes“. Daran habe ich schon länger keinen Zweifel mehr. Dann werden
sie ruhig. Blättern beide im „Destinée du mouridisme“, einem Pamphlet, in
dem die Grundsätze des Mouridismus und die große Bedeutung von Cheikh
Amadou Bamba euphorisch beschrieben werden. Ich schaue aus dem Fenster.
Alles, was vier Räder hat, ist mobil gemacht worden, um so viele Menschen
wie möglich zu transportieren. Die blau-gelben Kastenwagen, die „Car
Rapid“, sehen aus wie fahrende Sardinendosen. In einem Wagen, in dem man
gedrängt 20 Personen unterbringen kann, sitzen und stehen jetzt bis zu vierzig Menschen. Auf dem Dach, wo normalerweise das Gepäck transportiert
wird, sitzen sie dichtgedrängt, andere hängen sich einfach an die hinteren
Türen, um dann stundenlang im Stau zu stehen oder eben zu hängen. Wir fahren an einem qualmenden Wrack vorbei, einer dieser völlig überladenen
Kleinbusse ist einfach in den Graben gekippt. Ich denke an die Menschen auf
dem Dach.….
In jedem Jahr gibt es Tote, aber das scheint an diesem Tag keine Rolle zu
spielen. Riesige Transportlaster quälen sich durch die völlig verstopfte, stinkende Straße und verdecken zeitweise den Blick auf die imposanten Baobab–Felder. Auf den schmalen Kanten der meterhohen Seitenwände sitzen sie
dichtgedrängt, wie auf Pferderücken. Ein Zustand, den man nach meinem
westeuropäischen Empfinden nicht mal eine Viertelstunde aushalten kann,
ohne fürchterliche Schmerzen zu bekommen oder irgendwann einfach runterzufallen. Die großen Transporter werden hier „Où sommes nous? – Wo sind
wir?“ genannt. Die Menschen, die im Inneren zusammengepfercht sitzen,
sehen während der ganzen Fahrt nur den Himmel. Deshalb fragen sie immer
wieder, wie weit sie inzwischen schon gekommen sind. Die Wagen gleichen
überfüllten Viehtransportern. Parallel zur Straße verläuft die Eisenbahnlinie,
auf der normalerweise Erdnüsse transportiert werden. Heute schleppt sich dort
ein Zug entlang, den man kaum noch als Zug erkennen kann. Pilger quellen
aus Fenstern und Ladeluken, das Dach ist eine schwarze Menschenmasse, und
Susanne Freitag
Senegal
in den Zwischenräumen, die zwei Waggons voneinander trennen, ist kein
Millimeter Platz mehr. Auch dort drängen sich die Pilger, festgeklammert an
allen greifbaren Vorsprüngen. Auf der Gegenfahrbahn kommen die leeren
Fahrzeuge zurück, die die ersten Massen in Touba abgeladen haben. Sie fahren jetzt wieder nach Dakar, um die zu holen, die dort immer noch warten.
Trotz allem sehen die Pilger glücklich aus. Sie lachen, scherzen miteinander,
treffen sich. Sie sind vereint in dem festen Willen, auch in diesem Jahr wieder mit
dabei zu sein. Touba ist in diesen Tagen eindeutig die Hauptstadt des Landes. Wer
zum Magal in die Stadt kommt, wird untergebracht und verpflegt. In unserer
Unterkunft, einem großen Haus im Stadtzentrum, wohnen an diesem Wochenende fast 300 Menschen. „Herzlich Willkommen“, begrüßt mich der Hausherr,
ein sehr zurückhaltender Mann. „Wir freuen uns, dass sie gekommen sind, um
mit uns den Magal und Cheikh Amadou Bamba zu feiern“. Überall in den Räumen und in allen Fluren liegen Matratzen. In einem der Zimmer hat Sud FM ein
Studio improvisiert. Von hier aus wird die gesamte Berichterstattung gemacht.
Ich sehe aus dem Fenster auf eine Straßenkreuzung, sie ist voll mit Abfällen.
Es ist fast unmöglich in die Nähe der weithin sichtbaren, prächtigen
Moschee zu gelangen. Sie scheint in ein Menschenmeer gebaut zu sein. Die
ganze Straße ist eine wogende Pilgermenge. Einmal mittendrin, hat man
keine andere Wahl, als sich mitdrängeln zu lassen. Der Blick der Menschen
ist merkwürdig verklärt. Viele singen, so wie ich es zuvor im Auto gehört
habe. Schon tagsüber drängen Massen von Menschen zu den heiligen Gebetsstätten. Zur Moschee, zur Bibliothek, zum Friedhof und zu den Häusern der
Marabouts. Allesamt Prachtbauten, wie ich sie bis dahin nirgendwo im Senegal gesehen habe.
Vor den Toren der Moschee sitzt ein Bettler neben dem anderen. Ihre Körbe
sind randvoll mit Silbermünzen. Der Magal öffnet den Gläubigen Herz und Portemonnaie. Eine Frau, die vor mir im Gedränge steht, bricht in Tränen aus. Nicht
aus Trauer, sondern aus religiöser Extase, wie man sie hier häufig beobachten
kann. Den Blick völlig entrückt, einfach im vollkommenen Glück in Touba zu
sein.
Am reichlich mit Gold verzierten Schrein des heiligen Cheikh Amadou
Bamba, im Inneren der prächtigen Moschee, stehen Ordner, die dafür sorgen,
dass die Pilger etappenweise hereingelassen werden. Die Gläubigen stürmen die
Kammer regelrecht, wenn sie an der Reihe sind. Es regnet Geldstücke, die jeder
Pilger beim Eintreten in den Raum wirft. Auf dem Boden sammelt sich ein Vermögen an. Mehrmals am Tag tragen die Ordner ganze Säcke voller Bargeld aus
den heiligen Stätten heraus. Vergoldeter Glaube.
Ich habe mir für den Magal einen traditionellen Boubou anfertigen lassen. Der
Stoff ist dick, die Hitze ist unbeschreiblich. „He, guck mal, die Toubab, sie hat
einen Boubou an, willkommen beim Magal“, sagt ein kleiner Junge. Viele
Senegal
Susanne Freitag
begrüßen mich freundlich, sie freuen sich ehrlich, dass ich ihr größtes Ereignis
mit ihnen teile, Interesse habe, an dem, was sie am meisten bewegt. Ich habe
inzwischen einen Punkt erreicht, an dem ich nichts mehr aufnehmen kann. Ich
bin einem Kreislaufkollaps nahe. Der Magal überfordert die Sinne. Überall
Menschen, festlich gekleidet. Die Geräuschkulisse bilden ihre Gesänge, ihre
Gebete und das Geschrei der Markthändler, die am Rande das Geschäft ihres
Lebens machen. Dazwischen hupende Autos, die einfach in die Menge hineinfahren. Es riecht nach Schweiß, Urin, Abgasen und Müll – und es gibt kein Entrinnen.
Die Häuser der Marabouts sind marmorne Gemächer. Die Luft wird den
spirituellen Führern gleich von mehreren Seiten zugefächelt, während draußen eine nahezu mörderische Hitze herrscht und zu Eisblöcken gefrorenes
Wasser reißenden Absatz findet. Die Menschen vor der Tür haben irgendwo
in den Tiefen ihrer prächtigen Boubous unendlich viel Geld verborgen. Über
die Summen redet niemand. Insgesamt sind es Milliarden. Sie tragen sie in die
Häuser der Geistlichen, auch wenn sie selbst kaum etwas haben. „On contribue – wir tragen etwas bei“, das ist für sie die wahre Erfüllung. Haben sie
einen Tag vorher noch gebettelt, stehen sie jetzt hier, um das erbettelte Geld
demjenigen zu geben, der für sie eine Verbindung zu Gott herstellen soll.
Durch den Marabout erhoffen sie sich den Zugang zum Paradies.
Vor der Pilgerfahrt habe ich Khaly Seck in seinem kleinen Zimmer mit den
schimmeligen Wänden besucht und gefragt, ob es ihn nicht störe, dass der
Marabout in unendlichem Luxus lebt und andere Menschen gar nichts haben.
Er musterte mich mit einem Blick, der mir deutlich machte, dass man als
Mitteleuropäer wirklich gar nichts verstanden hat. Wahrscheinlich stimmt das
sogar. „Nein“, sagte er, „das muss so sein. Der Marabout braucht diese Umgebung, damit er seine Arbeit machen kann. Er muss sich jeden Tag die Sorgen der Talibés anhören, da ist es nur gerecht, wenn er sich um seinen materiellen Wohlstand keine Sorgen machen muss“. Auch Khaly hat zum Magal
ein Vermögen mitgebracht. „Wenn ich meinen Beitrag leiste, dann hilft mir
der Marabout später vielleicht ins Ausland zu kommen, wenn Gott es will.
Oder er hilft einem Arbeitslosen, sich mit einer Boutique selbständig zu
machen, und gibt ihm das Startkapital. Wenn dir jemand etwas gibt, dann wirst
du sicher auch eine Möglichkeit finden, ihm etwas zu geben. Du wirst sicher
auch noch eine Gelegenheit finden, mir etwas zu geben, für das, was ich im
Moment für dich tue. Du kannst mir dein Cassettengerät geben. Das käme mir
sehr entgegen“. Er sagt das nicht im Scherz. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Am letzten Tag, ein großer Teil der Pilger ist schon wieder auf dem Weg
nach Hause, wird die Straße vor der großen Moschee weiträumig abgesperrt.
Dann fährt unter dem Getöse heulender Sirenen eine Staatskarosse nach der
anderen vor: Die offizielle Delegation macht dem großen Khalifen ihre Auf-
Susanne Freitag
Senegal
wartung. Lamine Cissé, der Innenminister des Landes, überbringt die Grüße
des Präsidenten. Ein großer Teil des Kabinetts ist vor Ort, auch Abdoulaye
Wade fährt vor. Gemeinsam mit den Vertretern der großen Familien des Landes empfangen sie den Segen des großen Khalifen. Damit wird die Pilgerfahrt
endgültig zur eindrucksvollen Demonstration der religiösen Macht in einem
Staat, der sich selbst als laizistisch bezeichnet. Es ist eben ein Land voller
Gegensätze.
Touba, die heimliche Hauptstadt
Touba ohne Pilger, die Straße ohne Stau. Erst jetzt wird mir bewusst, wie
gut sie ausgebaut ist. Die große Moschee liegt vor uns. Seit Jahren ist das
imposante Gotteshaus eine Baustelle. Die Moschee soll niemals fertig werden,
weil jeder Khalif seinen eigenen Stil mit einbringen soll. Im Moment ist es
Serigne Saliou M’Backé. Er hat tonnenweise teuersten portugiesischen Marmor importieren lassen, um damit die Außenfassade neu zu schmücken.
Innen sind zahlreiche Wanderarbeiter aus mehreren afrikanischen Ländern
dabei, komplizierte Ornamente in Gips zu meißeln. Anschließend sollen sie
bemalt werden. Für den Bau der großen Moschee wurden im Jahre 1997 allein
300 Millionen Francs CFA gesammelt. Eine Reihe von Unternehmen hat sich
zusammengeschlossen, um „einen Beitrag zu leisten“. Die Gesamtkosten
werden auf weit mehr als 10 Milliarden Francs geschätzt. Hier scheint das
ganze Geld zu sein, das dem Land sonst an allen Ecken fehlt.
Die Mouriden stellen ihrem Marabout den Mittwoch zur Verfügung. Früher fanden sich an diesem Tag tausende Gläubige auf den großen Erdnussfeldern der Mouriden ein, um einzig und allein für Gotteslohn zu schuften.
Heute können sie am Mittwoch auch andere Tätigkeiten verrichten, solange
sie nur der Gemeinschaft dienen.
„Bamba ist physisch nicht mehr da, aber seine Geschichte geht hier weiter“.
Wir sind im Zentrum der studentischen Organisation mit dem komplizierten
Namen Hizbuthutharkhiya. Am Rande von Touba betreiben sie ein imposantes
Forschungs- und Lehrzentrum, das im ganzen Land seinesgleichen suchen
muss. Eine geistige Elite, Lehrer, Rechtsanwälte, Ärzte, zieht hier die Fäden, im
Dienst von Cheikh Amadou Bamba oder seines irdischen Vertreters, des großen
Khalifen. Die Organisationsstruktur ist, wie in der gesamten Bruderschaft,
streng hierarchisch. „Wir sind in verschiedenen Divisionen organisiert“, erklärt
unser Fremdenführer beim Gang durch das gut abgeschottete Zentrum. Es gibt
einen Hygieneservice, eine Abteilung für Finanzen, medizinische Versorgung,
Kultur, Kommunikation, Ausbildung“. Über 300 kleine Talibés lernen in der
hauseigenen Schule den Koran. Ihre Eltern geben sie für Jahre bedingungslos in
die Hände der Marabouts, auch wenn sie von ihm zum Betteln auf die Straße
Senegal
Susanne Freitag
geschickt werden. Die Kinder haben gerade Pause. Kleine Kerle in bräunlichen
Einheitsjacken, die ihnen am dünnen Körper herunterhängen. Ich will ein Foto
machen, werde aber sofort zurückgepfiffen. Fotografieren innerhalb des Gebäudes streng verboten. Wir kommen zu einem prachtvollen Gebäude, das anlässlich des 100. Magal vor drei Jahren errichtet wurde. Ein riesiger Rundbau,
innen eine Halle mit großen Ohrensesseln, Büchern, Bildprojektoren, Gebetsteppichen. Zwei überlebensgroße Bilder von Cheikh Amadou Bamba dominieren den Raum. Nebenan stehen zwei Villen. Eine für Frauen, eine für Männer.
Hier werden am Magal die Ehrengäste untergebracht. Sie haben einen Blick auf
das luxuriöse Haus des großen Khalifen und eine eigene Moschee.
Die Anlage verfügt über eine moderne Großküche mit eigener Bäckerei und
Metzgerei. Heute arbeitet hier niemand. Vor kurzem, bei der großen Pilgerfahrt, waren hier hunderte Menschen mit der Verpflegung der Gläubigen
beschäftigt. In einem großen Hof kochen sieben Frauen in riesigen, gusseisernen Kochtöpfen das Essen für die Talibés und für die anderen Personen im
Haus. Beim Magal waren im gleichen Hof 300 Kochtöpfe der gleichen Größe
im Einsatz. Tausende Menschen wurden von hier aus versorgt.
Rund um die Stadt sind viele Baustellen entstanden. Touba expandiert. Viele
Senegalesen bauen hier ein Ferienhaus, statt an der Küste. Zur Zeit wird ein
eigener Flughafen geplant. „Radio Touba“ soll schon bald auf Sendung gehen
und ein riesiges, eigenes Krankenhaus ist im Bau. Touba ist eine Stadt im Aufbruch. Betrachtet man die Reichtümer, die hier in den Aufbau einer intakten
Infrastruktur gesteckt werden, hat Touba Dakar schon heute den Rang abgelaufen.
Frauen im Senegal
Eine schwerverletzte Frau wird ins Hôpital Dantec eingeliefert. Sie hat Knochenbrüche und mehrere Wunden. „Nicht bestimmbare Unfallursache“ steht
in dem Krankenhausbericht. Ulrike Schmidt, Ärztin im Praktikum aus Berlin, hat Dienst an diesem Tag. „Wir haben erfahren, dass diese Frau die dritte
Ehefrau einer Familie ist. Es hat Streit gegeben. Aber das dürfen wir in dem
Bericht nicht schreiben. Offiziell ist sie verunglückt“.
Fatou ist 22 Jahre alt, studiert Englisch an der Universität Cheikh Anta
Diop. Ihr Vater sitzt den ganzen Tag zu Hause und betet. In diesen Tagen feiern
sie den Gamou, den Geburtstag des Propheten. Dann pilgern, wie beim
Magal, die Gläubigen nach Tivaouane. Die ganze Familie ist an diesem Tag
versammelt, arbeiten sieht man vor allem die Frauen. Es ist eine unüberschaubare Gruppe von etwa vierzig Menschen. Fatou stellt mir zuerst ihre
Mutter vor, dann eine andere Frau: „Das ist die zweite Frau meines Vaters“,
Susanne Freitag
Senegal
sagt sie. Ich frage sie, ob sie es sich vorstellen könne, eine von zwei Ehefrauen
zu sein. „Nein“, lacht sie. „Ich wäre viel zu eifersüchtig“. Ich frage sie, was
sie tun könne, wenn ihr Mann sie vor vollendete Tatsachen stellen würde.
Würde sie ihn verlassen? „Nein, verlassen kann ich ihn deswegen nicht“, gibt
sie zu, „nicht wegen einer zweiten Frau“.
Marie ist 19 und bildhübsch. Zur Zeit ist sie arbeitslos. Manchmal kann sie
als Kleidermodel bei Modeshows arbeiten. Früher jobbte sie in einem libanesischen Restaurant. Bis der Besitzer sie vor die Wahl stellte. Entweder sie
geht mit ihm ins Bett, oder sie ist ihren Job los. Marie zog es vor, den Job aufzugeben. Jetzt arbeitet dort eine andere junge Frau. Marie lebt allein mit ihrer
Mutter. Ihr Vater hatte drei Ehefrauen, ihre Mutter war die „Dritte“ und todunglücklich dabei. Sie ließ sich scheiden. Für Marie steht seitdem fest, dass
sie nur einen Mann mit modernen Einstellungen heiraten wird. „Für meine
Mutter war das eine Qual“, sagt sie, „bei mir soll es einmal besser sein“.
Bis zu vier Frauen darf ein senegalesischer Mann heiraten, wenn es nach
dem Koran geht. Voraussetzung ist, dass er sie alle ernähren kann und alle
gleich gut behandelt. Viele Frauen kennen eine andere Realität. Ich treffe
Codou Bop. Sie koordiniert die Arbeit der Forschungsgruppe „Grefels“, die
die Situation der Frauen unter muslimischem Recht untersucht. Die Polizei in
Kaolack hat eng mit ihnen zusammengearbeitet. Sie waren bei Gerichtsprozessen dabei, haben Zeitungen analysiert und festgestellt: Die Gewalt
gegen Frauen im Senegal hat zugenommen, aber keiner will darüber sprechen.
„Es gibt Vergewaltigungen. Frauen werden geschlagen und übel zugerichtet.
Aber selbst wenn die Polizei eingreift und der Sache nachgeht, selbst wenn die
Fälle vor Gericht landen: Geregelt werden solche Verbrechen nicht von der
Justiz. Die Familien machen das unter sich aus“, erklärt Codou Bop, „damit
keiner das Gesicht verliert. Welche Konsequenzen das letztendlich für die
Frauen hat, will dann keiner mehr wissen. In den seltensten Fällen lösen sich
die Probleme zu ihren Gunsten. „Sutura“ bezeichnet einen der Grundwerte im
Senegal: Den Schein wahren. Gäbe eine Frau zu, dass ihr Mann sie schlecht
behandelt, könnte das auf sie selbst zurückfallen. Vielleicht verdient sie es so?
Vielleicht kann sie ihre Kinder nicht ernähren? Nur eins von vielen Problemen, mit denen sich die Forschungsgruppe beschäftigt.
Tausende Mädchen, die genaue Zahl ist nicht bekannt, werden jährlich auch
im Vorzeigestaat Senegal immer noch beschnitten. Die grausame Zeremonie
findet in abgelegenen Dorfhütten statt, meist durchgeführt von den älteren
Frauen des Dorfes oder der eigenen Großmutter. Viele Kinder sterben an
Infektionen, denn die „Operation“ wird meist ohne Betäubung und Desinfektionsmittel durchgeführt. „Wir haben die Männer darauf angesprochen“,
sagt Codou Bop, „sie ziehen sich einfach aus der Affäre. Mit dem Argument:
„Das machen doch die Frauen, wieso sollen wir dann daran schuld sein?“
Senegal
Susanne Freitag
Aber gerade in ländlichen Gebieten ist eine unbeschnittene Frau nicht
gesellschaftsfähig, sie kann nicht verheiratet werden. Das aber ist zum Überleben notwendig, die Familien haben aus ökonomischen Gründen keine
andere Wahl. Ein Bewusstsein für die gesundheitlichen Risiken gibt es in den
ländlichen Gebieten nicht. Das niedrige Bildungsniveau dort, die Tatsache
dass über 70% der Frauen nicht einmal lesen können, macht es schwierig,
Aufklärung zu betreiben. Und bei den Männern und den Marabouts in den
Dörfern fehlt das Verantwortungsgefühl. In der Nähe von Kaolack hat es eine
Frauengruppe mit Hilfe von „Grefels“ geschafft, das Bewusstsein so zu verändern, dass sich das gesamte Dorf jetzt kollektiv gegen die Beschneidung
gewandt hat. „Die Situation ist besser geworden, in den letzten zwanzig Jahren, aber es gibt noch viel zu tun“, sagt die kämpferische kleine Frau. „Vor
allem muss der Staat eingreifen für seine Frauen, auf denen viel zu oft die
gesamte Last der Erziehung und Ernährung der Familie liegt. Wenn der Staat
nicht dafür sorgt, dass das Bildungsniveau ansteigt, dann werden wir diese
Probleme ewig haben. Die Menschen müssen sich doch erst einmal bewusst
werden können, was mit ihnen passiert“. Solange sich an der Bildungssituation im Staat nichts ändert, setzt Codou Bop auf gezielte Aufklärungskampagnen. Denn die Einschulungsraten, die der Senegal heute vorzuweisen
hat, sind alles andere als ermutigend.
Das Dorf am Rande der Wüste
Endlos zieht sich die staubige Straße hinauf in den kargen Norden des Senegal. Seit acht Stunden bin ich unterwegs und habe schließlich nur noch einen
Wunsch: Einfach irgendwann ankommen. Mein Ziel ist das Dorf Medina Ndiatebe, das nur noch wenige Kilometer von der mauretanischen Grenze entfernt
ist. Je weiter wir nach Norden kommen, desto karger wird die Landschaft. Den
letzten Hinweis auf so etwas wie Zivilisation habe ich vor vier Stunden in St.
Louis gesehen, sieht man von dem großen Werbeplakat mit dem Marlboro–Mann einmal ab, das in dieser Umgebung mehr als grotesk erscheint.
Die heiße Luft verschlägt mir den Atem, als der Kleinbus einen Zwischenstopp macht. Ich steige aus, und muss mich sofort wieder setzen. Schwer vorzustellen, dass man dieses Klima länger als einen Tag überstehen kann. Ein
Mann steigt zu, nachdem er eine lebendige Ziege auf das Dach des Busses
gebunden hat, auf dem sich meterhoch das Gepäck türmt. Weiter geht’s. Ich
sitze direkt an der offenen Türe, dort wo der Boy Fahrgeld kassiert und Passagiere einlädt. Plötzlich fängt es an zu regnen. Das zumindest denke ich im
ersten Moment, als mir Wassertropfen ins Gesicht spritzen. Ein Blick nach
draußen zeigt mir: Regen kann das nicht sei. Der Boy ist außer mir der ein-
Susanne Freitag
Senegal
zige, der auch etwas abbekommt. Er riecht an seinen Fingern. Mein Verdacht
bestätigt sich, als ich die gelben Flecken auf meinem T-Shirt sehe: Ich werde
von der Ziege auf dem Dach bepinkelt. Schicksalsergeben warte ich auf das
Ende dieser Reise. Nach einer weiteren Stunde Fahrt durch die endlose Steppenlandschaft sieht man sie endlich: Die große Wasserpumpe, die das ganze
Dorf dominiert. Ich bin angekommen.
„Das kann nur der Marabout entscheiden“
Wir sitzen auf einer Bastmatte unter dem Schatten eines Baumes, der die allerschlimmste Hitze nur notdürftig abhält, im Hof einer bescheidenen Lehmhütte.
Mamadou hat mich eingeladen. Engagiert betreut er im Dorf mehrere Projekte.
Er will die Entwicklung in der kargen Region voran bringen. Der Empfang bei
ihm ist warm und herzlich, trotzdem sieht Mamadou immer traurig aus. In den
Tagen meines Aufenthaltes im Dorf habe ich ihn nicht ein einziges Mal lachen
sehen. Er gehört zur Familie des großen Dorf–Marabouts, der auch überregional sehr einflussreich sein soll. In der Gegend des Fouta überwiegt die Bruderschaft der Tidjanen. Mamadou will mir helfen, einen Termin beim Marabout zu
bekommen. „Was willst du genau wissen? Ich muss seinem Sohn deine Fragen
übermitteln, dann sagt er uns, ob wir einen Termin bekommen können“. Es ist
schwierig. Eigentlich möchte ich wissen, welche Aufgaben ein Marabout in
einem solchen Dorf hat, wer zu ihm kommt, wo er die Anliegen der Region und
des Dorfes sieht. Am Mittag bekommen wir einen Termin beim Sohn des großen Marabouts. Bei ihm werde ich „vorbesichtigt“. Es sind ein paar hundert
Meter bis zu seinem Haus, aber bei der Hitze kommt es mir vor, wie ein nicht
enden wollender Gewaltmarsch. Ein schmaler Sandweg führt dorthin, vorbei an
einer hübschen, gelben Moschee. An ihrem Fundament sitzt ein Talibé mit einer
Holztafel in der Hand und singt versunken einen Koranvers. Je näher wir dem
Haus kommen, desto mehr Talibés sitzen am Straßenrand. Wir nähern uns
einem riesigen, für die Verhältnisse des Dorfes sehr luxuriösen Haus. Hier
wohnt der Sohn, gemeinsam mit seinen drei Frauen. Hier wird auch der Koran
gelehrt, im Hof sitzt eine Gruppe von jungen Männern und schreibt Verse auf
Holztafeln. Fast eine Stunde warten wir in einem mit dicken Teppichen ausgelegten Raum, in dem sich nichts außer einem großen Wandvorsprung befindet,
der uns als Bank dient.
Der Sohn des Marabout ist ein korpulenter, breitschultriger Mann, der uns in
Jogginghose und T-Shirt empängt. Er spricht kein Französisch, oder will es
nicht sprechen. In der Fouta–Region ist man auf die ehemaligen Kolonialherren
nicht gut zu sprechen und vermeidet ihre Sprache wo immer es geht. Mamadou
übersetzt. Er werde die Fragen an seinen Vater weiterleiten, sichert mir der
Senegal
Susanne Freitag
Sohn zu, mit der Bitte, am Nachmittag noch einmal zu erscheinen um endgültig zu klären, ob ich den Marabout sehen darf. Wer hätte gedacht, dass das so
kompliziert ist? Ich frage Mamadou, ob er denkt, dass wir einen Termin bekommen. Er antwortet ernst: „Das kann nur der Marabout entscheiden“.
Der Marabout des Dorfes wohnt in einem riesigen Haus, weniger modern als
das seines Sohnes. In einem großen Innenhof sitzen mehrere Dutzend junger
Talibés im Kreis, in der Mitte eine große Schüssel mit dem Nationalgericht
„Thieboudienne“ – Fisch mit Reis. Das Essen sieht ärmlich aus, als habe man für
die Kinder nur die Reste verwertet. Sie lachen verstohlen und schauen zu der
„Toubab“, die mit einem Tuch ihren Kopf verhüllt hat, um zum großen Marabout
zu gehen. Am hinteren Ende des Hofes ist das Zimmer des Marabouts El Hadj
Hamdou Rabbi Ndiath. Ich schätze sein Alter auf etwa 70 Jahre. Mit Touba ist
das hier überhaupt nicht vergleichbar. Der Boden ist aus Lehm statt aus Marmor,
immerhin sitzt das geistliche Oberhaupt auf einem bequemen Teppich. Trotzdem
wirkt alles ein bisschen schmuddelig. Ein kleiner Junge steht neben ihm, und
fächelt ihm Luft zu. Ich nehme vor ihm Platz, Mamadou übersetzt wieder. Ich
beginne mich höflich zu bedanken, dass er mir die Ehre erweist, mich bei sich
aufzunehmen und meine Fragen zu beantworten. Aber der Marabout unterbricht, und bittet mich sofort zur Sache zu kommen. Ich frage ihn, was für ihn
das wichtigste an seiner Aufgabe sei. Es dauert eine Weile mit der Übersetzung.
Dann bekomme ich folgende Antwort: „Gott ist für uns alle da, wie die Sonne.
Forschung ist sehr wichtig“. Dann schickt er uns weg. Alle anderen Fragen
solle ich mit seinem Sohn besprechen, der mich für den späten Abend noch einmal in sein Haus einlädt.
Die Wahrsagerin
Sie sitzt vor ihrer kleinen Hütte und wirft Muscheln auf eine Strohmatte.
Einmal fährt sie mit der Hand hindurch, schaut aufmerksam auf die bizarren
Formationen, und dann weiß sie Bescheid. Pennda Banndo Sohto Bahno
lebt in einem mauretanischen Flüchtlingscamp. Aus einer Handvoll Muscheln
liest sie die Zukunft. Das hat sie von ihrem Marabout gelernt. „Nicht jeder
kann das“, sagt sie, und ein bisschen stolz ist sie schon, „nur der Marabout hat
die Fähigkeit, es dir beizubringen“. Pennda wirft die Muscheln für mich.
„Heute Nacht wirst du allein sein. Viele Menschen sind um dich herum,
aber du kennst sie nicht. Sie bleiben dir fremd“. Klingt nicht sehr beruhigend,
denke ich, aber ich sage mir, dass es mit diesen Dingen meist nicht allzuviel
auf sich hat.
Zukunft lesen, „Gri Gri“–Amulette tragen, einen Talisman haben – der
Islam hat es zu damaligen Zeiten geschickt verstanden, all diese animistischen
Susanne Freitag
Senegal
Traditionen und Riten mit einzubeziehen. Die Traditionen existieren heute
noch, werden sogar von den Marabouts selbst praktiziert. Fast jedes kleine
Kind hat ein Lederband um den Bauch gebunden, an dem ein kleines verschnürtes Päckchen hängt. Das ist der „Gri Gri“, den die Eltern vom Marabout anfertigen lassen. Er bringt Glück und vertreibt böse Geister. Ich hoffe,
mehr darüber zu erfahren, am Abend, wenn ich den Sohn des Marabouts noch
einmal treffe.
Es ist stockfinster. Strom gibt es in Medina Ndiatebe nicht. Mamadou
läuft vor mir her, ich kann ihn nur ahnen, und hoffe, dass ich auf dem unwegsamen Sandboden nicht in etwas Falsches trete. Von weitem hört man nun das
Singen der Talibés, ansonsten ist es still im Dorf. Sehen kann man sie nicht,
es ist merkwürdig, fast unheimlich. Wir treffen den Sohn des Marabouts auf
dem Dach seines Hauses, dort ist es ein bisschen kühler. Hunderte Stimmen
singen monoton ihre Koranverse – der Gesang scheint in der Luft zu schweben, liegt wie eine Wolke über dem Haus. Außer dem Sohn des Marabout sind
etwa 20 Menschen auf dem Dach. Ich kann sie kaum erkennen. In der Mitte
spendet eine Petroleumlampe fades Licht, dann geht links von uns der Vollmond auf. Eine unwirkliche Situation.
„Wir lehren 12 Fächer hier. Islamisches Recht und islamische Moral sind
die wichtigsten Hauptfächer. Der Marabout ist der Lehrer. Er bestimmt, was
unterrichtet wird, und wie“. Meine Fragen werden sehr präzise beantwortet.
Gebraucht wird der Marabout in allen Lebenslagen. Gibt es Probleme mit der
Fruchtbarkeit in der Familie, Geisteskrankheiten, will ein Mensch beruflich
weiterkommen, Neugeborene brauchen einen Gri Gri, in all diesen Fällen
wendet man sich an den Marabout. Um diese Aufgaben erfüllen zu können,
müssen seine Söhne oft nach Europa fliegen, denn auch dort leben senegalesische Familien, die die religiösen Dienste des Marbout in Anspruch nehmen
wollen.
„Dass es Gott wirklich gibt, können wir den Menschen natürlich nicht zeigen“, sagt er, „aber wir können ihnen Gott näher bringen und eine Verbindung
schaffen“. Das scheint offenbar auch die Fußballmannschaft des Ortes zu
überzeugen. Wenn ein wichtiges Spiel ansteht, kommen die Spieler vorbei, um
sich den Beistand von oben zu holen.
„Ein Marabout kann sehr viel bewirken. Die Kriege in der Welt könnten beigelegt werden, die Menschen könnten den Marabout darum bitten“. Ich
frage, warum es dann noch immer keinen Frieden in der Casamance gebe. Die
Erklärung scheint einfach und doch unglaublich: „Der Präsident ist noch nicht
bei meinem Vater gewesen, da kann er dann auch nichts machen“, sagt er. Ich
gebe zu bedenken, dass der Präsident vielleicht seinen eigenen Marabout
habe, ob das nichts nütze. „Es tut mir leid“, sagt er, „was andere Marabouts
machen, das kann ich nicht sagen. Natürlich müsste Gott eigentlich ein Ende
Senegal
Susanne Freitag
des Krieges wollen. Aber der Marabout tut nur seine Pflicht, wie ein Arbeiter. Er kann mit seinen Gebeten die Wünsche an Gott weitergeben. Aber
Allah ist der einzig Allmächtige“.
Ich verabschiede mich, und als ich in die Gesichter um mich herum sehe,
die ich für einen Augenblick fast vergessen hatte, erinnere ich mich an die
Worte der Muschelleserin: „Heute nacht wirst du allein sein. Viele Menschen sind um dich herum, aber du kennst sie nicht. Sie bleiben dir fremd“.
Entwicklung beginnt im Kopf – Der Marktgarten
„In den siebziger Jahren hat das Dorf eine Pestepidemie erlebt“, erzählt Mamadou. „Wir mussten damals viele Tote begraben. Ich stand dort plötzlich mit lauter
Greisen und Kindern. Es waren überhaupt keine jungen, kräftigen Männer da. Sie
sind aus Medina Ndiatebe in die Stadt gezogen. Da habe ich mir gedacht, jetzt muss
ich etwas tun, um auch die jungen Leute hier zu halten. Seitdem gibt es das Projekt“. Wir stehen auf einem Stück Land am Ende des Dorfes. Es sind die einzigen
80 ha in der näheren Umgebung, die wirklich grün aussehen. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Boden total ausgetrocknet ist. Hier sind die Auswirkungen der fortschreitenden Desertifikation im Norden des Landes mehr als
deutlich sichtbar. Jedes einzelne Pflänzchen, das hier am Leben erhalten wird,
bedeutet mühselige Arbeit. Sie kultivieren Kartoffeln, einige Bohnen, ein bisschen
Reis. „Am Anfang hatten wir 200 Mangobäume angepflanzt“, erinnert sich
Mamadou. Einer davon steht mitten auf dem Feld. Er ist der einzige, der überlebt
hat. „Wahrscheinlich wollte Allah nicht, das hier Mangos wachsen“. Hilfe bekommt
Mamadou im Moment von Reyna. Sie ist Amerikanerin, lebt seit zwei Jahren im
Dorf und arbeitet mit den Frauen zusammen. „Wir wollen, dass die Frauen hier auf
dem Feld mitarbeiten. Das Gemüse, das sie hier ernten, sollen sie für alle auf dem
Dorfmarkt verkaufen. Sie sollen sehen, dass das, was sie tun, dem ganzen Dorf
zugute kommt, und das man hier etwas schaffen kann, wenn man zusammen arbeitet“, sagt sie. Aber Mamadous und Reynas Projekt stößt an Mentalitätsgrenzen.
„Ich bemühe mich“, sagt Mamadou, „mindestens einmal am Tag hier vorbeizukommen und nach dem Rechten zu sehen. Es ist mir schon passiert, dass ich zwei
Tage nicht da war, und die Frauen haben die Früchte ihrer Arbeit einfach mit nach
Hause genommen, um sie für die eigene Familie zu kochen“. Die beiden sind sich
einig: Das Dorf kann sich nur dann entwickeln, wenn sich in den Köpfen etwas
ändert, wenn die Menschen beginnen, nicht nur bis morgen zu denken, sondern
langfristig.
Begossen werden die Pflanzen mit dem Wasser des Senegal, das Feld liegt direkt
am Flussufer. Dort wird das Flusswasser von zwei elektrischen Pumpen nach oben
befördert. Eine Pumpe leckt, die andere arbeitet mehr oder weniger effektiv vor sich
Susanne Freitag
Senegal
hin. Geld für eine neue Pumpe ist nicht da. Mamadou und Reyna haben sich um
Spenden und andere Unterstützung gemüht. Aber die Gelder fließen spärlich.
Zuschüsse, die seit Jahren versprochen waren, wurden schließlich doch nicht
gezahlt. Mamadou hat einen Verdacht: „In Medina Ndiatebe wählt man nicht die
Regierungspartei, das mag ein Grund sein, warum das hier so schwierig ist“. Vielleicht lacht er deshalb nie. Er hat seine ganze Energie in sein Projekt gesteckt.
Eigentlich wollten sie am Ende des Feldes einen Laden aufmachen. Dort stehen
jetzt vier Mauern mit einem halb kaputten Dach, das Gebäude verfällt, weil die
Mittel zum Aufbau fehlen. Vielleicht hat Allah auch das einfach nicht gewollt? Die
Sonne brennt unerbittlich vom Himmel, alle hier warten sehnsüchtig darauf, dass
der längst überfällige Regen kommt. Das wird in jedem Jahr ein bisschen später.
Mamadou will, dass sein Projekt gleichzeitig eine Bildungsmassnahme ist. Die
Jugendlichen aus dem Dorf sollen Arbeit und Zukunft haben. Die Menschen sollen auf ihrer Erde für sich selbst arbeiten. Das sollen sie begreifen. Aber dieser
Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Und immer mehr Menschen verlassen das Dorf.
Wenn die Sonne untergeht, taucht sie Medina Ndiatebe in ein rötlich–oranges
Licht. Die karge Strauchlandschaft sieht dann warm und fast einladend aus. Dann
treffen sich die Frauen des Dorfes mit großen Plastikschüsseln auf dem Kopf um
Wasser zu holen. „Ich finde, sie sehen aus, als wenn sie von innen leuchten“, sagt
Reyna. Am Ende des Jahres muss sie „ihr“ Dorf verlassen. Bis dahin, sagt sie,
will sie wenigstens noch dafür sorgen, dass die Pumpe am Fluss repariert werden kann.
Abschied
Am Tag meiner Abreise schenken mir meine Kollegen von Sud FM einen
Boubou. Ich bin total gerührt. Viele Leute, die ich im Laufe der letzten
Monate kennengelernt habe, kommen vorbei, um sich zu verabschieden.
Jetzt habe ich verstanden, dass es hier etwas anderes gibt als den Reisereportagen–Traum. Diese besondere Art der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Eine Art, sich um den anderen zu kümmern, für ihn Verantwortung zu
tragen, wie ich sie in Europa nie erlebt habe. Es wird mir fehlen, dass es plötzlich nicht mehr selbstverständlich ist, „Guten Tag“ zu sagen, wenn man einen
Raum betritt. Es ist die senegalesische Gastfreundschaft, die „Teranga“, die
sich über alle Widersprüche des Landes hinwegesetzt. „Was hat dir am besten
gefallen?“, fragt mich meine Kollegin Hélène. Mir fehlen die Worte. Es
waren so viele Dinge. Die Freundlichkeit, die Farben, die Art und Weise der
Menschen, trotz vieler Schwierigkeiten nicht aufzugeben und trotzdem zu
lachen. Es war spannend, dabei zu sein, als im Land gewählt wurde, und es
war wichtig, die europäischen Maßstäbe einmal über Bord werfen zu müssen,
Senegal
Susanne Freitag
weil sie hierher einfach nicht passen wollen. Als das Flugzeug abhebt, sehe ich
zum letzten Mal die Lichter von Dakar, erahne das Viertel, in dem ich
gewohnt habe, und weiß, dass ich zu Hause viele Dinge anders sehen werde,
als drei Monate zuvor.
„Wenn jemand in Dein Land kommt
heiße ihn willkommen und behandele ihn gut.
Er wird immer wiederkommen wollen“.
(Yossou N’Dour, aus „tourista“)
Chris Hulin
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Nepal
vom 09. März bis 09. Juni 2000
Nepal
Kinderarbeit in Nepal
Von Chris Hulin
Nepal, vom 09.03. – 09.06.2000
Chris Hulin
Nepal
Chris Hulin
Inhalt
„Shangri-La“ – Vom Mythos Nepal
Kinderarbeit in Nepal
Ein paar Zahlen
Nepals „Wilder Westen“
Straßenkinder
Abschied von einem Mythos – Kinderarbeit in Teppichfabriken
Danke
189
Chris Hulin
Nepal
„Shangri-La“ – Vom Mythos Nepal
Vom Mythos „Shangri-La“ aus James Hiltons Roman „Der verlorene Horizont“ lebt der Nepal-Tourismus bis heute. In Hiltons Buch ist „Shangria-La“
der Name eines versteckten Tals im Himalaya, in dem Menschen friedlich das
Idealbild einer menschlichen Gemeinschaft in einem Kloster leben. Ein Paradies. Die Utopie dachte sich Hilton zwischen den zwei Weltkriegen des letzten Jahrhunderts aus. Seit Hiltons Buch träumen westliche Sinnsucher ebenso
wie Trekkingtouristen vom verlorenen Paradies in einem verborgenen Hochtal des Himalayas. Nepals Tourismusbranche hat diesen Traum längst erkannt
und träumt vom eigenen „Shangri-La“ in harter westlicher Währung. Gerne
flechten sich Guesthouses, Hotels und Geschäfte darum ein „Shangri-La“ in
den Namen und beschwören den Mythos weiter.
Erst seit 1950 dürfen Fremde nach Nepal reisen. Mit dem ersten Demokratieversuch und der damit einhergehenden Öffnung des Landes, wurde
Nepal von einem Tag auf den anderen vom Mittelalter in die Neuzeit katapultiert. Länger als Tibet war Nepal ein verbotenes Land. Nach dem ersten
Besuch eines Europäers, eines französischen Jesuitenpaters in der Mitte des
17. Jahrhunderts, sind bis dahin nur rund 200 Europäer in Nepal gewesen. Vor
der Eroberungslust der britischen Kolonialherren auf dem indischen Subkontinent war Nepal durch den Dschungel im Terai, dem südlichen Flachland,
geschützt. Der Urwald war Malariagebiet und galt als undurchdringliche
Fieberhölle. Heute sind vom einst undurchdringlichen Urwald nur noch zwei
Nationalparks geblieben. Nach den Bergen ist der Dschungel – Tiger und Rhinozeros sei Dank – Nepals zweites touristisches Standbein. Der Norden des
Landes wird damals wie heute von den Bergen des Himalayas geschützt. Nach
wie vor bildet das Himalayamassiv eine fast undurchdringliche Grenze. Wer
weiß, ob es ohne diese Berge das Königreich Nepal überhaupt gäbe? 800 km
misst das Land in seiner Ost-West Ausdehnung. Von Norden nach Süden sind
es durchschnittlich nur 200 km. Eingekeilt wird dieses kleine Rechteck von
den Supermächten Indien und China. Gute Beziehungen zu den großen
Nachbarn sind in Nepal deshalb außerordentlich wichtig. Indien hat großen
Einfluss auf Nepal und auch mit China möchte man es sich nicht verscherzen.
Deshalb wird es z.B. dem Daila Lama nicht erlaubt die in Nepal lebenden
Tibeter zu besuchen.
Von Nepal als einem paradiesischen, friedlichen Land zu sprechen, hieße,
das alltägliche Leben der Menschen in Nepal zu ignorieren. Innerhalb von 50
Jahren ist die Bevölkerung in Nepal explodiert. Lebten Anfang der fünfziger
Jahre ungefähr fünf Millionen Menschen in Nepal, waren es 1998 rund 22
Millionen Menschen. Kinder sind die Altersversicherung der Eltern, und ein
Sohn garantiert nicht nur die Rente, sondern ist für gläubige Hindus auch
Nepal
Chris Hulin
unerlässlich auf dem Weg ins Jenseits. Der älteste Sohn entzündet traditionell
den Scheiterhaufen, auf dem der Körper des toten Vaters liegt. Kann der Sohn
diese Aufgabe nicht wahrnehmen oder gibt es gar keinen Sohn, wird diese
Aufgabe von dem nächsten männlichen Verwandten übernommen, aber der
Weg ins Jenseits oder eine Wiedergeburt wird dann nicht so glatt verlaufen.
Nepal ist ein junges Land. Gut 45 % der Bevölkerung ist nach einer Zählung von UNICEF (1994) unter 16 Jahre alt. Nepal ist auch ein armes Land.
Auf der Liste der ärmsten Länder der Erde rangiert es irgendwo zwischen
Platz fünf und Platz zehn, je nachdem, wie man zählt. Das durchschnittliche
pro Kopf Einkommen liegt in Nepal bei ungefähr 210 US Dollar im Jahr (Baedeker 1999). Diese unglaublich niedrige Zahl spiegelt die wahren wirtschaftlichen Verhältnisse der nepalischen Bevölkerung nur unzureichend
wieder. Auf dem Land, wo rund 90% der nepalischen Bevölkerung lebt, wird
diese Summe wohl nie erreicht. In abgelegenen Gebiete, wie z.B dem äußersten Westens Nepals, spielt Geld häufig keine oder nur eine sehr geringe
Rolle. Die Menschen dort leben in der Regel von der Landwirtschaft und dem
Tauschhandel. In Kathmandu und dem Kathmandu-Tal sehen die Verhältnisse
natürlich anders aus. Hier wird mit Geld bezahlt, genauer gesagt mit harten
Dollars. Das gilt zumindest für Touristen. Kein Hotel, kein noch so kleines
Guesthouse, das seine Zimmerpreise nicht in Dollar nennt. Ein Nepali verdient durchschnittlich ungefähr 2200 nepalische Rupien im Monat, das sind
rund siebzig Mark. Ein Lehrer verdient soviel. Selbst in einem armen Land
wie Nepal, reicht dieses Geld kaum um eine Familie zu ernähren.
Kinder, die in Kathmandu häufig als die unsichtbaren „guten Geister“ in
Restaurants, kleineren Hotels und Guesthouses arbeiten, verdienen viel, viel
weniger. Manchmal auch nichts, bis auf eine tägliche Mahlzeit und etwas
Kleidung. Dafür arbeiten sie häufig zehn bis sechzehn Stunden am Tag.
„Shangria-La“, das ist etwas für Touristen, die in ihren Zimmern fließendes Wasser haben und sich aufgebracht beschweren, wenn dieses Wasser
nicht heiß genug aus der Leitung kommt. Wer früh morgens einige Schritte
durch Chetrapathi geht, das direkt an Kathmandus Touristenviertel Thamel
grenzt, sieht woher die Nepalis ihr Wasser bekommen: Männer waschen sich
an öffentlichen Pumpen auf den ungepflasterten Straßen und Frauen pumpen
dort das Wasser für ihren Haushalt in bauchige Krüge. Bei aller pittoresken
Ursprünglichkeit ist das vor allem anstrengend. Von heißem Wasser zum
Duschen redet hier niemand. Chetrapathi ist quirliges Viertel. Viele Sherpas
aus den Bergen leben dort. Aber auch einer meiner Kollegen vom Fernsehen
und meine Sprachlehrerin. Ein ganz normales Viertel eben. Und wenn das
Wasser aus den öffentlichen Pumpen gerade im Sommer nur noch spärlich
fließt, liegt das nicht nur an der Sommerzeit, sondern auch am Wasserbedarf
der Touristen, die soviel mehr Wasser benötigen als die Nepalis. Trotzdem
Chris Hulin
Nepal
merken die Touristen vom Wassermangel in der Regel nichts. Für sie kommt
das Wasser allabendlich aus den bunt bemalten Tankwagen, die frisches
Bergwasser bester Qualität in die Reservoirs der Hotels pumpen.
Das Wasser für die Bevölkerung ist oft von schlechterer Qualität. Gerade
für die kleinen Kinder ist das ein Problem. Von tausend Kindern sterben in
Nepal 128 bevor sie das 5. Lebensjahr erreicht haben. Sie sterben an Durchfall und Lungenentzündung, an Unterernährung, den schlechten hygienischen Verhältnissen und der mangelnden medizinischen Versorgung (Für
mehr als 20 Millionen Menschen gibt es gut 1000 Ärzte, die wenigsten von
ihnen leben in den armen ländlichen Gebieten).
Trotzdem lebt der Mythos von „Shangri-La“. Heilige Plätze sind im Himalaja tausend Mal heiliger als anderswo, sagen alte Schriften. Wer hier meditiert wird die Früchte der guten Taten ernten. Nepal ist von den Göttern
gesegnet. Wir Deutschen scheinen eine besondere Schwäche für das kleine
Land im Himalaja zu haben. Nach den Indern sind die Deutschen die zahlenmäßig stärkste Touristengruppe in Nepal. Viele kommen der Berge wegen.
Schließlich stehen acht der vierzehn Achttausender der Erde in Nepal. Der
Weg zum Everst Base Camp gleicht zur Trekkingsaison eher einer bevölkerten Fußgängerzone, als einem einsamen Bergpfad. Aber viele kommen auch
wegen „Shangri-La“, der Spiritualität und dem Buddhismus. Das ist merkwürdig, denn Nepal bezeichnet sich als das einzige Hindu-Königreich der
Erde. Über 80 % der Bevölkerung ist offiziell hinduistischen Glaubens. Die
Zahl ist nur bedingt richtig: In einem Hindu-Königreich ist es nicht unbedingt
ratsam anderer Religion zu sein. Und im hinduistischen Vielgötterhimmel ist
auch noch Platz für Lord Buddha. Immer wieder habe ich in Nepal Menschen
getroffen, die sich als Hindus und Buddhisten bezeichneten.
1950 wurde Tibet von den Chinesen besetzt. Bis heute ist Tibet besetzt.
1959 floh der Daila Lama, das geistige Oberhaupt der Tibeter, nach Indien. In
Dharamsala sitzt seitdem die tibetische Exilregierung. Viele Tibeter flüchteten über die Berge nach Nepal und blieben dort. Der tibetisch-buddhistische
Einfluss im Land ist spürbar und sicherlich auch ein Grund, warum so viele
Westler von Nepal fasziniert sind. In den Bergen leben fast nur Menschen
buddhistischen Glaubens.
Aber so einfach ist das nicht. Genauso wenig wie es „den Nepali“ gibt, gibt
es „die Religion“ in Nepal. Hindu-Königreich hin oder her. Gut fünfzig verschiedene Ethnien leben in Nepal mit mindestens genauso vielen Sprachen.
Offizielle Amtssprache ist Nepali, das von gut 50 % der Bevölkerung gesprochen wird. Die gebildeten und jeder, der in der Tourismus-Branche arbeitet,
spricht mehr oder weniger gut Englisch. Aber in Gebieten jenseits der touristischen Routen nützt oft weder Englisch noch Nepali. Denn Nepal ist ein
Vielvölkerstaat. Nirgendwo wird das sichtbarer als in Kathmandu, Nepals
Nepal
Chris Hulin
„Melting pot“. Hier leben Sherpas, Tamangs, Gurungs und, nicht zu vergessen, die ursprüngliche Bevölkerung des Kathmandu-Tals, die Newars. Als
Fremde ist es faszinierend die unterschiedlichen Volksgruppen an ihrer Kleidung, ihren Gesten und ihren Gesichtszügen zu unterscheiden. Nepal wird oft
gepriesen für seine Toleranz, ein Land in dem die unterschiedlichsten Volksgruppen und Religionen friedlich miteinander leben. Wieder einmal der
Traum vom „Shangri-La“. Ich hatte während meines dreimonatigen Aufenthalts in Nepal manchmal das Gefühl, als sei diese Toleranz nur eine sehr
dünne Schicht, unter der durchaus auch große Konflikte schwelen. Das hierarchische Kastensystem tut ein übriges dazu. Treffen sich zwei Nepalis zum
ersten Mal, prüfen sie, so war meine Erfahrung, häufig die Nachnamen,
denn daran lässt sich auch die Kaste des Gegenübers abschätzen. Höher,
niedriger oder gleich, ist eine wichtige Frage, auch wenn seit 1960 das Kastenwesen offiziell keine Rolle mehr spielt. Nepalis aus einer niedrigen Kaste
bezeichnen ihren Nachnahmen oft einfach als „Nepali“. Nach wie vor sind
z.B. Ehen von Angehörigen unterschiedlicher Kasten problematisch. Der
höher gestellte Partner rutscht – quasi als Bestrafung – eine Kaste niedriger.
Und trotzdem ist es spürbar, das „Shangri-La“, die Mystik oder die Spiritualität oder was auch immer, das die Sinnsucher aus dem Westen nach Nepal
zieht. Selbst in Kathmandu mit seinen lauten, schmutzigen und verstopften
Straßen. Den wild wuchernden neuen Betonhäusern, die seit einigen Jahren
auch höher als die bis dahin üblichen vier Stockwerke gebaut werden dürfen.
Es ist da, in den neugierigen freundlichen Gesichtern der Menschen, die
jeden freundlichen Blick mit einem Lächeln belohnen und fast jedem längeren, interessierten Gespräch eine Einladung folgen lassen. Es ist auch da, ganz
früh, wenn morgens die Frauen Butterlämpchen, Blüten und Essen an den
kleinen Altären opfern, die überall auf Kathmandus Straßen stehen. Manchmal stehen diese Altäre so klein und unscheinbar in einer Ecke, das man sie
glatt übersehen könnte. „Shangri-La“ spürt man abends, wenn man keuchend die 365 Stufen zu Swayambunath hochgeklettert ist, dem großen buddhistischen Stupa, der ein Wahrzeichen Kathmandus ist. Unter den allwissenden Augen Buddhas präsentiert sich dann Kathmandu im Abendsonnenschein.
Die ersten Müllfeuer gehen an, aber das ist von diesem Standort aus egal, trotz
des Elends, das dahintersteckt sieht es einfach schön aus. Und wem die Götter gnädig sind, für den zerreißen sie vielleicht für ein paar Minuten die
Smogglocke über Kathmandu und geben den Blick auf die Gipfel des Himalayas im Abendsonnenschein frei. „Shangri-La“.
Chris Hulin
Nepal
Kinderarbeit in Nepal
Ohne Frage: Kinderarbeit ist schlimm. Jedes Kind sollte das Recht haben,
seine Kindheit unbeschwert und ohne Arbeit genießen zu können. Was aber,
wenn Kinder arbeiten müssen, weil Armut, Hunger oder soziale Traditionen
Kinderarbeit fordern und akzeptieren?
Kinderarbeit findet in Nepal täglich, unbemerkt, millionenfach statt. Die
meisten Kinderarbeiter sitzen nicht hinter Webstühlen als Teppichknüpfer oder
arbeiten als Fabrikarbeiter. Diese Kinder gibt es auch. Aber die meiste Kinderarbeit findet unbezahlt und ganz unspektakulär auf dem Land statt. 90 % aller
Kinderarbeit ist Landarbeit. Die Kinder arbeiten häufig auf den Feldern ihrer
Eltern oder Verwandten und natürlich werden sie nicht dafür bezahlt. Ohne
Zweifel gibt es die Kinder, die in Fabriken schonungslos ausgebeutet werden und
dafür allenfalls einen kargen Lohn bekommen. Aber es sind wenige, gemessen
an den Kindern, die täglich harte Landarbeit verrichten, ihre kleinen Geschwister hüten und auch noch das Essen für ihre Familien kochen, weil die Eltern auf
dem Feld sind. Wir touristischen Besucher Nepals sehen diese Kinderarbeit
fast nie. Wir sehen auch die Kinderarbeiter in kleinen Hotels und Restaurants
nicht. Und erst Recht nicht die vielen Kinder, die als sogenannte „domestic servants“, als kleine Haussklaven in privaten Haushalten unter guten oder schlechten Bedingungen leben. Manchmal sind die Bedingungen sehr schlecht. Manchmal bekommen diese Kinder auch eine Chance, weil sie von ihren
„Herrschaften“ zur Schule geschickt werden. Eine Chance, die viele Kinder in
ländlichen Gebieten nie bekommen.
Wir Westler kennen fast nur die medienwirksame Kinderarbeit. Die Kinder aus
den Teppichfabriken und die Mädchen, die jährlich in indische Bordelle verkauft
werden. Natürlich sind diese Schicksale schrecklich und natürlich ist jedes einzelne Kinderleben es wert, geschützt zu werden. Aber was ist mit den vielen, ja
den meisten Kinderarbeitern, die nicht in unseren westlichen Medien vorkommen?
Wir sollten uns die Frage stellen, ob wir vielleicht einer romantischen Vorstellung nachhängen, wenn wir Kinderarbeit in Nepal so rigoros verdammen.
Viele Familien könnten ohne die Arbeit ihrer Kinder, bezahlt oder unbezahlt, nicht existieren. Sollten wir darum nicht lieber darüber nachdenken, wie
die Lebensbedingungen der arbeitenden Kinder verbessert werden können?
Meiner Ansicht nach liegt der Schlüssel zur Bekämpfung der Kinderarbeit in
Bildung. Nur Kinder die ein Minimum an Bildung bekommen, also lesen,
schreiben und rechnen können, haben später eine Chance sich aus dem Kreislauf
von Hunger und Armut zu befreien. Die Forderung, für arbeitende Kinder eine
geregelte Arbeitszeit mit festen Pausen, Mindestlohn und Zeit für Schulunterricht
zu verlangen, mutet ketzerisch an. Natürlich, Kinder sollten nicht arbeiten. Was
Nepal
Chris Hulin
aber, wenn sie es müssen? Ist dann nicht eine kontrollierte, geschützte Arbeit, die
Platz für Unterricht läßt, nicht besser als unkontrollierter Wildwuchs? In meinen
drei Monaten in Nepal habe ich Entwicklungshilfeprojekte kennengelernt, die
nach diesem Prinzip arbeiten. Mich hat dieser pragmatische Ansatz beeindruckt,
weil er dem unsichtbaren Heer der Kinderarbeiter gerechter wird als idealistische
Forderungen, die an den Umständen scheitern. Wenn es gelingt diese pragmatischen Konzepte umzusetzen, glaube ich, hoffe ich, sind wir dem Ziel, Kinderarbeit abzuschaffen, ein gutes Stück näher gekommen.
Ein paar Zahlen
„Obwohl Nepal die UN-Konvention für die Rechte des Kindes im September 1990 ratifiziert hat, erfolgt die Umsetzung dieser Rechte in Nepal eher
langsam.“ Dies stellte die UNO im Mai 1996 in ihrem Länderreport zu Nepal
fest. An dieser Feststellung hat sich auch vier Jahre später nicht viel geändert.
Die Rechte und Lebensbedingungen von Kindern werden in Nepal erst seit der
Demokratisierung des Landes 1989 wahrgenommen. Bis sie auch wirklich
ernstgenommen werden, dauert es wohl noch ein paar Jahre. Dabei ist das
Land ein junges Land. Die Situation und Lebensbedingungen von Kindern
müsste allein deshalb schon interessieren.
CWIN, Child Workers in Nepal, die bekannteste nepalische Organisation,
die sich für die Rechte von Kindern einsetzt, kam 1997 zu dem Ergebnis, das
über die Hälfte (52%) der nepalischen Bevölkerung Kinder und Jugendliche
sind. Die ILO, International Labour Organisation, zählt in ihrem Bericht
über die Situation der Kinderarbeit in Nepal vom Oktober 1998 insgesamt
6,23 Millionen Kinder zwischen 5-14 Jahren. Das entspricht bei einer Bevölkerung von fast 22 Millionen Menschen immer noch mehr als einem Viertel
der Gesamtbevölkerung. Und Nepals Bevölkerung wächst. Seit der Öffnung
des Landes 1950 hat sie sich mehr als verdreifacht. Mit dem Wachsen der
Bevölkerung verschwindet immer mehr landwirtschaftlich nutzbare Fläche.
Besonders im Kathmandu Valley ist diese Entwicklung deutlich sichtbar.
Noch vor zwanzig Jahren exportierte Nepal Reis nach Indien. Heute muss das
Land den Reis bei seinen Nachbarn einkaufen, weil die Erträge nicht mehr reichen. Doch es mangelt dem Land nicht nur an Reis, sondern auch an Arbeitsplätzen. Jeder, der Arbeit hat, ist froh darüber. Wenn ein Kind mit seinem Einkommen wesentlich am Unterhalt einer Familie beteiligt ist, ist es schwierig
Kinderarbeit einfach zu verdammen. Die Frage „Warum müssen Kinder
arbeiten?“ lässt sich also ganz einfach beantworten: „Weil sie es müssen“.
Der Hauptgrund für die Kinderarbeit liegt sicherlich in der erschreckenden
Armut des Landes. Nepal gilt als eines der zehn ärmsten Länder der Welt. Je
Chris Hulin
Nepal
nachdem, wie gezählt wird, liegt es irgendwo zwischen Rang fünf und Rang
zehn. Neben der immensen Armut gibt es noch viele andere Gründe, warum
Kinder arbeiten müssen. Einer ist die in den letzten Jahren erschreckend
gestiegene Scheidungsrate. Die Kinder haben nicht mehr den schützenden
Halt einer traditionellen Familie. Viele Kinder laufen auch von zu Hause fort,
wenn ein Elternteil wieder heiratet. Das Märchen von der bösen Stiefmutter,
bzw. dem bösen Stiefvater, ist in Nepal leider keins. Auch die mangelnde Bildung der Familien begünstigt Kinderarbeit. Viele Eltern sehen keinen Sinn
darin, ihre Kinder zur Schule zu schicken, da die Schulausbildung nicht
automatisch eine spätere oder sogar bessere Arbeit garantiert. Zudem ist die
Unterrichtsqualität mancher nepalischer Schule so schlecht, dass die Kinder
den Unterricht zu Recht als Zeitverschwendung betrachten. Nepalische Schulklassen, vor allem auf dem Land, bestehen aus Kindern, die zwischen ein und
vierzehn Jahren alt sind. Die GTZ berichtet mir von einem Fall, in welchem
in einer Schule in den Bergen ein Lehrer aus dem Terai unterrichtet. Der
Unterricht musste schon deshalb scheitern, weil Schüler und Lehrer unterschiedliche Sprachen sprechen.
Nepal ist ein Vielvölkerstaat, mit mindestens 50 verschiedenen Ethnien, und
längst nicht in allen Winkeln und Tälern des kleinen Landes wird die Landessprache Nepali gesprochen. Viele Schulgebäude sind in einem erbärmlichen Zustand: Es gibt weder Strom noch Wasser, keine Fensterscheiben und
keine Heizung. Und im Winter kann es auch in gemäßigteren Zonen, als den
Bergregionen, empfindlich kalt werden. In der Regel fehlen Schulbücher,
Stifte und Papier. Oft steht vor der Tafel, wenn es eine gibt, ein Lehrer, der aus
einem Buch vorliest und die Kinder sprechen ihm nach. Mehr Unterricht ist
nicht möglich. Die staatlichen Schulen – private Schulen gibt es in armen,
ländlichen Regionen in der Regel nicht – sind zwar kostenlos, aber der Schuluniformzwang ist eine weitere finanzielle Hürde, die viele Eltern nicht nehmen wollen oder können. Ich habe auf meinen Reisen über Land in Nepal oft
Kinder gesehen, die in einer Schuluniform auf dem Feld standen und arbeiteten. Diese Kinder haben sonst keine Kleider. Die Schuluniform wird Tag und
Nacht getragen bis sie dem Kind vom Körper fällt.
Unter diesen Umständen glauben manche Eltern nur zu gerne den Versprechungen von Mittelsmännern, die einen gut bezahlten Job in der Stadt versprechen, mit dem die Kinder dann ihre Familien ernähren können. Auch schicken viele Eltern ihre Kinder als Haushaltshilfen in die Stadt, weil sie hoffen,
dass die Kinder dort nicht nur die Möglichkeit haben Geld zu verdienen, sondern zusätzlich in die Schule gehen können. Tatsächlich kommt dies auch vor.
Dann gibt es Gebiete in Nepal, in denen es keine Schule gibt. Wo aber die
Schule fehlt, stellt sich die Frage „Arbeit oder Schule“ natürlich erst gar nicht.
Und schließlich gibt es auch soziale Gründe für Kinderarbeit. In Nepal wird
Nepal
Chris Hulin
Kinderarbeit auch als natürlicher Teil der Kindheit gesehen und akzeptiert.
Gerade die Kinder niedriger Kasten sind davon betroffen. Selbst im „wohlhabenden, gebildeten Kathmandu-Tal“ wird niedrigkastigen Kindern der
Schulbesuch verweigert, eben weil sie aus einer niedrigen Kaste stammen.
Deshalb unterstützt die Deutsch-Nepalische Hilfsgemeinschaft eine Schule in
Bhaktapur, 10 Kilometer von Kathmandu entfernt. In diese Schule gehen die
Kinder von Straßenkehrern, die von den strengen Kastenvorschriften
besonders betroffen sind und von anderen Schulen ausgeschlossen werden.
Und schließlich ist Kinderarbeit auch ein Problem von Angebot und Nachfrage: Viele Arbeitgeber bevorzugen Kinderarbeiter, weil sie billiger sind als
Erwachsene. Sie können leichter gezwungen werden, länger und härter zu
arbeiten und sie erledigen Arbeiten, die Erwachsene nicht machen würden.
Die Ausbeutung von Kindern wird erleichtert durch ein ineffizientes Justizsystem, das die existierenden Gesetze zum Schutz der Kinder nicht oder nur
unzureichend kontrollieren kann.
Unter diesen Umständen die Abschaffung der Kinderarbeit in Nepal zu fordern, ist also trotz guten Willens bestenfalls eine naiv-romantische Zielsetzung.
Aus diesem Grund hat die GTZ ihr Projekt, gegen den Wunsch der nepalischen
Regierung, auch „Improvement of the situation of child laboures“ – „Verbesserung der Situation arbeitender Kinder“ genannt und nicht „Projekt zur Abschaffung der Kinderarbeit in Nepal“. „Dass es in wenigen Jahren keine Kinderarbeit
in Nepal mehr geben wird, ist Quatsch“, sagt Charlotte Addy, Projektleiterin des
GTZ-Projektes in Nepal. „Wir können nur versuchen, die Situation der arbeitenden Kinder zu analysieren und diese dann zu verbessern, indem die Kindern
z.B. ein Minimum an Schulbildung erhalten“, so Charlotte Addy. „Dazu müssen
wir aber natürlich auch wissen, wer überhaupt ein Kinderarbeiter ist? Bis heute
gibt es keine Definition“. Die GTZ hat in einer ihrer Broschüren einige Punkte
aufgelistet, mit denen sie Kinderarbeit definiert. Der wichtigste lautet: „Ein Kinderarbeiter ist ein Kind, das keine Kindheit hatte und keine lebenswerte und
befriedigende Zukunft haben wird.“ Konkret heißt das, dass Kinder, die
unter 14 Jahren eine Vollzeitarbeit erledigen
einer Arbeit nachgehen, die gefährlich für ihre soziale, psychische und
physische Entwicklung ist
durch ihre Arbeit keine Zeit haben zur Schule zu gehen
nicht das natürliche Recht der Kinder auf Spielen und Ausruhen haben
die physisch, psychisch, sexuell oder emotional ausgebeutet werden
in einem Lohnarbeitsverhältnis beschäftigt sind
Kinderarbeiter sind. Mehr als fünf Millionen Kinder in Nepal, schätzt die
GTZ, sind direkt oder indirekt als Kinderarbeiter beschäftigt.
Chris Hulin
Nepal
Der größte Teil der Kinderarbeit ist unsichtbar. Neun von zehn Kinder, so die
ILO, leben auf dem Land. In den ländlichen Gebieten, wo rund 90% der Gesamtbevölkerung Nepals leben, ist Kinderarbeit „normal“. 86 % aller Kinderarbeit,
so die GTZ, geschieht auf dem Land. Kinder arbeiten auf den Feldern ihrer Eltern
oder Familien. Acht von zehn Kindern werden für ihre Arbeit nicht bezahlt. Ein
weiterer Hinweis darauf, dass die Arbeit in den Familien stattfindet. Je ärmer ein
Gebiet ist, umso mehr Kinder arbeiten: In den ärmeren Berg- und Hügelregionen arbeiten mehr Kinder als im wohlhabenderen Flachland des Terais. Je größer eine Familie ist und / oder je gebildeter, umso weniger müssen die Kinder
arbeiten. Mädchen arbeiten „traditionell“ mehr als Jungen. Auf 80 arbeitende
Jungen kommen 100 arbeitende Mädchen (ILO). Traditionell arbeiten die Jungen eher als bezahlte Arbeitskräfte als die Mädchen. Die arbeitenden Mädchen
gehen auch weniger zur Schule als die arbeitenden Jungen. Hier steht das Verhältnis 100 zu 234 (ILO). Von den 2,596 Millionen arbeitenden Kinder gehen
1,587 Millionen neben ihrer Arbeit auch zur Schule. 1,004 Millionen Kinder
arbeiten ausschließlich. Diese Zahlen sagen nur wenig über den tatsächlichen Bildungsstand der Kinder aus. Generell ist es auch hier so, dass mehr Kinder in städtischen Gebieten arbeiten als auf dem Land. Dies hat verschiedene Ursachen, wie
z.B. ein niedrigeres Bildungsniveau auf dem Land gegenüber dem der Stadt,
schlicht und ergreifend fehlende oder fast zerstörte Schule, keine Lehrer in entlegenen Regionen oder zu lange Schulwege. Ob die Kinder die Schule tatsächlich beenden, erfassen die Zahlen nicht. Viele Eltern sehen in der Schule einen
praktischen Babysitter, der die kleinen Kinder betreut, während sie selbst auf den
Feldern arbeiten. Sobald die Kinder groß genug sind um zu Hause mitzuarbeiten, kommen sie nicht mehr in die Schule. In diesem Fall von Schulbildung zu
sprechen, trifft also nur bedingt zu.
Wie die Situation auf dem Land ist, davon konnte ich mir auf einer Reise
in ein GTZ-Projektgebiet persönlich ein Bild machen.
Nepals „Wilder Westen“
Draußen sind es vierzig Grad. Mindestens. Das weiß ich, bevor ich die Tür
des klimatisierten GTZ-Jeeps öffne. Trotzdem trifft mich die Hitze wie ein
Schlag. Ich war bisher immer nur in Kathmandu oder in höheren Regionen.
Tagsüber angenehme fünfundzwanzig bis dreißig Grad, nachts so kühl, dass
es sich gut schlafen lässt und bis auf ein paar Mücken keine lästigen Tiere.
Und nun das. Es ist nicht nur heiß, es ist auch schwül und in diesem Klima
potenziert sich die Kraft der Gerüche. Nepalganj, die größte Stadt im westlichen Terai, direkt an der Grenze zu Indien, ist eine lebhafte Stadt. Die Stadt
wirkt sehr indisch.
Nepal
Chris Hulin
Wir, Mohan Raj Sharma, der das GTZ-Projekt in Doti betreut, ein Chauffeur und ich, sind unterwegs nach Doti, Nepals westlichster Provinz. Gestartet sind wir heute morgen um sieben, von dem schönen Rana Palast in
Patanm, indem die GTZ ihr Büro hat. Wer in Nepal reist, sollte keinen empfindlichen Magen haben. Die Serpentinen, raus aus dem Kathmandu-Valley,
runter auf den Ost-West Highway durchs flache Terai, fordern, trotz Reisetabletten, meine Konzentration. Gut, dass ich so mit mir beschäftigt bin, sonst
würde ich mir vielleicht noch Gedanken über den Verkehr machen. „Verkehrsunfälle sind die häufigste Todesursache bei Entwicklungshelfern“ erzählt
mir Charlotte Addy. Aber das ist später und so nehme ich die im Straßengraben (wenn es einen gibt, oft ist der Straßengraben hundert Meter den nächsten
Hang runter) liegenden Busse und Lkws als normal hin. Jetzt ist es später
Nachmittag, wir haben die erste Etappe geschafft und ich hocke auf dem Rand
einer Beeteinfassung und warte. Worauf? Keine Ahnung. Mohan und der
Chauffeur sind gemeinsam verschwunden und ich übe mich in der nepalischen
Tugend zu warten und mir keine Gedanken zu machen. Irgendwann wird
irgendetwas passieren. Ich sitze auf dem Hof einer Fachhochschule oder
etwas ähnlichem und darum dauert es nicht lange, bis der erste Mensch auftaucht, der sich mit mir unterhalten möchte. Leider kann die sympathische
junge Frau mit Baby kein Englisch und mein Nepali reicht gerade mal dazu,
meinen Namen zu sagen, woher ich komme und was ich mache. Netterweise
setzt sich die Frau trotz meiner eingeschränkten Gesprächsfähigkeiten neben
mich und so brüten wir gemeinsam in der Hitze und Schweigen. Irgendwann
kommt dann Mohan und sagt: „Ja, hier übernachten wir“. Ich bekomme ein
Zimmer mit Ventilator – den ich sofort anstelle und dann wieder aus, weil der
Lärm der Ventilatorflügel schlimmer ist als die Hitze – und einem Moskitonetz über dem Bett, das mich für die Nacht nichts Gutes ahnen lässt. War dann
aber doch nicht so schlimm.
Am nächsten Tag fahren wir weiter auf dem schnurgeraden Ost-West Highway. Immer weiter durch Bananenpflanzungen und Maisfelder. Hinter uns
liegt schon Lumbini, Buddhas Geburtsort. Wie so oft an Plätzen der Weltgeschichte, hat der Ort etwas ernüchterndes an sich. Hier war es also. Aha. Später fahren wir durch den Bardia Nationalpark, der wilder und ursprünglicher
sein soll als der bekanntere Chitwan Nationalpark, und im Gegensatz zum
Chitwan soll man hier die Tiger wirklich noch zu Gesicht bekommen. Ich
starre also angestrengt in den Wald, vielleicht ist der König des Dschungels
ja tagsüber unterwegs, und sehe nichts als Bäume. Wir stoppen auf einer Brücke. Ziemlich tief unter uns fließt ein Fluss und auf einer Sandbank in der
Sonne dösen zwei Krokodile. Meine ersten Krokodile in freier Wildbahn!
Auch Mohan ist beeindruckt und so photographieren wir beide die schlafenden Krokodile, bis uns eine Patrouille mit Maschinenpistolen bewaffneter
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Nepal
Soldaten zum sofortigen Weiterfahren auffordert. Was wir schleunigst tun. Die
Soldaten bewachen den Nationalpark, bzw. die Tiere, die darin leben, vor Wilderern. Eigentlich kein schlechter Job für die Armee, denke ich.
Immer weiter geht unsere Fahrt. „Far Western“ ist nicht nur eine Bezeichnung, sondern tatsächlich ziemlich weit weg. Zumindest, wenn man Kathmandu als Zentrum Nepals betrachtet. Dörfer und Menschen werden immer
weniger. Wir fahren auf neu gebauten Brücken über weiß schäumende Flüsse.
„Bis vor drei, vier Jahren“, sagt Mohan, „dauerte die Fahrt nach Doti noch länger. Es gab keine Asphaltstraße und keine Brücken. Über jeden Fluss musste
man mit einem Floß übersetzen“. Fast bedauere ich, dass es heute nicht mehr
so ist. Wie aufregend schön müsste es sein, mit dem Jeep auf ein Floß zu fahren, über den Fluss zu setzen und die immer unberührter werdende Landschaft
langsam zu entdecken. „Touristenromantik“, denke ich, während die Natur
durch klare Panoramascheiben vollklimatisiert an mir vorbeizieht. Ob die
Menschen die hier wohnen, dem Floßverkehr hinterher trauern? Wohl kaum,
schließlich gibt es durch die Straße und die Brücken endlich eine Busverbindung nach Kathmandu. Vor dem Bau der Straße war die Hauptstadt viel zu
weit entfernt, so dass Handel und Händler die nähere Verbindung nach Indien
nahmen. Endlich biegen wir ab und fahren immer entlang des Seti Kholas, des
weißen Flusses in die „Hills“. Was man in Nepal so Hills nennt. Grün bewaldete zwei- bis dreitausend Meter hohe Berge, die bei uns „Alpen“ heißen. Die
Hügel sind übersät mit einem Muster von Zick-Zack-Pfaden. Wir fahren
durch ein Tal mit einem rotblühendem Rhododendronwald. Der Rhododendron ist Nepals Nationalblume und hat nichts mit den kleinwüchsigen Exemplaren in deutschen Parkanlagen zu tun. Hier ist der Rhododendron ein
Baum. Wir haben Glück, dass wir noch die letzte Blüte sehen.
Schließlich kommen wir im GTZ-Haus in der Nähe von Silghadi an. Es gibt
eine Dusche mit fließend kaltem Wasser, ich bekomme ein mit Bambusmöbeln schön eingerichtetes Zimmer und in der Küche wartet schon unser Dhal
Baat, Reis mit Linsen und Gemüse, Nepals Nationalgericht, auf uns. Abends
setze ich mich auf die Terrasse des GTZ-Hauses. Das Haus steht direkt über
einem Tal. Unten fließt der Seti, die Hügel sind sanft geschwungen und grün.
Der Mond erscheint pünktlich hinter einer Hügelspitze und geht leuchtend, in
einem nicht minder leuchtenden Sternenhimmel, auf. „Könnte auch die Toskana sein“, denke ich, bevor ich ins Bett gehe. Nich mal Touristenromatik.
Am nächsten Morgen gibt‘s statt Sternen und Mond Adler am Himmel.
Nicht einen, sondern eins, zwei, drei, vier, viele. Mit Rücksicht auf meine
europäischen Essgewohnheiten („Europäer wollen jeden Tag etwas anderes
essen“) hat Mohan für mich frische Papaya und Tee zum Frühstück machen
lassen. Er selbst isst, wie alle anderen, natürlich Dhal Baat. Dann fahren wir
los. Ich werde heute mit der Street-Drama-Group „Sarvanam“ gemeinsam drei
Nepal
Chris Hulin
Dörfer in der Umgebung besuchen und mir ihre Aufführungen anschauen. Im
„Far Western“ leben die Menschen noch nach traditionellen Vorstellungen. Die
Frauen gehören ins Haus, Kinder, und besonders Mädchen, sollen lieber
arbeiten als zur Schule zu gehen. Traditionell wird Kinderarbeit akzeptiert.
„Es ist für diese Kinder die Regel zu arbeiten“, so Charlotte Addy, „und die
Ausnahme zur Schule zu gehen“. 45,5 % der Bevölkerung in Doti sind unter
14 Jahren alt. Auf dem Weg zu unserem Treffpunkt, fahren wir an mehreren,
fast mannshohen Gras oder Reisigbündeln auf sehnigen Beinen vorbei. Was
von hinten komisch aussieht, ist, von vorne betrachtet, ein Kind, das Futter für
die Tiere oder Holz für den Herd gesammelt hat und nun nach Hause schleppt.
Die Beine, die diese Lasten tragen, sind immer weiblich. In dieser Region
glaubt man, dass Männer nichts tragen sollen. Frauen, die ich später frage,
warum nicht ihre Männer die schweren Holzbündel oder auch Steine zum
Häuserbau tragen, fangen bei der Frage an zu kichern. Absurde Vorstellung.
Eine weiter Besonderheit in Doti ist die Kastenverteilung: Die Hälfte, der
in Doti lebenden Bevölkerung, gehört zu einer niedrigen Kaste, gut 40% sind
hochkastige Chetris, der Rest verteilt sich auf andere Kasten und Religionen.
Vereinfacht ausgedrückt heißt das, dass die einen für die anderen arbeiten.
Praktisch bedeutet es, dass den Angehörigen der niedrigen Kasten z.B. die
Benutzung des Dorfbrunnens verboten ist, weil sie das Wasser verunreinigen
würden. Sie werden von den Chetri-Dorfbewohnern gezwungen, ihr Wasser
an einem anderen Ort zu holen. Das bedeutet oft weite Fußmärsche, um
zweimal täglich das nötige Wasser für eine Familie zu holen. Natürlich ist auch
das Frauenarbeit. Manche Frauen und Mädchen sind alleine zwei Stunden pro
Tag mit Wasser holen beschäftigt. Ein neues Problem kommt auf Doti und die
ganze Region „Far Western“ noch zu. Viele Männer verlassen ihre Familien
und gehen zum Arbeiten nach Indien. Ein bis zwei Mal im Jahr, an Feiertagen,
besuchen sie ihre Familien und bringen neben Kleidung und Konsumartikeln
noch ein Geschenk besonderer Art mit: AIDS ist die still tickende Bombe der
Region. Die Frauen mit denen ich mich unterhalten habe, wissen zwar was
Kondome sind, aber von AIDS und was die Krankheit bedeutet, haben sie
noch nie gehört. „Und was sollen Kondome“ sagte mir eine Frau „solange ich
nicht zwei Söhne habe?“ Ein paar Dörfer weiter sagte mir ein „field-worker“,
gibt es schon die erste Familie in der alle, die Eltern und die Kinder, HIV-infiziert sind. Wie soll man diese Problem lösen? Was sollen Plakate und Broschüren, wo noch nicht einmal jeder zweite lesen und schreiben kann? Also
hat sich die GTZ entschlossen, die vielen Probleme der Menschen in Doti von
einer Street-Drama-Group darstellen zu lassen. Die Idee dahinter ist so einfach wie gut: Die Theatergruppe bereist mit GTZ Mitarbeitern das Projektgebiet. Anschließend wird ein Stück geschrieben, das die besonderen Problem
der Menschen in dieser Region zum Thema hat. Mit diesem Stück wandert die
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Street-Drama-Group anschließend in dem Projektgebiet von Dorf zu Dorf.
Die GZT hofft, dass die Menschen in Doti über die Themen im Stück frei
sprechen können, leichter zumindest, als über die eigenen, echten Probleme.
Mohan hat für mich ein Treffen mit den Mitgliedern der Theatertruppe
„Savanam“ – „Hier und Jetzt“ an einer Wegbiegung verabredet. Tatsächlich
erwarten mich am Treffpunkt schon fünf Leute. Ein Redakteur der lokalen
Station von Radio Nepal ist auch dabei. Ab jetzt reise ich zu Fuß, denn die
schmalen Serpentinen sind eher Pfade und auch per Jeep nicht zu schaffen. Zu
meiner Überraschung geht es erst Mal runter von der Straße, eine steile
Böschung hinab und wir stehen am Flussufer des Seti Kholas, der sich hier
ganz zahm gibt und glatt und breit fließt. Hellgrauer, weicher Sand liegt an den
Ufern des Setis, dazwischen einige große Findlinge, die die Morgensonne
schon aufgewärmt hat. Über uns kreist ein Adler. Wo kein Fluss ist, ist Wald.
Kanada hatte ich mir immer so vorgestellt. Und darum wundere ich mich auch
nicht über den Einbaum, der am anderen Flussufer liegt. Das hier ist Indianerland. Leider ist der Fährmann des Einbaums nicht ins Sicht. Wir rufen und
pfeifen, aber nichts passiert. Also üben wir uns wieder mal in der nepalischen
Tugend des Abwartens und suchen uns ein Platz auf den warmen Steinen.
Schließlich, für meinen Geschmack viel zu schnell, kommt ein Junge am
Ufer entlang. Für zwei Rupien zieht er seine Kleider aus, springt ins Wasser
und schwimmt auf die andere Seite. Fünf Minuten später ist er mit dem
Fährmann zurück. Ich steige zu meiner ersten Fahrt auf einem Fluss in einem
Baumstamm und wir setzen über. Fünf Rupien kostet die Fahrt für sechs Personen. Also pro Person etwa drei Pfennige. Vor lauter Staunen über den Preis
falle ich zum Schluss fast ins Wasser. Glücklicherweise sind wir da aber schon
am anderen Ufer angekommen. Sofort geht es in einem atemberaubendem
Tempo los. Ich spreche ein stilles Dankgebet für meine Trekkingschuhe, die
ich heute morgen angezogen habe. Alle anderen sind in Turnschuhen oder
Flip-Flops. Unser Weg geht bergauf. Nur bergauf und das ziemlich steil. Ich
sehe mit Erleichterung, dass zumindest der Kollege von Radio Nepal ebenso
schnauft und schwitzt wie ich. Die Schauspieler sind schon seit zwei Wochen
in Doti unterwegs. Scheint ein gutes Trainingslager gewesen zu sein, wir können mit ihrem Tempo kaum mithalten. Schneller sind nur noch die Frauen und
Kinder aus den Dörfern, die uns schwer beladen immer wieder überholen. Die
meisten sind barfuß.
Endlich sind wir oben. Im Dorf erwarten uns noch weitere Schauspieler von
Sarvanam. Die Vorstellung beginnt sofort. Mit lautem Rufen, Klatschen und
Singen wird das Dorf auf einem kleinen Platz zusammengetrommelt. Mir ist
schleierhaft, wie ein Mensch nach zweistündigem Aufstieg noch soviel Luft
zum Singen haben kann. Aber die Schauspieler haben damit ganz offensichtlich kein Problem. Erst kommen nur die Kinder, aber je länger das Stück
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dauert, um so mehr Erwachsene kommen auch dazu. Das Stück erzählt eine
Familiengeschichte mit Vater, Mutter, Kind, Großvater, Nachbarn und Verwandten. Es geht darum, ob die Tochter weiter zur Schule gehen darf oder besser zu Hause hilft. Es geht um häusliche Gewalt und Alkohol. Um die Männer, die wegen der Arbeit nach Indien gehen, die Frauen die deshalb alles
alleine machen müssen, und um AIDS. Es geht um so vieles, dass ich das
schulterzuckende, nepalische, „What to do?“, das dann immer alles beim
Alten belässt, verstehen kann. Aber die Menschen auf dem Dorfplatz amüsieren sich, sind mucksmäuschenstill vor Spannung und lachen und singen
mit. Fernsehen gibt es hier nicht. Selbst wenn die Menschen wohlhabender
wären, hätten sie doch keinen Strom. Auch Radios können sich nur wenige
leisten. Wo es ein Radio gibt, da hört das gesamte Dorf mit. Über unseren heutigen „Ausflug“ wird mein Kollegen von Radio Nepal eine Stunde Programm
machen.
Nach der Vorstellung gibt es für die Schauspieler, uns beiden Journalisten
und einen amerikanischen Studenten, der die Truppe schon seit einigen Tagen
begleitet, ein Essen. Dhal Baat, was sonst. Ich lerne zu essen, während mir
eine versammelte Dorfgemeinschaft aus zwei Metern Abstand zuschaut.
Kein so gutes Gefühl, denn die Menschen in Doti produzieren nicht genügend
Lebensmittel für ihren Bedarf. Die kleinen Bergfelder geben nicht genug her,
um eine Familie ein ganzes Jahr lang satt zu machen. Das Essen abzulehnen
wäre jedoch absolut unhöflich. Also esse ich und hoffe, dass mein erster Versuch ohne Besteck zu essen, nicht in einem unappetitlichen Desaster endet.
Nach dieser Pause geht es sofort weiter. Heute gibt es noch in zwei anderen
Dörfern eine Vorstellung. Die Prozedur läuft immer gleich ab und bleibt
doch spanned: Erst kommen nur die Kinder, dann auch die Erwachsenen und
zum Schluss ist das ganze Dorf da. Ich bin besonders von Anita beeindruckt.
Anita ist zehn Jahre alt und spielt das Kind im Stück. Der Vater im Stück ist
auch im „echten“ Leben ihr Vater. Anita hat gerade Schulferien, lebt sonst in
Kathmandu, spricht fließen englisch und will später mal – nein, nicht Schauspielerin, sondern Ärztin werden. Ich bin beeindruckt, wie gut sie die
Geschichte des Dorfmädchens spielt, dessen Vater nicht mehr will, dass sie zur
Schule geht.
Anita nimmt mich auf dem Heimweg an die Hand und erklärt mir die
Welt in Doti. Das der Seti Khola im Moment nicht weiß ist, obwohl Seti weiß
heißt, weil er jetzt vor dem Monsun nur noch wenig Wasser hat, dass die vielen singenden und tanzenden Menschen, an denen wir vorbeikommen, Hochzeiten feiern, weil im Moment der Mond günstig für Hochzeiten steht und das
„phul“ das nepalische Wort für Blume ist. Die Hochzeiten, die wir sehen, sind
alles Kinderhochzeiten. Kinder zwischen zehn und fünfzehn Jahren werden
miteinander verheiratet. Wenn die Zeit gekommen ist, meistens wenn das
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Nepal
Mädchen seine Periode bekommt, zieht die Ehefrau in das Haus ihres Mannes. Bis es soweit ist, bleibt sie bei ihren Eltern.
Kinderhochzeiten sind in Doti (noch) üblich. Ich habe mindestens fünf
gesehen. Braut und Bräutigam feiern getrennt voneinander. Beide sitzen in
einer Art Sänfte, die aus einem Stuhl oder Sessel an zwei Stangen gebaut
wurde. Der verschüchterte Bräutigam hält einen aufgespannten Regenschirm
gegen die Sonne über sich und trägt eine große, verspiegelte Sonnenbrille. Die
Jungen sitzen mit ernster, unbewegter Miene hinter ihren zu großen Sonnenbrillen in ihren Sänfte und scheinen von der johlenden Menge ganz unberührt.
Die Kinderbräute sind gar nicht zu erkennen. Die Mädchen werden vollständig in einen roten, goldverzierten Sari eingewickelt, der sogar das Gesicht
bedeckt. Sie sind zusammengekauerte Bündel, die in diesem Leben vermutlich keine Wahl mehr haben werden.
Anita ist vom Schicksal der Mädchen, die in Kathmandu ihre Schulfreundin sein könnten, nicht beeindruckt: Zu weit ist diese Leben von ihrem entfernt. Ich kann es kaum fassen, dass beide Mädchen im selben Land leben.
Die eine noch fast im Mittelalter, die andere im 21. Jahrhundert.
Anita nimmt mich an die Hand, sagt: „Komm, wir rennen durch jedes
Dorf“ und als ich frage warum, sagt sie nur „Darum“. Und darum rennen
Anita und ich zurück nach Silghadi. Rennen durch jedes Dorf, die silberglänzenden Steinstufen am Seti entlang, der an dieser Stelle seinem Namen
wieder alle Ehre macht und ziemlich wüst, weiß schäumt. Erst als Anita eine
Hängebrücke hüpfend überqueren will – „Darum“ – kriege ich es mit der
Angst und kapituliere. Wir sind trotzdem vor allen anderen da und stoßen mit
Cola auf unseren Sieg an.
Straßenkinder
„Ich mag Straßenkinder“, sagt Sumnima Tuladhar. „Sie sind clever und habe
eine wunderbare Art, die Probleme des Lebens zu meistern .Gesellschaftliche
Erwartungen interessieren sie nicht“. Die winzige Thika in Sumnimas Augenwinkel blitzt, während sie das sagt. Eigentlich gehört die Thika bei einer nepalischen Frau auf die Mitte der Stirn, zwischen die Augenbrauen, knapp oberhalb der Nasenwurzel. Aber Sumnima gehört zu den Frauen, die – gebildet
und selbstbewusst – ihr Leben selbst bestimmen. Da ist der kleine Thikafunkelstein im Augenwinkel schon fast ein Symbol.
Sumnima Tuladhar ist Pressesprecherin von CWIN, Child Workers in Nepal,
Nepals bekanntester NGO (Non Gouverment Organisation), die sich seit 1987
für die Rechte der Kinder in Nepal einsetzt. Entstanden ist CWIN aus der Arbeit
einer Gruppe von Studenten an Kathmandu‘s Tribhuvan University, die sich für
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die Rechte von Kindern einsetzten. Gauri Pradhan, der Gründer von CWIN und
ehemaliger Studentenführer, ist bis heute der erste Vorsitzende von CWIN und
so etwas wie eine Kultfigur in Nepal. Aus der kleinen, studentischen Organisation machte er eine der ersten, und bis heute einflussreichsten NGOs in Nepal.
Finanziell unterstützt wird CWIN vor allem von Redd Barna aus Norwegen und
von Plan International. Die ausländischen Geldgeber meinen es gut mit CWIN.
Und so hat CWIN seit 1989, dem Jahr der Demokratisierung Nepals, verschiedene Hilfsangebote für „Children at risk“ aufbauen können. Neben einem
„Drop-In-Centre for street children“, hat CWIN zwei Kinderheime in Kathmandu, eins für Jungen und eins für Mädchen. Es gibt ein „Education sponsorship programme“ für bedürftige Kinder, „skill-training/education programme“
für Kinder über vierzehn Jahre und seit 1998 betreibt CWIN sogar eine Notrufnummer für Kinder. Geld, Macht und Einfluss einer Hilfsorganisation werden in
Nepal jedoch einfacher gemessen. Gezählt wird in Toyota Jeeps. Vor der Tür der
CWIN-Zentrale parken gleich zwei davon.
CWIN ist eine durch und durch professionelle Organisation, die nach westlichen Standards arbeitet. Keine Selbstverständlichkeit in Nepal. Durchaus international bekannte Organisationen verblüffen durch „Telefonzentralen“, in denen
kein einziger Mitarbeiter englisch spricht, gleichwohl aber ausländische Journalisten betreut. Bei CWIN ist das nicht so. Das Verwaltungsgebäude steht in
einem gepflegten grünen Garten, in dem zwei Gärtner eifrig den Rasen mit der
Schere kürzen. Schnipp- Schnapp, das würde in Europa vielleicht mit dem
Rasenmäher erledigt, aber sonst? Am großen Tor muß ich mich anmelden, mit
Name, Organisation und Unterschrift, um anschließend im Verkaufs- und Besucherzentrum von einem netten Sekretär in Empfang genommen zu werden.
Sumnima holt mich ab und führt mich in das CWIN-Pressezentrum, das
genausogut irgendwo in Deutschland stehen könnte. Die Wände sind mit Regalen voller Aktenordner bedeckt. Fachbücher stehen daneben und Infomaterial
liegt nach Themen geordnet aus. Nur die Schuhe muß ich nach nepalischer Sitte
doch ausziehen, bevor ich den Raum betreten darf und mich mit Sumnima an
einen niedrigen Tisch auf den Boden setze. Noch bevor wir unsere Gespräch
beginnen, wird uns süßer, heißer Milchtee serviert. Das ist in Nepal obligatorisch.
Unvorstellbar, einem Gast keinen Tee anzubieten. In den drei Monaten in Nepal
habe ich gelernt, die Haut auf dem Tee rasch mit zwei Fingern abzuheben und
als braunen Klumpen am Glasrand festzukleben. Würde ich noch drei Monate
länger bleiben, würde mich der braune Klumpen am Glasrand vermutlich nicht
Mal mehr stören.
Sumnima Tuladhar arbeitet seit mehr als zehn Jahren für CWIN. Sie war sechzehn als sie mit der Arbeit bei CWIN begann. „Die Idee von CWIN hat mich tief
bewegt“, sagt sie. „Bevor es CWIN gab, hat man Straßenkinder für schlechte
Menschen gehalten, die zu Recht auf der Straße gelandet waren und die deshalb
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auch schlecht behandelt werden durften. Erst CWIN hat den Menschen die
Augen geöffnet und gezeigt, dass diese Kinder durch die Umstände zu Straßenkindern geworden sind“. Die Umstände, die die Kinder auf die Straße treiben, hat CWIN nicht ändern können. Aber das die Situation dieser Kinder
inzwischen auch von der nepalischen Gesellschaft wahrgenommen wird, ist
auch CWIN‘s Verdienst. Genauso wie die Tatsache, das Nepal die UN-Konvention für die Rechte der Kinder unterzeichnet hat.
Mein Interesse an den Straßenkindern Nepals bringt Sumnima zum
Lächeln. Denn eigentlich ist schon der Begriff „Straßenkinder in Nepal“
nicht richtig. Straßenkinder gibt es (fast) nur in Kathmandu und selbst da sind
es nicht viele, verglichen mit den Kindern die als „domestic servant“, also als
Haushaltshilfe, oder in einer Fabrik arbeiten. „Rund hundert Straßenkinder
gibt es zur Zeit in Kathmandu“, sagt Sumnima, „wenn man Straßenkind als
ein Kind definiert, das ohne seine Eltern oder sonstige Erwachsene alleine seinen Unterhalt wie auch immer verdient und keinen festen Wohnsitz hat“. Doch
auch die Entwicklungshilfe hat ihre Moden und „Straßenkinder“, sagt Sumnima, „waren eine Mode der neunziger Jahre. Es ist viel Geld in Projekte für
Straßenkinder geflossen, obwohl sie, so hart das klingt, nur einen verschwindend kleinen Teil der bedürftigen Kinder ausmachen.“
Die vielen Kinder, die tagsüber und am frühen Abend die Touristen mit
„Which country are you from?“ und „Please, buy me some milk“ ansprechen,
sind in der Regel keine „echten“ Straßenkinder. Sie werden von ihren Eltern
auf die Straßen Thamels, Kathmandu‘s Touristenviertel, geschickt, um betteln
zu gehen und kehren abends mit dem Verdientem zu ihren Familien in die
Slums zurück. Viele Touristen lassen sich von den mageren Kindern überreden, ihnen ein Packung Milch oder besser noch Milchpulver zu kaufen.
Nicht ahnend, dass die Kinder diese Milch oft im selben Laden an den Verkäufer zu einem niedrigeren Preis zurück verkaufen. Der Shopbesitzer verdient also mindestens zweimal.
Die anderen, die „echten“ Straßenkinder, haben keine Familien mehr, zu
denen sie abends zurückkehren.
Die Kinder leben in Gruppen zusammen, sie sind die Familie und sie tun,
was ihnen gefällt. Wild und frei ist dieses Leben, trotz aller Risiken. Abends
sieht man die Kinder manchmal in kleinen Grüppchen, in einer Ecke um ein
kleines Feuerchen sitzen und rauchen. Manchmal torkeln sie auch laut und
betrunken durch die Gassen und beschimpfen jeden, der ihnen über den Weg
läuft. Zweimal bin ich in meiner Zeit in Kathmandu nachts an Kindern vorbeigekommen, die schlafend in der Gosse lagen. Kein schönes Gefühl, wenn
man selber gerade auf dem Weg in ein frischbezogenes Bett ist. In der Regel
schlafen die Kinder aber an weniger exponierten Orten. Die vielen Tempel
bieten mit ihren Nischen und Dächern einen trockenen Schlafplatz. Und sie
Nepal
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versprechen Schutz. Denn die Straßenkinder müssen ständig auf der Hut
sein vor Wachmännern und Polizisten, die mit ihren hölzernen Schlagstöcken
nicht zimperlich umgehen. „Misshandlungen von Straßenkinder, auch von der
Polizei sind keine Seltenheit“, sagt Sumnima. CWIN versucht mit Schulungen die Polizisten auf die Problematik der Straßenkinder aufmerksam zu
machen. Die Polizei soll, wenn sie solche Kinder aufgreift, CWIN anrufen,
statt die Kinder ins Gefängnis zu sperren. Mehr und mehr funktioniert das
auch. Trotzdem sind die Kinder vor Misshandlungen nicht sicher. Vor jedem
Hotel in Thamel, Kathmandu‘s Touristenviertel, steht ein, meist uniformierter, Wachmann. Was uns zum Lachen reizt, wenn die Wachmänner in Phantasieuniformen hackenknallend und zackig grüßend, jeden ausländischen
Gast empfangen, ist für die Kinder kein Spaß. Für viele Wachmänner scheint
es eine Art Sport zu sein, vorbeilaufenden Straßenkindern ihren hölzernen
Schlagstock mit einem satten „Plopp“ über den Kopf zu ziehen. Die Kinder
drehen den Spieß um und laufen so dicht vorbei, dass sie gerade eben nicht
mehr von den Wachmännern erwischt werden. Trotzdem habe ich in den
drei Monaten in Nepal oft ein „Plopp“ gehört.
Die Familien der Kinder leben oft mehrere Tagesreisen von Kathmandu entfernt auf dem Land. Die Kinder sind aus den verschiedensten Gründen allein
in der Stadt: Die Eltern, ein Stiefelternteil oder Verwandte haben sie zum
Geldverdienen in die große Stadt geschickt oder die Kinder versuchten häuslicher Gewalt zu entfliehen oder die Kinder sind von einer „Arbeitsstelle“ in
Kathmandu abgehauen und so auf der Straße gelandet oder die Langeweile
zog sie nach Kathmandu. Der Mythos Hauptstadt lockt nicht nur Erwachsene
nach Kathmandu. „Man kann sich gar nicht vorstellen“, sagt Charlotte Addy,
Leiterin des GTZ-Projekts zur „Verbesserung der Situation arbeitender Kinder“, „wie wenig Anregung es in den Dörfern für die Kinder gibt. Wie langweilig es dort ist“.
Die Kinder auf Kathamandus Straßen gehören den verschiedensten Ethnien
an, sprechen unterschiedliche Sprachen und kommen aus allen Gegenden
Nepals. Allerdings fast nur aus Gebieten, die an einer „black-topped-road“,
einer Asphaltstraße liegen. Denn erst mit den Straßen dringt der Glamour der
Hauptstadt und des modernen Lebens in entlegene Dörfer. Nur Gebieten mit
Straßen sind durch Busse mit Kathmandu verbunden. Folgerichtig hat CWIN
seit 1999 direkt am Bus-Terminal in Kathmandu ein „Contact Centre for
migrant children at risk“ eingerichtet. Immer wenn ein neuer Bus einrollt, wird
per Lautsprecher auf das „Contact Centre“ hingewiesen. Seit 1999 gibt es das
„Contact Centre“. Ob die Lautsprecherdurchsagen die Kinder wirklich davor
bewahren in der Gosse zu landen? Zumindest erfahren sie von CWIN, hören,
dass es neben der Auffangstation am Busterminal auch ein CWIN „Drop in
Centre“ gibt, wo es etwas zu Essen gibt und einen Platz zum Ausruhen. Für
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Nepal
kranke Straßenkinder gibt es die CWIN „Health Clinic and Counseling Service“.Aber die meisten Kinder steigen nicht aus dem Bus aus und bleiben bei
CWIN, sondern sie landen auf der Straße. Zuvor waren die meisten von
ihnen irgendwo als Kinderarbeiter, in einer Ziegelfabrik, in einem Hotel oder
einem privaten Haushalt tätig. So wie Hari. Der heute fünfzehnjährige hat in
einem Teashop und in einer Teppichfabrik gearbeitet, bevor er einen „field
worker“ von CWIN traf und mit ihm ging. Er war zehn Jahre alt, als er nach
dem Tod seines Vaters alleine nach Kathmandu kam. „Auf der Arbeit bekam
ich kein Geld, aber in der Fabrik gab es wenigstens zweimal am Tag zu essen.
Aber ich durfte das Fabrikgelände nicht verlassen, ich war eingesperrt und
wurde viel geschlagen. Das Leben auf der Straße ist besser, dachte ich. Man
kann schlafen solange man will, und wenn man Geld hat, kann man es ausgeben wofür man möchte“, sagt Hari. „Fast alle Kinder“, so Sumnima, „werden bei ihrer Arbeit ausgebeutet, körperlich misshandelt und gequält“. Kein
Wunder, dass viele Kinder lieber abhauen und das unsichere aber freie Leben
auf der Straße den Schlägen und der Ausbeutung der Erwachsenen vorziehen.
Auf der Straße leben die Kinder in Gangs, um sich vor den Übergriffen der
Erwachsenen, der Polizei und anderer Gangs zu schützen. Die Gang ist die
Familie, mit der die Kinder leben. Mädchen gibt es in diesen Gangs fast nie.
„Mädchen sind zu verletzlich und zu unselbständig“, sagt Sumnima, „um auf
der Straße zu überleben.“ In der nepalischen Gesellschaft ist ein alleinlebendes Mädchen unvorstellbar. Mädchen, die alleine auf der Straße leben, fallen
auf und sind vielfältigen Übergriffen ausgesetzt. „Die Mädchen, die vielleicht
für kurze Zeit auf der Straße leben, landen, wenn sie nicht zu uns oder einer
anderen Hilfsorganisation kommen, in der Prostitution“, stellt Sumnima
sachlich fest. In Nepal sitzen Männer an der Spitze des gesellschaftlichen
Lebens und der Familien. Ein Mann oder ein Junge ist immer mehr wert als
eine Frau oder ein Mädchen. Selbst auf der Straße bleibt es bei dieser Trennung. Hari lebte länger als anderthalb Jahre auf Kathmandus Straßen. Er bettelte, arbeitete als Ragpicker, als Müllsammler, und stahl. Irgendwann traf er
auf einen „field worker“ von CWIN und beschloss sein Leben zu ändern. Seitdem lebt er in einem Haus für Jungen von CWIN. Er hat Lesen und Schreiben gelernt und verdient etwas Geld mit dem Malen von Postkarten, die bei
CWIN im Besucherzentrum verkauft werden. „Mein Traum ist es“, sagt
Hari, „einen Beruf zu lernen und zurück nach Hause zu gehen. Vielleicht sehe
ich meine Schwester wieder“.
„Ragpicker“, Müllsucher, ist eine typische Kinderarbeit. Die kleinen, dunklen und zerlumpten Gestalten mit den riesigen Säcken über der Schulter, sieht
man in Kathmandu an jeder Ecke. Mit einem Stock durchstochern die Kinder
die Müllhaufen, die überall auf den Straßen aufgeschüttet liegen – selbst vor
dem Grundstück des Premierministers – nach Verwertbarem. Nach dem
Nepal
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Motto: „Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“ sind Metall
und Plastik für die Kinder, Essensreste und Pappe für die Kühe. Ihre Heiligkeiten, die Kühe, sind nicht wählerisch und fressen mit Genuss alte braune
Pappkartons. Manche Kinder arbeiten auch als „Kontrolleure“ für die „Tempos“. „Tempos“, das sind die, inzwischen elektrisch betriebenen, kleinen
Minibusse, in die bis zu zehn Personen passen oder auch fünfzehn – je nach
Bedarf. Die Busse haben ihre festen Routen durch die Stadt und halten auf
Handzeichen überall. Eine Fahrt damit kostet fünf Rupien, die von den Kindern eingesammelt werden. Die Kinder fahren hinten auf einem Trittbrett mit.
Autos, Rikschas und Mofas brausen oft nur um Haaresbreite an den nackten
Beinen vorbei. Manchmal trauen sich auch Touristen mit Abenteuerlust, auf
der Suche nach authentischem, nepalischem Leben, in die Tempos. Sie zahlen sieben Rupien für eine Fahrt. Die zwei Rupien „Gewinn“ teilen sich
Schaffner und Fahrer. Umgerechnet sind das für jeden drei Pfennige. Ein
Betrug, wenn man es denn so nennen will, den man als Tourist noch nicht einmal wahrnimmt. Die anderen Kinder leben vom Betteln, von Taschendiebstählen oder werden von älteren Kindern und Erwachsenen als Diebe oder
Einbrecher eingesetzt. Selbst auf der Straße sind die Kinder also nicht sicher
vor dem Missbrauch der Erwachsenen. „Diese Kinder habe jegliches Vertrauen in Erwachsene verloren. Das macht es für uns so schwer, mit ihnen zu
arbeiten.“ sagt Sumnima. Wie sollen sie auch Vertrauen haben?
Shreshta sieht aus wie acht, ist aber schon zehn. Er kauert zusammengesunken auf einem Stuhl in dem blühenden Garten des CWIN Headquarters.
„Meine Stiefmutter hat mich zum Geldverdienen nach Kathmandu geschickt.
Ich fuhr zusammen mit Freunden los“, erzählt er mit kratziger Stimme und
guckt mich dabei nicht an. „Ich war acht Jahre alt“, übersetzt Sumnima,
„und habe meine Freunde schon auf der Busfahrt nach Kathmandu verloren“.
Angekommen in der Stadt schlief Shreshta auf der Straße und verdiente sein
Geld als „Ragpicker“. Mit einer Gruppe von Freunden „lebte“ Shreshta in der
Nähe des Busterminals. Manchmal hatte er soviel Geld verdient, dass er
zwei mal am Tag warm essen konnte und manchmal musste er hungrig einschlafen. Wenn er Heimweh hatte, dachte er an die Schläge der Stiefmutter.
Zu Shreshtas schlimmsten Erlebnissen auf der Straße gehört ein nächtlicher
Überfall von einer Bande älterer Straßenjungen. Sie verprügelten die kleineren und raubten sie aus. Solche „Bandenkriege“ sind normal. Die „„CWIN
field worker““, die die Kinder auch nachts an ihren Lagerplätzen besuchen,
hören immer wieder davon. Durch einen Freund erfuhr Shreshta vom „Common Room“ von CWIN. Dort blieb er manchmal für kurze Zeit. Das Leben
auf der Straße lockte ihn. Irgendwann wurde Shreshta schwer krank und von
einem Freund zu CWIN gebracht. Kaum war er wieder gesund, rannte er weg.
„I was addicted to money“, sagt Shreshta, „Ich war süchtig nach Geld“.
Chris Hulin
Nepal
„Wofür hast Du das Geld denn gebraucht?“, frage ich ihn. „Für Alkohol und
Zigaretten. Ich war oft betrunken“. Shrestah sinkt noch mehr in sich zusammen. Nach mehr als sieben Monaten auf der Straße kam Shreshta schließlich
von selbst zu CWIN. Jetzt lebt er in einem Heim für Jungen, er lernt und spielt
Straßentheater. „Er ist einer unsere talentiertesten Schauspieler“, sagt Sumnima und lächelt.
Das Straßentheater ist ein Projekt von ehemaligen Straßenkindern für Straßenkinder. Viele der Kinder haben Probleme in einer „normalen“ Schule
stillsitzend zu lernen. In der Theatergruppe lernen sie spielerisch und habe
vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben Erfolg. Außerdem ist das Kinderstraßentheater auch eine gute Möglichkeit Straßenkinder zu erreichen. Viele
von den Straßenkindern sind nämlich an den Hilfsangeboten der verschiedenen NGO‘s nur bedingt interessiert. Eine warme Mahlzeit ist in harten Zeiten willkommen, aber in ein Heim mit geregeltem Stundenplan gehen und
wieder ohne eigenes Geld sein, das wollen die meisten nicht. Trotz aller
Härten bietet das Leben auf der Straße auch Vorteile. Die Kinder leben ohne
Stundenplan und ohne Erwachsene, die ihnen sagen, was sie zu tun oder zulassen haben. Sie haben ihr eigenes Geld und bestimmen selbst was sie damit
machen. Ob sie davon ins Kino gehen und dafür mit leerem Magen schlafen
müssen, oder ob sie lieber ein warmes Essen kaufen ist letztlich ihre Entscheidung. Das Geld geht auch für Drogen drauf: Alkohol, Zigaretten und
Klebstoff. „Wann“, fragt Charlotte Addy von der GTZ, „hat ein nepalisches
Kind schon mal die Chance hundert Rupien am Tag zu verdienen? Soviel Geld
verdienen viele Erwachsene nicht am Tag“. Hundert Rupien, etwa drei Mark
dreißig, dafür bekommt man in Thamel kein Bier. Aber für viele Nepalis sind
hundert Rupien tatsächlich ein durchschnittlicher Tageslohn. Nicht nur für ein
Kind sind hundert Rupien also richtig viel Geld. Noch dazu in Nepal, wo es
nicht üblich ist, den Kindern Taschengeld zu geben. Wie auch? Bei hundert
Rupien Tageslohn ist Taschengeld für die Kinder nicht drin. Aber selbst bei
besserverdienenden Familien gibt es kein Taschengeld. Die Eltern bezahlen
für die Kinder: Kino, Süßigkeiten und kleine Wünsche. Die Straßenkinder
fühlen sich also zu recht frei und unabhängig.
„Seit ich bei CWIN bin, bin ich gut geworden“, sagt Sheshta. „Ich will
Schauspieler werden“, sagt er zum Schluss. Als ich ihm die Kopfhörer gebe,
um unser aufgezeichnetes Interview anzuhören, lächelt er zum ersten Mal.
Nepal
Chris Hulin
Abschied von einem Mythos – Kinderarbeit in Teppichfabriken
Seit Ende 1995 engagiert sich Rugmark gegen die Kinderarbeit in nepalischen Teppichfabriken. Gegründet wurde die Organisation von Entwicklungshilfeorganisationen, Teppichfabrikbesitzern und privaten Spendern.
Rugmark ist sicherlich eine der bekannteren nepalischen NGOs. In Köln ist
das europäische Büro von Rugmark. Deutschland ist der Hauptabnehmer der
nepalischen Teppiche, erst weit dahinter folgen die USA.
Die nepalische Teppichindustrie hat durch die Kampagne gegen Kinderarbeit
und auch durch die Arbeit von Rugmark einen empfindlichen Schlag versetzt
bekommen. Das Interesse an den Teppichen ließ deutlich nach, nachdem die
europäischen und amerikanischen Käufer erfuhren, unter welchen Bedingungen
die Teppiche hergestellt wurden. Wurden sie das wirklich? Einige Menschen, mit
denen ich gesprochen habe, und die nicht genannt werden möchten, sprechen von
einer indischen List, mit der der nepalischen Teppichindustrie bewusst geschadet wurde. Was an diesen Gerüchten dran ist, habe ich nicht festgestellt. Tatsächlich ist der Schaden erheblich gewesen. Der Imageverlust ist bis heute nicht
wieder gut gemacht. Manche Entwicklungshelfer schätzen den Schaden für
das Land, die Industrie und die Menschen höher ein, als den Nutzen. Charlotte
Addy, Projektleiterin bei der GTZ, der deutschen „Gesellschaft für technische
Zusammenarbeit“, hält Rugmark inzwischen fast für überflüssig. „Die nepalischen NGOs haben in den neunziger Jahren sehr gute Arbeit geleistet“, sagt sie.
„Heute arbeiten vielleicht noch tausend Kinder in Teppichfabriken. Die Fabrikbesitzer sind nicht daran interessiert, Kinder zu beschäftigen“. Zu groß ist der
Imageverlust und zu gering ist der Nutzen. Die GTZ finanziert ein Kindergartenprojekt für die Kinder aus Teppichknüpferfamilien, an dem sich Fabrikbesitzer und Teppichknüpfer begeistert beteiligen. Mütter, die sich während der
Arbeit um ihr kleinen Kinder kümmern müssen, knüpfen nicht so gut Teppiche
und schaffen weniger Quadratmeter. Es ist eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung.
Ich bin bei Rugmark verabredet. Das Büro ist im New Plaza untergebracht.
Das Haus sieht so aus wie es heißt: Viel glänzender Marmor, um die Ecke ist das
Parlamentsgebäude, und die spiegelnden Aufzüge fahren mit westlicher Musikberieselung. Im Büro erwartet mich Dipa Regmi. Sie ist eine der „Programme
Officer“ von Rugmark und wird mit mir zu einer von Rugmark zertifizierten Teppichfabrik fahren, sowie in einige der „Rehabilitationcentre“ für die Kinder. Rugmark geht es gut. Ich bekomme eine professionelle Pressemappe mit viel Papier,
Zahlen, Fakten, Hochglanzprospekten mit glücklich lächelnden Kindern und
einem Aufkleber „We support Rugmark“. Die Fabrik, die wir uns anschauen,
gehört zu den „mittelguten“, sagt Dipa. Ich sehe Erwachsene an Webstühlen, die
so groß sind, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass solche Webstühle von Kin-
Chris Hulin
Nepal
dern bedient werden können. Die Fabrik ist nicht besonders schmutzig, laut oder
staubig. Die Wolle wird mit Naturfarben aus der Schweiz gefärbt. Bis auf ein paar
kleine Kinder, sind keine Kinder zu sehen. Die Teppicharbeiter leben mit ihren
Familien auch auf dem Gelände. Direkt über der Arbeitshalle sind die Wohnungen, oder besser Schlaf- und Kochstellen, der Familien. Wie es da aussieht darf
ich nicht sehen. Dipa lächelt auf meine Frage nach den Bedingungen dieser
„Wohnungen“. „Well...“, sagt sie. Mehr nicht. Zafar Ahmed, der Fabrikbesitzer
und einer der Gründer von Rugmark, versichert mir: „Meine Arbeiter verdienen
im Schnitt zwischen drei- und viertausend Rupien im Monat und können sich
eine Privatschule für ihre Kinder leisten“. Später bestätigt mir Dipa die Zahl. Ein
paar von den kleinen Kindern helfen beim Wolle aufwickeln. Aber hier von Kinderarbeit zu sprechen, erscheint mir übertrieben. Ehrlich gesagt hatte ich in einer
Fabrik, die die Rugmarkbedingungen unterzeichnet hat, auch keine Kinderarbeit
erwartet. Dipa zuckt die Schultern: „Sehr viele Teppichfabriken haben sich verpflichtet, unsere Bedingungen einzuhalten“. Mir kommt die Stimmung aller
Beteiligten eher so vor, als wollten alle die gerade zart wiedererblühte Pflanze
Teppichproduktion schützen. Alle wirken sichtlich bemüht, die Imageverluste der
Vergangenheit durch vorbildliche Bedingungen wieder gut zu machen. Kinderarbeit wäre da fehl am Platz. „Wenn dies das Ergebnis von Rugmarks-Arbeit
wäre“, denke ich, „wäre es nicht schlecht“.
Wir fahren weiter in die Rugmark Kinderheime. Ich weiß nicht, wie viele
Kinderheime ich mir in Nepal angeschaut habe. Zehn sind es zum Schluss
ganz bestimmt gewesen. Die Kinder in den Heimen bekommen eine Schulausbildung, in der Regel (nicht immer) genügend zu essen und sprechen alle
leidlich gut englisch. Engagiertere Heime „kümmern“ sich auch nach der
Schule um die Kinder. Bei Rugmark gibt es nach der Schule Tanz- und Singgruppen. Die Rugmarkhäuser liegen im guten Mittelfeld. Die Kinder, mit
denen ich spreche, erzählen von der Arbeit in der Fabrik. Ein Junge zeigt mir
seine Narben zwischen den Fingern. Kein Kind ist unter zwölf Jahre alt, die
meisten sind älter. Bei allen Kindern, mit denen ich spreche, liegt die Zeit als
Kinderarbeiter schon mindestens ein Jahr zurück. Nachdem ich abends einen
Blick auf das Zahlenmaterial von Rugmark geworfen habe, finde ich eine
Erklärung. 1999 hat Rugmark insgesamt 35 Kinder aus Teppichfabriken
gerettet. Wieviele von diesen Kinder in ein Rugmark Kinderheim gekommen
sind, und wieviele zu ihren Familien zurückgebracht wurden, ist den Zahlen
nicht zu entnehmen. Ich werfe einen Blick auf die Gesamtbilanz von Rugmark. Von 1996 bis Ende 1999 hat Rugmark 347 Kinder, die in Teppichfabriken arbeiteten, gerettet. 121 davon waren Mädchen, 226 Jungen. 150 dieser Kinder konnten wieder mit ihren Familien vereint werden. Ohne zynisch
sein zu wollen: Ich finde diese Zahlen als Gesamtbilanz einer so bekannten
Organisation wie Rugmark klein. Ich frage mich, was all die Rugmark-Mit-
Nepal
Chris Hulin
arbeiter in dem großen Büro des New Plaza Buildings tun? Hat jedes Kind
einen eigenen Betreuer? Mich beschleicht der Gedanke, das Entwicklungshilfe auch ein Geschäft ist, von dem nicht nur die Bedürftigen leben. Ich will
das nicht verurteilen. Was gäbe es für mich in Nepal mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium zu tun? Arbeit ist in Nepal selbst für gut ausgebildete Menschen Mangelware. Die Stelle bei einer NGO wie Rugmark gehört
zu den Traumjobs. Und an jedem Arbeitsplatz hängt in der Regel eine Familie.
Trotzdem frage ich mich: „Wozu der ganze Hype?“ Was ist mit den Kindern,
die unter mittelalterlichen Bedingungen in Mienen arbeiten? Was mit denen, die
als Steinklopfer mit ihren Familien in den Flußtälern sitzen, von Baustelle zu
Baustelle ziehen und per Hand Straßenschotter herstellen? Ich will nicht von dem
Heer der „domestic servants“ reden, den Kindern, die als Haushaltshilfen teilweise wie Sklaven leben. Und schon gar nicht von der Masse der Kinder, die auf
dem Land arbeiten.
Aber 347 Kinder in vier Jahren? Kann man so zählen? Natürlich nicht. Jedes
einzelne von diesen Schicksalen war die Mühe Wert. Was sagte Charlotte Addy
mir: „Die nepalischen NGO‘s haben in den neunziger Jahren sehr gute Arbeit
geleistet“. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Vielleicht kümmert sich Rugmark
jetzt einfach um andere Kinder. Wäre doch eine gute Sache.
Ein kleiner Nachtrag:
Mein Vorsatz, in Nepal über die Kinderarbeiter in Teppichfabriken zu schreiben, scheiterte, weil es das Problem schlicht nicht mehr gibt. Verschiedene Entwicklungshilfeorganisationen bestätigten mir meinen Eindruck. Kinderarbeit in
Teppichfabriken gibt es in Nepal (fast) nicht mehr. Wann scheitert eine Recherche schon Mal aus einem guten Grund?
Danke
Die Zeit in Nepal wird für mich immer eine besondere Zeit bleiben. Ich
habe viel gelernt und viele Erfahrungen gemacht. Nur gute.
Eine Menge Menschen haben mich unterstützt, in Deutschland und in
Nepal. Mein Dank geht an alle. Einige möchte ich trotzdem hervorheben.
Dank an die Heinz-Kühn-Stiftung, die mir die einmalige Chance gegeben
hat, drei Monate lang in einem aufregenden, fremden Land gründlich zu
einem Thema zu recherchieren. Was mir am Anfang wie eine kleine Ewigkeit
erschien, war am Ende fast zu kurz.
Mein besonderer Dank geht an zwei Kollegen von der Deutschen Welle:
Bedanken möchte ich mich bei Günther Knabe, dem Leiter der Asienabtei-
Chris Hulin
Nepal
lung. Er stattete mich, ohne mich vorher zu kennen, mit so reichen Empfehlungsschreiben aus, dass mir schon alleine damit in Nepal nichts mehr passieren konnte. Bedanken möchte ich mich auch bei Anke Rasper, Redakteurin im englischen Programm der Deutschen Welle. Sie war, kurz vor meiner
Abreise nach Nepal, in Kathmandu und betätigte sich als Feuerwehr, als
mein geplantes Praktikum bei Nepal Television (NTV) zu scheitern drohte. Es
hat dann tatsächlich doch alles geklappt.
Bedanken möchte ich mich auch bei den Kollegen von NTV: Sie haben
mich herzlich und kollegial aufgenommen.
Dank an Charlotte Addy, Projektleiterin der GTZ in Nepal. Sie ließ mich ihr
GTZ Projekt in Doti, Nepal‘s „Wildem Westen“, besuchen. Die zehn Tage in
Doti, abseits von jedem touristischen Pfad, gehören zu meinen besten Erinnerungen. Dank an Mohan Raj Sharma, der mir in Doti immer mit Rat und Tat
geholfen hat. Dank auch an Andreas Falk, dem 1. Vorsitzenden der DeutschNepalischen-Hilfsorganistion, der mich zu einer unvergesslichen Feier nach
Lamidanda mitnahm. Ich habe alle Blumen ganz unverdient bekommen.
Dank an Ludwig Debuck, der mit vielen Tipps und seinen ausführlichen
Internetseiten meine Reiseplanung wesentlich unterstützt hat. Dank an Gereon
Wagener, der so unvorsichtig offen mit einer Journalistin über das schwierige
Thema „girls-trafficking“ gesprochen hat. Und an Rolf Schmelzer, der mich
mit vielen interessanten Gesprächspartnern bekannt gemacht hat.
Dank an: Dr. Novel Kishore Rai, Ram Thapa, Philipp Thapa, Erika Becker,
Geeta Manandhar, Ann-Katrin Bauknecht, Indira Rana, Philipp Holmes,
Gerald Heng und die Kinderhilfe Mainz. Ich habe bestimmt noch jemanden
vergessen und hoffe, Sie sehen es mir nach.
Zum Schluss geht mein herzlicher Dank an Erdmuthe Op de Hipt und Ute
Maria Kilian von der Heinz-Kühn-Stiftung, die mich und mein Projekt mit
soviel Aufmerksamkeit und Herzlichkeit „betreut“ haben.
Nele Husmann
aus New York
Stipendien-Aufenthalt in
Kuba
vom 01. November bis 31. Jannuar 2000
Kuba
Nele Husmann
Kino in Kuba – eine Revolution auf Celluloid
Von Nele Husmann
Kuba, vom 01.11.1999 bis 31.01.2000
Kuba
Nele Husmann
Inhalt
Zur Person
Ein Bericht über Kubas Filmlandschaft
Das Filmfest
Die kubanische Kinogeschichte
Interview mit dem Kinokritiker Frank Padron
Das Kinoprogramm
Die Produktion
Interview mit dem Schauspieler Enrique Molinas
Die Kinoklubs
Die Zensur
Interview mit dem Regisseur Fernando Perez
Die Ausbildung junger Cineasten
Deutsches Kino in Kuba
Interview mit dem Regisseur Daniel Diaz Torres
Neue kubanische Filme
Neue Filmprojekte für das Jahr 2000
221
Nele Husmann
Kuba
Zur Person
Nele Husmann, am 20. März 1970 in Wesel am Niederrhein geboren, sammelte, während ihrer Banklehre bei der Westdeutschen Landesbank in Düsseldorf, von 1989 bis 1991 im Lokalteil der Neuen Ruhr Zeitung erste journalistische Erfahrungen. Von 1991 bis 1993 volontierte sie beim Anlegermagazin
Börse Online in München. Danach arbeitete sie bei Werben & Verkaufen, Forbes, dem Börse-Online-Korrespondentenbüro Frankfurt, Reuters und Capital.
Seit Februar 2000 berichtet sie für Börse Online als Wall-Street-Korrespondentin aus New York.
Ein Bericht über Kubas Filmlandschaft
Um drei Häuserblocks steht eine Menschenschlange. Schon seit mehr als zwei
Stunden verharren die Menschen, das Anstehen gewöhnt, vor dem Cine Yara,
dem größten und schönsten Kino Havannas. Plötzlich kommt Bewegung in die
Masse. Der Einlass beginnt. Alles drängelt sich nach vorn. Polizisten versuchen,
die Menge zurückzudrängen. Die große Scheibe des Kinofoyers zerbricht. Ein
Journalist filmt die Szene. Ein Mann in Zivil entreißt ihm die Kamera – ist es ein
aufgebrachter Bürger oder die Geheimpolizei?
Eine Szene aus dem größten Kinospektakel Lateinamerikas: Dem 21. Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films in Havanna, Anfang Dezember
1999. In einer Schaureihe über den neuen nordamerikanischen Film läuft „Eyes
wide Shut” von Stanley Kubrick – vielleicht das einzige Mal in ganz Kuba. Jeder
will diesen Film sehen. Viele nehmen sich Urlaub, um keinen, der wenigen europäischen und amerikanischen Filme zu verpassen. Die Stadt ist im Ausnahmezustand – für die ganzen elf Tage, die das Festival läuft.
Der Kinobesuch ist eine Flucht vor dem harten Alltag. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Versorgungslage in ganz Kuba schwierig. Seit der
amerikanische Dollar als zweite Währung neben dem Peso legalisiert wurde,
kann man in Kuba fast alles Lebensnotwendige kaufen – es ist nur eine Frage des
Preises.
Eine Lux-Seife für zwei Dollar, ein Liter Speiseöl für drei Dollar, ein kleiner Fernseher, Marke Samsung, für 350 Dollar – das wäre kein Problem, wenn
nicht weiterhin die staatlichen Löhne für Arbeiter, Lehrer oder Ingenieure zwischen zehn und 20 Dollar im Monat rangieren würden. Jeder Kubaner erhält
eine Lebensmittelkarte für stark subventionierte Produkte. Doch die Mengen
sind rationiert. Allein davon wird niemand satt. Wer mehr will, als überleben,
braucht einen Job, der Dollars einbringt.
Kuba
Nele Husmann
Das hat zu einer dramatischen Flucht Intellektueller, Ingenieure und Wissenschaftler aus ihren angestammten Berufen geführt. Lehrer fahren Taxi,
Ingenieure spielen Kellner in Touristenrestaurants. Oder sie vermitteln Fremdenzimmer und private Restaurants gegen eine versteckte Provision.
Innerhalb sehr enger Schranken erlaubt die kommunistische Regierung, mit
Fidel Castro an der Spitze, kleine private Betriebe, die Zimmer vermieten oder
Restaurants mit maximal zwölf Stühlen betreiben. Doch erhebt der Staat so
hohe, von den Einnahmen unabhängige Steuern, dass sich die private Initiative nur lohnt, wenn das Restaurant jeden Abend voll besetzt ist.
Es bleibt der Schritt in die Illegalität. Leute fahren verbotenerweise Touristen in ihren Privatautos, sie vermieten illegal unangemeldete Zimmer, sie
stellen vier bis fünf zusätzliche Stühle in ihr Restaurant. Manche verkaufen
gefälschte Zigarren an Touristen. Dabei riskieren sie hohe Geld- oder gar
Gefängnisstrafen. Kontakte zu Ausländern sind unerwünscht – viele Kubaner
fürchten sich, auf der Straße mit Ausländern gesehen zu werden. Viele Frauen
riskieren trotzdem Liebschaften mit Ausländern – es ist der leichteste Weg, aus
Kuba herauszukommen. Dafür nehmen sie es in Kauf, dass Ihnen für den Tatbestand „ Prostitution“ zwischen einem und vier Jahren Gefängnis blühen.
Trotz aller Restriktion: Kuba ist ein faszinierendes Land, und die meisten
Kubaner strahlen vor Lebensfreude und Offenheit. Kuba hat eine, im lateinamerikanischen Vergleich, traumhaft niedrige Analphabetenquote. Jedem
Kubaner stehen kostenlos Krankenhäuser zur Verfügung – die zum Teil so gut
sind, dass sie Kranke aus der ganzen Welt anziehen. Das kulturelle Angebot
reicht bis zum Nationalballett – das ist für eine Karibikinsel außergewöhnlich.
Die Kubaner sind ein Volk leidenschaftlicher Kinogänger. Der Eintritt kostet landesweit weniger als 20 Pfennig in nationaler Währung – das ist selbst
für kubanische Verhältnisse ausgesprochen billig.
Doch Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. In den letzten zehn
Jahren kamen nur wenig neue Filme nach Kuba. Die Wirtschaftskrise hat auch
die kubanische Kinolandschaft in Mitleidenschaft gezogen. Gab es früher
mehrmals die Woche neue Leinwandauftritte, wechselt das Programm heute
in Havanna, selbst in den besten Kinos, nur noch alle zwei bis vier Wochen.
Die ganze Zeit läuft nur ein einziger Film. In den Provinzkinos ist die Lage
noch schlechter. Die meisten Kinosäle sind verfallen und brauchen dringend
eine Renovierung.
Trotzdem hat Kuba es geschafft, innerhalb Lateinamerikas Filmlandschaft eine
herausragende Stellung beizubehalten. Kubanisches Autorenkino feiert rund
um die Welt Erfolge, wie zum Beispiel „Erdbeere und Schokolade – Fresa y Chocolate” vom 1996 verstorbenen Regisseur Thomas Gutierrez Alea. Der Film ist
berühmt – nicht nur wegen seiner Klasse, sondern auch weil Titon, wie die Kubaner ihren Lieblingsregisseur nennen, selbst bei politisch problematischen Themen
Nele Husmann
Kuba
kein Blatt vor den Mund nimmt. Internationale Regisseure leihen sich kubanische Kamerateams aus, wenn sie auf der Insel filmen wollen. Und Studenten aus
der ganzen Welt kommen nach Kuba, um sich an den Universitäten zu professionellen Cineasten auszubilden.
Das 21. Festival des Neuen Lateinamerikanischen Kinos
Die Pressekonferenz zum Start des 21.Festivals des Neuen Lateinamerikanischen Kinos in Havanna, ist eigentlich ganz unspektakulär. Wie üblich kommt Alfredo Guevara, der Chef des ICAIC, eine halbe Stunde zu spät, wie üblich trinkt
er während seiner Rede einen kleinen Cognac. „Auf dem Filmfest werden wir insgesamt 89 Spielfilme zeigen, davon gehen 36 in den Wettbewerb ein. Hinzu kommen 24 Dokus, elf Zeichentrickfilme, 36 Drehbücher und 23 Kinoplakate.
Mexiko, Brasilien und Argentinien sind am stärksten vertreten, Kuba reicht zwei
Filme ein, und interessant ist, dass diesmal aus Ecuador zwei Filme kommen“.
Nach der Rede geht es zum wahren Ereignis über: Die Kellner des „Hotel
Nacional“ bringen silberne Tabletts voller Häppchen in den Saal. Und die 150,
vorwiegend kubanischen Journalisten, fegen die Tabletts in weniger als 30 Sekunden leer. Besonders beliebt: Die halben Äpfel, in die Pickser zum Aufpicken der
Häppchen gesteckt sind. Sie werden nicht sofort gegessen, sondern eingesteckt
für die ganze Familie. Äpfel sind eines der knappsten Güter überhaupt – einer kostet einen Dollar. „Das ist erst seit der Wirtschaftskrise so”, entschuldigt sich ein
kubanischer Journalist, dem die Situation peinlich ist, „aber wir kommen hier in
Kuba alle schwer über die Runden”.
Vor diesem Hintergrund ist es umso faszinierender, was dieses Filmfest auf die
Beine stellt. Im letzten Jahr gab es rund 800 Filmvorführungen mit mehr als
600.000 Besuchern. Dieses Jahr ist der Andrang noch größer: Über elf Tage stehen zu jeder Tageszeit lange Schlangen vor fast allen Kinos, selbst die Retrospektive sowjetischer Filme ist komplett ausverkauft.
Interessant dabei: Das Festival schert sich, genau wie die gesamte Insel, nur
wenig um Angebot und Nachfrage. Vor den Wettbewerbsfilmen aus Lateinamerika gibt es den geringsten Andrang. Die großen Kassenschlager sind die
amerikanischen Filme, allen voran „Eyes wide shut”, die spanischen Werke und
die dänische Dogma-Reihe. Die Kinotüren gehen erst zu, wenn nicht nur alle
Sitze belegt sind, sondern auch auf allen Gängen kein Flecken mehr frei ist.
Selbst die zeitgleich stattfindenden Massendemonstrationen für die Rückkehr des sechsjährigen Elian, dessen Mutter und Stiefvater auf einem Fluchtversuch ertranken und der bei einem Onkel in Miami untergekommen ist,
haben kaum Einfluss auf den Rummel vor den Kinos.
Kuba
Nele Husmann
Es gibt meist zwei gleichlange Schlangen: Eine für Kinobesucher mit normalen Eintrittskarten, und eine zweite für Besucher mit Akkreditierung.
Beide sind fast gleich lang, doch mit Festivalausweis gibt es größere Chancen
auf Einlass.
„Diesmal habe ich auch einen Ausweis abgekriegt”, lacht Ramon, ein
23jähriger Kunststudent. Natürlich nicht offiziell, sondern auf Umwegen
über einen Freund, dessen Bekannter beim ICAIC arbeitet und Zugriff auf die
Automaten hat, die Ausweise herstellen. „Wir mussten ihn lange bequatschen, und dann hat es nur einen Dollar gekostet.“ Andere Mitarbeiter des
ICAIC, die selbst kein Interesse oder das Geld nötiger haben, verkaufen ihre
Akkreditierungen für bis zu sieben Dollar.
„Es gibt jedes Jahr viele gefälschte Ausweise, obwohl wir die Technik
immer wieder verändern”, erzählt der ICAIC-Chefeinkäufer Roberto Smith
de Castro. „Dabei geht es den Fälschern weniger ums Geld, sondern darum,
hereinzukommen. Ich kann das sogar verstehen“.
Wer endlich ins Kino gekommen ist, muss noch mehr Widrigkeiten ertragen. „Der Zustand der Kinos ist ein Drama”, sagt Smith de Castro. Bei vielen liegen die Toiletten genau zwischen Foyer und Vorführraum. Sie sind in
erbarmungswürdigem Zustand. Ein widerlicher Gestank zieht die Sitzreihen
hinunter. Auch die Säle mancher Kinos sind dringend erneuerungsbedürftig.
Der Plüsch ist abgewetzt, der Teppich verschlissen und einige Sitzreihen
fehlen ganz. Die Renovierung der Projektoren kostet soviel Geld, dass für die
Säle nichts übrig bleibt. „Das ICAIC versucht zu helfen, wo es möglich ist”,
beteuert Smith de Castro, „aber auch in nächster Zukunft gibt es nur kleine
Reparaturen“.
Das Filmfest findet nicht ohne Grund jedes Jahr im Winter statt. Oft fallen
die Klimaanlagen im Sommer wegen Überlastung aus, und die Kinosäle verwandeln sich in unerträglich heiße Saunen.
1990, als der Staat keine Unterstützung mehr aus Russland erhielt, sah es
so aus, als könne das Filmfest nicht mehr stattfinden. Doch Alfredo Guevara,
ein Mann mit unzählbaren Kontakten, setzte sich ins Flugzeug, um seine über
die ganze Welt verteilten Kinofreunde anzupumpen. Inzwischen, nach knapp
zehn Jahren der Selbstfinanzierung, bleibt sogar unter dem Strich ein kleiner
Überschuss.
Ein Grund dafür ist das neue Marketingkonzept des ICAIC: Jetzt läuft vor
jedem Film ein zehnminütiger, immer gleicher Werbestreifen. Absurderweise
kommt das Geld irgendwie immer noch aus der Staatskasse, denn bis auf
wenige Ausnahmen schalten Staatsfirmen wie Havannauto Mietwagen,
Romeo und Julia-Zigarren, Cristal-Bier, der Club Havanna und das Hotel
Nacional (beide für normale Kubaner nicht zugänglich), die Werbung.
Nele Husmann
Kuba
Auch die Kinozeitschrift „Cine Cubano”, die während des Filmfests eine
tägliche Sonderausgabe produziert, lebt selbstfinanziert von der Werbung.
„Langsam geht es wieder aufwärts”, sagt Chefredakteurin Maruja Santos
Martinez. Die Auflage von 3.000 Exemplaren ist zwar noch dürftig, aber die
vergangenen sieben Jahre war das Magazin aufgrund von Geld- und Papiermangel überhaupt nicht erschienen. Davor war sie die größte Kulturzeitschrift Kubas, mit einer Auflage von 20.000 bis 30.000 Exemplaren vierteljährlich.
Das Filmfestival kommt bis in die Provinz. Viele Filme gehen, nachdem sie
in Havanna gezeigt wurden, auf eine Reise in die sechs größten Städte Kubas,
wo sie einen oder zwei Tage laufen. Auch hier bietet sich das gleiche Bild wie
in Havanna: Lange Schlangen vor den Kinosälen.
Professionelle Festivalbesucher aus Europa sind weniger angetan von den
diesjährigen Festivalfilmen: „Es ist kein einziger, wirklich großer Film dabei“,
sagt stellvertretend der Schweizer Geri Krebs, der für die „taz“ über die
Festspiele berichtet. In früheren Jahren waren anspruchsvollere Filme und größere Namen am Start. Den ersten Preis, die schwarze Koralle, erhält die
große Ausnahme: „Garaje Olimpo – Garage Olympus“ von Marco Becchis
aus Argentinien. Der Film geht unter die Haut. Er zeigt die Grausamkeit der
Folter während der Militärdiktatur in Argentinien. Den Publikumspreis
gewinnt „Un paraiso bajo las estrellas – ein Paradies unter den Sternen“, eine
schwungvolle kubanische Komödie. Der Film erhält auch die Korallen für die
beste Vertonung und die beste Filmmusik.
Guevara selbst ist stolz auf das, was er und seine Mitarbeiter erreicht
haben: „Auch wenn die Kinosäle in außerordentlich schlechtem Zustand
sind, gehen die Leute einfach gern ins Kino. Besonders beim Filmfest:
600.000 bis 800.000 Menschen besuchen die Kinos in diesen Tagen in der
Hauptstadt – und das bei einer Einwohnerzahl von zwei Millionen Menschen.” Carlos Diegues, der Regisseur des brasilianischen Eröffnungsfilms
„Orfeo – Orpheus”, drückt im Teatro Karl Marx aus, was so viele ausländische Cineasten jedes Jahr wieder auf das Filmfest in Havanna treibt: „Das Festival ist für mich jedes Jahr wie ein Familientreffen. Man sieht sich das ganze
Jahr nicht, und doch bleibt man sich sehr nah. Danke”.
Die kubanische Kinogeschichte
Das Kino vor der Revolution
Am 23. Januar 1897 findet die allererste Filmvorführung in Havanna statt.
Der Franzose Gabriel Veyre eröffnet sein Kino „Lumiere“ im Teatro Tacon auf
der Prachtstraße Havannas, dem Prado. Die erste Vorführung zeigt Stumm-
Kuba
Nele Husmann
filme wie „Ankunft eines Zuges”, „Die Puerta del Sol in Madrid” und „Die
Ankunft des Zaren in Rußland“.
Nur zwei Wochen danach finden die ersten Filmaufnahmen in Kuba statt.
Veyre dreht: „Die Simulation eines Feuers” mit den Feuerwehrleuten Havannas. Der erste größere Film aus Kuba handelt vom Unabhängigkeitskrieg
gegen die Spanier zwischen 1898 und 1902.
Nach dem ersten Weltkrieg gewinnen die Amerikaner stärkeren Einfluss auf
Kuba – und die kubanische Filmlandschaft. Distributoren wie Columbia,
Warner Brothers, Fox, United Artists, Goldwyn Mayer und Universal Pictures eröffnen ihre Niederlassungen in Havanna.
Geld spielt eine große Rolle. Aber das ist nicht alles. „Es gefällt den Kubanern besser als das europäische Kino”, erklärt Mario Piedra, Professor für
Filmgeschichte an der Universität von Havanna und Marketingexperte beim
ICAIC. Die temperamentvollen Inselbewohner ziehen die schnellen Schnitte
und rasanten Komödien aus den USA den oft melancholischen Filmen aus Italien, Frankreich oder Deutschland vor.
Der Tonfilm kommt 1930 nach Kuba. Inzwischen dominiert der US-Film so
sehr, dass kubanische Filme, wie die Werke eines Enrique Diaz Quesados, kaum
einen Verleih finden. Der erste kubanische Film-Regisseur dreht eine ganze
Reihe von Filmen, die aber später, während eines Brandes, komplett vernichtet
werden.
„Bis 1959 gab es immer wieder Versuche, kubanisches Kino zu machen, doch
ließ sich dafür kaum Geld finden, und der neoliberale Staat unterließ jeden Eingriff in den freien Markt“, sagt Piedra. „Was entstand, war geprägt von schlechter technischer Qualität, viel Erotik und zweifelhaften Themen”. Dies ist die offizielle ICAIC-Version. Dadurch, dass die meisten vorrevolutionären Werke
zerstört sind, lässt sich die wirkliche Qualität des frühen Kinos kaum nachprüfen.
„Die Revolution tut so, als ob es vor dem ICAIC überhaupt keine kubanische
Filmkultur gab”, empört sich der unabhängige Journalist Reynaldo Escobar,
„doch das stimmt nicht”. Ein umfangreiches Buch, „Cronologia del Cine Cubano – Chronologie des kubanischen Kinos” von Arturo Agramonte, berichtet über
das kubanische Kino vor 1959 und könnte für mehr Hinweise sorgen. Doch es ist
hoffnungslos vergriffen – die erste und letzte Ausgabe stammt von 1966.
Die Revolution
In den Fünfziger Jahren entsteht eine nationalistische Bewegung von Kubanern, die sich an der immer größeren Präsenz der US-Kultur in Kuba stört. 1952
startet Castro den Angriff auf die Kaserne Moncada in Santiago de Kuba, doch
er scheitert und kommt ins Gefängnis.
1953 produziert eine Reihe junger Kubaner, darunter Julio Garcia Espinosa,
Tomas Gutierrez Alea und Alfredo Guevara den Film „El Megano”. Espinosa
Nele Husmann
Kuba
und Alea studierten in Rom und waren vom Neorealismus inspiriert. So entsteht
eine kritische Dokumentation über ein besonders armes Viertel der Provinzstadt
Matanzas. Der Film wird am 5. 11. 1955 ein einziges Mal aufgeführt. Danach
konfisziert ihn das Batista-Regime.
Gutierrez Alea macht mit kommerziellem Kino weiter. Er dreht viele Wochenschauen mit kleinen Sketchen, wodurch er den Umgang mit Schauspielern lernt.
Unterdessen trainiert Fidel Castro die Guerilleros in der Sierra Maestra, einem mit
Dschungel überzogenen Gebirge im Osten des Landes. Mit von der Partie ist der
Cineast Alfredo Guevara, ein enger Freund Castros. „Das ist ein entscheidender
Punkt für die Entwicklung der kubanischen Kinokultur”, sagt Piedra.
Als die Revolution am 1. Januar 1959 siegt, ist Kuba ein reiches, aber von den
Vereinigten Staaten wirtschaftlich abhängiges Land. Kuba hatte sechs Jahre
vor seiner Kolonialmacht Spanien eine Eisenbahn, hatte als erstes Land der Welt
vor den USA ein Telefon ohne Handvermittlung und war das vierte Land der Welt
mit einem Fernsehsender. „Castro ist der erste Politiker weltweit, der das Medium
Fernsehen voll für seine politischen Zwecke benutzt”, sagt Piedra. „Der Fernseher
war Castros Weg zur Kommunikation mit dem Volk. Und Castro wusste auch,
wie wichtig das Kino ist“.
Dem Einfluss Alfredo Guevaras ist es zu verdanken, dass auf der 20-PunkteListe aller Dinge, die die Revolution erreichen will, auf Platz 13 die Errichtung
einer nationalen, kubanischen Kinokultur aufgeführt ist. 80 Tage nach dem
Sieg der Revolution wird das Nationale Kubanische Kinoinstitut ICAIC gegründet. Zu den ersten Mitgliedern zählt genau die Truppe, die die Dokumentation
“El Megano” gedreht hatte. Außerdem schlossen sich die drei wichtigsten Amateur-Kinoclubs an (Siehe Kinoclubs).
Das ICAIC veröffentlicht ein Statut über seine Politik, das sich in den letzten
40 Jahren nicht verändert hat:
1)
2)
3)
4)
Kino ist Kunst
Das Kino soll dazu beitragen, ein ideologisches Bewusstsein zu schaffen
Es soll die Bevölkerung mit der Revolution verbinden
Es ist ein Medium der Kultur und soll eine nationale Identität aufbauen
„Das ICAIC verstand sich nie als Unternehmen, sondern als eine kulturelle
Bewegung. Es wollte nicht die UFA sein, sondern Bauhaus oder Sturm und
Drang. Und es ist tief verwurzelt in der Revolution”, sagt Mario Piedra.
Das ICAIC hatte zwei grundlegende Missionen, nämlich die Entwicklung
einer nationalen Kinokultur und die Erziehung eines neuen Publikums. Doch
zunächst musste es eine technische Infrastruktur aufbauen. „Jeder, der vor der
Revolution in Kuba das Kino entwickeln wollte, dachte an ein kleines Hollywood”, erzählt Piedra. „Doch das ICAIC wollte statt großer Studiobauten trag-
Kuba
Nele Husmann
bare Kameras, um auf der Straße zu filmen.“ Um nicht von Europa oder den
USA abhängig zu sein, kaufte das ICAIC alles Equipment für Filmentwicklung,
Nachbearbeitung und Tonstudio.
Doch das technische Personal fehlt. Die einzigen beiden Personen im ICAIC,
die ihr Handwerk gelernt haben, sind Gutierrez Alea und Espinosa. Deshalb sind
Dokumentarfilme „en vogue“. So können die Regisseure nicht nur ihr Handwerk
lernen, sondern zugleich den dramatischen Umbruch in ihrem Land festgehalten.
Noch 1958 kommen 96 Prozent aller in Kuba gezeigten Kinofilme aus den
USA. Knapp zwei Jahre lang konkurriert das ICAIC mit den US-Distributoren.
Dann brechen die USA die Beziehungen zu Kuba ab. Im Gegenzug verstaatlicht
die Revolutionsregierung alle Filmvertriebe und Kinos. In weiser Voraussicht
hatte das ICAIC bereits einiges Filmmaterial gesammelt. Zusätzlich erweitert es
das Spektrum der Länder, aus denen es Filme zeigt. 50 Prozent aller Ausstrahlungen stammen jetzt aus sozialistischen Ländern, 20 Prozent kommen als
Raubkopien aus den USA, und die übrigen 30 Prozent entfallen auf den Rest der
Welt.
„Die Puristen der Revolution wollten alle US-Filme verbieten”, erinnert sich
Piedra, “doch Fidel war dagegen. Er wusste, dass das Volk diese Filme sehen
wollte. Also wurden sie nach qualitativen Kriterien und Aussagen ausgesucht”.
Im ganzen Land entstehen neue Kinosäle.
Die Sechziger Jahre
Die Sechziger Jahre sind die produktivste Zeit des kubanischen Kinos. Wie die
Politiker erfasst auch die Kreativen eine große Aufbruchstimmung mit ungekanntem Enthusiasmus. „Das war wie ein großes Fest”, sagt Piedra. „Keiner musste an den wirtschaftlichen Erfolg denken. Es gab keinen Druck vom Produzenten. Es war eine Zeit der großen Freiheit.” In der ersten Etappe müssen die
kubanischen Regisseure eine eigene Sprache suchen.
Ohne den Dokumentarfilmer Santiago Alvarez ist das kubanische Kino nicht
vorstellbar. Er entwickelt die Wochenschau zu einer Kunstform. Alvarez verabschiedet sich von den harten Schnitten zwischen zwei Nachrichten und verbindet sie spielerisch. Er bewirkt einen kreativeren Umgang mit der Kamera. Und
er beginnt, Wochenschauen zu nur einem einzigen Thema zu machen. Das ist der
Schritt von der Wochenschau zum Dokumentarfilm.
Am berühmtesten wird die Dokumentation „Now – Jetzt” von 1965. Unterlegt
mit einem hebräischen Lied gegen den Rassismus der US-Sängerin Lena Home,
zeigt Alvarez Bilder der Diskriminierung und der Brutalität gegen schwarze USBürger. Plötzlich gehen die Menschen ins Kino, um die Wochenschau zu sehen,
und nicht den Spielfilm, der danach läuft. „Die Wochenschau ist klar politisch,
aber keine Propaganda. Denn Alvarez verkompliziert die Ideen, statt sie verein-
Nele Husmann
Kuba
fachend zu verkaufen. Alvarez ist eher Künstler als Kommunikator. Das gefällt
der Regierung nicht immer”, erklärt Piedra.
Kinomobile, Kinos auf Rädern, bringen die Filme in die abgelegensten Dörfer, dorthin, wo sich der Bau eines Kinos nicht lohnt. Mit einem 16mm-Projektor und einem Stromaggregat ausgestattet, fahren Lkw‘s von Dörfchen zu Dörfchen, wohin aus dem ganzen Umkreis die Menschen strömen. Die Vorstellungen
sind gratis. Der Regisseur Octavio Cortazar dreht 1967 die rührende Dokumentation „Por primera vez – Zum ersten Mal”. Er zeigt die Faszination der Bauern, die zum allerersten Mal bewegte Bilder sehen. Mit dem Benzinmangel der
90er Jahre verschwinden die Kinomobile jedoch sang- und klanglos.
Ab 1960 entstehen die ersten Spielfilme in Kuba. Gutierrez Alea dreht einen
Kriegsfilm über die Revolution „Historia de la Revolucion”, die an HollywoodKino erinnert. Espinosa zeigt im neorealistischen „Cuba Baila – Kuba tanzt” den
Alltag einer Arbeiterfamilie. Das sind noch keine großen Filme. Am besten ist
Alea: „Zwölf Sitze”, ist ein gut gemachter Film, und „Der Tod eines Bürokraten”
ist eine Satire über zuviel Bürokratie, die erst im Kuba der 80er Jahre eine
besondere Schärfe bekommt.
„La primera carga al machete – Die erste Schlacht mit der Machete” – von
Manuel Octavio Gomez 1968/69 gedreht – ist ein Historienfilm über den Unabhängigkeitskrieg Kubas gegen Spanien. Der Film ist eine Mischung zwischen
Dokumentation und Fiktion. Er stellt die Idee des Guerillero-Generals Maximo
Gomez dar; wie die schwarzen Sklaven gegen die Übermacht der mit Gewehren
und Lanzen ausgerüsteten Spanier ankommen könnten: Durch den Einsatz ihres
täglichen Arbeitsinstruments auf den Zuckerrohrfeldern – der Machete! „La
carga al machete“ ist für die Kubaner zum geflügelten Wort geworden, wie man
eine Situation in allerletzter Minute für sich entscheidet.
Octavio Gomez gestaltete seinen Film wie eine Wochenschau von 1868, mit
viel Kontrast, damit es wie ein alter Film aussieht. Die Kamera schaukelt in den
Schlachtszenen wild hin und her und vermittelt dem Zuschauer das Gefühl, mittendrin zu stecken. „Dieser Film hat zwar einen Preis in Venedig bekommen,
doch für das kubanische Publikum war er viel zu avantgardistisch”, erzählt Piedra.
Im Kontrast dazu steht der Film von Julio Garcia Espinosa aus dem gleichen
Jahr: „Las aventuras de Juan Quin Quin – Die Abenteuer des Juan Quin Quin”
ist ein Publikumsschlager. Espinosa kombinierte alle nur erdenklichen Stilmittel des amerikanischen Kinos, um es so zu demontieren. Der Film zerstört die
Illusionen, die im US-Film aufgebaut werden und spielt mit ihnen. Schließlich
baut er alle Puzzleteile wieder zusammen – und eine gute Komödie entsteht.
Bis heute findet „Memorias del subdesarollo – Erinnerungen an die Unterentwicklung” von Tomas Gutierrez Alea international unter Kinokennern
die meiste Beachtung. Sogar in den USA erschienen Bücher zum Film.
Kuba
Nele Husmann
„Alea ist der einzige kubanische Regisseur, der sich sein Leben lang gesteigert hat”, urteilt Piedra. „Würden wir das kubanische Kino ohne die Werke
seiner Hauptfigur sehen, wäre es wohl nur mittelmäßig“.
In „Memorias” ist die Hauptfigur Sergio ein Antiheld, der außerhalb des
neuen Systems steht. „Die Konterrevolutionäre, die glauben, sie könnten in
ihre bequeme Unwissenheit zurückkehren, machen sich etwas vor. Die gleichen
Illusionen haben die Revolutionäre, die meinen, sie könnten dieses Land aus seiner Unterentwicklung reißen”, ist sein Schlüsselsatz in diesem Film. Sergio
gehörte der wohlhabenden Oberschicht an, doch Eltern und Ehefrau reisen aus,
als ihr Mietsblock gemäß neuer Revolutionsgesetze in die „Volksgewalt“ übergeht. Sergio bleibt allein zurück, findet sich aber auch in der veränderten Welt
nicht zurecht und verliert sich immer mehr.
„1968 war Sergio ein negativer Typ, den die Leute im Kino unsympathisch
fanden. Heute stimmen viele Menschen ihm zu”, sagt Piedra. „Das ist das
wahre Geheimnis von Titons Filmen: Sie waren visionär, weil sie viel später wahr
wurden. Das ist auch der Grund, warum er sie ohne Probleme zur jeweiligen Zeit
drehen konnte – sie hatten damals nicht die gleiche Bedeutung wie heute”.
Die Siebziger Jahre
1967 stirbt Che Guevara in Bolivien. Ein Jahr später startet eine neue Offensive der Revolution, alle werden enteignet, auch die Eigentümer kleinere
Geschäfte. Von 1970 bis 1976 muss die Kunst ideologisch korrekt und immer
politisch sein. Viele Künstler und Intellektuelle verlassen das Land. Die einzige
Institution, die ihre eigene Idee durchboxt, ist das ICAIC – es weigert sich, Filme
nach russischer Machart zu drehen. Beispiel ist ein Film, den das Publikum wirklich gern sieht: “El Hombre de Maisinicu – Der Mann aus Maisinicu” von
Manuel Perez. Es ist zum ersten Mal ein ganz normaler Film, fast ein Krimi. Von
Ideologie weit und breit keine Spur.
1976 findet ein Parteikongress statt, der das ganze Land erneut verwandelt.
Aus den bisherigen sechs Provinzen Kubas werden 14 gestückelt, um die
Macht Havannas besser durchsetzen zu können. Eine sozialistische Verfassung
wird verabschiedet.
Damit hört auch das ICAIC auf, als eigenständiges Institut zu existieren. Die
Kinos, bislang vom ICAIC betrieben, werden an die verschiedenen Provinzen
verteilt, wo sie den neugegründeten „Provinzzentren für Kino” unterstellt werden. Die Idee dahinter: Die Kinos machen ein gutes Geschäft. Jetzt sollen die
Einnahmen den Provinzen selbst zukommen. Doch der Plan scheitert. Ohne die
zentrale Organisation des ICAIC verschwinden oft Filmrollen auf dem Weg von
einer Provinz in die andere, oder sie kommen kaputt an. Einzig die Kinos in
Havanna bleiben profitabel. Auch als klar wird, dass es sich um eine Fehlentscheidung handelt, korrigiert Castro nichts. Erst heute wird überlegt, die Kinos
Nele Husmann
Kuba
wieder dem ICAIC zu unterstellen – doch das Institut will die verschlissenen,
unrentablen Säle um keinen Preis der Welt zurückhaben.
Zwischen 1976 und 1980 wird alles bürokratisiert. Jedes Unternehmen
erhält Gelder nach einer Rangliste. Hierauf rangiert das Kino mit der Priorität
fünf, lange nach dem Zuckeranbau. Dementsprechend erhält es viel zu wenig
Benzin und Transportmittel, die bei der Filmproduktion natürlich entscheidend sind. Ein Zustand, der sich bis heute gehalten hat.
Die Achtziger Jahre
Alfredo Guevara will sich 1980 Luft schaffen: Er lässt Humberto Solas die
in Kuba berühmte Geschichte der Cecilia Valdez verfilmen. Cecilia ist eine
hübsche Mulattin aus dem Waisenhaus, die sich in ihren weißen Halbbruder
verliebt. Der verlässt sie, um eine reiche Weiße zu heiraten. Cecilia bittet einen
Bekannten, etwas gegen die Hochzeit zu tun. Doch der Bekannte bringt den
geliebten Bräutigam um, statt der Braut!
Es ist von vornherein klar, dass diese romantische Tragödie als Kostümfilm
sehr teuer wird, und man findet eine spanische Produktionsgesellschaft, die
die Hälfte der Kosten übernimmt. Guevara wollte eine große, teure Produktion, um das rigide System, dem jeder Mut zum Risiko fehlte, ein einziges Mal
wirklich zu überwinden.
Als das ICAIC eine Mulattin für die Rolle der Cecilia sucht, melden sich
über tausend Frauen. Cecilia gilt in Kuba ebenso als Sexsymbol wie als
Nationalheiligtum. Doch Humerto Solas engagiert schließlich eine ältere
Weiße für die Hauptrolle: Die bereits 40-jährige Daisy Granado. Sein Film
zielt stark auf den Inzest ab, der in Kuba zwischen Mutter und Sohn als viel
anrüchiger gilt, als zwischen Bruder und Schwester. Also verändert Solas die
Geschichte und riskiert, einen Mutter-Sohn-Inzest im Film darzustellen. Der
Versuch scheitert, weil die Kubaner ihre Heldin nicht wiedererkennen. Die
Kritik verreißt „Cecilia”. Guevara erreicht immerhin ein Ziel: Er gewinnt eine
Menge spanischer Autos und Lkw‘s, die nach dem Ende der Dreharbeiten
beim ICAIC bleiben.
Doch „Cecilia” bringt das Fass zum Überlaufen: Guevara wird abgesetzt
und als Botschafter für die UNESCO nach Paris geschickt. Sein Vize, Julio
Garcia Espinosa, übernimmt den Chefsessel des ICAIC (siehe: Die Zensur).
Espinosa zeigt sich als Chef ohne Rückgrat: Er versucht, es allen Recht zu
machen. Unter ihm entstehen Filme, die wenig kosten, populistisch sind und
geringen künstlerischen Anspruch haben. Das Kino fällt in eine Krise. Später
wird diese Epoche das „Graue Jahrzehnt“ genannt. Espinosa verändert vor
allem den Entscheidungsprozess, welche Filme realisiert werden. Bislang entschied Guevara persönlich. „Er war eine intellektuelle Instanz, die von allen
Regisseuren respektiert wurde. Sein Auswahlprozess hatte nichts mit Zensur zu
Kuba
Nele Husmann
tun. Alfredo war kein Funktionär, kein Quadratschädel, der Ja oder Nein sagte,
sondern jemand, der sich mit den Künstlern auseinandersetzte”, sagt Piedra.
Jetzt fällt Espinosa, ein frustierter Regisseur, selbst die Entscheidung, welche Projekte umgesetzt werden – das ist schlimmer als jeder Funktionär.
Espinosa installiert drei Kreativgruppen. Die erste leitet Gutierrez Alea, der
als besonders kritisch gilt. Die zweite übernimmt Humberto Solas, der Künstler. Und die dritte läuft unter Manuel Perez, einem linientreuen Revolutionär.
Je nach Geschmack dürfen sich die Regisseure aussuchen, mit wem sie arbeiten wollten. Die Regisseure müssen ihre Filme miteinander diskutieren. Die
letzte Entscheidung aber behält Espinosa immer für sich.
„Se permuta – Es wandelt sich” von Juan Carlos Tabio ist ganz typisch für
diese Zeit. Er ist so billig wie nur möglich hergestellt worden: Von fünf
Metern gedrehtem Film wurde einer verwendet – sonst werden bis zu 30
Meter gedreht. Etliche Komödien der gleichen Machart entstehen.
Auch Gutierrez Alea und Solas filmen in dieser Zeit, aber ihre Filme
unterliegen strengen Regeln. Alea muss für “Hasta cierto puncto – bis zum
einem gewissen Punkt” seine Hauptidee aufgeben: Einen Regisseur zu filmen,
der das Macho-Gehabe der Hafenarbeiter einfangen will, und dabei die
menschlichen Tragödien vor seiner Nase nicht sieht. Statt dessen muss Titon
sich auf einen Nebenstrang kaprizieren, die Liebesgeschichte zwischen dem
Regisseur und einer Hafenarbeiterin.
Humberto Solas urteilt über diese Zeit: „Die Leute sind vor lauter Filmen
blind für die Probleme der Wirklichkeit“.
Die Neunziger Jahre
„Alicia en el Pueblo de Maravillas – Alice im Wunderdorf ” von Daniel Diaz
Torres ist der letzte Film, der in einer von Espinosas Kreativgruppen entsteht.
Er wird ausgerechnet in der Gruppe des Hardliners Manuel Perez entwickelt.
Diaz Torres hatte bisher zwei Filme gedreht, die unter recht schwachen Drehbüchern litten. Für diesen Film holt Diaz Torres sich deshalb zwei kreative
Humoristen an die Seite, die einen barocken, kritischen und ironischen
Humor pflegen.
Der ganze Film ist wie ein Delirium. Alles ist ironisch – selbst die Musik.
Es handelt sich um eine absurde Geschichte, die von Metaphern lebt. Über
diesen Film kommt es zum politischen Eklat. Er wird nur wenige Tage gezeigt
– ausschließlich vor Parteifunktionären, die den Film verabscheuen (siehe:
Zensur).
„Alicia“ veranlasst, dass Espinosa als Chef des ICAIC abgesetzt und Alfredo aus Paris zurückgeholt wird. Als erstes, nach seiner Rückkehr, führt Guevara die Sprechweise ein, dass „Alicia” nicht konterrevolutionär ist: „Wir dürfen nicht zulassen, dass die Feinde der Revolution sich den Film zu eigen
Nele Husmann
Kuba
machen. Die Revolutionäre selbst aber dürfen kritische Punkte zeigen und
auch im Kino die Situation kritisieren, um sie zu verbessern”. Und nichts
anderes machen Filme wie „Erdbeere und Schokolade”, „Guantanamera”,
„Madagaskar” oder „La vida es silbar”, die seit dem Beginn der 90er Jahre
gedreht wurden.
Der nächste größere Film, der nach Guevaras Rückkehr realisiert wird, ist
„Adorables Mentiras – Bewundernswerte Lügen” von Gerardo Chijona. Eine
Liebesgeschichte, bei der alle sich von Anfang bis Ende belügen. Manche
interpretieren ihn als Anspielung auf die vielseitigen Realitäten in Kuba.
Der Produktionsprozess der Filme verändert sich in den 90er Jahren erneut.
Der Geldmangel in der Periodo Especial, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, macht zahlreiche Koproduktionen nötig (siehe: Die Produktion). Die
revolutionären Werte fallen, und die Leute suchen nach längst verlorengegangenen Werten wie Tradition, Familie, Freundschaft, die in Zeiten, wenn man
sich rund 18 Stunden des Tages ums Überleben kümmern muss, verloren
gehen. Einige Frauen verlassen sogar ihre Familien, um sich für Touristen zu
prostituieren.
Nach „Alicia” entsteht der Fernsehfilm „Maria Antonia”. Es ist ein Melodrama über Prostituierte aus den Fünfziger Jahren, vor der Revolution. Der
ganze Film spielt in dieser Zeit, bis zum Schluss des Films ein modernes Touristentaxi vorfährt. Das ist eine mehr als provokante Anspielung auf die
„Jineteras”, wie die Frauen, die sich heute aus Geldgründen mit Touristen einlassen, im Volksmund genannt werden. Erst 1998, als häufig mehr als 500
Prostituierte auf dem Malecon vor dem Luxushotel „Melia Cohiba“ auf ausländische Freier warten, greift der Staat hart durch: Die Jineteras werden verhaftet und in Massenprozessen hart abgeurteilt.
Der Meilenstein dieser neuen, kritischen Filme ist „Fresa y Chocolate – Erdbeere und Schokolade” von Tomas Gutierrez Alea von 1993. Der Film handelt von einem Schwulen und der Intoleranz, auf die er in der kubanischen
Gesellschaft stößt. Zwar haben sich zu der Zeit, als der Film in die Kinos kam,
die Diskriminierungen von Homosexuellen schon gelindert, doch noch immer
ist das Thema gewagt. Doch Alfredo Guevara zeigt den Film zum ersten
Mal auf den Filmfestspielen in Havanna. Ein sehr geschickter Zug, denn selbst
wenn der Film später beschlagnahmt worden wäre, hätte ihn halb Havanna
bereits gesehen gehabt.
„Alle anderen, realistischen, kritischen Filme sind durch dieses Werk und
seinen Erfolg erst möglich geworden”, sagt Piedra. „Es hatte so viel Auswirkungen auf Kuba wie kaum ein anderer Film.“ Reflexive, interessante und kritische Werke entstehen. Die Regisseure zeigen die Not, die Einschränkungen
und den Wunsch nach Veränderung, die ganz Kuba erfassen, in ihren Filmen.
Kuba
Nele Husmann
„Madagaskar” von Fernando Perez gibt diese schwierige Zeit am besten
wieder. Er stellt die Misere, die Enge und die Armut dar, unter der alle Kubaner leiden. Paul Perez Ureta, Kubas bester Kameramann, filmte die schwarzweißen Bilder. Die Einstiegsszene des Films ist vielleicht die beste der ganzen kubanischen Kinogeschichte. Man sieht vier Menschen mit vor
schlimmster Anstrengung verzerrten Gesichtern, ganz nah, und der Zoom, der
sie ganz gemächlich immer weiter aus dem Auge verliert, verrät dem
Zuschauer erst nach mehr als einer Minute, dass diese Männer auf dem Fahrrad einen steilen Berg hochfahren. Das Fahrrad ist ein Symbol für die Periodo
Especial: Die Kubaner mussten notgedrungen auf Drahtesel zurückgreifen, als
der öffentliche Nahverkehr wegen des Benzinmangels zusammenbrach.
1995 entstehen noch zwei andere kubanische Filme: „Pon tu pensamiento
en mi – Denk an mich”, von Arturo Soto, einem der ersten kubanischen
Absolventen der internationalen Filmschule Kubas, der EICTV.
Und „Guantanamera”, der letzte Film von Tomas Gutierrez Alea, den er
kurz vor seinem Tod gemeinsam mit Juan Carlos Tabio dreht. Diese böse
Satire macht sich über eine Direktive der Bürokratie lustig, die es wirklich
gegeben hat. Es ist ein witziger, aber recht durchschnittlicher Film, der sich
plötzlich, zwei Jahre nach seiner Uraufführung, im Mittelpunkt von Castros
Kritik wiederfindet. Erneut gelingt es Guevara, die Situation zu entschärfen.
Fernando Perez dreht 1998 „La vida es silbar – Das Leben heißt Pfeifen”,
einen anspruchsvollen Film, der vor bitterbösen Anspielungen und Metaphern
strotzt (siehe: Perez-Interview).
1999 entsteht „Las profecias de Amanda – die Prophezeiungen von
Amanda”, von Pastor Vega. Der auf Tatsachen beruhende Film stellt das
Leben einer Wahrsagerin dar. Und er ist völlig unpolitisch, wie auch die
anderen Werke, die in diesem Jahr gedreht werden: Der Geschichtsfilm
„Operación Fangio”, vom argentinischen Regisseur Alberto Lecchi und die
Komödie „Un paraiso bajo las estrellas – Ein Paradies unter Sternen”, von
Gerardo Chijona (siehe: Neue Filme).
Vielleicht hat das kubanische Kino kurz vor der Jahrtausendwende seine
politische Ausrichtung verloren, vielleicht ist es aber auch ein Anzeichen
dafür, dass es einigen Kubanern schon wieder besser geht. Oder es ist die
Folge der verstärkten Koproduktionen: Filme, die sich nur mit kubanischer
Selbstbeschau befassen, haben international nur sehr bedingt Erfolg. Mario
Piedra: „Wir haben das Kino, das wir uns leisten können. Es wird zum Glück
nie wieder so sein, wie vor der Revolution, weil das Niveau nachhaltig gestiegen ist. Aber es wird eine kleine Kinolandschaft bleiben, wie die von Österreich oder Holland”.
Nele Husmann
Kuba
Interview mit Frank Padron
Frank Padron ist einer der bedeutendsten Kinokritiker Kubas. Er hat eigene
Fernseh- und Radiosendungen und schreibt für verschiedene Zeitungen.
Während des Filmfests publiziert er täglich Kritiken in der Festivalzeitschrift.
Frage: Was halten sie vom kubanischen Kino der 90er Jahre?
Padron: Das letzte Jahrzehnt konzentrierte sich darauf, die sozialen Widersprüche in Kuba aufzudecken, während man in früheren Epochen einen offizielleren Standpunkt einnahm. Havanna, das eigene Land und dessen Inselhaftigkeit, spielen eine immer größere Rolle, sowie die Probleme, die der
Tourismus mit sich bringt. Und schließlich die Sexualität als ein Thema, das
früher nicht möglich war. Ja, man kann von einer kompletten, inhaltlichen
Umorientierung sprechen, die mit der ideologischen Öffnung des Staates
einhergeht.
Frage: Hat das Einfluss auf die Form?
Padron: Natürlich, wir sehen jetzt viel leichtere, weniger komplexe Filme, als
etwa in der Blütezeit des kubanischen Kinos, den 60er Jahren. Damals gründete die Wochenschau des ICAIC eine neue Form des Journalismus, es gab
sehr außergewöhnliche, transzendente Filme von großem Wert.
Frage: Was halten Sie von den Koproduktionen?
Padron: Es gibt eine Reihe ausgezeichneter Werke, die nur mit Hilfe der ausländischen Finanzierung möglich waren. Die ganze Zukunft des kubanischen Films hängt vom wirtschaftlichen Erfolg ab. Ich hoffe, dass wir bald
eine materielle Basis haben, um sieben bis acht Filme pro Jahr zu produzieren.
Frage: 1995 ist der wichtigste kubanische Regisseur, Tomas Gutierrez Alea,
verstorben. Gibt es Nachwuchs, der ihn ersetzen kann?
Padron: Er war wirklich einer der besten. Zum Glück hat er uns aber sehr viel
hinterlassen. Und wir haben weitere ausgezeichnete Regisseure wie Orlando
Rojas, Gerardo Chijona, Arturo Soto, Tabio, Enrique Alvarez und natürlich
Fernando Perez.
Frage: Wie steht es um die Ausbildung von kubanischem Kinonachwuchs?
Padron: Die internationale Filmschule EICTV in San Antonio de los Banos
ist exzellent, aber sie stellt nur sehr wenig Plätze für kubanische Studenten zur
Verfügung. Gerade in diesem Semester dürfen vier, statt üblicherweise nur
zwei Kubaner dort studieren. Die ISA, von der Universität von Havanna, bildet zwar auch Regisseure aus, aber sie ist stärker auf Theater und Schauspieler
ausgerichtet. Die Zukunft der kubanischen Talente ist stark von Autodidaktik
abhängig.
Frage: Lässt die Kinobegeisterung der Kubaner angesichts immer weniger
Filme nach?
Kuba
Nele Husmann
Padron: Überhaupt nicht. Die Kubaner sind ein sehr treues Publikum. Sie
geben den Filmschaffenden massive Unterstützung. Sie sind stolz auf ihr
Kino: Kubanisches Publikum sucht kubanischen Film.
Das Kinoprogramm
Der alte Mann schüttelt den Kopf: „Nein, heute gibt es keine Vorführung im
Kino“. Und wann wieder? Erneutes Kopfschütteln: „Vielleicht in zwei Tagen,
am Donnerstag“. Der pensionierte Lehrer steht vor dem Kino in Camaguey,
Hauptstadt einer der 14 Provinzen Kubas. Eigentlich sollte „Alles über meine
Mutter“ vom spanischen Regisseur Pedro Almodovar laufen, doch mangels
Publikum bleibt das Kino geschlossen.
Das fehlende Interesse liegt nicht am Film: „Ich habe den Film schon
zweimal gesehen, und die meisten anderen Bewohner der Stadt auch. Er ist
exzellent – aber er läuft jetzt schon über drei Wochen“, erzählt der Alte.
In Havanna macht natürlich kein Kino zu, aber die Situation ist ähnlich: In
den großen Sälen, wie Yara und Payret, wird wochenlang der zuletzt eingetroffene Film gezeigt, und die anderen Kinos halten sich mit den alten Filmen
über Wasser. Klar, dass Kinos oft gähnend leer sind.
Dennoch ist die Situation in der Hauptstadt wesentlich besser als in der Provinz. Die kleinsten Städte haben es am schwierigsten: „Es ist schon einen
Monat her, dass wir überhaupt eine Filmrolle hier hatten“, erklärt Senora
Rosa, die hinter der Kasse des Kinos von Niquero sitzt, einer kleinen Provinzstadt im Osten mit leergefegten Gassen. Auch sie verkauft notgedrungen
nur Eintrittskarten für die Videovorführung. Sie hofft, Anfang 2000 einen der
neuen kubanischen Filme vom Filmfest zeigen zu können: „Dann wird das
Kino zum Bersten gefüllt sein!“, freut sie sich.
„Wir haben einen dramatischen Mangel an Filmen“, erklärt Ines Duanes,
die Verantwortliche für das Kinoprogramm im „Centro Provincial de Cine“ in
Santiago de Kuba, der zweitgrößten Stadt Kubas. Sie verteilt die Filmrollen,
die das ICAIC, das kubanische Filminstitut, ihr aus Havanna schickt, über die
26 Kinos in ihrer Provinz. Alle zwei Wochen erhält sie einen neuen Film. Falls
es keinen gibt, schickt das ICAIC einen alten Film zur Wiederholung.
Doch es mangelt nicht nur an neuen Filmen, sondern auch an Kopien. Vor
der Krise gab es ausreichend Kopien, um alle Kinos der Provinz gleichzeitig
zu versorgen. Heute begnügt sich eine Provinz mit einer Rolle, und es kann
Monate dauern, bis ein kleiner Ort einen Film bekommt, wenn er überhaupt
bis dort gelangt. „Die Kopien sind zu teuer, und wir können sie nur kurze Zeit
behalten, ehe wir sie in eine andere Provinz weiterreichen müssen“, so Duanes. Videos sind daher willkommen, um die abgelegenen Kinos überhaupt
offen zu halten. 1999 sind 57 verschiedene Videos des ICAIC gezeigt worden.
Nele Husmann
Kuba
„Die Videos werden immer wichtiger, weil das Publikum natürlich nur ins
Kino geht, wenn es etwas neues gibt“, erklärt Duanes. Das Provinzzentrum
strengt sich nach Kräften an, möglichst viele Filme in die Provinz zu holen:
So gibt es Reihen zu bestimmten Themen mit Wiederholungen alter Filme, die
während der Stadtfeste laufen. „Aber wir können vom ICAIC nichts fordern,
was es selbst nicht hat“, findet Duanes.
Das ICAIC kann nicht zaubern: „Wir können zur Zeit etwa 20 Filme pro
Jahr einkaufen“, erklärt Roberto Smith de Castro, Cheffilmeinkäufer des
ICAIC, „zu mehr reicht unser Budget nicht“.
In der Zeit vor der Revolution beherrschten amerikanische Distributoren
wie Fox Film oder Columbia die Kinolandschaft. Außerdem gab es einen kleinen, französischen Filmverleih. Eine mexikanische Anstalt belieferte vor
allem die ländlichen Kinos mit mexikanischen und argentinischen Produktionen. Denn die US-Filme hatten einen großen Nachteil: Sie waren nicht synchronisiert, sondern einfach untertitelt – damit konnte die Landbevölkerung,
die zum großen Teil nicht lesen und schreiben konnte, nichts anfangen.
Nach der Revolution 1959, brachte das neugegründete ICAIC Filme aus
aller Welt nach Kuba. Der Staat stellt einen Finanzierungsfonds für den Einkauf von Filmen bereit. Smith de Castro beteuert, dass die Auswahl der
Filme nicht ideologisch gefärbt war: „Die USA waren eben einer von vielen“.
1990/91 gibt es schlagartig kein staatliches Geld mehr für den Filmeinkauf.
Über zwei bis drei Jahre kann fast kein neuer Film gezeigt werden. Das Kino
lebt allein von Wiederholungen.
1994 tritt eine wesentliche Verbesserung ein: Der Staat erlaubt dem ICAIC,
sich selbst zu finanzieren. Das Filminstitut erhält Mittel durch den Verleih von
Equipment, Schauspielern und Technikern an ausländische Filmproduktionen,
die auf Kuba drehen. Für sie ist es extrem günstig, auf Kuba zu drehen. Die
ersten ausländischen Filme laufen wieder auf Kuba‘s Leinwänden – wenn
auch noch spärlich.
Das Kino Camaguey hat eigenmächtig beschlossen: Wenn bei der Sonntagsvorstellung weniger als die Hälfte der Kino-Tickets verkauft werden,
bleibt das Kino montags, dienstags und mittwochs geschlossen. Innerhalb der
kubanischen Planwirtschaft ist das erstaunlich. Für Fidel Castro ist es eine
Prestigefrage, das die Kinos offen sind, egal wie der Markt ist. Das Kino in
Camaguey zeigt statt dessen Videofilme.
Vor der Leinwand wird ein kleiner Fernseher plaziert, in den die Besucher
aus ihren Kinosesseln starren. Karatefilme aus Hongkong und ähnlicher
Schund laufen. „Das kann sich eigentlich kein Mensch angucken“, seufzt der
Lehrer, der eigentlich den Film von Almodovar ansehen wollte, „aber was soll
man sonst machen?“
Kuba
Nele Husmann
Die Produktion
Eigentlich sollte die Pressekonferenz im Hotel Nacional in Havanna über
die neuen Film-Projekte im Jahre 2000 informieren, doch die rund 100 Journalisten, hauptsächlich Kubaner, sorgen sich wegen der Finanzierung. Seit der
Wirtschaftskrise 1990 ist dem ICAIC das Geld für eigene Produktionen ausgegangen. Wer heute einen Film drehen will, muss selbst das Geld dafür organisieren. Der Weg, den die meisten beschreiten, ist die Suche nach europäischen Koproduzenten. Die Angst vor Beeinflussungen liegt nah. „Aber wir
verlieren doch unsere eigene, kubanische Kinokultur!“, schimpft ein Journalist.
„Es gibt keinen anderen Weg, als uns auf die Koproduktionen einzulassen“,
sagt Gustavo Fernandez Pascual, Produzent beim ICAIC. Die Einnahmen, die
das ICAIC aus dem Verleih von Ausrüstung und Personal an ausländische
Cineasten verdient, fließen größtenteils in die Modernisierung. Es bleibt
höchstens Ibermedia, ein spanisches Unterstützungsprogramm für lateinamerikanische Medien. Der Staat zahlt nur noch die Peso-Gehälter der Filmschaffenden.
„Seit dem internationalen Erfolg von „Erdbeere und Schokolade“ ist es
leichter geworden, ausländische Produzenten von der Qualität des kubanischen Kinos zu überzeugen“, sagt Fernandez Pascual.
Die kubanischen Filmschaffenden sind überzeugt, dass die Koproduktionen
sehr sinnvoll sind, und sie beteuern, dass sie keinen ausländischen Einfluss in
ihren Filmen spüren: „Keiner muss eine neue Figur fürs Drehbuch erfinden,
weil ein ausländischer Produzent unbedingt einen deutschen Schauspieler
will“, sagt Daniel Diaz Torres, der gerade an der zweiten Koproduktion mit
deutschen Produzenten arbeitet.
Camilo Vives, Chefproduzent des ICAIC, erklärt: „Wir machen immer
noch genau die Filme, die wir machen wollen. Nur die Finanzierung und der
Vertrieb werden von den Koproduzenten beeinflusst. Und wenn ein Koproduzent die Umsetzung der Ideen des Regisseurs ernsthaft in Gefahr bringt,
dann machen wir diesen Film lieber gar nicht, anstatt alles zu verändern“.
Allerdings tauchen Probleme auf: Das ICAIC kann nicht länger selbst bestimmen, welcher Film Priorität bei der Umsetzung hat: Die Regisseure, die zuerst
das Geld für ihr Projekt zusammenhaben, können auch zuerst filmen. „Das
Hauptkriterium für die Umsetzung eines Films bleibt die Qualität“, sagt Gustavo
Fernandez Pascual. „Aber natürlich spielen auch die Kosten eine Rolle. Billigere
Projekte kommen leichter durch, während teuere länger warten müssen.“
Bekannte Regisseure haben es leichter, Koproduzenten zu finden. So gerät der
Nachwuchs ins Hintertreffen. Um dies zu vermeiden, will Chefproduzent Camilo
Vives einen ICAIC-Fonds für Nachwuchsregisseure einrichten: „Wir wollen ein
Nele Husmann
Kuba
bis zwei Filme pro Jahr ohne ausländische Unterstützung umsetzen, und dabei
speziell jüngere Regisseure berücksichtigen“.
Die wirtschaftliche Misere Kubas wurde schon drei bis vier Jahre vor dem
Zusammenbruch der Sowjetunion spürbar. Die Kinowirtschaft ist nur eine Branche von vielen, die zeigt, dass Zentralismus, Planwirtschaft und der pyramidenhafte Aufbau aller Beziehungen innerhalb einer Unternehmung, eher zu
stumpfer Pflichterfüllung statt zu blühender Prosperität führen.
Allein die Buchhaltung ist in einem Land wie Kuba schwierig: Es gibt keinen
echten Wert zwischen Peso und Dollar. Zwar hat der Staat für den Umtausch der
Privatleute einen Dollar für 21 Pesos festgelegt, doch das ist genauso willkürlich,
wie die Buchhaltung vieler Staatsfirmen, die einfach einen Dollar mit einem Peso
gleichsetzen.
Lange hat auch das ICAIC Bilanzen von Filmproduktionen schöngerechnet.
Ausgaben: eine Million Peso. Einnahmen: Zwei Millionen Peso. Macht: eine
Million Peso Gewinn. Doch im Filmgeschäft müssen fast alle Ausgaben, wie
etwa für Kameras, Filmmaterial, oder Benzin, in Dollars bezahlt werden. Die Einnahmen aus der nationalen Distribution und den Filmvorführungen hingegen,
kommen ausschließlich als Pesos in die Kassen. In der Rechnung wurde komplett vernachlässigt, das eigentlich von den Ausgaben, in Höhe von einer Million
Pesos, 800.000 in Dollars angefallen sind. Diese Summe wurde versteckt vom
Staat subventioniert. Um diesen „Dollarfaktor“ bereinigt, steckte die Produktion
schon immer in den roten Zahlen.
1990 kommt es zum Absturz: Der Staat streicht die Dollar-Subvention ans
ICAIC. Und natürlich hat auch die nationale Vertriebsgesellschaft keine Dollars,
um sie ans ICAIC zu bezahlen. Schließlich erhält die Produktionsgesellschaft des
ICAIC eine Ausnahmegenehmigung vom Staat, selbst verdiente Dollars behalten zu dürfen und eigenständig mit ihnen zu wirtschaften. Die meisten anderen
Betriebe müssen alle Einnahmen sofort an den Staat abführen und für jede
Ausgabe einen Antrag an den Staat stellen.
Dann endlich, 1995, erhält die Produktion des ICAIC selbst die Genehmigung,
in Dollars zu operieren. Damit ist das Institut so gestellt, wie vor der Revolution
– es arbeitet 100 Prozent marktwirtschaftlich.
In der zwischen Dollar und Peso schwankenden Wirtschaft ist es schwierig, die
Filmschaffenden gerecht zu bezahlen. Beispielsweise wird ein Kameramann für
150 Dollar pro Tag an ausländische Produktionen verliehen – ihm selbst steht
aber nur ein Gehalt von zehn Dollar pro Monat zu.
Firmen, die Dollar verdienen, dürfen ihren Mitarbeitern als Anreiz eine
„Jabita“ aushändigen – eine Plastiktüte mit Dollar-Produkten wie Seife, Shampoo, Zahnpasta oder Öl. Das ICAIC jedoch nicht. Als Kompensation dafür serviert die Kantine des ICAIC ein wesentlich besseres Mittagessen als andere
Betriebe. Damit waren viele zufrieden.
Kuba
Nele Husmann
Erst seit einem Jahr gibt es ein neues Gesetz, aufgrund dessen einem ICAICMitarbeiter auch ein Anteil der Dollar-Einnahmen aus seiner Arbeit zusteht. Doch
noch holpert die Umsetzung: Nur einige Glückliche erhalten statt eines Mittagessens plötzlich 10 Dollar pro Tag – das ist ein ganzer Peso-Monatslohn.
Nur die Schauspieler haben größere Freiheiten, eigenständig Verträge auszuhandeln. Sie verlangen von ausländischen Produktionen zusätzlich zu den 200
Dollar, die ans ICAIC fließen, die gleiche Summe für sich – sonst spielen sie eben
nicht gut. Musiker und Schauspieler werden vom Staat nicht so streng überprüft
wie normale Bürger, weil allen klar ist, dass sie bei der nächsten Einladung ins
Ausland nicht zurückkommen würden: Jorge Perugorria etwa, der Star aus
„Erdbeere und Schokolade“, verdient in Spanien inzwischen 80.000 Dollar pro
Auftrag.
Interview mit Enrique Molinas
Enrique Molina ist seit 29 Jahren Schauspieler und arbeitet für Fernsehen und
Film. Er hat in vielen Werken der 90er Jahre mitgewirkt. Er ist Hauptdarsteller in
„Un Paraiso bajo las Estrellas – ein Paradies unter den Sternen“, der bei den 21.
Filmfestspielen von Havanna den Publikumspreis gewonnen hat. Auch in „Hacerse
el Sueco – den Dummen spielen“, einer deutschen Koproduktion, die im Januar
gedreht wird, hat er eine Rolle.
Frage: Schauspieler zeigen in Kuba kaum Allüren. Warum?
Molina: In Kuba wohnt niemand im Schneckenhaus. Das gilt nicht nur für
Filmschaffende, sondern für alle Künstler. Wir braten uns keine Extrawurst,
sondern leben ganz normal.
Frage: Aber Sie genießen doch sicher einige Privilegien?
Molina: Nein, wirklich nicht. Ich wohne in einem ganz normalen Haus, mit den
ganzen kleineren und größeren Problemen, die alle lösen müssen. Ich koche
zusammen mit meiner Frau, gehe zum Markt. Und dieses Alltagsleben ist auch
die wichtigste Quelle der Inspiration für einen Künstler: Der direkte Kontakt mit
den Leuten ist entscheidend, wenn man sie mit Kunst erreichen will.
Frage: Viele Schauspieler sind in die USA ausgewandert.
Molina: Stimmt, aber das betrifft nicht nur Schauspieler und Regisseure, sondern auch Ingenieure und Ärzte. Sie verdienen dort mehr Geld. Dieses Problem gibt es auch in allen anderen lateinamerikanischen Ländern. Einige
gehen nur für eine bestimmte Zeit ins Ausland, etwa nach Spanien, um ein
paar Filme zu realisieren. Andere bleiben für immer. Doch das ist ein harter
Kampf ums Überleben. Einigen geht’s gut, anderen sehr schlecht. Die meisten Kollegen aber sind hier in Kuba geblieben.
Frage: Sie auch.
Nele Husmann
Kuba
Molina: Aber nicht, weil ich masochistisch bin, sondern weil es mir gefällt,
dafür zu kämpfen, dass ich gute Arbeit mache. Hier kämpft das ganze Land
– und ich auch.
Frage: Wie werden sie bezahlt?
Molina: Bis vor zwei Jahren bekamen wir ausschließlich Peso-Gehälter,
auch wenn das kubanische Filminstitut ICAIC uns für Dollar an ausländische
Produktionen ausgeliehen hat. Seit die wirtschaftliche Situation sich etwas
erholt, erhalten die Schauspieler neben ihrem Peso-Lohn zwischen 30 und 50
Prozent dessen, was das ICAIC mit uns verdient, in Dollar.
Frage: Das heißt aber auch, dass es Ihnen als Schauspieler besser geht als
anderen Berufsgruppen.
Molina: Als Fidel den Dollar freigegeben hat, hat er gesagt, dass der Dollar
Unterschiede innerhalb der Bevölkerung schaffen würde. Aber auch andere
Berufsgruppen wie Ärzte und Professoren erhalten Prämien, wie etwa Dollar-Boni oder eine Jabita. Kuba öffnet sich, die Lebensqualität steigt. Das
ganze Leben hier verwandelt sich langsam, aber sicher.
Frage: Der jüngste kubanische Film, „Un paraiso bajo las Estrellas“, ist
weniger kritisch als frühere Werke. Liegt das daran, das die Situation sich verbessert hat oder daran, dass die Leute nichts mehr davon hören wollen, wie
schlecht es ihnen geht?
Molina: Weder noch. Hier in Kuba gibt es keine Zensur für Cineasten. Es ist
vielmehr so, dass Chijona die Idee zu dieser Komödie hatte und sie umgesetzt
hat, als er das Geld dafür zusammenbekam. Und das Ergebnis ist offensichtlich ein großer Erfolg. Das heißt aber nicht, dass künftig keine kritischen
Filme gemacht werden. In zwei bis drei Monaten kommt „Lista de Espera –
Warteliste“ in die Kinos, ein sehr heftiger, kritischer Film von Juan Carlos
Tabio über tageslanges Warten an einem Omnibusterminal. Den Leuten passieren unterdessen größere und kleinere Katastrophen. Die Schauspieler, die
mitgewirkt haben, hören sich sehr begeistert und glücklich an. Auch das
ICAIC ist guter Hoffnung…...das scheint ein großer Film zu sein.
Die Kinoclubs
Im Wohnzimmer ist es sehr dunkel. Eine Frau steht am Bügelbrett, ihr Mann
sitzt auf dem Sofa. Umständlich tastet sie nach dem Bügeleisen, schließlich
ruft sie den achtjährigen Sohn, der ihr helfen soll.
Es knistert, die Bildqualität ist schlecht, und das Format füllt nur ein Viertel der Leinwand des „Cine Cubanacan“ in Santa Clara. Der Saal hat schon
bessere Tage gesehen: Einige Sitze fehlen ganz, andere sind verschlissen
oder aufgeschlitzt, und durch die hinteren Reihen des Kinos und das Foyer
Kuba
Nele Husmann
zieht ein strenger Geruch nach Urin. „Liebe ist blind” heißt der Videofilm, der
gerade auf der Leinwand vergrößert wird. Er handelt von einem blinden
Ehepaar mit einem sehenden Sohn, das von seinem Alltag erzählt.
Der Regisseur selbst, der 44-jährige Antonio Albalat, ist blind. Vor zwei Jahren musste er seine Arbeit in einem Kunstinstitut wegen seiner Augen aufgeben. Jetzt dirigiert er seinen Kameramann, um seine fünfminütigen Filme zu
drehen und zu schneiden. Schlechte Schnitte, zu lange Dialoge und eine
starre Kamera würden die Profis zu recht an dem Film monieren. Doch was
zählt, sind die Liebe und die Anstrengung, die aus dem Film erkenntlich werden. Und der Stolz, den Albalat ausstrahlt, während sein Film vor dem Publikum von rund 80 Cineasten präsentiert wird.
Albalat ist Mitglied des 1976 gegründeten Kinoclubs „Cubanacan“ von
Santa Clara. Einmal im Jahr, im November, veranstaltet der Club ein Amateurfilmfest, das „Festival del Invierno”, zu dem er andere Amateurclubs
Kubas einlädt. Zu gewinnen gibt es Ehrenpreise, aber auch eine Reihe von
Sachpreisen. Als Jury sind Cineasten des ICAIC aus Havanna angereist, so
zum Beispiel Raul Perez Ureta, der wohl beste Kameramann Kubas. Auch das
Staatsfernsehen hat eine junge Mitarbeiterin der Programmabteilung gesandt,
die beurteilen soll, ob das ein oder andere Werk im Fernsehen ausgestrahlt
werden könnte.
Die Arbeit der Amateure wird ernst genommen, insbesondere seit 1984, als
das ICAIC einen Verband aller Kinoclubs Kubas gründete. Der erste Kinoclub
in Kuba entstand 1928, rund 30 Jahre, nachdem es die erste Kinovorstellung
in Havanna gegeben hatte. José Manuel Valdez Rodriguez und Fernando
Ortiz, zwei der ersten Filmkritiker der Insel, gründeten ihn, um gemeinsam
ausländische Filme anzusehen und zu diskutieren. 1948 formierte sich der
Kinoclub Havanna.
Bis zum Ausbruch der Wirtschaftskrise 1990 wuchs die Zahl der Clubs auf
über 120. Dann verringerte sich die Zahl der ausgestrahlten Filme dramatisch
und damit auch die Zahl der „Aficionados“.
Heute gibt es noch rund 45 Kinoclubs. Der größte ist der von Santa Clara,
mit rund 130 Mitgliedern. „Wir sind stolz darauf, die kubanische Kultur
durch unser Engagement zu bereichern”, sagt der Gründer und Präsident
des Cubanacan-Clubs, Miguel Secades, zum Auftakt des Festivals. Secades ist
ein Vereinsmeier mit streng sozialistischer Ausrichtung. Secades hat ein
Punktesystem als Anreiz für die Mitglieder eingeführt, nach dem für die
Teilnahme an Clubabenden, das Drehen eigener Filme oder das Gewinnen von
Preisen auf Festspielen, Punkte verteilt werden. Wer die meisten Punkte
innerhalb eines Jahres sammelt, wird geehrt und erhält einen kleinen Preis.
„Manchmal liegt in einer Amateur-Arbeit mehr Wert und Qualität als in
einem Profi-Werk”, erklärt Secades. „Und das, obwohl wir so wenig finan-
Nele Husmann
Kuba
zielle Mittel zur Verfügung haben. Denn der Laie macht seine Arbeit mit Liebe
und nicht für Geld.” Die Werke des Clubs sind sehr humanistisch: „Politische
Themen interessieren uns wenig, aber natürlich wären solche Filme auch möglich”, sagt Albalat.
Wöchentlich treffen sich die Mitglieder, um über Filme zu diskutieren
oder an gemeinsamen Projekten zu arbeiten. Der Club erhält keine staatlichen
Mittel, sondern finanziert sich allein durch Spenden oder Geld von Mitgliedern. So stiftete die UNESCO dem Club eine Videokamera. Die spanische
Botschaft kündigte an, eine weitere zu spendieren. Die Arbeiten des Clubs
werden in Schulen und an der örtlichen Universität vorgeführt.
Trotz der Knappheit von Filmmaterial und den damit verbundenen Kosten,
hat der Cubanacan-Club 1999 zwölf Filme fertiggestellt. Er gehört damit zu
den produktivsten Clubs, denn nur wenige widmen sich nicht nur der Theorie, sondern auch der Praxis.
So hat zum Beispiel der OCIC, der katholische Kinoclub Kubas, erst zum
Papstbesuch 1997 begonnen, selbst Filme zu drehen. „Es war uns wichtig, die
Reden des Papstes selbst aufzunehmen”, sagt die 77jährige Georgina Preval,
die lange Zeit dem Club vorstand und heute als Ehrenpräsidentin fungiert. Der
OCIC hat heute 19 aktive Mitglieder und eine angestellte Sekretärin. Vor der
Revolution gab der OCIC den „Nationalen Kinoführer” heraus, eine wichtige
Filmzeitschrift. Nach der Revolution schlossen sich viele Mitglieder dem
ICAIC an, und die Zeitung wurde eingestellt. Der OCIC führt die Klassifizierung der Filme in qualitativen und moralischen Kategorien als Archiv
weiter. Einmal im Monat gibt es Klubabende.
„Wir haben leider immer wieder Probleme mit der kubanischen Regierung”,
erzählt Preval. „So ist es besonders schwierig, Papier zu bekommen.” Auch
ein Mitglied des OCIC erzählt von Schikanen durch die Behörden: „Vor
dem Milleniumwechsel wollten wir eine christliche Filmreihe in kleinen
Sälen organisieren. Doch das war unmöglich, weil uns keine Räume genehmigt wurden – ohne jede Begründung“.
Die große Mehrzahl der 50 auf dem Filmfest vorgeführten Beiträge,
beschäftigt sich mit sozialen Themen. Ein Film zeigt die Reisen des jungen
Che Guevara mit einem besonders begeisterten Unterton, andere zeigen
Künstler oder Musiker. Nur ein Film hat einen künstlerisch, abstrakten Wert:
„Ring, Ring”, ein Film über einen Wecker. „Für die Ausstrahlung im Fernsehen ist leider kein einziger geeignet”, sagt Tania Alarcon. „Die meisten Filme
haben zwar interessante Ansätze, erreichen aber leider die erforderliche Qualität fürs Fernsehen nicht”.
Das ist noch recht diplomatisch ausgedrückt. Viele Filme konnten offenbar
nicht geschnitten werden, so dass die gefilmten Szenen im Original, ohne jede
Bearbeitung, gezeigt werden. Oftmals filmten die Laien, um den Titel und die
Kuba
Nele Husmann
Mitwirkenden zu nennen, einfach die Schrift von einem Computerbildschirm
ab. Die meisten Dokumentarfilme sind langatmig und leiden unter vielen
Wiederholungen. Nur selten kommt ein Kommentator zu Wort – die Themen
müssen sich durch die interviewten Personen erklären.
Die Preisverleihung des Filmfests findet im Galakino, neben dem besten
Hotel der Stadt, dem „Santa Clara Libre“, statt. In den Mauern sind noch Einschusslöcher von den Revolutionskämpfen zu sehen. Santa Clara war die erste
Stadt, die von Che Guevara und seinen Rebellen eingenommen wurde. Seit
zwei Jahren ruhen hier die wiedergefundenen, vermeintlichen Überreste Che
Guevaras unter einem riesengroßen Betondenkmal.
Die Bühne ist feierlich geschmückt, jede Menge Topfpflanzen und zwei
Sofasessel aus den 70er Jahren stehen bereit. Eine Opernsängerin singt zur
Eröffnung. Eine bekannte Fernsehansagerin ist aus Havanna angereist, um die
Präsentation, gemeinsam mit einem Stadtoffiziellen, zu moderieren. Es hagelt
Lob von allen Seiten: „Wir sind stolz auf die hervorragende Arbeit, die
unsere Genossen auf so vortreffliche Weise gestalten. Sie stärken unsere
Region und unterstützen den revolutionären Prozess auf Kuba. Die Kinoclubs
bilden ein Bollwerk gegen die Gefahren des kulturellen Hegemonismus der
Globalisierung…..” Die Rede des Stadtoffiziellen dauert über zehn Minuten.
Es folgt die Übergabe von Sachpreisen, die verschiedene Staatsfirmen
gestiftet haben. Es werden kleine Kunstwerke, Gläsersets und mehrere Fernsehantennen – ein Renner, weil wohl besonders schwer zu finden – überreicht.
Die chinesische Botschaft hat eine Plastiktüte mit allerlei Seifen und Badeöl
spendiert. Antonio Albalat gewinnt den Hauptpreis, ein Kinderfahrrad. Er holt
seinen kleinen Sohn, der über beide Ohren strahlt, mit auf die Bühne. Schließlich werden die Gewinner der Ehrenpreise auf die Bühne zitiert. Es gibt ein
heilloses Durcheinander, weil die Reihenfolge nicht abgestimmt ist und ein
schon sehr altes Jurymitglied die Gewinner viel zu schnell herunterleiert. Hier
gewinnt Albalat für seinen Film “Liebe ist blind” den zweiten Preis. Zusätzlich wird sein Kameramann ausgezeichnet für die geschickte Farbwahl – mit
dem bisschen was Albalat noch sieht, kann er selbst nicht mehr filmen. Er dirigiert nur, was zu filmen ist.
Albalat strahlt vor Stolz, obwohl er abermals beteuert: „Der schönste
Moment ist der, wenn man einen Film fertigstellt. Mir kommt es darauf an,
etwas zu tun, was andere motiviert”. Albalat geht von der Bühne. Andere Prämierungen folgen. Die Fernsehmoderatorin, offenbar zugleich Sängerin,
ergreift das Mikrofon und singt eine recht schräge Liebesschnulze. Der Saal
beginnt sich sichtlich zu leeren.….
Nele Husmann
Kuba
Die Zensur
„Innerhalb der Revolution geht alles, gegen die Revolution geht nichts”, diese
Worte Fidel Castros, kurz vor der Invasion in der Schweinebucht 1962, prägen die
kubanische Kulturlandschaft bis heute – mit Interpretationen bis in Punkt und
Komma.
„Entscheidend ist, dass Castro nicht außerhalb der Revolution sagte, was das
grammatikalisch richtige Gegenteil von innerhalb wäre, sondern gegen die
Revolution”, interpretiert Mario Piedra vom ICAIC. „Das lässt entschieden
mehr Spielraum”.
Viele der kubanischen Spielfilme sind erstaunlich kritisch, nicht nur an dem
Maßstab gemessen, dass sie innerhalb eines totalitären Regimes gedreht
wurden. Schon „Erinnerungen an die Unterentwicklung” (1968) von Thomas
Gutierrez Alea, ein Filmklassiker Kubas, geht radikal mit der schwierigen
Rolle der bürgerlichen Intellektuellen nach der Revolution um. „Der Tod
eines Bürokraten”, den Gutierrez drei Jahre früher drehte, hat im heutigen
Kuba eine viel kritischere Bedeutung als damals, weil die zentralistische
Bürokratie längst allen über den Kopf gewachsen ist.
In der jüngsten Zeit sorgt vor allem Fernando Perez für Furore, mit systemkritischen Filmen. „Madagaskar” (1995) zeigt junge Leute, die in Kuba so
wenig Perspektiven sehen, dass sie überall lieber wären als in ihrer Heimat.
„La Vida es silbar – Das Leben heißt pfeifen” (1998) zeigt eine junge Frau,
die manische Gähnattacken befallen, sobald sie Reden von kubanischen Parteifunktionären hört.
„Ich konnte immer alles machen, was ich wollte – ohne Einschränkungen”,
sagt Perez, nach politischer Zensur befragt. „Wir haben, besonders im Kino
und Theater, viel mehr Freiheit, als die ausländische Presse darstellt”. Auch
Daniel Diaz Torres, der den Skandalfilm „Alice im Wunderdorf ” drehte,
beteuert: „Ich konnte immer alle Filme machen, die ich wollte”. Doch Torres
erlebte das kubanische Regime 1990 am eigenen Leib: „Die Situation, in der
ich mich damals wiederfand, war sehr unangenehm und ausgesprochen widersprüchlich”.
Eine wichtige Erklärung für die allgemein erstaunliche Freiheit der kubanischen Filmlandschaft, liegt wohl in der engen Freundschaft, die Fidel Castro und Alfredo Guevara, der Präsident des ICAIC, seit ihrer gemeinsamen
Zeit 1948 in der juristischen Fakultät der Universität von Havanna pflegen.
Guevara kämpfte 1958/59 an der Seite Castros in der Sierra Maestra für die
Revolution. Doch Castro pflegt den linken Hardliner-Kurs, während Guevara
eher links-liberal eingestellt ist. Die Freundschaft zu Castro gibt Guevara eine
starke Rückendeckung. „Das ICAIC war immer in die kubanische Kulturpolitik verwickelt”, erzählt Piedra, „auch als Gegengewicht. Es stellt sich bis
Kuba
Nele Husmann
heute gegen den sozialistischen Realismus”. Doch manchmal besiegten die
Parteihardliner den offenen Kurs des ICAIC. „Guevara hat viele Feinde”,
erklärt Piedra.
Die erste Zensur verhängte das ICAIC 1961 selbst, als Guevara den Film
„pm”, von Guillermo Cabrera Infante, über das schillernde Nachtleben in
Kuba verbietet. Ein Affront gegen die Revolution, die das Vergnügen längts
eingedämmt haben wollte. Guevara, damals erst 32 Jahre alt, wollte in der
politisch angespannten Situation, kurz vor der Invasion der Schweinebucht,
die Moral der Bevölkerung nicht stören. Später sagte er oft: „Wäre ich erfahrener gewesen, hätte ich den Film nicht verboten”. Seine Entscheidung war ein
schwerer Schlag für die Intellektuellen, die bis dahin glaubten, dass die
Revolution die große Freiheit bringt.
Erst 1981 bekommt das ICAIC ernsthafte Schwierigkeiten mit der Zensur
durch die Regierung. Alfredo Guevara muss seinen Platz als Chef des ICAIC
räumen und wird als Kulturbotschafter für die UNESCO nach Paris geschickt.
„Viele sehen den Grund für seinen Abgang in dem Kostümfilm „Cecilia” von
Humberto Solas, der eine Menge Geld verschluckt hatte”, sagt Piedra, „doch
das war nur die Spitze des Eisbergs.” An die Stelle von Guevara rückt Julio
Garcia Espinosa – ein drastischer Wechsel für das ICAIC, denn Espinosa, der
als Regisseur nur einen erfolgreichen Film drehte, fährt einen Slalomkurs, um
es allen Parteifunktionären recht zu machen.
Die neuen Filme erzählen vom Alltag, haben keinen künstlerischen
Anspruch, sind populistisch und kosten wenig. Doch plötzlich taucht Daniel
Diaz Torres‘ „Alice im Wunderdorf ” auf, eine bitterböse Realsatire, die vor
Metaphern auf die politische Situation nur so strotzt. Alice wird von der
Polizei in ein Dorf verfrachtet, in dem alle Dissidenten und Quertreiber
kaserniert sind. Es gibt einen Bürgermeister, der ein strenges Regiment führt.
Doch zum Schluss des Films flieht Alice, und mit ihr, verkleidet, der Bürgermeister. Doch er wird entdeckt und von der höchsten Brücke Kubas in die
Tiefe gestürzt.
„Der Darsteller hat optisch zwar keine Ähnlichkeit mit Fidel Castro, aber
dessen Gestik und Mimik entspricht dem Oberkommandanten eins zu eins”,
lacht Reynaldo Escobar, ein kritischer, freier, kubanischer Journalist, der hin
und wieder in „Tagespiegel” und „taz” publiziert. Er hat die damalige Situation aufmerksam verfolgt. Denn Torres‘ Film wird nicht verboten, sondern
läuft nur wenige Tage in einem einzigen Kino in Havanna, dem Cine Yara. „Es
war unmöglich, als normaler Bürger in das Kino zu kommen.
Die Karten wurden ausschließlich an paramilitärische Gruppen, wie die
„Brigaden für die schnelle Antwort”, verkauft. Und die blieben meist für zwei
oder drei Vorstellungen im Kino sitzen”, erzählt Escobar. „Am Ende der
Vorstellungen sind die Trupps aufgesprungen und haben die Parteiparolen „Es
Nele Husmann
Kuba
lebe die Revolution” und „Heimat oder Tod” gebrüllt. Das sollte eindrucksvoll demonstrieren, dass das Volk gegen diesen kontrarevolutionären Film
war”.Doch nach Escobars Angaben kannte fast jeder Bürger Havannas einen
der ins Kino abbestellten Linientreuen – deshalb wurde dieses politische
Manöver schnell durchschaut. Die offizielle Erklärung dieser Handlung
weicht nur wenig ab: „Der Film ist von Parteihardlinern eingesetzt worden, um
das ICAIC zu demontieren”, erklärt Mario Piedra. Denn der Film war, vor der
eigenartigen Uraufführung in Kuba, im Juni 1990, schon ohne große Probleme im Januar auf die Berlinale geschickt worden und hatte dort einen Preis
gewonnen.
Hintergrund der Aktion: Die Partei plante, das ICAIC mit dem Fernsehen
und der Kinoabteilung der „Bewaffneten Kräfte” zusammenzulegen, um
kurz nach Ausbruch der Wirtschaftskrise Geld einzusparen. Die Mitarbeiter
des ICAIC wehrten sich mit Händen und Füßen. „In diesem Moment kam die
Order der Regierung, ich betone, nicht des Chefkommandanten, Alicia im
Cine Yara zu zeigen”, sagt Piedra. „Die Parteifreunde wurden gezielt aufgefordert hinzugehen, und einen kontrarevolutionären Film zu sehen. Die Zeitungen druckten Verrisse über den Film, die jedoch nicht von den üblichen
Filmkritikern geschrieben waren”.
Die Aktion misslang laut Piedra gründlich: „Die Parteimilitanten erwarteten etwas schreckliches, doch sie kamen aus dem Kino und sagten: Das war
doch nicht kontrarevolutionär, sondern einfach nur ein kritischer, abgehobener Film”. Hinzu kam, dass der Film symbolisch so überladen ist, dass eine
Vielzahl, der zum Anschauen gezwungenen Zuschauer, ihn schlichtweg nicht
verstand. Aber keiner sagte das, was die Regierung hören wollte: „Schließt das
ICAIC”.
Nach dieser Schlappe ordert Fidel Castro persönlich Alfredo Guevara aus
Paris zurück in den Chefsessel des ICAIC. Guevara hält als erstes eine
beherzte Rede, in der er Diaz Torres rehabilitiert. Aber Diaz Torres filmt später nie wieder Filme mit derart heftiger Kritik (siehe Interview).
Auch um den Film „Guantanamera“, den der Starregisseur Tomas Gutierrez Alea 1995 kurz vor seinem Krebstod fertigstellte, gab es Rummel, aber
erst lange nach seiner Uraufführung. Die Komödie handelt von einer Direktive, die es zu Zeiten der Ölknappheit auf Kuba wirklich gab, und führt sie
spielerisch ins Absurde: Die Bürokratie verlangte Anfang der 90er Jahre, das
Tote, bei ihrer Überführung über die Insel, an jeder Provinzgrenze umgeladen
werden, damit das Benzin jeder Provinz nur innerhalb ihrer Grenzen verfahren würde. Im Film wird als erste Leiche ausgerechnet die Schwiegermutter
des Ideengebers nach der neuen Methode verfrachtet, und nach etlichen Wirren entdeckt der Hauptdarsteller, dass ein wildfremder Mann an der Stelle seiner Schwiegermutter beerdigt wird.
Kuba
Nele Husmann
Das Publikum lachte damals herzhaft über den Film, und die Kritiker würdigten ihn übereinstimmend als „weder den besten, noch den gewagtesten
Film Gutierrez Aleas. Doch am 26. Februar 1998, gegen ein Uhr Nachts, greift
Fidel Castro, am Ende einer im Fernsehen live übertragenen, siebeneinhalbstündigen Rede, den Film drastisch an: „Das ist ein kontrarevolutionäres
Filmchen, das es zu bekämpfen gilt. Nicht solche Komödien brauchen wir,
sondern Filme, die den Heroismus und die Errungenschaften der Revolution
feiern”. Reynaldo Escobar berichtet: „Die Welt der kubanischen Intellektuellen fuhr erschreckt zusammen. Wochenlang erwarteten wir, dass dieser
Abschnitt der Rede in der Parteizeitung Granma abgedruckt würde, was
bedeutet, dass das Wort Castros in eine Direktive umgesetzt wird. Leicht hätte
sich ein Rückfall in die Zeit von 1971 bis 1976 abspielen können, die einer
Kulturrevolution à la Peking glich”, sagt Escobar.
Doch das Problem löst sich diplomatisch: Guevara bekennt sich auf einer
Pressekonferenz kurz darauf zur Revolution und zu Fidel Castro, sagt aber,
dass es sich bei dem Angriff gegen „Guantanamera” um ein Missverständnis
handele. „Castro musste damals gleich mehrere Schritte zurückgehen”, erzählt
auch Mario Piedra vom ICAIC. Es wird kolportiert, dass Castro später in kleinem Kreis zugab, den Film nicht persönlich gesehen und nicht gewusst zu
haben, dass er vom Starregisseur Gutierrez Alea sei.
„Der Angriff auf Gutierrez Alea war eine Ungeheuerlichkeit”, regt sich
Escobar noch heute auf. „Denn Tomas war das personifizierte Argument, dass
im sozialistischen Kuba keineswegs eine alles lähmende, politische Zensur
herrsche. Es reichte aus, auf seine Werke hinzuweisen, um kundzutun, dass
kritische Kunst innerhalb der Revolution sehr wohl möglich sei. Wer in Kuba
fehlende politische Freiheit beklagte, dem hielten Verfechter des Systems entgegen, was ihnen fehle, sei nicht Freiheit, sondern Talent”.
Wo Freiheit aufhört und Selbstzensur anfängt, ist schwer zu unterscheiden. Auf
dem Filmfest des Cubanacan-Laien-Filmclubs in Santa Clara wurden rund fünfzig Dokumentar-Videofilme von interessierten Laien gezeigt. Fast die Hälfte handelten von sozialen Themen, die wenig Gefahrenpotential bergen: Einrichtungen
für Blinde, Taube und Kinder mit Downsyndrom. Der Tenor ist: Sei froh und dem
Staat dankbar – es gibt keine einzige negative Stimme. Auch die anderen Werke
beschäftigten sich mit harmlosen Themen aus dem Umfeld der Amateure.
Der Vorsitzende des Filmclubs Cubanacan, Miguel Secades, beteuert, es gäbe
keine zensierende Instanz, und dass sehr wohl immer wieder kritische Filme entstünden. „Es handelt sich dabei um Selbstzensur”, sagt Reynaldo Escobar. Die
Laien-Festivals sind eine Art Trampolin, um auch im Fernsehen gesendet zu werden – deshalb entstehen hauptsächlich Filme, die dem Staat gefallen könnten.
„Man macht das, was sich verkauft”, sagt der Journalist, „nur dass es in Kuba keinen gibt, der kauft, aber einen, der autorisiert!”
Nele Husmann
Kuba
Die Erfahrungen von Pedro, einem chilenischen Revolutionskämpfer, der
seit Jahren in Kuba lebt, bestätigen diese These. Pedro ist Hobbyfilmer, der auf
einigen Laienfestivals Preise kassiert hat, und dessen Filme sowohl im belgischen, wie im schwedischen Fernsehen gezeigt wurden. „Ins kubanische Fernsehen habe ich es nicht geschafft”, erklärt er, „weil ich darauf bestanden habe,
nichts wesentliches aus den Filmen herauszuschneiden”.
Im ersten Fall handelt es sich um „Von Angesicht zu Angesicht”, einer Dokumentation über das Leben einer Aids-Kranken im Endstadium. Zufällig starb sie
einen Tag nach den Dreharbeiten. „Wir fragten sie, wie sie und ihre Freunde sich
mit AIDS ansteckten, und sie antwortete: „Durch Sex, einige aber auch durch
Selbstinfizierung.”, erzählt Pedro.
Damit berührte die Kranke ein kubanisches Tabuthema: Anfang der 90er
Jahre wurden die Aids-Kranken in Spezialkrankenhäusern kaserniert, die ihnen
materiell einen guten Lebensstandard boten. Als viele während der Wirtschaftskrise hungerten, steckten sich etliche Jugendliche absichtlich an, um in
den Genuss der Sonderbehandlung zu kommen.
„Das Fernsehen bot mir an, den Film zu senden, wenn ich diese Stelle herausschneide. Doch das war gegen meine Moral”, erzählt Pedro. Der zweite
Film heißt „Schmetterlinge aus Papier” und bringt eine bekehrte Dirne aus den
Jahren vor der Revolution und eine Jinetera, wie die leichten Mädchen, die sich
für Touristen prostituieren, genannt werden, im Gespräch zusammen. „In dem
Film tauchten natürlich die großen Tourismuszentren mit den Prostituierten
auf, und wieder forderte das Fernsehen: Lass diese Szenen weg, und wir senden
den Film”, sagt Pedro.
„Es ist für die Partei ein Riesenunterschied, ob vielleicht maximal 2000 Leute
den Film auf verschiedenen Filmfesten sehen, oder ob er im Fernsehen vor fünf
Millionen Menschen läuft”. Pedro erzählt von einem jungen Freund, der zwei
äußerst gewagte Filme drehte. Einen über die verheerende Situation der Alten
während der Periodo Especial, den anderen über Probleme, die die Freigabe des
Dollars als Zweitwährung in Kuba auslöste: „Jetzt arbeitet er fürs Fernsehen, als
Redakteur einer Witze-Sendung. Der Staat hat ihn auf ganz elegante Weise
mundtot gemacht”.
Interview mit Fernando Perez
Fernando Perez gilt als einer der besten lebenden Regisseure Kubas. Sein letztes Werk, „Das Leben heißt Pfeifen“, wurde für den spanischen Filmpreis
Goya nominiert.
Frage: In einer Schlüsselszene des Films überfällt die Protagonistin eine herzhafte Gähnattacke, ausgerechnet während die kommunistische Partei Kubas
Kuba
Nele Husmann
ihr einen Preis überreicht. Wie sind solche Bilder im staatlichen, kubanischen
Film möglich?
Perez: Ich konnte immer alles machen, was ich wollte – ohne Einschränkungen. Das Fernsehen und die Zeitungen stehen unter starker Kontrolle, aber
Kunstformen wie Kino und Theater sind offener. Wir haben mehr Freiheit, als
die internationale Presse darstellt. Mir gefällt es aber nicht, als kritisch zu gelten. Ich versuche nur, die Wirklichkeit auf Kuba darzustellen – und die lässt
sich nicht schwarz und weiß zeichnen.
Frage: Wie ist der Titel „Das Leben heißt Pfeifen“ zu verstehen?
Perez: Der Titel ist etwas ironisch gemeint, weil es im Leben um so viel mehr
geht, als nur zu pfeifen. Keiner pfeift, wenn er traurig ist. In der Schlussszene,
auf dem Platz der Revolution, treffen die Hauptpersonen der drei Handlungsstränge des Films zusammen. Meine Tochter Bebe, die im Film mitwirkt,
muss dabei gleichzeitig weinen und pfeifen. Vor dem Dreh verzweifelte sie,
weil sie glaubte, das ginge nicht. Doch ich sagte ihr: „Davon handelt das ganze
Leben. Man muss in den schlimmsten Situationen optimistisch bleiben“.
Das zentrale Thema des Films ist die Suche nach dem persönlichen Glück. Es
geht um Freiheit und Individualismus.
Frage: Also um die uramerikanische „Pursuit of Happiness“ – den Traum
vom Glück?
Perez: Ich weiß bereits seit langem, dass die Suche nach dem Glück eine individuelle Suche ist. Der Mensch hat auch kollektive Träume, aber selbst die
werden individuell ausgeführt. Ich glaube nicht an Utopien. Mein Film sagt
den Menschen, dass sie keine Angst haben sollen, der Wahrheit ins Gesicht zu
sehen. Die Individualität darf nicht sterben. Deshalb findet die letzte Szene
auch auf dem Platz der Revolution statt – ein Ort, der für jeden Kubaner eine
besondere Bedeutung hat.
Frage: Diese Aussage steht im Gegensatz zu Tomas Gutierrez Aleas Meisterstück „Memorias del Subdesarollo – Erinnerungen an die Unterentwicklung“ von 1968. Sein Antiheld Sergio, ein bürgerlicher Individualist, hat
Schwierigkeiten, sich in die neue gemeinschaftliche Ordnung nach der Revolution einzufügen – und er wirkt recht unsympathisch dabei.
Perez: Beide Filme drücken ein Gefühl aus, das die Menschen zu der Zeit
bewegte, als die Filme gedreht wurden. Mein Film ist aus den neunziger Jahren, Thomas‘ aus den Sechzigern, nach der Revolution. In dem kollektiven
Prozess einer Revolution wird man überrannt, wenn man nicht aufpasst. Das
ist vielleicht der große Unterschied zwischen den Filmen: Sergio ist ganz passiv, lässt alles geschehen. Meine Helden rennen zum Platz der Revolution, auf
der Suche nach ihrem Glück. Sergio würde langsam schreiten.
Frage: Inwiefern sind Sie in ihrer Arbeit von der wirtschaftlichen Krise
Kubas betroffen?
Nele Husmann
Kuba
Perez: Ich bin sehr privilegiert. Selbst 1994, mitten in der „Periodo Especial“,
wie wir die Wirtschaftskrise nennen, konnte ich den Film „Madagaskar“
drehen. Doch leider bin ich nicht die Regel. Die neunziger Jahre haben das
kubanische Kino in eine tiefe Krise gestürzt. Eine neue, vielversprechende
Generation von Filmschaffenden konnte nie filmen und ihre Ideen verwirklichen. So verlor das kubanische Kino dramatisch an Dynamik. Doch jetzt
geht es wieder aufwärts. Auf diesen Filmfestspielen werden zwei kubanische
Koproduktionen gezeigt.
Frage: Woher nehmen Sie den Optimismus? Ist es nicht eine Frage der Zeit,
bis Kuba wieder aus der Mode gerät und die Mittel nicht mehr zur Verfügung
stehen? Dann wird Kuba nur noch so viel produzieren können, wie die kleine
Insel aus eigener Kraft schafft.
Perez: Ich bin so zuversichtlich, weil selbst in der größten Krise, als viele hungerten, weitergefilmt wurde – ein Wunder, das es in keinem anderen Land der
Welt gegeben hätte. Solange wir hier keinen Mainstream produzieren und das
Kino seine kubanische Identität behält, werden wir international von Gewicht
bleiben. Wir machen schließlich kein Kino, um die Kassen zu füllen, sondern
um einen intellektuellen Dialog anzuregen.
Frage: Mit dem Tod von Tomas Gutierrez Alea hat das kubanische Kino seinen wichtigsten Produzenten verloren. Wo ist der Nachwuchs?
Perez: Es gibt so viele gute, junge Leute, dass ich gar keine einzelnen nennen
mag. Wir Alten lassen sie immer bei Projekten mitmachen, damit sie lernen
können. Hätte ich die Millionen von Francis Ford Coppola, ich würde sie unter
unserem Nachwuchs in Havanna verteilen. Heraus kämen ganz wunderbare
Arbeiten.
Frage: An welchen Projekten arbeiten Sie gerade?
Perez: Ich denke gleichzeitig über drei nach. Die italienische Autorin Anna
Assenza gab mir die Rechte, ihre Lebensgeschichte zu verfilmen. Gerade
schreibe ich das Drehbuch, und vielleicht kann ich nächstes Jahr in Italien filmen. Noch fehlt aber die Finanzierung. Auch das zweite Projekt ist sehr
teuer, so dass ich es eher langfristig planen muss. Ich möchte die Geschichte
des kubanischen Marathonläufers Andarin Carvajal erzählen, der mit allen
Mitteln kämpfte, um an der Olympiade in San Diego 1903 teilzunehmen. Das
dritte Projekt ist leichter zu verwirklichen: Eine einfache Liebesgeschichte,
die hier in Havanna spielt. Sie wird eine Hommage an den französischen
Regisseur Rene Clair, dem seine Produzenten das Ende seines Films umgeschrieben haben. Meine Geschichte wird das Ende haben, das er damals
nicht durchsetzen konnte.
Kuba
Nele Husmann
Die Ausbildung
Rund eine Stunde dauert die Fahrt von Havanna, ehe man nach einer kilometerlangen Palmenallee auf einen schlichten, mehrstöckigen Plattenbau trifft.
Kein Schild weist den Weg. San Antonio de los Banos ist zwar nur 35 Kilometer von Havanna entfernt, doch die Distanz könnte kaum größer sein: Hier die
temperamentvolle, laute Metropole, dort flaches Land. Der große Schulkomplex
liegt inmitten von landwirtschaftlichen Kooperativen. Zwischen Orangenplantagen lernt der Nachwuchs des lateinamerikanischen Kinos sein Handwerkszeug,
in der Internationalen Schule für Kino und Fernsehen, EICTV.
„Auch wenn der Ort hier abgeschieden erscheint, ist es spannend”, erzählt Ariana, eine 28-jährige Austauschschülerin von der Kunsthochschule für Medien in
Köln. „Es geht hier zu, wie auf einem großen Hochzeitsbasar”. Das sieht der
Direktor der Schule, der argentinische Drehbuchautor Alberto Garcia Ferrer,
etwas anders: „Der Ort hier ist wie ein Kloster. Der Arbeitstag läuft von neun Uhr
morgens bis elf Uhr abends”. Der Ort ist mit umfangreichen Sportanlagen ausgestattet – es gibt sogar ein großzügiges Schwimmbecken.
Die EICTV wurde im Dezember 1986 gegründet, als eine „Institution für die
Formierung und technisch-künstlerische Ausbildung von professionellen Fernseh- Film- und Videoschaffenden, die hauptsächlich aus Lateinamerika und der
Karibik, Afrika und Asien stammen sollten”, heißt es in der Informationsbroschüre.
Der damalige Chef des ICAIC, Julio Garcia Espinosa, begeisterte Fidel Castro von der Idee, eine Kino-Schule für junge Lateinamerikaner zu gründen. „Der
kubanische Staat war so großzügig und hat nicht nur das Schulgebäude gestiftet, sondern gewährt auch jährliche, finanzielle Zuwendungen”, erklärt Ferrer.
Denn das Schulgeld von 5000 Dollar im ersten und 7000 Dollar im zweiten
Schuljahr deckt die Kosten bei weitem nicht.
Seit Gründung haben 277 Studenten aus 36 Ländern die Schule absolviert.
Zusätzlich gab es Werkstattkurse für 2095 Externe. Die Stiftung des „Neuen
Lateinamerikanischen Films“ ist der offizielle Schirmherr der Schule, ihr Präsident kein geringerer als der kolumbianische Schriftsteller Gabriel Garcia Marquez. „Er kommt in der Regel zwei bis dreimal im Jahr zu Besuch”, sagt Ferrer,
„und gibt einen Kurs im Drehbuchschreiben”.
Die Ausbildung an der EICTV dauert zwei Jahre. Im ersten Jahr durchlaufen
alle Schüler die Stationen Regie, Produktion, Drehbuch, Fotografie und Schnitt.
Im zweiten Jahr suchen sie sich dann ein Metier aus.
„Die Schule ist sehr praxisbezogen”, erklärt Ariana. „Die Professoren sind
echte Profis und keine Theoretiker“. Der Erfolg gibt der Schule recht: 14 Filme
von Absolventen sind bereits mit Preisen ausgezeichnet worden. Arturo Soto, der
Regisseur von „Denk an mich”, ist der erfolgreichste kubanische Graduierte. Ein
Nele Husmann
Kuba
ungewöhnlich hoher Prozentsatz der Ehemaligen arbeitet in kinobezogenen
Berufen.
„Es ist sehr hilfreich für den späteren Beruf, alle Bereiche der Filmwirtschaft
kennengelernt zu haben”, sagt die 27-jährige Veronica aus Bolivien, die die
Schule vor fünf Jahren besucht hat. Seither hat sie an sechs Kurzfilmen mitgearbeitet, aber immer in verschiedenen Positionen. Eigentlich ist sie auf Drehbuch
spezialisiert, doch sie hat auch schon als Regieassistentin oder Verantwortliche
für den Ton gearbeitet. Veronica setzt sich mit anderen Schülern in die etwas
schäbige Kantine, die alle Schüler kostenlos versorgt.
Die Schule hat eine exakt festgelegte Quote, wieviele Schüler aus welchen
Ländern aufgenommen werden. Nur zwei bis vier stammen aus Kuba. „Als
Kubaner habe ich die gleiche Aufnahmeprüfung absolviert wie alle anderen. Nur,
dass ich das Schulgeld nicht in Dollars, sondern die gleiche Summe in kubanischen Pesos bezahle”, erzählt der 27-jährige Manuel. Das heißt, er zahlt nach dem
staatlich festgelegten Sortenwechselkurs nur den zwanzigsten Teil dessen, was
die anderen Schüler aufbringen. Manuel ist begeistert von der Schule: „Das Tolle
hier ist die Internationalität. Das ist wie beim Arbeiten für den Film oder das
Fernsehen: Du triffst eine Menge Leute mit sehr verschiedenen Meinungen
und Hintergründen. Und Du lernst, Dich damit auseinanderzusetzen oder auch
einfach, die Andersartigkeit zu tolerieren“.
Doch die EICTV ist nicht die einzige kubanische Filmschule, die eine Menge
Studenten aus der ganzen Welt anzieht. Die Universität der Künste in Havanna,
die ISA, bietet einen besonderen Studiengang fürs Kino an. Er wird von rund 100
Kubanern und 40 ausländischen Studenten, vorwiegend aus Lateinamerika,
besucht. „Die Ausbildung hier ist exzellent” sagt der 25-jährige Tarick aus
Ecuador, „und ausgesprochen billig.” Er und seine ausländischen Kommilitonen
zahlen 2500 Dollar Studiengebühr pro Jahr. Ihr Studium dauert fünf Jahre.
Im Gegensatz zu der EICTV ist die ISA weniger verschult, bietet dafür aber
weniger Praxis. „Ihr stehen einfach nicht die gleichen Mittel zur Verfügung wie
uns”, sagt auch Ferrer. Oft gibt es nur zwei oder drei Unterrichtsstunden in einer
ganzen Woche.
Andres, 23 Jahre, aus Kolumbien, studiert schon seit zweieinhalb Jahren an der
ISA. „Mich zieht nicht allein das günstige Leben in Havanna an, obwohl es in der
Welt wohl einzigartig ist, für weniger als einen Dollar ins Kino, ins Theater oder
in Musikkonzerte gehen zu können”. Wichtiger für ihn ist die Freundlichkeit der
Kubaner: „In Kolumbien hätte ich keine Chance, auch nur mit einem drittklassigen Fernsehregisseur zu sprechen. Hier in Kuba hingegen, kennen die Leute
überhaupt keine Starallüren, sondern sind freundlich, offen und hilfsbereit,
selbst wenn es sich um echte, erstklassige Berühmtheiten handelt”.
Kuba
Nele Husmann
Deutsches Kino in Kuba
Peter Timm ist zufrieden: Seine zwei Wochen in Kuba sind fast vorbei, und er
hat jede Menge Stoff für seinen neuen Film. Der deutsche Regisseur, der mit „Go,
Trabi, Go” seinen größten Hit landete, will einen Film auf Kuba drehen: „Bis
Mitte 2000 steht das Drehbuch, und in zwei Jahren, also Ende 2001, ist der Film
fertig”.
Die Protagonistin, eine junge Managerin eines deutschen Tourismuskonzerns,
soll auf Kuba einen Ort für ein neues Hotel suchen. Doch sie verliert ihre Koffer,
ihr Geld und ihr ganzes Equipment, so dass sie allein auf der Insel dasteht und sich
im kubanischen Alltag zurechtfinden muss. Sie schlüpft illegal bei einer Familie
unter und erlebt den oft sehr skurrilen Alltag Kubas mit Schlangestehen, Lebensmittel- und Wasserknappheit. Sie erfährt, dass die meisten Taxifahrer studierte
Ingenieure sind, und dass in den Hotels viele Lehrerinnen als Putzfrauen arbeiten,
weil sie mehr Dollar-Trinkgeld erhalten, als ihr gesamter Monatslohn in ihren
angestammten Berufen einbringt.
„Der Film soll Lust auf Kuba machen, und auch Leute ansprechen, die bereits
auf Kuba Urlaub gemacht haben”, sagt Timm. Die Idee zu dem Film ist ihm selbst
während eines Familienurlaubs in Varadero, dem größten Strandressort Kubas,
gekommen.
„Ich habe schon mit der Produktionsgesellschaft des ICAIC, dem staatlichen
kubanischen Filminstitut, gesprochen”, erzählt Timm, “und die sind sehr interessiert.” Es geht darum, Ausrüstung und rund 80 Techniker vom ICAIC auszuleihen. „Wenn das nicht geht, lasse ich alles selbst einfliegen. Besonders wichtig:
Notstromaggregate”, plant Timm. Er will in nur 40 Drehtagen fertig sein.
Kuba ist in – die Musik, die Filme und selbst das nicht allzu einfallsreiche
Essen. Kein Wunder, dass jetzt auch deutsche Produktionsgesellschaften und
Regisseure die Insel entdecken. Während der Erfolgsfilm „Erdbeere und Schokolade” das internationale Interesse sanft weckte, schlug Wim Wenders Musikfilm „Buena Vista Social Club” ein, wie eine Bombe. Der eher mittelmäßige
Dokumentarfilm wurde zu einem echten Kassenschlager. Kaum ein Zuschauer
weiß, dass eine Holländerin namens Sonia Herman Dolz schon 1997, zwei Jahre
früher, einen ähnlichen, aber wesentlich einfühlsameren Film „Lagrimas Negras
– Schwarze Tränen” über eine Musikgruppe aus Santiago de Kuba drehte.
Gerade ist die erste deutsch-kubanische Koproduktion, von der deutschen
Produktionsgesellschaft BMG finanziert, fertiggestellt worden. „Kleines
Tropikana” von Daniel Diaz Torres handelt von einem Deutschen (Peter
Lohmeyer in der Hauptrolle) auf Kuba.
Jetzt beginnen die Dreharbeiten zu einer weiteren deutsch-kubanischen
Koproduktion, „Den Dummen spielen”. Diesmal arbeitet Daniel Diaz Torres
mit Kinowelt zusammen (siehe Interview).
Nele Husmann
Kuba
Kubanisches Kino ist im Kommen in Deutschland. Schon seit fünf Jahren
findet in Hoechst, bei Frankfurt am Main, ein kleines Filmfest statt, dass ausschließlich kubanische Produktionen zeigt. Hunderte von Interessierten füllen das kleine Programmkino bis zum letzten Platz, und 1999 wurden die
Filme erstmals an weitere Kinos in Hessen weitergereicht.
Deutsche Filme sind in Kuba dagegen eher Mangelware. Kurz vor den Internationalen Filmfestspielen organisierten verschiedene europäische Botschaften in Havanna gemeinsam eine europäische Filmwoche. Thema: Literaturverfilmungen. Während Portugal mit „Erklärt Perreira” und Österreich
mit der Verfilmung von “Schlafes Bruder” recht aktuelle, qualitativ hochwertige Filme lieferten, gab es von deutscher Seite „Maldita” – ein recht dröger Film, aus dem viele Kubaner schon nach zehn Minuten hinausliefen.
„Die Idee für die europäische Woche stammte vom spanischen Kulturinstitut”, erklärt Gerhard Trümper, Botschaftssekretär an der deutschen Botschaft in Havanna. „Sie wollten ein Gegengewicht zum zeitgleich stattfindenden iberoamerikanischen Gipfel setzen”. Das Problem war, das jede
Botschaft im Heimatland möglichst kostenlos Filme auftreiben musste, und
zwar mit spanischen Untertiteln. „Nur vier deutsche Filme erfüllten die Kriterien Untertitel und Literaturverfilmung, und von denen war „Maldita” noch
der beste”, gesteht Trümper ein.
Auf dem Internationalen Filmfest in Havanna läuft, auf Anregung des
Goethe-Instituts in Mexiko-City, seit 1995 regelmäßig eine Reihe aktueller,
deutscher Filme. In Kuba selbst gibt es keine Niederlassung. „Wir lassen die
Filme für ein Festival in Mexiko City, das jährlich im November stattfindet,
untertiteln. Da macht es wenig Mühe, die Filme in Havanna einen Monat später noch einmal zu zeigen”, erklärt Dietmar Geisendorf, der Leiter des Goethe-Instituts in Mexiko-City. 1999 wurden „23”, „Kurz und Schmerzlos”, „Bin
ich schön”, „Tod, Liebe, Leben”, „Viehjud Levi” und „Aprilkinder” gezeigt
– allerdings läuft jeder Film nur ein einziges Mal.
„Wir versuchen, das neue deutsche Kino repräsentativ zu zeigen und ein
Bild vom aktuellen Deutschland zu vermitteln”, sagt Geisendorf, der die
Filme jedes Jahr auf der Berlinale aussucht. Die Filme werden vom Kulturintermediär Internationes mit Untertiteln versehen – die Kosten teilen sich das
Goethe-Institut und Internationes. Später behält Internationes die Rechte
und verleiht die Filme, zum Beispiel nach Spanien.
Eine freie Mitarbeiterin des Goethe-Instituts, die in Havanna lebt, Petra
Röhler, übernimmt die Organisation mit dem ICAIC, wann und in welchem
Kino welcher Film gezeigt wird. So lief 1995 eine Wim-Wenders-Reihe und
der Stummfilm „Metropolis” mit Klavierbegleitung. 1996 gab es eine WernerHerzog-Retrospektive und 1997 wurden Filme von Volker Schlöndorff und
Margarethe von Trotta gezeigt. 1998 und 1999 liefen neue deutsche Filme.
Kuba
Nele Husmann
Außerdem initiiert Röhler gemeinsam mit der kubanischen Cinemathek Retrospektiven deutscher Filme. So gab es 1999, anlässlich des Goethejahrs, eine
Reihe von Goetheverfilmungen.
Die Filmeinkäufer vom ICAIC hingegen haben schon lange keine deutschen Filme mehr eingekauft – seit dem Zusammenbruch der DDR. „Trotz
einiger Bemühungen haben wir bisher nicht den Kontakt zu den richtigen Leuten bekommen”, erklärt Roberto Smith de Castro, Chefeinkäufer des ICAIC.
„Aber es gibt auch keine Initiativen von Seiten der Deutschen, ihre Filme nach
Lateinamerika zu bringen. Dabei könnte Kuba doch ein perfekter Brückenkopf nach Lateinamerika sein”.
Interview mit Daniel Diaz Torres
Der kubanische Regisseur ist durch den satirischen Skandalfilm „Alice im
Wunderdorf ” berühmt geworden. Der letzte Film „Kleines Tropikana” war
eine deutsche Koproduktion mit Peter Lohmeyer in der Hauptrolle.
Frage: An welchem Projekt arbeiten Sie zur Zeit?
Diaz Torres: An einer bittersüßen Komödie mit dem Titel „Hacerse el Sueco
(wörtlich: Den Schweden machen) – Den Dummen spielen”. Wieder soll Peter
Lohmeyer die Hauptrolle spielen, diesmal als Ausländer, der nach Kuba kommt,
um Touristen über das Ohr zu hauen. Er kommt im Haushalt eines Ex-Polizisten unter, was einige Turbulenzen nach sich zieht. Er verliebt sich in Alicia, die
Tochter des Ex-Polizisten. Am Ende verändern sich Peter und der Ex-Polizist.
Frage: Also schon wieder eine Alicia. Ist das eine bewusste Anspielung auf
ihren politisch anstößigen Film: „Alice im Wunderdorf“?
Diaz Torres: Mir gefällt einfach der Name sehr. Mehr nicht. Außerdem
arbeite ich wieder mit dem gleichen Drehbuchautor wie damals zusammen.
„Alicia“ ist eine Satire, die Ende 1987 als Idee entstand und ganz typisch für
die Zeit ist. Der jetzige Film wird eher eine traurige Komödie.
Frage: Ohne jegliche gesellschaftliche Kritik?
Diaz Torres: Höchstens da, wo sie in den Film hineinpasst. Alles andere wäre
sehr oberflächlich. Ich arbeite diesmal – zum ersten Mal – sehr intensiv an den
einzelnen Charakteren. Die Zuschauer sollen an die Leute glauben können.
„Den Dummen spielen” wird wie ein realistisches Märchen, das in Havanna
Centro, einem etwas heruntergekommenen Stadtteil Havannas, spielt. Natürlich gibt es Lokalkolorit. Wenn ich aber zu viele nationale Probleme einbringe,
verliert das internationale Publikum schnell das Interesse. Es würde eine
einzige, örtliche Selbstschau.
Frage: Heißt das auch, dass Sie jetzt auf die ausländischen Geldgeber Rücksicht nehmen müssen?
Nele Husmann
Kuba
Diaz Torres: Systemkritische Filme bleiben auf nationalem Niveau und
interessieren kein weltweites Publikum. Es ist nicht leicht, dafür Geldgeber zu
finden. Keine ausländische Produktionsgesellschaft wartet auf eine Koproduktion mit Kuba. Da ich schon einen internationalen Film gedreht habe, hatte
ich es etwas leichter als andere.
Frage: Seit den Problemen mit Alicia haben Sie sich völlig auf recht unpolitische Komödien zurückgezogen. Warum? Dürfen Sie etwa nicht?
Diaz Torres: Die Zeit damals war sehr unangenehm und sehr widersprüchlich. Aber zum Schluss löste sich alles auf, und ich konnte alle Filme realisieren, die ich wollte. Andere Filme, als die, die ich gemacht habe, hätten mich
nicht interessiert. Der Humor war mir immer wichtig, aber nicht so überdreht
wie in „Alicia“. Jetzt neige ich zu etwas reflektierteren Arbeiten. Man muss
ehrlich sein mit sich selbst und seine eigene Sicht vertreten. Und ich habe
keine Angst vor dem Wort Komödie. Ein Film kann lustig und trotzdem tiefgründig sein. Wichtig für die Kinolandschaft jedes Landes ist, dass es eine
Vielfalt der Stilarten gibt: Publikumsschlager wie „Ein Paradies unter den
Sternen” von Gerardo Chijona und gleichzeitig kritische, weniger eingängige
Werke wie „Madagaskar“ und „Das Leben heißt Pfeifen” von Fernando
Perez.
Frage: Wie wird „Den Dummen spielen” finanziert?
Diaz Torres: Ich rechne damit, dass der Film etwa eine Million Dollar kosten wird. Die Dreharbeiten starten Mitte Januar 2000 und dauern rund sieben
bis acht Wochen. Das ICAIC gibt etwas Geld, aber das meiste stammt von
Kinowelt, unserem deutschen Koproduzenten.
Frage: Hat sich das Niveau der kubanischen Filme verschlechtert, seit es
Koproduktionen gibt? Werden jetzt Projekte bevorzugt, die Kassenschlager
sein könnten, statt auf den intellektuellen Anspruch zu achten? Das ICAIC
kann ja kaum noch über die Realisierung von Projekten entscheiden, weil das
Geld fehlt.
Diaz Torres: Nein. Filme wie „Erdbeere und Schokolade” und „Das Leben
heißt pfeifen” wurden koproduziert, und es sind beides anspruchsvolle Werke.
Andererseits wurden hier in Kuba, auch unter der alleinigen Regie des ICAIC,
schon extrem schlechte Drehbücher umgesetzt. Es gab Filme, die überhaupt
kein Publikum fanden. Früher war nicht alles besser.
Frage: Wie sieht ihre persönliche, finanzielle Situation als Regisseur aus? Verdienen Sie mehr, wenn es sich um eine Koproduktion handelt?
Diaz Torres: In Kuba erhalten alle Regisseure feste Monatsgehälter in Peso,
die nicht sehr hoch sind. Dafür ist das Leben hier sehr preiswert, man braucht
nicht sehr viel Geld. Die Koproduktion bringt mir persönlich finanziell
nichts. Kein Kubaner macht Kino, um damit reich zu werden.
Kuba
Nele Husmann
Neue kubanische Filme
Zwei kubanische Filme haben auf dem Filmfest ihre Premiere gefeiert.
Operación Fangio – Die Operation Fangio
Diese kubanisch-argentinische Koproduktion spielt im Havanna der frühen
Fünfziger Jahre und gibt eine wahre Begebenheit frei wieder. Der unbeliebte
kubanische Diktator Fulgencio Batista hält ein Formel-1-Rennen auf dem Malecon ab – als Shootingstar kommt der legendäre Weltmeister Fangio aus Argentinien. Doch die „Bewegung 26. Juli“ – benannt nach dem Jahrestag des ersten,
gescheiterten Revolutionsversuchs Castros beim Angriff auf die MoncadaKaserne – kidnappt die Hauptperson: Fangio. Die Gruppe junger, wohlhabender
und gebildeter Kubaner versucht ihr möglichstes, es ihrem Opfer nicht nur
bequem zu machen, sondern ihn auch von der Richtigkeit ihrer Sache zu überzeugen. Das will kaum gelingen – bis es während des Rennens zu einem tödlichen Unfall, genau vor der US-Botschaft kommt. Nachdem alle Versuche des
Regimes, den Rennfahrer pünktlich vor dem Start zu befreien, gescheitert sind,
ändert sich die Strategie der Polizei: Fangio soll sterben, um die Schuld der
„Bewegung 26. Juli“ anzulasten. Ein spannender Krimi um das Leben des
Rennfahrers setzt ein. Wäre das Drehbuch nicht gemeinschaftlich von Kubanern
und Argentiniern geschrieben worden, möchte man den dargestellten Edelmut
der Revolutionäre kaum glauben. So aber ist der Film eine spannende und gut
gelungene Unterhaltung.
Un paraiso bajo las estrellas – Ein Paradies unter Palmen
Der Film von Gerardo Chijona ist eine perfekte Verwechslungskomödie. Rita,
die Tochter einer Kabaretttänzerin im berühmten Tropikana, fängt gegen den
Willen ihres Vaters dort an – und wird direkt Primaballerina, weil sie dem Chef
des Tropikana so gut gefällt. Sie verliebt sich in einen jungen Mann, wird
schwanger und heiratet. Dann kommt das Kind. Zum Entsetzen aller ist es
schwarz – wie der Chef vom Tropikana! Natürlich löst sich in der Komödie alles
in Wohlgefallen auf. Der Film operiert mit ein paar schon etwas alten, kubanischen Witzen, wie zum Beispiel: Der Vater, auf dem Totenbett, schreckt wieder
auf, und sagt: „Sie haben mich nicht in den Himmel gelassen, dort wird alles mit
Dollars bezahlt”. Die Pressesprecherin des ICAIC, Mirtha, schwärmt: „Das ist
echtes Kino – dem Film ist der Publikumspreis der Festspiele sicher”, der TAZKritiker stöhnt: „Das ist ja das reinste Hollywood-Kino”. Beide behalten recht.
Nele Husmann
Kuba
Neue Projekte für das Jahr 2000
Hacerse el Sueco – Den Dummen spielen
Regie: Daniel Diaz Torres
Drehbuch: Daniel Diaz Torres und Eduardo del Llano
Produktion: ICAIC, Kinowelt – Igeldo SA(Deutschland-Spanien), Impala
(Spanien)
Inhalt: Siehe Interview mit Diaz Torres
Las Noches de Constantinopla – Die Nächte von Konstantinopel
Regie: Orlando Rojas
Drehbuch: Orlando Rojas und Manuel A. Rodriguez
Produktion: ICAIC, El Paso (Spanien) mit Unterstützung von Ibermedia
Inhalt: Der junge Hernan gewinnt einen bedeutenden Preis bei einem Wettbewerb für erotische Literatur. Vor Schreck fällt seine Oma in ein Koma.
Zuvor hatte die diktatorische, autoritäre Alte ihn zur Strafe mit dem Bewachen
ihres Hauses beauftragt. Jetzt legt sich ein Hauch von Freiheit über die ganze
Familie, die der Junge kaum noch im Zaum halten kann.
Miel para Ochun – Honig für Ochun
Regie: Humberto Solas
Drehbuch: Elia Solas
Produktion: ICAIC
Inhalt: Roberto, 36 Jahre, kehrt nach dem Tod seines Vaters nach Kuba zurück,
nachdem er die meiste Zeit seines Lebens im Ausland verbracht hat. Er ist davon
besessen, seine Mutter zu finden. Doch um ihn herum brechen jede Menge Konflikte aus. Seine Kusine Pilar und der Taxifahrer Antonio sorgen dafür, dass
diese Saga sich in völlig neue Richtungen entwickelt. Honig für Ochun – das
bezieht sich auf die afrokubanische Religion in Kuba. Fast alle Häuser haben
einen kleinen Altar für die wichtigsten Götter wie Ochun. Um sie zu besänftigen, werden ihnen Opfergaben gebracht, wie Parfüm, Rum oder eben Honig.
Kommando Vampiro en La Habana – Kommando Vampir in Havanna
Regie: Juan Padron
Drehbuch: Juan Padron
Produktion: ICAIC, ISKRA
Inhalt: Zehn Jahre nach dem extrem beliebten Komikfilm “Vampire in
Havanna” dreht Juan Padron die Fortsetzung. Im ersten Film hatte Vampisol”
dafür gesorgt, dass die Vampire auch bei Tageslicht nach Herzenslust Blut saugen können. Im zweiten Film erscheint die veränderte Formel Vampisol 2 auf
dem Schwarzmarkt. Es wird in den Kellern des berühmten Clubs Pepitos her-
Kuba
Nele Husmann
gestellt. Das neue Produkt wird während des zweiten Weltkrieges von Nazis
in einer der größten und gefährlichsten Operationen eingesetzt, ohne dass
seine Schöpfer, die Vampire, Verdacht schöpfen.
Nada – Nichts
Regie: Juan Carlos Cremata
Drehbuch: Juan Carlos Cremata und Manuel Rodriguez
Produktion: ICAIC, DMVB Films (Frankreich), PHS Films (Spanien)
Inhalt: Dieser Film soll der erste Part eines Dreiteilers “Nichts”, “Niemals”
und “Niemand” werden. Gehen und nicht Gehen, das ist die Frage für die
junge Carla, die als Angestellte in einem Postamt arbeitet. Ihre Eltern wandern
nach Miami aus und schreiben sie in eine Lotterie ein, damit sie eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erhält. Eines Tages verschüttet Carla im Postamt versehentlich Kaffee über einen Brief und entdeckt so ihre Leidenschaft,
heimlich anderen Menschen zu helfen.
Lista de Espera – Warteliste
Regie: Juan Carlos Tabio
Drehbuch: Arturo Arango, Juan Carlos Tabio, mit der Mitarbeit von Senel Paz
Produktion: ICAIC, Tornasol Films (Spanien), Amaranta (Mexiko), DMVB
Films (Frankreich) und Unterstützung von Ibermedia
Inhalt: 1993, als das öffentliche Transportsystem Kubas wegen Benzinmangels fast komplett zum Erliegen gekommen ist, steht ein kaputter Omnibus am
Busterminal. Emilio, Jaqueline und die anderen, die auf der Warteliste für diesen Bus standen, kommen sich auf der Suche nach Lösungen für ihr Transportproblem immer näher.
Pata Negra – Schinken
Regie: Luis Oliveros
Drehbuch: Manuel Perez Paredes und Jose Maria Sacristan
Produktion: ICAIC, El Paso (Spanien), Izaro Films (Spanien)
Inhalt: Jose wird von einem japanischen Multikonzern in lateinamerikanische Länder geschickt, um dort die Möglichkeiten auszutesten, eine Schweinezucht für
Schinken aufzubauen. In der Karibik erlebt er das größte Abenteuer seines Lebens.
La Mafia en La Habana – Die Mafia in Havanna
Regie: Ana Diez
Drehbuch: Manuel Perez Paredes
Produktion: ICAIC, Igeldo (Spanien?) Komunikazioa (Spanien), Impala
(Spanien) Canal Plus (Spanien) mit TV Espanola und der Unterstützung von
Eurimages und Ibermedia
Nele Husmann
Kuba
Inhalt: Ein Dokudrama über die Präsenz und den Einfluss der Mafia im
Havanna vor der Revolution. Mit eindrucksvollen Archivaufnahmen, Musik
dieser Epoche und Zeitzeugen.
Projekte des ICAIC in der Entwicklungsphase, für die noch keine Koproduzenten gefunden worden sind:
Entre Ciclones – Zwischen Wirbelstürmen
Regie: Enrique Colina
Drehbuch: Antonio Jose Ponte, Eliseo Altunaga und Enrique Colina
Cita con Gertrudis – Verabredung mit Gertrud
Regie: Mayra Vilasis
Drehbuch: Mayra Vilasis
El Barbaro del Ritmo – Der Barbier mit Rhythmus
Regie: Jorge L. Sanchez
Drehbuch: Jorge L. Sanchez
Miradas – Blicke
Regie: Enrique Alvarez
Drehbuch: Sigfrido Ariel und Enrique Alvarez
Roble de Olor – Duftende Eiche
Regie: Rigoberto Lopez
Drehbuch: Rigoberto Lopez und Eugenio Hernandez Espinosa
Danke
Ich möchte mich von ganzem Herzen bei der Heinz-Kühn-Stiftung – und
allen voran bei Erdmuthe Op de Hipt – bedanken, dass ich trotz der anfänglichen Bedenken nach Kuba reisen konnte. Der Aufenthalt im letzten, wahrhaft kommunistischen Land der Welt war für mich einmalig. Kaum zu glauben, dass noch vor zehn Jahren die Hälfte der Welt so aussah.
Wie es mir gefallen hat? Schwer zu sagen: Mal war ich ganz euphorisch
über die Freundlichkeit der Kubaner, dann enttäuscht von der Berechnung, mit
der einige mich taxierten. Oft war ich entrüstet von den alltäglichen Repressionen des Regimes, fühlte mich eingeschnürt von der Enge des Alltags und
den Schwierigkeiten kleinster Besorgungen.
„Nimm die Situation doch nicht schwerer als die Kubaner“, sagte mir ein
kubanischer Freund. Er hat Recht: Trotz aller Probleme, Ungerechtigkeiten
Kuba
Nele Husmann
und wirtschaftlicher Sorgen, verlieren sie nie ihre Lebensfreude und Hilfsbereitschaft.
Ich möchte meinen neuen kubanischen Freunden Keti, Reynaldo, Yoani,
Mario und Mari herzlich dafür danken, dass sie mir ihr so widersprüchliches
Land etwas näher gebracht haben. Auch dem kubanischen Filminstitut ICAIC
und seinen Mitarbeitern, sowie der Zeitschrift „Cine Cubano“ gilt mein
Dank, dass sie mich so freundlich aufgenommen und meine Fragen so offen
diskutiert haben.
Marianela J. Mendez
aus Costa Rica
Stipendien-Aufenthalt in
Deutschland
vom 04.Juli bis 18. Dezember 1999
Deutschland
Aller Anfang hat eine Ende...
Marianela Jiménez Méndez
Deutschland, vom 07.07. bis 18.12.1999,
betreut von der Heinz-Kühn-Stiftung
M. J. Mendez
Deutschland
M. J. Mendez
Inhalt
Zur Person
04.07.99 Ein Blick in die Vergangenheit
26.07.99 Du hast, ich nicht...
11.08.99 Dunkler Mittwoch
25.09.99 Herzen klopfen, Herzen schlagen und dann wurde alles Rot!
13.10.99 Willkommen in Deutschland
27.10.99 Un cafecito?
10.11.99 So lebt die Politik
04.12.99 Heinz-Kühn-Stiftung
269
M. J. Mendez
Deutschland
Zur Person
Marianela Jiménez Méndez wurde am 11.05.1971 im Turrialba, Costa
Rica, geboren. Nach einigen Jahren Geschichtsstudium an der Universität von
Costa Rica, studierte sie Journalismus und Kommunikationswissenschaften
an der gleichen Universität. 1994 machte sie ihren Bachelor of Arts und
1996 ihr Staatsexamen. 1997 arbeitete sie für die Tageszeitung „La Nación“
in San José. Seit September desselben Jahres arbeitet sie als Korrespondentin für „The Associated Press“ (AP) in San José.
04.07.99
Ein Blick in die Vergangenheit
Die letzte Wolke – Costa Rica liegt hinter mir. Meine Gedanken sind schon
in Deutschland. Ich freue mich. Trotzdem habe ich ein komisches Gefühl aus
Angst und Neugierde. Warum werde ich sechs Monate in diesem fremden
Land leben? Die Frage habe ich viele Male gehört und bis jetzt habe ich noch
keine gute Antwort gefunden.
Ich war noch klein, als ich zum ersten mal etwas über Deutschland gehört
habe. Mein Vater hat mir viel erzählt, von der Zeit, als Bischof Bernhard Thiel
als Missionar in dem Indianergebiet Talamanca gelebt hat. Für mich war es
sehr interessant, ein Photo von dem großen Deutschen zwischen all den kleinen und dunkelhäutigen Indianern zu sehen. Ein so altes Photo…..
schwarz/weiß, aber wirklich schön.
Außerdem hat mein Vater noch andere Verbindungen zu Deutschland: Er ist
ein sehr treuer Fan von Bayern München. Woher er solche Interessen hat weiß
ich nicht. Aber das Lustige ist, dass er nicht der Einzige in meinem Land ist,
in dem die Deutschen für drei Sachen bekannt sind. Erstens: Fußball – es ist
möglich, dass Spiele der Bundesliga im costaricanischen Fernsehen zu sehen
sind. Zweitens: Bier – Namen wie Pilsen oder Bavaria , zwei der beliebtesten
Biere Costa Ricas, sind der deutschen Sprache entnommnen. Und dann drittens: Touristen – jedes Jahr kommen fast eine Million Touristen nach Costa
Rica. Ungefähr 20 Prozent sind Deutsche, die Costa Rica in den 80er Jahren
entdeckt haben. Danach begann eine neue Welle der Einwanderung, nicht nur
aus Deutschland, sondern aus ganz Europa. Wenige wissen allerdings, dass
dieses Phänomen schon mehr als 150 Jahre alt ist. Trotz der geographischen
Entfernung und dem Fehlen moderner Kommunikationsmittel, wurden zwischen Februar und März 1848 verschiedene Freundschafts- und Handelsverträge zwischen Costa Rica und England, Frankreich sowie den Hanseatischen Republiken unterzeichnet. Zu diesem Zeitpunkt war Costa Rica erst 27
Jahre von Spanien unabhängig. Costa Rica war sehr klein: Kaum 100.000 Ein-
M. J. Mendez
Deutschland
wohner, 6 Städte und 50 Priester. Costa Rica war noch keine Republik und die
wenigen Kaffee-Exporte waren das größte Ereignis in dem Land. Das politische Verhältnis zwischen Deutschland und Costa Rica wurde durch später
abgeschlossenen Verträge gestärkt. Zur gleichen Zeit, im 19. Jahrhundert,
kamen die ersten Einwanderer nach Costa Rica. Sie haben ihr Schicksal in fernen und exotischen Ländern gesucht. Im Gegensatz zu anderen Ländern des
Kontinents, z. B. Chile oder Brasilien, haben sich die Deutschen in Costa Rica
nicht zu starren Gemeinden zusammengeschlossen. Die meisten sind alleine
oder nur mit ihren Familien eingewandert. „In Costa Rica haben viele Deutsche die Liebe für die entfernte Heimat und die eigenen Traditionen erhalten.
Trotzdem haben sie sich mit gleicher Intensität mit der Wahlheimat identifiziert“. So schrieb der costaricanische Unternehmer Franz Sauter, dessen
Vater Anfang diesen Jahrhunderts Stuttgart verließ, in Costa Rica seine Familie gründete und dessen Nachkommen noch heute dort leben. Desweiteren
schrieb Sauter in einem Essay über 150 Jahre deutsche Geschichte in Costa
Rica, dass viele Namen wie Strassburger, Ross, Niehaus, Streber, van Patten
oder Steller auf ein bis zwei Jahrhunderte deutsche Einwanderungsgeschichte
zurückgehen. Die Zahl der deutschen Immigranten war nicht so hoch, aber
rückblickend ist unschwer zu erkennen, dass diese Deutschen die wirtschaftliche und politische Entwicklung stark beeinflussten.
Dieser kurze Blick in die Geschichte Costa Ricas kann mir vielleicht helfen mein Interesse an Deutschland zu erklären..…
Der Flug dauert noch ein paar Stunden. Was kann ich erwarten, von diesem
Aufenthalt in Deutschland? Was werde ich Neues sehen, lernen, erfahren?
Dies ist nur der Anfang. In sechs Monaten könnte ich vielleicht alle Antworten kennen.
26.07.99
Du hast, ich nicht.…
Die Sonne hat mich geweckt. Vielleicht ist heute ein typischer Sommertag.
Aber wie kann ich das wissen. Für mich ist das Wetter perfekt. Aber ich bin
noch nicht an diese langen Tage, an die vielen Stunden Sonne gewöhnt. An
meinem ersten Tag in Iserlohn, wo das Goethe-Institut liegt, habe ich ein paar
Stunden am Nachmittag geschlafen. Um 18.30 Uhr bin ich aufgestanden
und habe gedacht: „Mein Gott, ich habe so viel geschlafen. Ist schon ein neuer
Tag angebrochen?“ Denn es war draußen sonnig und hell, etwas unmögliches
zu dieser Uhrzeit in meinem Land, wo Winter, Herbst oder Frühling nicht existieren und wo es nur Trocken- oder Regenzeit gibt. Na ja, später habe ich viel
über diese Situation gelacht.
M. J. Mendez
Deutschland
Das Leben hier gefällt mir! Jeden Tag habe ich Unterricht und ich glaube,
mein Deutsch ist schon besser als am ersten Tag. Wir sind hier mehr als 100
Studenten aus der ganzen Welt. Es gibt trotzdem drei größere Gruppen: Die
Spanier, die Amerikaner aus den USA und die Japaner. Aus Lateinamerika
sind wir nur zu dritt. Ich wohne, wie die anderen, in einem Wohnheim. Jeden
Tag, auf meinen Weg zum Institut, kann ich die schönen alten Häuser, die es
hier gibt, bewundern. Sie sind so groß, dass ich manchmal glaube, es handele
sich um eine Burg. Und eine Burg ist wiederum anders als ein Schloss. Jetzt
kenne ich den Unterschied. Das ist großartig für mich. In Costa Rica haben
wir keine Burg, kein Schloss und kein Haus, so wunderbar wie hier.
Trotz der schönen Anblicke auf meinem Weg: Am Ende kam ich müde am
Goethe-Institut an. Fast 20 Minuten oder mehr muss ich laufen. Aber heute habe
ich mir ein Fahrrad gekauft. Es handelt sich um ein hellblaues, gebrauchtes Rad.
Klein, genau wie ich. So am Anfang, hatte ich Angst vor den Autos in der Stadt.
Aber ich habe gelernt, dass hier die Autos, im Unterschied zu Costa Rica, respektvoll und vorsichtig gegenüber den Fahrrädern sind. Und in vielen Städten
gibt es spezielle Wege und Verkehrszeichen für Fahrräder. So ist es auch für
kleine Kinder sicher. Wo ich herkomme sieht man so etwas nicht. Fahrrad fahren ohne Unfallgefahr gibt es nicht. Das Fahrrad bleibt nur für kurze Ausflüge
am Wochenende und das bedeutet nicht, dass es sicher ist. Hier in Deutschland
habe ich gesehen, dass Leute jeden Alters mit dem Fahrrad fahren. Wenn meine
Eltern das sehen könnten! Ich habe versucht, meiner Mutter Fahrrad fahren beizubringen. Aber sie hat so große Angst und sagt immer, dass sie schon zu alt sei.
Aber so ist das in meinem Land und mit meiner Mutter. Ich bin hier glücklich mit
meinem Fahrrad. Aber ich kann nicht mit meinem Fahrrad in eine andere Stadt
fahren – so sportlich bin ich nicht. Auch habe ich kein Auto. Deswegen fahre ich
mit dem Zug. Die Verbindungen hier sind unglaublich gut. Es gibt auch viele
andere Möglichkeiten, z.B. S- und U-Bahn in großen Städten. Von Iserlohn aus,
einer kleinen Stadt mit etwa 100.000 Einwohnern, kann ich ganz Deutschland
bereisen. Vielleicht brauche ich viel Zeit, um das zu machen, aber wichtig für
mich ist, dass dies überhaupt möglich ist. Wenn jemand mich verstehen möchte,
muss er Costa Rica besuchen. Dort gibt es nur zwei Chancen: Entweder du hast
ein Auto, oder du fährst mit dem Bus. Aber das ist, glaube ich, verständlich, denn
Costa Rica ist ein Land, so groß wie Niedersachsen. Wenn ich z. B. von Düsseldorf nach Münster fahre, ist das die gleiche Distanz, wie in meinem Land von
der einen Küste zu der anderen an der schmalsten Stelle.
Mittelamerika ist klein. Trotzdem bereitet eine Fahrt in ein Nachbarland
sofort Kopfschmerzen, nur wenn man an die vielen Stunden, die man braucht,
denkt, egal ob mit Auto oder Bus. Von Costa Ricas Hauptstadt San José bis
nach Panama Stadt braucht man 16 Stunden mit dem Bus, mit 3 Stops: Zwei
zum Essen und einen an der Grenze. Aber hier, von Iserlohn nach Zürich,
M. J. Mendez
Deutschland
brauche ich nur 8 Stunden. „Nur“, sage ich, obwohl ich weiß, dass dies für
viele Leute viel Zeit ist. Und das Ticket finde ich vielleicht ein bisschen teuer,
aber für diese, viele Kilometer lange Reise ist es verständlich. Wenn ich ein
Auto hätte, dann würde ich fahren und keinen Zug mehr benutzen. Warum?
Die Straßen, Landstraßen und Autobahnen sind hier perfekt! In Costa Rica
haben die Straßen so viele Schäden und Löcher. Ohne ein Auto mit Allradantrieb ist es fast unmöglich. Aber hier, so schön, ein Traum. Na klar, abgesehen von den Staus.
11.08.99
Dunkler Mittwoch
Heute ist das Ende der Welt. Heute wird etwas passieren. Das haben alle in den
Medien, und auch Wahrsagerinnen und Hexen gesagt. Die alten Damen haben
Angst. Andere Leute haben auch Angst. Vielleicht waren die Kirchen in diesen
Tagen deshalb ganz voll. Die Furcht vor dem Phänomen, das wir nicht verstehen
können, ist immer die gleiche. Immer schon und egal in welchem Land. Die Sonnenfinsternis wird heute in Deutschland und in anderen Ländern zu sehen sein.
Die Medien haben seit Tagen darüber informiert, jeden Tag neue Informationen,
jeden Tag wird die Angst größer. Die Erwartungen sind so groß. In Costa Rica
haben die Zeitungen auch über dies große Ereignis in Deutschland berichtet, das
hat meine Schwester mir gesagt. Heute ist endlich der Tag, auf den wir gewartet haben. Der Tag, an dem alles dunkel wird.
Wir hatten Unterricht. Meine Lehrerin war sehr nervös und fast niemand
konnte sich auf die deutsche Sprache konzentrieren. Trotzallem waren wir
nicht vorbereitet für „diesen Moment“. Erst gestern haben wir eine Brille, eine
Spezialbrille, um die Finsternis zu sehen, bestellt. Aber es war schwer, mehr
als hundert Brillen in Iserlohn und in den nahegelegenen Städten zu finden.
So, für 9 DM pro Person haben wir eine bunte und komische Brille, „Made
in Rumänien“, bekommen. Nach einer Fotosession in unserem Klassenraum
gingen wir zusammen auf einen Berg, ganz nah bei Iserlohn. Musik, Bier und
die Nervosität hat die Zeit vertrieben. Wir warteten, aber wir wussten schon,
dass es keine totale Finsternis wird. Plötzlich sagte die erste Person: „Ich kann
es sehen!“ Aber es war kein Wunder, sondern der Anfang der Finsternis. Ich
versuchte einmal, zweimal, viele Male etwas zu sehen. Mit meiner Brille war
alles dunkel, aber nur weil ich wirklich gar nichts sehen konnte. Auch die
anderen Studenten konnten nichts sehen. Viele lustige Situationen, schöner
Nachmittag. Am Ende wusste ich nicht, ob tatsächlich nichts passiert war,
oder meine rumänische Brille nur ein Stück Karton mit Aluminiumpapier war.
Ein bisschen enttäuscht gingen wir zurück und später sahen wir die schönen
Eindrücke im Fernsehen. Aber es war ganz interessant zu beobachten, wie in
M. J. Mendez
Deutschland
einem modernen und fortschrittlichem Land wie Deutschland, die Leute sich
noch über die Macht der Natur wundern können.
Na ja, das Leben geht weiter. Wir leben noch! Heute war nicht das Ende...
Aber Achtung, in wenigen Monaten kommt das Jahr 2000 und niemand
weiß, was passieren kann...
25.09.99 Herzen klopfen, Herzen schlagen und dann wurde alles Rot !
Die Politik! Eine der größten Leidenschaften des Menschen. Wegen der Politik gingen Freundschaften zu Ende, entwickelte sich oft großer Hass gegen den
Gegner und Kriege nahmen so ihren Anfang. Aber es ist nicht immer so.
Vor einigen Monaten fanden in vielen deutschen Bundesländern in Deutschland die Kommunalwahlen statt. Mit einer wichtigen Änderung im Vergleich zu
den vorangegangenen Wahlen: Bürgermeister, Oberbürgermeister und Landräte
wurden zum ersten Mal direkt von den Bürgern gewählt. Die Konkurrenz war
enorm. In jeder Stadt, von jeder Partei, eine Bürgerversammlung oder auch
Stände an verschiedenen Stellen. Dort gab es eine große Menge von kleinen Dingen: Bleistifte, Kugelschreiber, Lineale oder Streichholzschachteln, natürlich
alles kostenlos für die lieben Bürger. Und die Straßen waren voll von Plakaten
mit Fotos von den Kandidaten. Manchmal habe ich gedacht, dass könnte ein bisschen gefährlich sein: Wenn ich zum Beispiel den Kandidat XX von der Partei
ZZ gar nicht mag, und ich fahre so durch die Gegend und sehe in jeder Straße
10 mal das Plakat mit einem Photo von ihm. Ich könnte doch plötzlich einen
Herzinfarkt kriegen, oder? Die Kommunalwahlen waren am Ende eine Katastrophe für die SPD und ein großer Erfolg für die CDU. Die SPD verlor in fast
allen Städten. Nur in NRW, wo traditionell die Einwohner mehrheitlich die SPD
wählen, konnte die Partei teilweise ihre Ehre retten.
Doch warum gab es ein so beschämendes Resultat? Es ist für mich nicht einfach, dies in wenigen Worten zu erklären. Aber ich will es versuchen. Nach einem
Jahr unter der Regierung von Gerhard Schröder sind die Deutschen sehr unzufrieden mit ihm und seiner Partei: Höhere Steuern und weniger Geld für Sozialausgaben sind nur zwei Gründe dafür. Und dann wurde die Situation noch
schlimmer, nach dem Rücktritt von Oskar Lafontaine im März 1999. Nach 136
Tagen als Finanzminister war Lafontaine plötzlich weg. In diesem Moment hat
er nichts gesagt. Aber der Skandal kam später, als er offen über die inhaltlichen
und persönlichen Kämpfe in Partei und Regierung, besonders jedoch mit Kanzler Schröder berichtete. „Das Herz schlägt links“, das Buch von Lafontaine: 320
Seiten, die viele schon gelesen haben... Ein Beweis dafür ist das Resultat der
Kommunalwahlen.
M. J. Mendez
Deutschland
13.10.99
Willkommen in Deutschland
Die Reiseagentur „Goethe-Institut“ ist die Beste! Mit den „Zivis“ (zwei, bzw.
drei junge Männer, die ihren Zivildienst beim Institut ableisten) haben wir viele,
viele Städte besucht. Auch im Ausland, aber vor allem in NRW: Oberhausen, Köln,
Düsseldorf, Bonn, Münster, Dortmund, Essen und so weiter. Zwei Städte waren
für mich besonders interessant: Weimar und Berlin.
In diesem Jahr ist Weimar in aller Munde, weil sie die aktuelle Kulturhauptstadt
Europas ist. Wegen des 250. Geburtstags von Goethe. Die Stadt war sehr schön,
in ihrem „Galakleid“ zu Goethes Ehren. Und in jeder Ecke etwas von dem Dichter. In der Nähe von Weimar gibt es auch eine weitere Erinnerung an den Dichter: Der Baumstumpf von einer alten Eiche – die „Goethe-Eiche“. Die Häftlinge
des Konzentrationslagers Buchenwald haben den Baum so benannt. Das war während des 2. Weltkrieges.
„Obwohl das Lager kein Ort des planmäßigen Völkermordes war, fanden
Massentötungen von Kriegsgefangenen statt und es kamen viele Häftlinge bei
medizinischen Versuchen um“, stand auf einem Infoplakat.
Am 11. April 1945 erreichten Einheiten der US-Armee das Lager. Zu dieser
Zeit waren dort etwa 21.000 Häftlinge, darunter über 900 Kinder und Jugendliche. Insgesamt waren von 1937 bis 1945 über 250.000 Menschen dort inhaftiert,
von denen mehr als 50.000 starben. Von 1945 bis 1950 nutzte die sowjetische
Besatzungsmacht das Gelände des ehemaligen KZ als Internierungslager. Von
etwa 28.000 Inhaftierten starben über 7.000. So viele Tote. Ich habe alles gelesen
während ich durch das Lager ging. Über den 2. Weltkrieg und die KZ habe ich früher nur Filme gesehen. Und obwohl es hier nicht mehr viel vom ursprünglichen
Lager zu sehen gibt, weiß ich, dort schlafen noch viele Opfer des Krieges.
Irgendwann begann ein anderer Konflikt. Die Mauer war da und Deutschland
wurde geteilt. Das große Symbol dieser Zeit ist Berlin. Der Name klingt groß. Berlin, die Hauptstadt. Berlin, wo die Geschichte Deutschlands lebt. Jetzt ist Berlin
eine gigantische Baustelle, aber ich glaube, sie bauen an der Zukunft. Und wenn
alles fertig ist, wird Berlin eine so schöne und prächtige Hauptstadt sein. Vielleicht
ist das auch nur meine Vision. Und vielleicht ist das nicht die richtige, weil ich alles
mit meinen Augen sehe, den Augen einer Fremden. Und das ist natürlich anders.
„Man mache sich auf den Weg zu irgend einem Ziele,
es stehe uns nun vor den Augen
oder bloß vor den Gedanken,
so ist zwischen dem Ziel und dem Vorsatz etwa,
das beide enthält, nämlich die Tat, das Fortschreiten“.
Johann Wofgang Goethe
M. J. Mendez
27.10.99
Deutschland
Un cafecito?
Wenn man in Costa Rica Leute trifft oder Besuch bekommt, gibt es eine
typische Frage. Diese lautet: „Möchten Sie einen Kaffee trinken?“. Kaffee ist
ein wichtiges Element unserer Kultur und Lebensart. In unserem Land wird
Kaffee angebaut, gepflegt, geerntet. Ein Teil wird exportiert, der andere ist für
unseren Tisch.
Die ersten großen Kaffeeplantagen gab es im 15. und 16. Jahrhundert in
Arabien. 1714 brachten die Franzosen einen Kaffeestrauch nach Martinique,
eine Insel der Antillen. Diese einzige Pflanze ist der Urahn aller Kaffeepflanzen in Lateinamerika. Nach Costa Rica kam der Kaffee Ende des 18.
Jahrhunderts. Die ersten Exporte gingen 1820 nach Kolumbien. Heute ist
Kolumbien einer unserer stärksten Konkurrenten. 1845 begann eine Gruppe
von Kaffeebauern, den Kaffee von Costa Rica nach Europa zu exportieren.
Unter diesen Kaffeebauern waren viele nach Costa Rica ausgewanderte Deutsche, die im Anbau von Kaffee einen guten Lebensunterhalt gefunden hatten.
Peters, Niehaus, Seevers, Lutz, Steinvorth, Kopper oder Kitzing sind Familien,
deren Geschäft auch heute noch der Kaffee ist. Und die Heimat ihrer Vorfahren, Deutschland, ist einer unserer wichtigsten Kunden. Das ist für mich
eine der besten Verbindungen zwischen Costa Rica und Deutschland. Aber
schade ist, dass viele Deutsche, dies nicht wissen. Die Leute hier trinken gerne
und viel Kaffee, aber sie haben keine Ahnung woher er kommt. So viel Werbung im Fernsehen und so viele Marken in den Supermärkten, aber kein Wort
über die Herkunft des Kaffees. Und wir, wir in Costa Rica, sind so stolz auf
unsere „Goldkaffeebohne“, wie wir sie nennen. Warum? Der Kaffee war
unser einziger Export, in den ersten Jahren als Republik, und ist noch heute
sehr wichtig für unsere Wirtschaft und für den Alltag vieler Familien, die auf
den Plantagen arbeiten. Aber na ja, diese Erzählung ist schon lang genug. Besser wir trinken jetzt einen Kaffee, ja?.
10.11.99
So lebt die Politik
Dieses Jahr ist das Jahr der runden Zahlen: 50 Jahre Deutschland, 10 Jahre
Wiedervereinigung.... In diesem Jahr haben Geschichte und Politik eine hohe
Bedeutung in Deutschland. Und ich bin sehr glücklich, dass ich hier sein kann,
um alles zu sehen und zu verstehen. Am 9. November flossen viele Tränen in
Berlin. Aber nur dort habe ich sie gesehen, nur dort war eine echte Party. Hier,
in Düsseldorf, wo ich bei der Westdeutschen Zeitung hospitiere, war das nur
eine Nachricht, etwas, das am nächsten Morgen kommen muss, keine lebendige Erfahrung. Und noch einmal konnte ich im Fernsehen sehen: Die Nacht
M. J. Mendez
Deutschland
als die Mauer fiel. Diese Nacht, Thema für Filme und Bücher, hat einen so
bedeutsamen Platz in der Geschichte. Doch das ist heute, und dann habe ich
gedacht: Werden sich die Deutschen in 20 Jahren noch an diese Nacht erinnern? Ich glaube ja. Der zweite Weltkrieg liegt schon 50 Jahre zurück und sie
erinnern sich noch daran. So etwas wundert mich: Die Deutschen vergessen
nichts.
04.12.99
Heinz-Kühn-Stiftung
Es ist alles vorbei. Die sechs Monate sind schon ein Teil der Vergangenheit,
eine Erinnerung in meinem Leben. Ich habe viel gelernt, deutsch besonders.
Ich glaube, man kann immer etwas von den anderen lernen, egal woher sie
kommen oder welche Mentalität sie haben. Das Lernen hilft uns, die anderen
Kulturen zu verstehen und zu respektieren. Am Anfang habe ich geglaubt,
zwischen Costa Rica und Deutschland gibt es eine feste Verbindung. Ich
glaube das noch. Trotzdem gibt es große, so große Unterschiede. Costa Rica
mit seinen 4 Millionen Einwohnern und einem Bruttoinlandsprodukt von
2.395 Dollar, und Deutschland, 82 Millionen Einwohner und einem Bruttoinlandsprodukt von 16.580 Dollar. Wie können zwei so verschiedene Länder
sich verstehen? Man sagt, Gegensätze ziehen sich an. In Costa Rica gibt es
kein Schloß, keine Autobahn, keine Kinder mit Handys oder auch kein Fußballspiel im Schnee (wie heute Bayern München gegen Borussia Dortmund,
in einem ausverkauften Stadion). Wir haben viele Sachen nicht, die es in
Deutschland gibt, und trotzdem ist Deutschland unser wichtigster Handelspartner in Europa. Wir sehen die gleichen Fernsehsendungen aus den USA.
Ein Blick in unsere Parlamente zeigt das gleiche Bild: Weniger als die Hälfte
unserer Parlamentarier sind anwesend. Und trotzdem kann ich sagen, dass
auch mein Land schön ist.
Ich hoffe, dass der Aufenthalt hier mir hilft, meine Arbeit als Journalistin
zu verbessern. Ich möchte den Leuten in meinem Land zeigen, wie schön
unser Land ist und wie gut es sein könnte, wenn wir von anderen Ländern
etwas lernen könnten. Mein Land – so entfernt, so warm, so schön. Ich vermisse jetzt die Berge, die Strände, das Lachen und den lebendigen Regen. Erst
jetzt kann ich all das fühlen, nur weil ich so weit gereist bin. Für all das
bedanke ich mich bei der Heinz-Kühn-Stiftung.
Mahamadou Koné
aus Mali
Stipendien-Aufenthalt in
Deutschland
vom 31. August 1999 bis 17. Februar 2000
Deutschland
Drei Erlebnisse in Deutschland
Mahamadou Koné aus Mali
Deutschland, vom 31.08.1999 bis 17.02.2000,
betreut von der Heinz-Kühn-Stiftung
Mahamadou Koné
Deutschland
Mahamadou Koné
Inhalt
Zur Person
Der Anfang in Deutschland
Weihnachten in Deutschland
Das neue Jahr
Die Religion und das Verständnis
Bei der Deutschen Welle
Reportagen bei der Deutschen Welle
– Ein billiges Auto………
– Ein Wort über alte Menschen
Danke
283
Mahamadou Koné
Deutschland
Zur Person
Mein Vorname ist Mahamadou, mein Familienname ist Koné. Ich wurde am
14. September 1964 in Bamako, der Hauptstadt von Mali, geboren. Ich bin
Bambara, gehöre damit zur Hauptbevölkerungsgruppe in Mali. Mein
Abstammungsort heißt Niamina und liegt 190 km östlich von Bamako. In den
40er Jahren ist mein Vater, Sidi Koné, nach Bamako gezogen. Sidi war Händler. In Bamako hatte er sich am Anfang auf den Handel mit Getreide spezialisiert. Später war er in der Autobranche tätig. Meine Mutter, Fatoumata
Kouma, ist Soniké – eine andere Volksgruppe in Mali.
Die Schule habe ich bis zum Abitur in Bamako besucht. Danach bekam ich ein
Stipendium von der Regierung, um in der ehemaligen Sowjetunion zu studieren.
Zuerst war das für mich unglaublich, weil ich immer dachte, dass Russisch eine
der schwierigsten Sprachen sei. Ich konnte nur „Guten Tag“ auf russisch sagen.
Am 28. September 1985 kam ich nach Moskau. Nach vier Tagen im Studentenwohnheim und vier Tagen im Zug, kam ich in Douschanbe, der Hauptstadt
von Tadjikistan, an. Dort sollte ich russisch lernen. Ein Jahr später fing ich mit
dem Studium an der Fakultät für Journalismus der Universität von Taschkent an.
Wegen des Klimas konnte man gut in Usbekistan leben, besonders jemand wie
ich, der aus Afrika kam. Im Winter war es natürlich kalt, mit Schnee, aber im
Sommer war es heiß, heißer als in vielen afrikanischen Ländern. Usbekistan ist
bekannt für seinen Obst- und Gemüseanbau.
Fünf Jahre studierte ich in Taschkent, sowohl mit sowjetischen Kollegen, als
auch mit anderen Studenten aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Mit dem
Diplom in der Tasche flog ich am 3. Oktober 1991 nach Mali zurück. Eine Woche
später fing ich zunächst als Praktikant, anschließend als Mitarbeiter beim ORTM
(staatlicher malischer Fernseh- und Rundfunksender) an. Im Januar 1995 wurde
ich festangestellt und im November 1997 zum Chefredakteur ernannt. Seit dem
7. Februar 1999 bin ich mit Fatoumata Kané verheiratet.
Wie lernt ein malischer Journalist die Heinz-Kühn-Stiftung kennen? Am
Anfang stand eine deutsche Journalistin, die die letzten drei Monate des Jahres 1998 in Mali verbrachte. Rosetta Reina war eine Stipendiatin der HeinzKühn-Stiftung. Als ich sie beim ORTM kennenlernte, fand ich sie freundlich
und sehr nett. Ich konnte mit ihr ein paar Sätze auf Deutsch wechseln, weil ich
Deutsch im Gymnasium gelernt hatte. Rosetta bemerkte mein Interesse an der
deutschen Sprache und fragte mich einmal: „Würdest Du akzeptieren, nach
Deutschland zu fliegen, wenn Du ein Stipendium bekämst?“ – „Ja, natürlich!
Ich träume davon“.
Als Rosetta nach Deutschland zurückgekehrt war, fragte man sie bei der
HKS, ob sie einen malischen Journalisten mit Deutschkenntnissen empfehlen könne. Sie überlegte nicht lange und gab meinen Namen an. Sofort
Deutschland
Mahamadou Koné
schickte sie mir eine E-mail. Das war eine freudige Überraschung für mich,
die Chance zu erhalten, für sechs Monate nach Deutschland kommen zu
können. Mit meinem Deutschlehrer im Gymnasium, N‘Golo Konaté, schrieb
ich die Bewerbung und erledigte die anderen Formalitäten. Die Entscheidung
der HKS fiel am 19. März 1999 und meine Bewrbung wurde akzeptiert. Ich
wollte nicht sofort fliegen, sondern lieber ein bisschen später, deshalb entschied ich mich für den September.
Der Anfang in Deutschland
Es gab drei wesentliche Ereignisse während meines Aufenthaltes in
Deutschland: Ich feierte meinen 36. Geburtstag, zwei Wochen, nachdem ich
als Stipendiat der HKS nach Iserlohn gekommen war. Ich erlebte den Sprung
ins 3. Millenium in Deutschland, und ich konnte ein Praktikum bei der Deutschen Welle in Köln machen.
Düsseldorf, am Dienstag, den 31. August 1999. Seit drei Stunden wartete
man auf mich im Flughafen. Mein Flugzeug aus Bamako hatte Verspätung.
Gegen 12 Uhr kam ich endlich an. In der Flughafenhalle begrüßte mich eine
deutsche Frau: „Hallo Mahamadou!“ Es war Frau Ermuthe Op de Hipt von der
HKS. Sie war mit zwei anderen Stipendiaten da: Ilija Nikolovski aus Makedonien und Catherine Sikombe aus Sambia. Ich sollte mit diesen beiden ein
Praktikum in verschiedenen Redaktionen der Deutschen Welle machen.
Zuerst sollten wir jedoch einen Sprachkurs machen, deshalb fuhren wir nach
Iserlohn, ins dortige Goethe-Institut. In Iserlohn waren schon drei andere Stipendiaten der HKS: Abdoulaye Mamadou Bâ aus Mauretanien, Marianela aus
Costa Rica und Yeshitla Kokeb aus Äthiopien, die vor zwei Monaten angekommen waren. Wir nahmen an zwei Kursen teil. Das Ende unseres zweiten
Kurses war auch das Ende des Goethe-Instituts Iserlohn, das geschlossen
wurde.
Weihnachten in Deutschland
Für Deutsche ist Weihnachten ein Famillienfest. Viele Leute verbringen
diese Zeit zusammen mit den Eltern. Zum erstenmal in meinem Leben feierte
ich Weihnachten, und dies 1999 bei einer deutschen Familie. Rosetta hatte
mich eingeladen. Am 19. Dezember fuhr ich von Köln, wohin ich drei Tage
zuvor umgezogen war, nach Koblenz. Dort wartete Rosetta auf mich. Mit
ihrem Auto fuhren wir nach Gapennach, um eine Freundin von Rosetta zu
besuchen. Den ganzen Tag waren wir mit Yvonne unterwegs, zuerst zu Fuß,
Mahamadou Koné
Deutschland
danach mit dem Auto. Es war sehr kalt, mit viel Schnee. Die nächste Etappe
war Mainz, wo Rosetta mit ihrem Mann Stefan wohnt. In Mainz, wie in den
anderen deutschen Städten, war die Atmosphäre festlich: Die Weihnachtsmärkte wurden Ende November überall eröffnet. Es gab eine Vielzahl von
Kiosken aus Holz, auf einem Platz im Zentrum der Stadt, mit sehr schönen
Dekorationen. Am Abend war es noch schöner, weil viele verschiedene Lichter brannten. Auf diesen Märkten konnte man nicht nur Weihnachtsgeschenke
und Tannenbäume kaufen, sondern auch etwas zu Essen und zu Trinken. Es
kamen auch viele Leute einfach nur zum Spazierengehen. Es war für mich
eine Überraschung, dass all diese Märkte zwei Tage nach Weihnachten schon
wieder weg waren. Ich hatte gedacht, sie blieben bis zum Neuen Jahr.
Die vier Tage in Mainz waren sehr schön. Wir sind nach Laggenbeck, zu der
Mutter von Stefan gefahren. Rosetta, ihre Mutter, die in Krefeld wohnt, und
ich kamen dort zusammen. Stefan, ihr Mann, stieß etwas später hinzu. Am
nächsten Tag, dem 24. Dezember, kauften die Leute die letzten Geschenke,
weil alles für die folgende Nacht vorbereitet werden musste. Gegen 20 Uhr am
Abend war Laggenbeck ganz ruhig. Alle Leute waren schon zu Hause. Tannenbaum, Kerzen, Geschenke, alles war schon im Wohnzimmer der Familie
Niehaus vorbereitet. Rosetta und Stefan hatten diskret die Geschenke mit
Namen versehen. Um 21 Uhr kam die Aufforderung: „Alle ins Wohnzimmer“.
Und welch eine Überraschung: Es hatte Geschenke geregnet, der Weihnachtsmann hatte sich großzügig gezeigt. Rosetta fing an. Sie nahm ein
Geschenk und las den Namen, der darauf stand. Die Person, die das Geschenk
bekam, wählte das nächste aus und rief den Empfänger, und so weiter. Meine
Frau in Mali bekam auch einen Teil, weil ihr Name auf vielen Geschenken
stand. Das war eine Initiative von „Weihnachtsrosetta“. Um 23 Uhr gingen wir
in die Kirche. Ich war nur Zuschauer, denn ich bin Mohammedaner. Am nächsten Tag, dem 25. Dezember, war es überall in Deutschland ganz ruhig.
Das neue Jahr
Im Gegensatz zu Weihnachten war der Jahreswechsel ein sehr lautes Fest.
In der Nacht vom 31. Dezember auf den 1. Januar blieb fast niemand zu
Hause. Alle gingen in die Stadt. In Köln war ein Treffpunkt neben dem Dom,
wo ein großes Konzert stattfand. Wie viele Menschen dort waren, konnte man
nicht sagen. Sicherlich waren es einige Tausend. Es waren so viele, dass die
Mehrheit der Menschen die Bühne nicht sehen konnte. Aber das war nicht
wichtig. Am Rhein, in der Nähe vom Dom, trafen sich ebenfalls viele Leute.
Die Kneipen waren voll. Viel Alkohol wurde getrunken. Kurz nach Mitternacht hörte man überall den Krach der Knaller und Raketen. Nicht nur junge
Deutschland
Mahamadou Koné
Leute waren damit beschäftigt, sondern auch Erwachsene. Am nächsten Tag
war das Zentrum ganz schmutzig, dafür die Stadt aber ganz ruhig. Ein Tag für
Schlaf und Erholung.
Die Religion und das Verständnis
Ich bin Mohammedaner. In meiner Religion sind manche Dinge verboten.
Man darf beispielsweise keinen Alkohol trinken und kein Schweinefleisch
essen. In Deutschland war das für mich kein Problem. Ich konnte kochen und
essen, was ich wollte. Wenn ich jemanden besuchte, war ich immer vorsichtig. Bei Rosetta war das nicht nötig. Sie kannte ja schon unsere Sitten aus ihrer
Zeit in Mali. Als ich nach Krefeld kam, hatte ihre Mutter Spaghetti mit Rindfleisch gekocht. Sie war bereits von ihrer Tochter informiert worde. Als ich in
Mainz war, hatte Rosetta alles geordnet. In der Küche gab es verschiedene
Lebensmittel und sie zeigte mir: „Hier ist das Fleisch, das Du essen darfst,
aber dort sind Schweinefleisch und Produkte aus Schweinefleisch. Pass auf!“
Sie zeigte mir auch die richtige Richtung für mein Gebet. Das ist wichtig im
Islam, und wenn man in ein anderes Land oder eine andere Stadt kommt, ist
es nicht einfach, die Richtung Osten zu finden.
Einmal, zum Abendessen in Laggenbeck, gab es auf dem Tisch zwei Sorten von Wurst. Ich nahm eine davon, und sofort sagte Rosetta: „Nein, die
darfst Du nicht!“ Natürlich, es war Schweinewurst. Als Getränke hat man mir
immer Fruchtsäfte angeboten.
Meine Aufenthalte in Mainz und Laggenbeck fielen in den Ramadan, den
islamischen Fastenmonat. In dieser Zeit dürfen Mohammedaner zwischen
Sonnenaufgang und Sonnenuntergang nichts essen und trinken. Früh am
Morgen (5 – 6 Uhr) war alles schon vorbereitet, damit ich vor Sonnenaufgang
gut frühstücken konnte. Am Abend, nach Sonnenuntergang, war es ebenso, um
den Fastentag zu beenden. Es war wunderbar.
Bei der Deutschen Welle
Als ich am 3. Januar bei der Deutschen Welle mein Praktikum antrat, musste ich eine Arbeitserlaubnis mitbringen. Diese besorgte ich mir beim Arbeitsamt in Köln. Die HKS hatte alles notwendige vorbereitet.
Bei der Deutschen Welle sollte ich im französischen Programm arbeiten. Ich
war angenehm überrascht. Der Chef, Gerard Foussier, sowie auch die anderen Kollegen, waren sehr nett. Mit ihnen arbeitete ich gut zusammen. Hier
lernte ich auch eine neue Technologie im Rundfunk kennen: Das Digitalradio.
Mahamadou Koné
Deutschland
So etwas gibt es noch nicht bei uns, im ORTM. Bei der Deutschen Welle hat
jeder Journalist, jede Journalistin einen Computer und ein eigenes Telefon.
Jeder kann die Agenturen über seinen Computer konsultieren. Auch im Studio kann man die Nachrichten der Agenturen lesen. Das erleichtert die Arbeit.
Reportagen bei der Deutschen Welle
Ein billiges Auto…..
Ein neues Auto ist immer teuer. Deutschland produziert viele verschiedene
Automarken, wie Mercedes BMW, VW, Audi, usw. Trotzdem sind neue Autos
auch hier teuer. Aber es gibt die Möglichkeit, ein billiges zu finden, wenn man
einen Gebrauchtwagen kauft. In allen Städten gibt es Automärkte, wo man
Gebrauchtwagen kaufen und verkaufen kann.
„Kor & Partner“ in Köln ist einer dieser Märkte. Gemäß Willi Kor, dem
Chef dieser Gruppe, hängt der Preis von verschiedenen Faktoren ab. „Wir
lesen Anzeigen in den Zeitungen, in denen Leute ihr Auto anbieten. Wir diskutieren den Preis mit den Besitzern. Wenn ein Auto alt ist, oder wenn es viele
Kilometer gelaufen ist, ist es billiger. Wir kaufen die Autos und setzen sie
instand, wenn nötig. Dann verkaufen wir sie. Bei uns fangen die Preise bei
3.000 DM an. Wir haben aber auch Autos für 40.000 DM und mehr“.
Viele Ausländer, vor allem Afrikaner, kommen nach Deutschland, um
Gebrauchtwagen zu kaufen. Sie besuchen sehr selten die Autohändler, sondern gehen direkt zu den Leuten, die ihre Fahrzeuge in den Zeitungen anbieten. Natürlich kann man dort noch billigere Autos finden. Die Mehrheit dieser Autos werden per Schiff nach Afrika verschickt. Beispielsweise werden
ungefähr 1.500 Fahrzeuge pro Jahr alleine über die Gesellschaft „TRANSCAR“, mit Sitz in Frankfurt, nach Abidjan, Lomé, Lagos, Banjul, Conakry,
Dakar, Douala usw. verschifft. Die Schiffe kommen zwei bis drei Wochen
nach der Abfahrt im Zielhafen an.
Ein Wort über alte Menschen
Es gibt einen großen Unterschied zwischen deutschen und afrikanischen
Familien. Hier in Deutschland, wie auch in anderen europäischen Ländern, ist
die Familie klein. Das Ehepaar wohnt nur mit einem, zwei oder drei Kindern
zusammen, deren Großeltern leben in einem anderen Haus. Hier sind alle
unabhängig. Die Kinder leben schon alleine, wenn sie zu arbeiten beginnen,
manche schon als Studenten.
Viele alte Leute fühlen sich wohl dabei, alleine zu leben, ohne Verwandte.
Andere aber haben Schwierigkeiten damit, besonders, wenn sie sehr alt oder
gar krank sind. Für solche Fälle gibt es Seniorenhäuser oder Altersheime. Die
Deutschland
Mahamadou Koné
kosten Geld, deshalb muss man dafür sparen, solange man noch berufstätig
ist. Es gibt viele Seniorenhäuser in Deutschland. Alleine in Köln gibt es
ungefähr hundert Altenheime. Sie gehören entweder der Stadt, den Kirchen,
sozialen Verbänden oder sie befinden sich in privater Hand. In jedem Fall sind
sie nicht kostenlos.
„Maternus“ ist ein Seniorenwohnheim in Köln. Dort wohnen 165 ältere
Männer und Frauen, die zwischen 60 und 100 Jahre alt sind. Die Heimkosten
sind unterschiedlich hoch: Von 2.500 bis 5.800 DM pro Monat für eine Person. Wenn zwei Personen sich eine Wohnung teilen, zahlt die zweite Person
nur noch zusätzlich 690 DM pro Monat. In diesen Preisen sind neben der
Miete Heizkosten, Wasser- und Abwassergebühren, Wohnungsreinigung,
Mittagsmenü, Hilfe durch das Pflegepersonal, Dienste der Hausdame, Benutzung aller Gemeinschaftseinrichtungen, wie Schwimmbad, Kegelbahn, Clubräume, Gymnastikraum, Kellerraum, Haussprechanlage, Kosten für Haus- und
Straßenreinigung, sowie weitere Gemeinschaftskosten eingeschlossen.
Hanni Thur, eine 81-jährige Frau, wohnt hier seit 6 Jahren. Zuvor lebte sie,
nach dem Tod ihres Mannes, 17 Jahre alleine in ihrem Haus. Sie hat keine
Kinder, aber einen Neffen und eine Nichte, die in Hamburg wohnen. Die beiden besuchen sie einmal pro Jahr. Daneben hat sie aber auch noch andere
Besuche. Sie fühlt sich wohl im Seniorenhaus, wo sie viele Freunde hat. Sie
ist nicht einsam und denkt daran, ihr Leben hier zu beenden.
Danke
Abschließend möchte ich sagen, dass mein Aufenthalt in Deutschland eine
große Bereicherung für mich darstellte. Ich habe nicht nur eine neue Sprache
gelernt, sondern auch viel von Deutschland gesehen.
Meine journalistischen Kenntnisse konnte ich bei der Deutschen Welle
ausbauen. Und nicht zuletzt lernte ich viele Leute kennen, Deutsche, aber auch
andere Ausländer in Deutschland. Dies alles lässt mich mit einer reichen,
menschlich und beruflich wertvollen Erfahrung nach Mali zurückkehren.
Dafür möchte ich allen danken.
Markus Möhrchen
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Namibia
vom 05. Juli bis 04. Oktober 1999
Namibia
Markus Mörchen
Selbst helfen oder helfen lassen?
Namibia 10 Jahre nach der Unabhängigkeit
Markus Mörchen
Namibia vom 5.7. bis 4.10.1999,
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
Namibia
Inhalt
Zur Person
Prolog
Viele der alten Probleme sind ungelöst
Lückenfüller im Bildungssystem
Der Platz der drei Farben
Hilfe zur Selbsthilfe
Schule allein reicht nicht
„Die Reichen sind reicher, die Armen ärmer geworden“
Eine Idee mit Zukunft
Die Vergessenen wissen sich zu helfen
An der zweifelhaften Quelle
Markus Mörchen
Markus Mörchen
Namibia
Zur Person
Markus Mörchen, geboren 1968 in Siegen, lebt in Köln. Während des Studiums (Germanistik / Wirtschaftswissensschaften) in Siegen und Houston/Texas, freie Mitarbeit bei Fernsehen, Radio und Zeitung. Danach zwei
Jahre beim Kinderprogramm des ZDF in Mainz. 1997/98 bimediales Volontariat bei der Deutschen Welle in Köln und Berlin. Seit Oktober 1999 Redakteur im „Funkjournal“ der Deutschen Welle.
Prolog
„Es ist ein großer Sieg für die Swapo und für Namibia. Wir haben unseren
Präsidenten wiedergewählt, und wir lassen unseren Gefühlen freien Lauf“
Premierminister Hage Geingob steht inmitten tausender, jubelnder und
singender SWAPO-Anhänger, als er das sagt. Angeführt von ihrem Präsidenten Sam Nujoma und der gesamten Führungsspitze, ziehen die Sympathisanten der „South West African People´s Organisation“ Fahnen schwenkend
quer durch Namibias Hauptstadt Windhuk. Die SWAPO hat allen Grund
zum feiern: Soeben hat sie die zweiten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen mit einer überzeugenden Mehrheit gewonnen: Die Partei von Sam
Nujoma konnte 76 Prozent der Stimmen für sich verbuchen. Ein noch besseres
Ergebnis als 5 Jahre zuvor. Damit hatte vor den Wahlen niemand gerechnet.Viele politische Beobachter hatten sogar in Frage gestellt, ob die Regierungspartei ihre Zwei-Drittel- Mehrheit überhaupt wird halten können.
Es ist der 4. Dezember 1999. Die Wahlen im demokratisch gewählten
Namibia haben mich bereits zum zweitenmal innerhalb kurzer Zeit ins südliche Afrika geführt. Fast auf den Tag genau 5 Monate vorher hatte ich erstmals namibischen Boden betreten – damals mit freundlicher Unterstützung
der Heinz-Kühn-Stiftung. „Wo gehst Du noch mal hin – nach Nigeria?“
„Oder war´s Nairobi?“ Viele konnten mit dem Ziel meiner Reise nichts
anfangen, als ich zum erstenmal davon berichtete. Ich muss zugeben: Auch ich
wusste nicht sehr viel. Dank einer längeren Reise nach Südafrika 7 Jahre
zuvor konnte ich dessen nordwestlichen Nachbarn zumindest geographisch
einordnen. Das ich inzwischen viel mehr über dieses faszinierende Land zu
berichten weiß – dafür vielen Dank an die Heinz-Kühn-Stiftung und insbesondere Erdmuthe Op de Hipt.
Namibia
Markus Mörchen
Viele der alten Probleme sind ungelöst
Der 7. November 1989. Zwei Tage, bevor in Berlin die Mauer fiel und damit
die größten politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Europa nach
dem zweiten Weltkrieg besiegelte, geschah auch im südlichen Afrika Historisches. Die Menschen im damaligen South West Africa durften – egal welche Hautfarbe sie hatten – zum erstenmal gemeinsam wählen. Die Abstimmung zu einer Verfassung gebenden Versammlung beendete eine mehr als 100
Jahre andauernde Zeit der Fremdherrschaft, der Apartheid und der Unterdrückung. Jahrzehntelang hatte die Befreiungsorganisation SWAPO gegen die
südafrikanischen Besatzer gekämpft, nun übernahm sie als strahlender Wahlsieger die Macht in dem afrikanischen Land. Ihr Anführer Sam Nujoma
wurde erster Präsident der Republik Namibia. Am 21. März 1990 feierte
Namibia seine Unabhängikeit. Das Land wurde als Hoffnungsträger gefeiert,
als demokratisches Vorzeigemodell für den afrikanischen Kontinent. Doch der
Euphorie des Aufbruchs folgten Ernüchterung und Enttäuschung.
Denn die schwierige Aufgabe der Nach-Unabhängigkeits-Regierung
bestand darin, eine von Kolonialzeit und Apartheid geprägte und geteilte
Gesellschaft in eine moderne und funktionierende Demokratie umzuwandeln.
Die Versöhnungspolitik gilt bis heute als vorbildlich, und die politische Situation im ehemaligen Deutsch-Südwest ist bemerkenswert stabil: Die SWAPO,
seit 1990 durchgehend an der Macht, tritt auf Grundlage der Verfassung
auch heute noch für Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Pluralismus und eine
marktwirtschaftlich orientierte Gesellschaftsordnung ein.
Doch auch wenn die SWAPO einige Erfolge, vor allem auf dem sozialen
Sektor, vorweisen kann, hat die Partei viel von ihrem Glanz verloren. Die ehemalige Befreiungsorganisation, bereits seit 1994 mit einer Zweidrittel-Mehrheit im Parlament ausgestattet, ist träge, selbstgefällig und arrogant geworden,
so der Eindruck selbst vieler ihrer Anhänger. Die regierende Elite zeigt
immer deutlichere Anzeichen zunehmender Machtkonzentration und ungeschminkter Bereicherung.Trotzdem wird die SWAPO fast vorbehaltlos unterstützt: Der Bevölkerungsmehrheit im nördlichen Landesteil Ovamboland,
aus der sie historisch gewachsen ist, verdankt sie nahezu automatisch ihre Vormachtstellung. Die Partei zehrt noch immer von dem Mythos, das Land
befreit zu haben.
Doch die traditionell große Dominanz der Partei im Parlament, die auch bei
den letzten Wahlen wieder bestätigt wurde, wirkt sich nachteilig auf die Entwicklung der demokratischen Struktur aus. „Ich denke“, sagt Theunis Keulder, Direktor des Namibischen Instituts für Demokratie, „dass unsere Demokratie hier sehr gut ist, und dass wir politische Probleme nicht haben. Doch
ein Problem macht uns zu schaffen: Das unsere Opposition so schwach ist“.
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Nicht erst seit der vorletzten Wahl vor fünf Jahren sprechen Oppositionspolitiker und andere Beobachter von einer zunehmenden Entwicklung zum faktischen
Ein-Parteien-Staat. Der Einfluss der SWAPO ist allgegenwärtig; wichtige Posten im Land sind ohne Parteizugehörigkeit kaum noch zu bekommen. Auch
Grundrechte wie die Pressefreiheit wurden beschnitten. Und das Präsident Sam
Nujoma nun für fünf weitere Jahre im Amt bleiben darf, verdankt er nur einer
eigens zu diesem Zweck durchgeführten Verfassungsänderung. Oppositionspolitiker Katuutire Kaura, Vorsitzender der drittgrößten Partei DTA (Democratic
Turnhalle Alliance) fürchtet um sein Land. „Was man in Afrika immer wieder
beobachten kann: Wenn eine Partei eine zu große Mehrheit hat, geht das Land
unter. Das Land wird wirtschaftlich zerstört. Und wir werden den selben Weg
gehen, wie viele andere afrikanische Länder. Das ist die Gefahr“.
Tatsächlich ist die von der Regierung versprochene Überwindung der ererbten,
sozio-ökonomischen Gegensätze weitgehend ausgeblieben. „Viele Dinge sind
nicht richtig in diesem Land“, erzählt mir eine alte Frau in Katutura, dem Schwarzenviertel am Rande der Hauptstadt Windhuk. „Die Apartheid hat nur gewechselt – in eine andere Richtung. Und dann die Wirtschaft: Wir können vom dem
Geld, das wir bekommen, nicht leben. Und wir haben keine Arbeit“.
Die Unzufriedenheit über die ausbleibende Transformation der Gesellschaft
wächst. Materielle Verbesserungen hat es für die Bevölkerungsmehrheit in den
10 Jahren nach der Unabhängigkeit nicht gegeben. Im Gegenteil: Während die
Lebenshaltungskosten stiegen, blieb das Einkommen weitgehend gleich. Und so
nimmt die Armut zu. Nach einem UNICEF-Bericht muss fast die Hälfte der
Bevölkerung als arm oder sehr arm eingestuft werden. Die Arbeitslosenrate
liegt bei etwa 40 Prozent. Rechnet man die geringfügig Beschäftigten mit ein, sind
fast zwei Drittel der Bevölkerung entweder arbeitslos oder unterbeschäftigt.
Die ökonomische Misere, mit der Namibia nach wie vor konfrontiert wird, ist
unverkennbar. Doch sie geht nicht auf das Konto der neuen Regierung und
deren Politik, sagt Henning Melber, Direktor des Wirtschaftsforschungsinsituts
NEPRU (Namibia Economic Policy Resaerch Unit): „Sondern sie ist Folge
weltmarktabhängiger Faktoren und vor allem der immer noch bestehenden kolonialen Strukturen“.Besonders deutlich wird das an der katastrophalen Bildungssituation im Land, einem der größten ungelösten Probleme Namibias. Vor
der Unabhängigkeit wurden jahrzehntelang die kommunalen Gebiete und schwarzen Townships bei der Volksbildung vernachlässigt. Das verursachte einen eklatanten Lehrermangel, als die neue Regierung ein einheitliches Schulsystem mit
Schulpflicht für alle Kinder vom 7. bis zum 16. Lebensjahr einführte. Die Folge:
Fast die Hälfte der Lehrer hat heute selbst keinen Schulabschluss, geschweige
denn eine pädagogische Ausbildung. Vor allem die im Norden des Landes eingesetzten Lehrkräfte vermitteln in der Mehrzahl ihr eigenes, bis zum zehnten
Schuljahr erworbenes Wissen, ohne über pädagogische Grundlagen zu verfügen.
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Nach der Unabhängigkeit leitete die Regierung eine Vereinheitlichung des Bildungswesens ein: Lehrpläne und –inhalte wurden reformiert, die Administration
neu geordnet, die schulische Infrastruktur erweitert und mit einer Verbesserung
und Ausweitung der Lehrerausbildung begonnen. Doch bis heute führt das rassisch zweigeteilte Bildungswesen der kolonialen Zeit zu erheblichen Unterschieden im Bildungsniveau der schwarzen und weißen Bevölkerung.
Weniger als die Hälfte der schwarzen Kinder beendet die siebte Klasse der
Grundschule. Nur ein Drittel geht in die achte Klasse der weiterführenden Schulen. Und während 90 Prozent der Weißen einen Schulabschluss nach der neunten Klasse vorweisen können, sind es unter den Schwarzen weniger als 20 Prozent. Obwohl die Privatschulen, die früher der weißen Bevölkerungsgruppe
vorbehalten waren, nach der Unabhängigkeit auch anderen Ethnien geöffnet wurden, findet man dort bis heute nur wenige nicht-weiße Kinder. Deren Eltern können sich die teure Ausbildung oft nicht leisten. Und noch immer können, vor
allem in den dünn besiedelten Farmgebieten von Zentral- und Südnamibia,
trotz der 1990 eingeführten Schulpflicht nicht alle schwarzen Kinder schulisch
betreut werden.
Immerhin liegt der Einschulungsgrad mittlerweile zwischen 80 und 90 Prozent. Und auch die Analphabetenrate, so zumindest die offiziellen Angaben der
Regierung, ist in den letzten Jahren drastisch zurückgegangen. Waren vor der
Unabhängigkeit noch fast zwei Drittel der Namibier Analphabeten, so sollen es
heute nur noch etwa 20 Prozent sein.
Lückenfüller im Bildungssystem
Es ist kurz nach halb sieben, als der Lastwagen um die Ecke biegt. Auf seiner Ladefläche sehe ich im Halbdunkel mehrere Gestalten. Es sind Kinder,
schätzungsweise zwischen 7 und 12 Jahre alt. Der Lastwagen fährt quer über
den großen Platz und hält vor einem der Gebäude. Seine Fahrgäste springen
von der Ladefläche. Als sich der LKW kurz darauf wieder in Bewegung
setzt, winken sie ihm nach.
Ich stehe auf dem Gelände der Grundschule Aris. Soeben war ich Zeuge bei
der Ankunft des einzigen „Schulbusses“ der Schule
Die Aris-Schule liegt in den Khomas-Bergen, etwa 50 Kilometer entfernt von
Namibias Hauptstadt Windhuk. Knapp 170 Kinder werden hier zur Zeit unterrichtet. Die meisten von ihnen müssen aber nicht mit dem „Schulbus“ gebracht
werden, sondern sie leben hier – ähnlich wie in einem Internat. Die Schule
besteht aus mehreren länglichen Gebäuden, die am Rand eines großen, staubigen Schulhofs aufgereiht sind. Mein Blick fällt ein großes buntes Gemälde an der
Stirnseite eines der Schulhäuser. „Das haben die Kinder gemalt“, erklärt mir eine
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Namibia
Lehrerin stolz. Direkt davor stehen mehrere Klettergerüste aus Holz. Auch darauf ist man stolz in Aris. Die Häuser des Schülerheims – Schlafräume, Toiletten,
Wäscherei, Küche, Esssaal – gruppieren sich um einen kleineren Platz am
Rande des Geländes. In dem Innenhof ist ein kleiner Steingarten angelegt;
durch weiße Steine begrenzte Wege verbinden die Gebäude. Mehr als 100 Kinder sind hier untergebracht. Jungen und Mädchen schlafen in getrennten, engen
Schlafsälen – 10 bis 20 Kinder in einem Raum. Jedes von ihnen hat einen kleinen Spind für die Kleidung und ein paar andere persönliche Dinge.
Einer der Schüler in Aris ist David. Er ist 11 und geht in die fünfte Klasse.
David kommt von einer Farm, die fast 100 Kilometer von der Schule entfernt ist.
Seine Eltern arbeiten dort als Farmarbeiter. „Wenn ich bei meinen Eltern bin“,
erzählt er mir, „muss ich Kühe melken, Ziegen hüten und ihnen auf dem Feld helfen. Aber meine Eltern haben mir gesagt, dass ich in der Schule gut aufpassen
und lernen soll – damit ich eines Tages mal einen besseren Beruf habe“.
Auch die meisten anderen Kinder, die in Aris leben und zur Schule gehen,
kommen von Farmen in der Umgebung. Dass sie überhaupt hier zur Schule
gehen können, verdanken sie einer privaten Initiative. Zwar sind die Lehrer und
der Schulleiter Staatsbedienstete, doch die Schule steht auf privatem Grund
und Boden, und der Farmer, dem dieses Land gehört, hat sie errichtet.
Das war 1982. Damals kam der inzwischen verstorbene Farmer Dieter Voigts
zusammen mit seiner Nachbarin Barbara Rattay auf die Idee, eine Schule zu
bauen. „Hier in der Umgebung waren sehr viele Farmarbeiterkinder“ erinnert
sich Barbara Rattay, „die nicht in die Schule gehen konnten. Weil es damals selbst
in der Stadt kaum Schülerheime für schwarze Kinder gab. Und die Eltern waren
so arm, dass sie die auch gar nicht hätten bezahlen können. Und deswegen sind
wir auf die Idee gekommen, hier in Aris eine Farmschule zu gründen“.
Ursprünglich kommt Barbara Rattay aus Mecklenburg-Vorpommern. Vor 40
Jahren ging sie nach Namibia. Sie landete in Aris. Einem Ort, der damals wie
heute aus einem Gasthaus und einer Farm besteht. Mit ihrem Mann betrieb sie
zunächst das Gasthaus, später bauten die beiden in der Nähe eine Lackfabrik auf.
Nicht weit entfernt stellte der befreundete Farmer Voigts dann ein Stück Land zur
Verfügung, auf dem die Farmschule entstand.
Das meiste Geld für den Bau kam aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit stellte einen Großteil des erforderlichen Betrages zur Verfügung. Der Rest kam von gemeinnützigen Institutionen und Privatspendern. Von dem Geld entstand zunächst ein Klassenraum für die anfangs 15 Kinder. Sechs weitere Klassen kamen bis heute dazu,
außerdem mehrere „Hostels“ mit über hundert Betten, ein Küchengebäude mit
großem Speisesaal, eine Turnhalle, Wohnhäuser für die Lehrer, das Personal und
den Schulleiter. Bis heute ist Barbara Rattay dafür verantwortlich, dass der Schulbetrieb und vor allem der des Schülerheims reibungslos funktioniert. Sie kümmert
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sich um die Buchhaltung, um Reparaturen, die Bezahlung der Angestellten und
die Ernährung der Kinder. Einen Teil des Essens bekommt sie von der Welthungerhilfe. Den Rest muss sie möglichst billig beschaffen. Es fällt ihr schwer, die
Frage nach der Motivation für ihre ehrenamtliche Tätigkeit zu beantworten. „Der
Grundgedanke wird wohl sein“, sagt sie nach einigem Zögern, „dass man hier die
Möglichkeit hat, den Kinder, die hier in die Schule gehen, für die Zukunft eine bessere Chance zu geben. Es sind zwar nur wenige – aber immerhin“.
Mittlerweile sind an vielen Stellen in Namibia Farmschulen, wie die in Aris,
entstanden. Schulen auf privatem Grund und unter privater Obhut, an denen unter
staatlicher Aufsicht unterrichtet wird. Sie sind zu einer wichtigen Stütze im Bildungssystem des Landes geworden. Vor allem füllen sie eine Lücke für die unteren Einkommensschichten: Für die, die ihre Kinder nicht in weit entfernte
Heime schicken können, weil sie dafür kein Geld haben.
Die meisten Farmschulen sind stark subventionierte Institutionen: Der Staat
übernimmt die Lehrergehälter, einen Betrag für die Instandhaltung der Gebäude
(pro Jahr 3000 N$ pro Gebäude) und ein Pro-Kopf-Tagegeld für die Kinder, die
in den angeschlossenen Heimen leben. Der liegt bei 4 Namibia-Dollar pro Tag
– umgerechnet 1,50 Mark. Er liefert ferner die Lehrmittel und die Schulausstattung. Den Rest – Strom, Wasser, Gehälter für Heimpersonal etc. – muss die
Schule selbst tragen.
Während viele andere Farmschulen in Namibia auch für den laufenden Betrieb
mit Spenden aus Deutschland versorgt werden, muss Barbara Rattay mit dem
auskommen, was der Staat ihr als Zuschuss bezahlt. Damit müssen dann auch
alle anderen Kosten beglichen werden: Verpflegung, Heimpersonal oder die
Instandhaltung der Gebäude. „Wenn wir ganz hart rechnen, kommen wir so eben
damit hin“. Eigentlich sollen auch die Eltern der Kinder einen monatlichen
Betrag für das Heim und einen Schulfonds bezahlen – doch nur wenige können
sich das wirklich leisten.
„Noch nie“, erzählt mir Dieter Esslinger vom Ministerium für Grundschulerziehung und Kultur, „haben wie einen Antrag zur Gründung einer Farmschule
abgelehnt“. Die Regierung unterstützt diese Institutionen, um im ländlichen
Bereich überhaupt Bildungsmöglichkeiten zu schaffen. Denn Geld, um dort
eigene Schulen zu bauen, hat sie nicht. Durch die Weitläufigkeit des Landes sind
es bis zur nächsten Schule oft Hunderte von Kilometern. Und so würden viele
Kinder einfach zu Hause bleiben, würde es die Schulen auf dem Farmland
nicht geben. „Wir erreichen eine ganze Menge von Schülern, die wir sonst
nicht erreichen würden“, sagt Dieter Esslinger. „Eltern würden ihre Kinder
nicht in die Schule schicken. Wir können die Schulpflicht nicht erzwingen. Die
Kinder, die in der Nähe einer Farmschule aufwachsen, haben den großen Vorteil,
dass sie wenigstens dahin gehen können, dass sie nicht in die Städte müssen.
Insofern sind Farmschulen schon ein wichtiger Faktor in Namibia“.
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Namibia
Die Frage, wie viele Farmschulen es mittlerweile in Namibia gibt, kann mir
auch im Bildungsministerium niemand beantworten. Denn in den Statistiken
wird kein Unterschied gemacht zwischen staatlichen und den halbprivaten
Institutionen. Den Grund dafür erklärt mir ein Mitarbeiter des Bildungsministeriums: Bis auf die Tatsache, dass Farmschulen auf privatem Grund stehen, gibt es kaum Unterschiede zwischen ihnen und staatlichen Schulen in
Kommunalgebieten. Denn auch Farmschulen arbeiten voll nach staatlichen
Grundsätzen, die Lehrer sind in den meisten Fällen Beamte, und sie unterstehen der Weisungsbefugnis des Schulministeriums.
Was Farmschulen von Schulen in den Städten unterscheidet, ist die Tatsache, dass fast alle Kinder hier schwarz sind. Das liegt nicht daran, dass weiße
Kinder dort nicht willkommen wären – im Gegenteil. Vielmehr können es sich
deren Eltern leisten, ihre Kinder auf die Privatschulen in den größeren Städten zu schicken. „Die Schüler auf den Farmen könnte man in vielen Fällen
auch als marginalisiert betrachten“, erklärt Dieter Esslinger. „Denn in der Tat
sind sie an den Rand gedrängt worden. Die Eltern sind Arbeiter auf einer
Farm, besitzen natürlich sehr wenig, und sind davon abhängig, dass der Farmer ihnen Kost und Logis und eine einigermaßen angemessene Entlohnung
bietet“.
Die meisten der Eltern sind Analphabeten: „Ich weiß von vielen“, erzählt
mir Barbara Rattay, „die nicht mal ihren Namen schreiben können“. Und so
haben sie auch wenig Interesse an der Ausbildung ihrer Kinder: „Am Anfang,
da war das sehr schwierig. Weil die Eltern selbst nicht in der Schule waren,
haben sie nicht eingesehen, warum ihre Kinder dorthin müssen. Doch inzwischen hat sich das geändert“.
Trotzdem sind die Kinder in Aris meist auf sich selbst angewiesen. Viele werden zu Trimesterbeginn von den Eltern zur Schule gebracht, und erst dann wieder abgeholt, wenn das Schuljahr vorbei ist. „Am Anfang habe ich gedacht“,
erzählt Barbara Rattay, „die bringen eine Schubkarre voller Kinder hier hin, laden
die ab und verschwinden ganz schnell. Manchmal war es wirklich so, dass wir
lange suchen mussten, bis wir die Eltern überhaupt wiederfanden“.
Einmal im Monat haben die Kinder die Möglichkeit übers Wochenende nach
Hause zu fahren. Doch viele bleiben in der Schule. „Wahrscheinlich deshalb“,
mutmaßt eine der Lehrerinnen in Aris, „weil die Kinder keine Familie haben oder
sich die Familie nicht um die Kinder kümmert“.
Barbara Rattay weiß, dass ihre Schule für viele der Kinder die einzige Chance
ist. Doch sie kennt auch die Gefahren ihrer privaten Entwicklungshilfe. „Wir
haben versucht, eine Umgebung zu schaffen, wo die Kinder eigentlich ganz
zufrieden sein können. Aber man muss dabei immer überlegen: Das ist in einem
weißen Kopf ausgebrütet. Das muss für die Schwarzen nicht immer das richtige
sein“.
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Der Platz der drei Farben
„Sehen Sie auf den Boden: Die Farbe des Sandes wechselt zwischen rot,
schwarz und weiß.“ Reiner Stommel macht eine weite Handbewegung über den
Platz, über den wir gerade fahren. Mit einem alten Pick-Up sind wir auf seinem
riesigen Farmgelände unterwegs. Dessen Namen versucht mir Reiner Stommel
zu erklären: „Otjikondo“ bedeutet in der Hererosprache so viel wie „Platz der drei
verschiedenen Farben“.
Otjikondo liegt im Nordwesten Namibias, an der Straße zwischen Outjo und
Kamanjab unterhalb der Etosha-Pfanne. Ich bin erstaunt, als ich den Ort auf der
Landkarte finde. Das liegt wohl daran, dass die kleine ländliche Niederlassung
an einer strategisch wichtigen Straßenkreuzung liegt. Früher bestand Otjikondo
gerade mal aus einer Polizeistation und einem Postamt. Reiner Stommel hatte
schon als junger Mann die Absicht, das Farmgelände zu kaufen: „Ich hatte
immer den Traum, hier eine Schule zu bauen – weil das ein so zentraler Punkt
war. Und das haben wir dann ja auch durchgeführt“. Mit Landschulen hatte Reiner Stommel schon damals viel Erfahrung: Mit 25 kam er als Pater aus Deutschland nach Namibia, um in der römisch-katholischen Missionsstation St. Michael
zu arbeiten. Die Mission liegt ganz in der Nähe seines heutigen Farmgeländes.
Die zu St. Michael gehörende Schule – bereits 1948 gegründet – bietet heute
Platz für vierhundert Schüler. 10 Jahre kümmerte sich Reiner Stommel um die
Mission, bevor er vor mehr als 30 Jahren aus dem Orden austrat.
1989 kaufte er zusammen mit seiner Frau Gillian die Farm Otjikondo. Die
alten Gebäude wurden renoviert, neue gebaut: Klassenräume, Jungen- und
Mädchenheim, Wohnungen für das Personal, Speisesaal und Küche. 1992
begann der Schul- und Heimbetrieb mit 100 Kindern. Als 1993 das Erziehnungsministerium die Anzahl der Klassen in „Primary Schools“ von fünf auf sieben erhöhte, mussten weitere Klassenzimmer angebaut werden. 1997 ließ Reiner Stommel am Rande des Schuldorfs eine mächtige Kirche bauen.
Aufgebaut ist Otjikondo nach dem Muster englischer Internatsschulen. 160
Kinder im Alter zwischen 6 und 14 Jahren besuchen heute die Grundschule. Sie
kommen aus verschiedenen ethnischen Gruppen. Ähnlich wie in Aris wohnen
und arbeiten ihre Familien auf den umliegenden Farmen.
„Farmschulen sind absolut wichtig für Namibia“, erklärt mir Reiner Stommel.
„Denn es kann ja nicht alles verstädtern. Die Landflucht wird ja sonst immer größer und die Arbeitslosigkeit ist ja sowieso schon groß genug. Unser Ziel ist, die
Kinder so zu erziehen, dass sie auch auf dem Land bleiben wollen. Deshalb auch
die handwerkliche Ausbildung“. Mit handwerklicher Ausbildung meint der Farmer das umfangreiche Nachmittagsprogramm, das den Kindern in Otjikondo
angeboten wird. Neben Sport-, Spiel- oder Theatergruppen werden die Kinder
in der Farmarbeit, in Küchen- und Haushaltstätigkeiten unterrichtet. In einer
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Namibia
Schreiner- und einer Eisenwerkstatt bekommen die älteren Kinder lebenspraktischen Unterricht. „Auf der Farm herrscht noch ein ganz normales Klima“,
erklärt mir Reiner Stommel. „ Hier werden sie auf der Farm unterrichtet, und das
Farmleben geht ja weiter“.
Idealismus und der Glaube an eine Verbesserung der Lebenssituation der
Kinder, sagt Reiner Stommel heute, habe ihn damals zum Bau der Schule
getrieben. Tatsächlich ändert sich für die Kinder die Lebenssituation erheblich
– zumindest für die Zeit, in der sie hier zur Schule gehen. Denn mit dem Tag ihrer
Einschulung kommen sie in eine völlig neue Umwelt, die ab dem sechsten
Lebensjahr entscheidend auf sie einwirkt: Für die meisten ist es ungewohnt, im
Bett zu schlafen. Für uns alltägliche Dinge, wie Toilette, Besteck oder Stifte, sind
für sie vollkommen neu. Dazu kommt, dass die Farmschule Otjikondo für namibische Verhältnisse, was Sauberkeit und Hygiene angeht, mehr mit einer deutschen Institution vergleichbar ist als mit ähnlichen Schulen in Namibia. Die Kinder lernen einen Standard kennen, der wenig mit ihrer bisherigen Lebensweise
zu tun hat. Obwohl die alten Traditionen nach wie vor stark bei den Kindern verwurzelt sind und auch zum Teil vom Personal an der Schule gefördert werden,
findet bei ihnen eine starke Bewusstseinsänderung statt, die eine Rückkehr in die
gewohnte Lebenswelt oft schwierig macht. Generell tragen Farmschulen dazu
bei, befürchtet Dieter Esslinger vom Ministerium für Grundschulerziehung und
Kultur, dass die Erfahrungswelt der Kinder und ihrer Familien immer weiter auseinanderdriftet: „Wenn die Eltern selber nicht lesen und schreiben können,
wenn sie keine Schulbildung hatten, bewirkt Schulerziehung eine Entfremdung
der Kinder von den Eltern. Und noch ein anderes Problem bringen die Schulen
auf dem Land mit sich“, fährt Dieter Esslinger fort. „Schüler, die eine Farmschule
abolviert haben, finden es oft schwer, den Anschluss in städtischen Schulen zu
finden, und das ist ein sehr komplexes Problem. Einmal haben diese Schüler eine
kulturelle und soziale Barriere zu überwinden. Sie sind in einem eigentlich
geschützten Milieu aufgewachsen und ziehen jetzt in die Stadt. Und dort haben
sie es dann schon schwer. So entsteht sehr schnell ein Gefälle zwischen der städtischen Bevölkerung Namibias einerseits, und der ländlichen andererseits“.
Der Unterhalt der Schulen ist das größte Problem, erklärt mir Reiner Stommel.
Trotz des Geldes, das er vom „Ministry of Education“ bekommt, ist er auf
andere Finanzierungsquellen angewiesen. Zwei Stiftungen beteiligen sich an den
Kosten, die Eltern zahlen – sofern sie das können – ein geringes Schulgeld.
Außerdem bekommt die Familie durch ihre gute Öffentlichkeitsarbeit sehr viele
Privatspenden. „Ohne Spenden aus Deutschland und England wäre die Farmschule wohl nicht zu halten“.
Was die finanzielle Lage in Otjikondo und in anderen Farmschulen noch
erschwert, sind Sparmaßnahmen im Bildungswesen Namibias. So stieg die
Anzahl der Schüler, die in eine Klasse gehen, kontinuierlich an. Lag das Leh304
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rer-Schüler-Verhältnis früher bei 1:25, so wurde es mittlerweile auf 1:38
erhöht. Zwar stiegen die staatlichen Aufwendungen für Bildung auf mehr als
eine Milliarde Namibia Dollar im Jahr. Doch die Ausgaben im Bildungs- und
Gesundheitsbereich nahmen in den letzten Jahren proportional weniger zu als
der Gesamthaushalt. Für die Regierung wird es immer schwerer, bei der Verteilung der Geldmittel die Prioritäten bei den sozialen Bereichen zu belassen.
Das liegt vor allem an der Überbürokratisierung der namibischen Gesellschaft,
die sich immer mehr negativ auf den Staatshaushalt auswirkt. Mehr als 5% der
Gesamtbevölkerung ist mittlerweile im öffentlichen Dienst beschäftigt. Aufgrund einer in der Verfassung verankerten „Kontinuitätsklausel“, die die
SWAPO-Regierung zur Übernahme des gesamten bestehenden Beamtenapparates verpflichtete, wurden nach der Unabhängigkeit etwa 60.000 Angehörige des öffentlichen Dienstes weiterbeschäftigt. Durch zusätzliche Neueinstellungen stieg die Zahl der Staatsbediensteten später auf über 70.000. Fast
die Hälfte des Staatshaushaltes entfällt inzwischen auf Löhne und Gehälter im
öffentlichen Dienst.
Doch auch wenn das Bildungssystem mit etwa einem Drittel der Gesamtausgaben noch immer gut bedient ist, wird vor allem von ausländischen
Institutionen immer wieder Kritik an der Verteilung der Gelder geübt. Denn
der größte Teil der Ausgaben des Bildungsministeriums geht in die Lehrergehälter und Schulmaterialien; alle weitergehenden Maßnahmen werden vernachlässigt: „Die hohen staatlichen Ausgaben für den Bildungsbereich bringen wenig“, konstatiert das Münchner ifo Institut für Wirtschaftsforschung in
einer Studie, „wenn 41 Prozent der Lehrer keinen Schulabschluss haben, 28
Prozent von ihnen ohne jegliche Qualifikation sind und wenn Englisch als
Unterrichts- und Prüfungssprache nur von einer Minderheit von Schülern
wirklich verstanden und angewandt werden kann“.
Und noch ein anderes Problem belastet das Bildungssystem seit der Unabhängigkeit. 1990 erhob die neue Verfassung Englisch zur alleinigen Amts- und
zur vorrangigen Unterrichtssprache. Alle anderen Sprachen Namibias sind
seither gleichrangige Nationalsprachen. Für die meisten Namibier bedeutete
das eine große Umstellung: 1990 war für nur knapp 1% der namibischen
Bevölkerung Englisch die Muttersprache. Auch die Zahl derer, die Englisch
als zweite oder dritte Sprache beherrschten, war minimal. Bis heute hat sich
die Zahl der Englischsprechenden zwar immer weiter erhöht – dennoch ist
Afrikaans als ehemalige offizielle Landessprache unter der südafrikanischen
Besatzung nach wie vor wesentlich weiter verbreitet als Englisch.
Die wesentliche Bedeutung bei der Verbreitung der neuen Nationalsprache
kommt den Schulen zu: Ab der vierten Klasse soll in Englisch unterrichtet
werden – es sei denn eine andere Sprache ermöglicht eine effektivere Schulausbildung. In den ersten drei Unterrichtsjahren haben die Kinder ein Anrecht
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auf ihre Muttersprache als Unterrichtsmedium. Doch gerade in Farmschulen
ist es wegen der vielen ethnischen Gruppen, die in eine Klasse gehen, oft
schwierig, für alle Kinder muttersprachlichen Unterricht anzubieten. In Otjikondo werden die Kinder deshalb bereits ab der ersten Klasse in Englisch
unterrichtet. Einer der Schüler erzählt mir, dass es gerade deshalb anfangs sehr
schwer für ihn war. „Denn zu Hause“, sagt er, „habe ich doch eine ganz andere
Sprache gesprochen“.
Hilfe zur Selbsthilfe
„Man muss etwas, und sei es noch so wenig, für diejenigen tun, die unsere
Hilfe brauchen, aber nicht um Lohn dafür zu empfangen, sondern aus Freude,
es tun zu dürfen“.
Das kluge Zitat Albert Schweitzers fällt mir sofort ins Auge, als mir Barbara Mais-Rische die Broschüre ihrer Stiftung überreicht. Darin beschreibt sie
die Arbeit, die seit fast 10 Jahren ihren Lebensmittelpunkt ausmacht: 1989
gründete sie, mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann und anderen Farmern,
die Stiftung „Ombili“ (übersetzt: Frieden). Die Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, einer der bedrohten Bevölkerungsgruppen Afrikas Beistand zu
leisten: Den Buschleuten.
Die San, die Ureinwohner Namibias, zählen zu den ältesten noch existierenden Ethnien. Der Untergang der Nomaden begann 1950, als große Teile
ihrer Jagdgebiete zu Naturschutzparks erklärt wurden. 1970 wurde den San
durch die Regierung ein Reservat in der Kalahari, im Nordosten des Landes,
zugewiesen. Trockenheit und damit verbundener Rückgang der Wildbestände
verschlimmerten die Lage noch weiter. „Es ist leider so“, sagt Barbara MaisRische, „dass trotz der Größe und Weite Namibias, der Lebensraum der
Buschleute nicht mehr vorhanden ist“. Heute leben noch etwa 30.000 San in
Namibia, doch nur etwa 2000 gemäß ihrer ursprünglichen Lebensweise als
Jäger und Sammler. „Eines der größten Probleme der Buschleute ist auch
heute noch, dass sie von den anderen Bevölkerungsgruppen Namibias nicht
als vollwertige Menschen angesehen, sondern nach wie vor in die Ecke
gedrängt werden“.
Glaubt man einer UNO-Studie aus dem Jahr 1996, stehen die San an letzter Stelle der Entwicklungsstufe in Namiba. Für Barbara Mais-Rische und die
anderen Beteiligten ist klar: Die San müssen sesshaft werden, sich an einen
geregelten Tagesablauf gewöhnen, müssen lernen, wie man Landwirtschaft
betreibt. „Die brachliegenden Talente dieser Menschen muss man wecken und
fördern, damit sie unabhängig von der Natur ihr Brot verdienen können“.
An der „Pad 3004“, 80 Kilometer westlich von Tsumeb, liegt das Gelände
der Ombili-Stiftung. Das 30 Hektar große Anwesen wurde 1995 von Farm-
Namibia
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besitzer Klaus-Jürgen Mais-Rische an die Stiftung übertragen. 300 San leben
heute hier in mehreren Dorfgemeinschaften. Selbstgebaute Grashütten wurden zu ihrem neuen Zuhause. Momentan baut die Ombili-Stiftung mit deutschen Spenden mehrere große Steinhäuser mit Grasdächern, da die alten
Behausungen für die größeren Familien zu klein geworden sind. Ansonsten
versuchen die San, ihre alten Traditionen so gut es geht zu erhalten. Nach wie
vor haben sie ihre Feuerstellen vor dem Eingang ihrer Hütten. In der freien
Natur sammeln sie Produkte für Handarbeiten und – so weit vorhanden – Nahrung, wie Beeren, Termitenpilze, wilden Spinat, Knollen und Wurzeln. Jagen
dürfen sie nicht mehr, da das Gelände der Ombili-Stiftung umgeben ist von
privatem Farmland.
Auch sonst hat das Leben der San nur noch wenig mit ihrer traditionellen
Lebensweise gemein. Barbara Mais-Rische und die anderen am Projekt beteiligten Helfer versuchen, feste Arbeitszeiten einzuführen, um die Buschleute
an einen anderen Lebensrhythmus zu gewöhnen. „Sie wollen ja wie die Weißen sein“, erzählt mir eine Mitarbeiterin. „Sie wollen leben wie die Weißen,
und das haben, was die Weißen haben. Doch das bedeutet eben Arbeit – viel
Arbeit“. Zu den morgentlichen Pflichten der San zählen Arbeiten auf dem Feld
oder in dem auf dem Gelände angelegten Garten. Als Gegenleistung bekommen die Buschleute einmal wöchentlich Nahrung, die zum Teil selbst angebaut wird – beispielsweise Hirse, Trockenbohnen, Gemüse oder Milch. Der
Rest wird mit Spendengeldern angekauft. Am Nachmittag sollen die San traditionelle und neu erlernte Handarbeiten anfertigen, die in Namibia und den
Dritte-Welt-Läden in Europa verkauft werden. Das eingenommene Geld
steht den San zur freien Verfügung.
„Wir wissen“, sagt Beate Mais-Rische, „dass es unmöglich ist, diese Leute,
die seit ihrem Bestehen im Gruppendenken und gemeinsamen Tun verwurzelt
waren, über Nacht in eine moderne Gesellschaft aufzunehmen“. Deswegen
liegt das Hauptaugenmerk der Stiftung auf der schulischen Ausbildung der
Kinder. 1993 wurde in Ombili eine Schule mit angrenzenden Wohnungen für
die Lehrer und die anderen Mitarbeiter gebaut. „Man kann eigentlich nur bei
den Kindern anfangen“, erklärt mir Beate Mais-Rische. „Es geht nur über den
Bildungsweg, dass der Buschmann eines Tages mal eine bessere Stellung in
Namibia einnehmen kann“. Der Buschmann-Experte Reinhard Friedrich,
der die San-Projekte in der Region koordiniert, fügt hinzu: „Durch die Schulbildung wollen wir erreichen, dass sich diese Menschen eines Tages einmal
selbst vertreten können, in der Welt, in der wir heute leben“.
Fast alle Buschmann-Kinder in der Ombili-Stiftung, die im schulpflichtigen Alter sind, werden hier unterrichtet. Allein das ist schon ein Erfolg. Denn
landesweit liegt der Anteil der Buschmann-Kinder, die zur Schule gehen, deutlich niedriger als der von Kindern anderer ethnischer Gruppen. Doch auch
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Namibia
wenn die Kinder den Unterricht mögen, stößt seine Durchführung auf viele
Schwierigkeiten – ähnlich wie in anderen Farmschulen. „Im Prinzip ist es den
Eltern egal, ob die Kinder zur Schule gehen. Sie sind ja auch nicht zur Schule
gegangen“, sagt Nora Brandt, eine der Lehrerinnen in Ombili. Um auch die
Eltern mit der neuen Erfahrungswelt der Kinder zu konfrontieren, werden
ihnen Sprachkurse angeboten. Bisher allerdings mit wenig Erfolg; das Angebot wird kaum genutzt.
Auch die Lehrmittel, die das Bildungsministerium der Schule zur Verfügung stellt, schaffen Probleme. Denn das, was in den Schulbüchern beschrieben wird, hat nur wenig mit der Erfahrungswelt der San-Kinder zu tun. „Die
Kinder in den Städten kennen Ampeln, Uhren und so was. Hier ist das anders.
Hier haben die Kinder so etwas noch nie gesehen“.
Das größte Problem, das die Ombili-Schule hat, ist die Kommunikation:
Erst vor kurzem wurden die verschiedenen Sprachen der San schriftlich
erfasst, so dass man immer noch dabei ist, diese umzusetzen und Unterrichtsmaterialien zu entwickeln. „Der muttersprachliche Unterricht ist in
Ombili nicht möglich“, erklärt mir Nora Brandt. Schließlich kannten die
Buschleute bisher überhaupt keine Schulausbildung; nur die wenigsten können lesen und schreiben. „Und so haben wir hier keine Buschmann-Lehrer,
keine San-Lehrer. Wir haben auch keine Weißen, die diese Sprache beherrschen, um den Kindern in ihrer Muttersprache Unterricht zu erteilen. Die fangen also in der Vorschule schon mit einer fremden Sprache an“. Ab der ersten
Klasse also müssen die Buschmannkinder in zwei Fremdsprachen – Englisch
und Afrikaans – lesen, rechnen und schreiben lernen. „Da erwarten wir von
diesen Kindern einfach Umögliches“, sagt Beate Mais-Rische. Um den Einstieg etwas zu erleichtern, wird in Ombili teilweise mit Übersetzern gearbeitet, die den Kindern erklären, was die Lehrer überhaupt von ihnen wollen.
Beate Mais-Rische hofft, dass die Kinder durch die Ausbildung eines Tages
sesshaft werden – und nicht wie ihre Eltern regelmäßig in den Busch zurückgehen. „Nur so werden sie eine bessere Zukunft haben“. Doch noch ist es
schwierig, die Buschleute an die neue Lebensweise zu gewöhnen. Noch zu
fest sitzen alte Wurzeln und Traditionen, erklärt mir Nora Brandt. „Wenn es
geregnet hat, ist die Schule auf einmal leer. Dann gehen die Eltern in den
Busch und nehmen die Kinder mit. Nach einer Weile kommen sie wieder und
wollen zurück in die Schule. Dann haben sie aber ein Vierteljahr verpasst, und
wir müssen sie ein ganzes Schuljahr zurücksetzen. Und so kommen sie nicht
weiter“.
Namibia
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Schule alleine reicht nicht
Die Kirche steht auf einer kleinen Anhöhe. Schon von weitem erkennt man sie,
ebenso wie die roten Dächer der anderen Gebäude. Das, was auf den ersten Blick
aussieht wie ein ganzes Dorf, ist in Wirklichkeit eine der größten Farmschulen
Namibias: Baumgartsbrunn, eine der ersten Schulen dieser Art im ehemaligen
Südwestafrika. Knapp 40 Kilometer außerhalb von Windhuk liegt sie, am Rande
des Khomas-Hochlandes. Auf dem Schulgelände stehen über 80 Häuser: Klassenzimmer, Schülerheime, Lehrwerkstätten und ein kleines Krankenhaus.
Initiator und Betreiber von Baumgartsbrunn ist ein Deutscher, Helmut Bleks.
Ich treffe ihn in seinem großen Büro auf dem Schulgelände. Seine fast 80 Jahre
sieht man ihm nicht an. Im Gegenteil: Noch immer, so scheint es, steckt er voller Tatendrang und Energie. Helmut Bleks erinnert sich gerne an das, was er in
den letzten 30 Jahren auf die Beine gestellt hat. Einige der Geschichten, die er
erzählt, kenne ich schon aus Zeitungsberichten. Interessant sind sie allemal.
Früher war Helmut Bleks erfolgreicher Manager eines großen Industrieunternehmens in Bochum. Nach einem Herzinfarkt stieg er aus seinem Berufsleben aus und ging mit seiner Frau nach Namibia. Hier kauften die beiden ein
Farmgelände. Bald bemerkte Bleks, dass die Arbeiter seiner Farm weder lesen
noch schreiben konnten. Da es in der Nähe keine Schule gab, so seine Befürchtung, würden wohl auch die Kinder der Farmarbeiter Analphabeten und somit
ohne große berufliche Perspektive bleiben. Der Gedanke, eine Schule direkt auf
seinem Farmgrundstück zu bauen, entstand. „Das war keine Idee, das war eine
Notwendigkeit“, sagt Bleks heute. “Wir haben ja hier auf dem Land keine Schulen gehabt. Es fehlte ja an allem. Zunächst war da die Notwendigkeit, dass sie
lesen und schreiben lernten. Und es war ja nicht einzusehen, dass die Kinder hier,
35 Kilometer von der Hauptstadt Windhoek entfernt, in der Wildnis leben“.
1973 kam der erste Lehrer. Er unterrichtete die ersten 20 Kinder im Schatten
eines Baumes. Eine Tafel gab es nicht, die Kinder schrieben mit Stöcken in den
Sand. Im nächsten Jahr wurden zwei richtige Klassen gebaut und zwei weitere
Lehrer angestellt. Heute gibt es 30 Lehrer in Baumgartsbrunn und mehr als 500
Schüler.
Doch nicht die Größe macht Baumgartsbrunn zu einer ganz besonderen Bildungseinrichtung, sondern die Tatsache, dass die Lernmöglichkeiten hier über die
sonst an Farmschulen übliche Grundschulausbildung hinausgehen. Gegenüber
der Grundschule baute Bleks eine zweite Bildungsinstitution auf: Das „Institute
for Home Science and Agriculture“. 1991 gegründet, bietet die Schule heute 40
bis 50 jungen Frauen die Möglichkeit, einen Beruf im Hotelfach, in der Landwirtschaft oder in der Sozialpflege zu erlernen. Zu den angebotenen Unterrichtsfächern zählen Hand- und Gartenarbeiten, Maschinenschreiben, Buchführung, Servieren, Backen oder Weben. In diesem Jahr will Bleks zusätzlich
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einen Buchbinderkurs anbieten. Die Ausbildung dauert zwei Jahre. Im ersten Jahr
belegen die Schülerinnen alle Unterrichtsfächer. Im zweiten erfolgt eine Spezialisierung auf ausgewählte Fächer. Den Abschluss bildet ein sechswöchiges
Praktikum.
Auf die Haushaltsschule ist Helmut Bleks besonders stolz. Nicht ohne
Grund. Denn seine Initiative füllt eine Lücke im Ausbildungssystem Namibias. “Ich bin der Meinung, dass wir nicht nur akademische Schulen haben
dürfen – gerade in diesem Land. Sondern wir brauchen viel mehr Berufsschulen. Die Folgen sehen wir doch jetzt: Wenn sie einen guten Fachmann
brauchen, wird er nicht da sein, wenn die Fabriken gute Fachleute brauchen,
sind nicht genügend da“. Qualifizierte, berufsbezogene Ausbildung gibt es in
Namibia bisher kaum. Die Regierung hat sich zwar ein duales System der
Berufsschulbildung nach deutschem Vorbild zum Ziel gesetzt – doch dafür
fehlen die finanziellen Mittel. Und so sind technische Schulen, Berufsschulen und selbst Lehrstellen immer noch Mangelware. Stattdessen werden an
den herkömmlichen Schulen nach dem 9. Schuljahr praktische Fächer gelehrt.
Außerdem beschränkt sich die Fachausbildung in Namibia bisher meist nur
auf männliche Jugendliche. Auch hier setzt Bleks neue Maßstäbe. „Wenn ich
Ihnen sage, dass die Ausgebildeten alle wegkommen, dann ist das nicht zu
glauben, wenn man bedenkt, wie hoch die Arbeitslosenquote hier ist. Daraus
kann man doch schließen, dass wir viel weniger Arbeitslose hier hätten,
wenn mehr Menschen ausgebildet würden”. Obwohl pro Jahr viermal so
viele Schulabgänger auf den Arbeitsmarkt drängen wie neue Arbeitsplätze
vorhanden sind, haben bisher alle Absolventinnen der Haushaltsschule problemlos eine Stelle gefunden. Und so ist es auch kein Wunder, dass sich in
jedem Jahr etwa 700 bis 800 junge Namibierinnen für die Schule bewerben,
obwohl sie nur insgesamt 50 Plätze anbieten kann.
Für die Finanzierung seiner Projekte gründete Helmut Bleks eine Stiftung, die vor allem aus Deutschland unterstützt wird. Das Bonner Ministerium
für wirtschaftliche Zusammenarbeit beispielsweise, gibt große Zuschüsse
zu Bleks Bauprojekten. Andere Hilfe aus Deutschland kommt von gemeinnützigen Institutionen, Kirchen, Firmen oder Privatpersonen. Inzwischen ist
das Land Nordrhein-Westfalen zu seinem wichtigsten Förderer geworden: Die
Staatskanzlei in Düsseldorf unterstützt die Haushaltsschule Baumgartsbrunn
mit jährlich etwa 70.000 Mark für die Ausbildung von 20 Personen im Hotelund Tourismusbereich. Damit deckt das Land Nordrhein-Westfalen mehr als
die Hälfte der jährlichen Betriebskosten von 120.000 DM. Der andere Teil
wird vom SOS-Kinderdorf-International getragen.
Das Land Nordrhein-Westfalen half Bleks damit aus einer Bredouille:
Denn nachdem andere Förderer, vor allem die Konrad-Adenauer-Stiftung,
1994 die Zusammenarbeit aufkündigten, musste die Haushaltsschule für
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kurze Zeit geschlossen werden – bis Bleks in der Staatskanzlei einen neuen
Geldgeber fand. Der Grund dafür, dass ihm gleich mehrfach potentielle
Geldgeber den Rücken zukehrten, soll nicht allein in der sich verschlechternden Finanzlage der Stiftungen gelegen haben, erfahre ich von ehemaligen
Mitarbeitern und Förderern. Bleks Finanzgebahren sei äußerst undurchsichtig gewesen, höre ich. So soll ein als Krankenhaus ausgewiesenes Gebäude,
vorrangig durch Privatspenden aus Deutschland finanziert, heute als Wohnhaus für die Lehrkräfte dienen – und auch schon vor dem Bau als solches
geplant gewesen sein. Bei meinem Besuch finde ich tatsächlich weitgehend
leere Räume vor. Von einem Arzt ist nichts zu sehen. Er wäre wohl für die
Farmschule auch zu kostspielig.
Den Unterhalt und den Ausbau der Haushaltsschule nennt Bleks heute
seine wichtigste Aufgabe. Für dieses Jahr hat er sich deshalb noch einmal viel
vorgenommen: Auf einer anderen Farm, im Norden des Landes am HuabRevier, soll eine zweite Haushaltsschule nach dem Vorbild Baumgartsbrunn
entstehen. Das Farmgelände gehört einem anderen Deutschen, Kurt Bellwinkel. Der Hamburger ist seit Anfang 1999 permanent in Namibia. Schon
1992 kaufte er sich die Farm ganz in der Nähe der berühmten Huab-Lodge,
an der er sich zwei Jahre später beteiligte. Zusammen mit den anderen Besitzern gründete er ein privates Naturschutzgebiet. Dort soll nun die neue
Schule entstehen. Auf die Idee kam Kurt Bellwinkel nach einem Besuch in
Baumgartsbrunn: „Als ich gesehen habe, wie viele gerade junge Leute keine
Ausbildung haben und auf Hilfsjobs angewiesen sind, aber relativ einfach eine
gute Ausbildung haben können – durch solche Schulen und mit Hilfe privater Initiative – hat mich das motiviert, etwas zu tun. Und der Staat alleine kann
solche Aufgaben nicht bewältigen“. Das Geld für die Schule sammelt Bellwinkel vor allem in Deutschland. „Es ist relativ einfach, die nötigen Gelder
in Deutschland aufzubringen. Zumindest für kleinere Projekte, bei denen das
Geld direkt ankommt“. Noch in diesem Jahr soll der Schulbetrieb aufgenommen werden. Er hofft, dann zumindest ein paar jungen Menschen helfen
zu können: „In jedem Beruf arbeiten doch bisher nur Angelernte, selbst eine
halbwegs qualifizierte Ausbildung gibt es nicht. Mit einer Ausbildung kann
der Betreffende mehr Geld verdienen, besser für seine Familie sorgen – aber
auch bessere Qualität liefern“.
Doch so gut wie die Absichten der Farmer auch sein mögen: Eine Farmschule
wie Baumgartsbrunn zeigt auch die Probleme, die mit der halbprivaten Schulausbildung in Namibia verbunden sind. Die Schulen leben von der Eigeninitiative der Farmer, auf deren Grund sie stehen. „Es ist schon so, dass es vom Farmer abhängt, wie er eine solche Farmschule führt, wie viel Interese er daran hat,
dass die Kinder, die dort aufwachsen, eine gute Schulausbildung genießen können, so dass sie später mal aus diesem Milieu entfliehen und weiterkommen kön-
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nen“, erklärt Dieter Esslinger vom „Ministry of Basic Education“. „Meistens“,
so höre ich von einem Mitarbeiter der Hanns-Seidel Stiftung in Namibia, „betreiben Leute die Farmschulen, die eigentlich keine Ahnung davon haben. Doch das
Bildungswesen hat eigene Gesetze, die eingehalten werden müssen. Die besten
Farmschulen sind die, wo die Farmer intensiv mit der Farmschule mitgehen, wo
die Farmer die Schule unterstützen“, meint Dieter Esslinger. Doch auch er weiß:
Zu viel Einsatz für die Schule kann der Entwicklung der gesamten Einrichtung
im Wege stehen. Denn obwohl die Gründer der Farmschulen meist keine pädagogische Ausbildung haben, bringen sie sich oft sehr stark ein, wenn es um die
Inhalte der Schulausbildung geht. So ist das Fach Deutsch obligatorisch in
Baumgartsbrunn. „Das ist eines der Fächer, die in den Schulen, die ich zu verantworten habe, täglich gelehrt werden muss“, so die Ansicht von Helmut Bleks.
Auch von anderen Farmschulen hört man, dass die kulturellen und religiösen
Ursprünge der Kinder kaum gepflegt werden. Stattdessen werden mit Nachdruck
eigene Werte vermittelt. So werden beispielsweise die Kinder in Otjikondo im
Unterricht nur mit der christlichen Religion vertraut gemacht. Ihre religiösen
Wurzeln werden kaum berücksichtigt, bemängelt eine ehemalige Mitarbeiterin.
Durch die starke Präsenz des Farmers kommt es häufig zu Konfliktpunkten, weiß
Dieter Esslinger: „Wir müssen immer wieder intervenieren, weil es zwischen
dem Farmer und dem Schulleiter zu Spannungen kommt“. Farmer Helmut
Bleks hat schon mehrfach Lehrer, wie er es nennt „entlassen“ – obwohl die Oberaufsicht an den Farmschulen eigentlich Sache des Staates ist. Anderes Lehrpersonal soll, so hört man von ehemaligen Mitarbeitern und Förderern von Baumgartsbrunn, entnervt die Schule verlassen haben. Zu stark sei der Druck gewesen,
eigene Ideen seien nicht gefördert, sondern untergraben worden. Einmal brachten sogar die Schüler ihren Unmut über die angeblich schlechten Bedingungen
in der Farmschule, in einem Protestmarsch in das 40 Kilometer entfernte Windhuk zum Ausdruck.
Einsatz und Hingabe der Farmer für die Schule kann das Gegenteil von dem
bewirken, was sie beabsichtigen, meint ein Mitarbeiter der Hanns-Seidel-Stiftung. „Denn viele Farmschulen haben keine Zukunft, weil sie zu stark auf die
Person des Farmers konzentriert sind“. Auch auf Baumgartsbrunn trifft diese
Einschätzung zu. Denn trotz seiner fast 80 Jahre lässt sich Farmer Bleks nach
wie vor keine Entscheidung, die die Schule betrifft, aus der Hand nehmen.
Und ein Nachfolger ist nicht in Sicht.
„Die Reichen sind reicher, die Armen ärmer geworden“
Dies sagt Ben Ulenga, Vorsitzender der neuen Oppositionspartei „Congress
of Democrats“. Tatsächlich trägt Namibias Gesellschaftsstruktur noch immer
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Züge der kolonialen Hinterlassenschaften, die mit der formalen Unabhängigkeit Anfang der 90er Jahre keineswegs von heute auf morgen verschwunden sind.
Gerade mal 1,8 Millionen Menschen leben in Namibia. Das Land, das doppelt
so groß ist wie die Bundesrepublik, ist damit eines der am dünnsten besiedelten
Gebiete Afrikas. Trotzdem gibt es Ballungsräume, vor allem in den nördlichen
Landesteilen. Hier leben 60 Prozent der Bevölkerung. Die meisten von ihnen
fernab von Straßen, Strom- und Wasseranschluss. Strohgedeckte Rundhütten,
umgeben von Holzumzäunungen aus Stecken und Hölzern, bestimmen das
Bild. Dazwischen spärliche Viehzucht auf kargen, sandigen Böden, überweidet
und zusätzlich belastet von der anhaltenden Trockenheit. Dagegen konzentriert
sich die weiße Bevölkerung auf die Zentralregion um Windhuk, die Küstenstädte
und die südlichen Landesteile.
Auch wirtschaftlich prallen zwei Welten aufeinander: Auf der einen Seite
der exportierende Bergbau und die kommerzielle, auf die Ausfuhr von Rindfleisch und Karakulfellen spezialisierte Agrarwirtschaft. Im Schnitt erwirtschaften sie zusammen etwa 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und 80
Prozent der Exporterlöse – wobei der weitaus größere Teil vom Bergbau beigesteuert wird. Dem gegenüber steht auf der anderen Seite die Subsistenzwirtschaft der schwarzen Bevölkerungsmehrheit im Norden. Sie hat zwar nur
einen Anteil von 1,5 Prozent am Bruttoinlandsprodukt, ernährt jedoch rund
50 Prozent der Einwohner Namibias.
Dementsprechend eklatant sind die Einkommensunterschiede: Das Land,
das, aus Sicht der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, als eines der reichsten
Länder Afrikas südlich der Sahara gilt, hat eine der unregelmäßigsten Einkommensverteilungen weltweit. Rund 10% der Bevölkerung erhalten 65 %
des Volkseinkommens. Ein deutschsprachiger Haushalt konsumiert beispielsweise zwanzigmal mehr als ein khoisansprachiger Haushalt. Solche
Konstellationen bergen natürlich jede Menge sozialen Zündstoff. Denn die
Privilegierung der weißen Bevölkerungsminderheit ist auch weiterhin deutlich sichtbar. Da das Einkommen dieser Bevölkerungsgruppe aufgrund der
Versöhnungspolitik auch in Zukunft weitgehend unangetastet bleiben soll,
könnte nur ein Zuwachs der Staatseinnahmen dazu beitragen, dass durch
Umverteilung von oben mehr soziale Gerechtigkeit entsteht. „Doch was
kann man verteilen“, fragt der Wirtschaftsexperte Henning Melber, „wenn es
nicht mehr gibt?“
Die anfällige Wirtschafts- und Einkommensstruktur hat die neue Regierung
von den ehemaligen Kolonialherren geerbt. Durch die Dominanz des agraischen, bzw. extraktiven Sektors, hatte die Wirtschaft in erster Linie Bedarf an
billigen, unqualifizierten Arbeitskräften. Schulische Bildung und berufstechnische Qualifikation waren nicht gefragt. Und so leidet der Aufbau einer
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weiterführenden Industrie vor allem unter dem Mangel an einheimischen
Fachkräften, aber auch unter der starken Konkurrenz durch südafrikanische
Unternehmen und der ungünstigen geographischen Lage des Randlandes.
Eine Idee mit Zukunft
Schon lange, bevor wir ihn erreichen, zeichnet sich seine Silhouette am
Horizont ab. Meine Reisebegleiter hatten Recht: Der Berg hat tatsächlich Ähnlichkeit mit dem Matterhorn. Wir sind auf dem Weg zur Spitzkoppe, dem
zweithöchsten Berg Namibias. Fast majestätisch erhebt er sich aus der Flachebene der Erongoregion am Rande der Namib. Die große Spitzkoppe erreicht
zwar eine Höhe von 1728 Metern, doch das Umland überragt sie gerade mal
um 700 Meter. Entstanden ist der Inselberg durch Intrusion: Aus dem Erdinneren stieg Magma auf, drang aber nicht an die Erdoberfläche. Im Laufe von
Millionen von Jahren wurde das Deckmaterial abgetragen, übrig blieb nur der
harte Granitkern. Malerische Gesteinsformationen und die relativ üppige
Vegetation, dazu gut erhaltene Felszeichnungen an den angrenzenden Pondok
Mountains machen das Gebiet um die Spitzkoppe zu einem beliebten Ausflugsziel.
Noch interessanter als die schöne Natur sind für mich aber die Menschen,
die hier zu Hause sind. Die Damaras, die in der kargen Wildnis recht kümmerlich von Ziegenhaltung und dem sporadischen Verkauf von Halbedelsteinen leben, haben hier eine der ersten Tourismusinitiativen der schwarzen
Landbevölkerung Namibias gestartet – und eröffneten damit der ganzen
Landbevölkerung Namibias einen kleinen Hoffnungsschimmer.
Die Damaras entdeckten das Potential, das die natürliche Schönheit der
Spitzkoppe birgt. Motiviert durch die steigende Zahl von Touristen kamen sie
auf die Idee, mit dem Tourismus etwas Geld zu verdienen. 1993 begannen sie,
am Fuß der Berge Campingplätze und Grillvorrichtungen zu bauen. Sie sammelten Feuerholz und verkauften es an die Touristen. Das Gelände wurde eingezäunt, eine Rezeption mit sanitären Anlagen und einem kleinen SouvenirLaden mit Halbedelsteinen und handgeschnitztem Holzschmuck entstand.
Daneben eine Bar, wo man das nötigste zum campen bekommen kann: Trinken, Essen, Feuerholz. Das „Spitzkoppe Community Tourism Camp“ war
geboren. „Wir sind stolz auf das, was wir hier aufgebaut haben. Und darauf,
dass die Touristen hierherkommen, um uns zu besuchen“, erzählt mir die 21jährige Annagret, eine der Mitarbeiterinnen des Camps. „Doch der Anfang
war alles andere als leicht“, fügt sie an. „Wir haben mit doppelt so vielen Leuten angefangen, doch viele von ihnen waren nicht zu motivieren, sie wollten
nicht arbeiten. Schließlich haben sie aufgegeben und sind fortgerannt. Wir
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sind dageblieben“. „Gab es Hilfe von außen?“, will ich wissen. „Wir mussten
erst etwas aufbauen, bevor uns jemand geholfen hat. Wir haben ganz ohne
Hilfe angefangen, dann kamen die Hilfsorganisationen, um uns beizustehen. Aber das meiste haben wir selbst gemacht“.
Mitte der 90er Jahre wurde die Nicht-Regierungs-Organisation „AgriFutura“, eine Partnerorganisation der Konrad-Adenauer-Stiftung, auf die Initiative aufmerksam. Man beschloss, den Damara zu helfen. Aber nicht mit
Geld, sondern mit Rat und Ausbildung. Zum Beispiel kümmert sich die
Organisation um die Vermarktung der Tourismusinitiative. Mit Faltblättern
versucht man, möglichst viele Touristen an die Spitzkoppe zu locken. Die Mitarbeiter des Projekts wurden in Buchführung, Öffentlichkeitsarbeit oder Reiseführung geschult. Sie arbeiten heute als Camp-Personal, Touristen-Führer
und Kutscher für Fahrten mit dem Eselskarren. Camp-Arbeiter bauen neue
Feuerstellen oder Toiletten und sammeln den Müll ein. So gelingt es, die
Landschaft weitgehend sauber zu halten. Das die meisten Touristen nach
wie vor weitgehend wild zelten müssen, findet Annagret nicht schlimm:
„Die meisten Touristenattraktionen, die den Weißen gehören, bieten den ganzen Luxus und was dazugehört. Hier haben wir nur einfache Dinge, und wir
werden das auch nicht ändern. Denn für uns ist das auch so eine ganz besondere Gegend. Auch die Touristen, die hierherkommen, sagen: Hier brauchen
wir keinen Luxus, weil es hier so schön ist“.
Am Eingangstor muss jeder Besucher umgerechnet drei Mark Eintritt
bezahlen, pro Auto kommen noch einmal drei Mark dazu. Die 16 bis 18 Projektmitarbeiter verdienen monatlich 350 N$, umgerechnet etwas mehr als hundert Mark. Für die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung Namibias ist das ein
kleines Vermögen. Der Rest der Einkünfte, monatlich bis zu 11.000 N$,
wird in neue Projekte investiert. Zum Beispiel werden zur Zeit mehrere
kleine Bungalows gebaut, in denen eines Tages mal die etwas empfindlicheren Touristen schlafen sollen. Ein kleiner Lastwagen wurde angeschafft,
damit die Projektmitarbeiter nicht alle Wege auf dem riesigen Gelände mit
dem Eselskarren, dem Fahrrad oder zu Fuß zurücklegen müssen. Bleibt dann
noch Geld übrig, fließt das an die „Community“, die Dorfgemeinschaft.
Damit langfristig alle Mitglieder der Gemeinde gleichermaßen am Tourismusgeschäft verdienen können, soll eines Tages mindestens einer aus jeder
Familie im Projekt mitarbeiten. Schon heute geht es der Damara-Gemeinde
besser als vielen anderen, meint Annagret. „Wenn wir das Projekt nicht hätten, sähe es nicht gut aus. Viele hier sind arbeitslos. Aber so haben die meisten Familien Geld für Essen, was zum Anziehen und sind glücklich. Also es
ist wirklich ein großer Vorteil für unsere „Community“.
„Community Based Tourism“ ist heute der feststehende Begriff für Tourismusinitiativen, wie die an der Spitzkoppe. Eine neue Form des Tourismus.
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„Community Tourism“ ermöglicht erstmals das grundlegende Recht der
Gemeinden vor Ort, aktiv am Tourismus teilzuhaben. Es sieht vor, dass die
Entwicklung der Projekte nach den Vorstellungen der dort lebenden Bevölkerung, also möglichst „innengesteuert“ erfolgt. So sollen einerseits Einheimische am Geschäft beteiligt, andererseits Impulse in der Entwicklung des
ländlichen Raums gegeben werden. „Namibia ist ein Tourismusland und der
Tourismus ist in der hiesigen Volkswirtschaft der einzige Wachstumssektor“, erklärt mir Burkhard Dobiey, Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in
Namibia. „Deshalb ist es eine wichtige Aufgabe, auch die ländliche Bevölkerung an dem wachsenden Tourismus teilhaben zu lassen, damit auch sie
ihren Nutzen daraus ziehen kann. Das ist die Idee des „Community Based
Tourism“.
Tatsächlich hat der Tourismussektor seit der Unabhängigkeit kontinuierlich
an ökonomischer Bedeutung gewonnen. Er verzeichnet jährliche Wachstumsraten zwischen 8 und 10 Prozent. Der Tourismus trägt damit entscheidend
zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes bei. Bereits jetzt nimmt er auf
der Skala der wichtigsten Wirtschaftszweige, nach Bergbau und Landwirtschaft, den dritten Platz ein. Unter den wichtigsten Devisenquellen rangiert
er nach dem Bergbau sogar schon auf Platz 2. So ist es wenig verwunderlich,
dass die Förderung des Fremdenverkehrs als hochrangiges wirtschaftspolitisches Ziel der Regierung gilt. Da Tourismus als eine eher arbeitsintensive
Industrie gilt, erhofft man sich die Schaffung von weiteren Arbeitsplätzen und
größerem Einkommen, um so eine größtmögliche direkte Beteiligung der
namibischen Gesellschaft am Wirtschaftsfaktor Tourismus zu erreichen und
regionale Einkommensunterschiede auszugleichen. Doch genau da liegt das
Problem.
Denn bisher wird die einheimische Bevölkerung in ländlichen Regionen nur
unzureichend am Tourismus beteiligt. Bis auf wenige Ausnahmen befinden sich
die touristischen Projekte und Tourismuskonzessionen in der Hand externer,
meist weißer Unternehmer. Auch das eine Folge der kolonialen Strukturen. Für die
Einheimischen beschränkt sich die Teilnahme am Tourismus auf wenige, schlecht
bezahlte Arbeitsplätze als Kellner, Koch oder Zimmermädchen in den meist
luxuriösen Tourismusbetrieben. Der Großteil der Landbevölkerung wird häufig
unvorbereitet vom Tourismus überrannt, hat keine Möglichkeit, sich anzupassen
und eigene Interessen zu vertreten. Deshalb wird nun der Versuch unternommen,
eine breite Bevölkerungsschicht in die touristischen und wirtschaftlichen Aktivitäten des Landes einzubeziehen. Der frühere Tourismusminister Gert Hanekom:
„Unglücklicherweise profitiert die ländliche Bevölkerung in vielen Fällen kaum
vom Tourismus, und Touristen haben wenig Kontakt mit der lokalen Bevölkerung.
Das könnte sich durch „Community Based Tourism“ ändern“.
Namibia
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Die Vergessenen wissen sich zu helfen
„In Namibia haben die Dorfgemeinden keinen Zugang zu Land. Wenn sie
ein kleines Geschäft aufbauen, dann haben sie das Gefühl, Kontrolle über
etwas zu haben, was besser ist, als nichts zu haben. Schon allein unter diesem
Aspekt ist „Community Based Tourism“ wichtig“. Maxi Louis sitzt in ihrem
kleinen Büro in der Liliencroner Street in Windhuk. Um sie herum ein Wust
von Papieren, überall an den Wänden Bilder von verschiedenen kleinen Tourismusunternehmen, verstreut im ganzen Land. Sie zu koordinieren und zu
vertreten ist die Aufgabe von Maxi Louis und ihren Leuten. Maxi ist die
Geschäftsführerin der Organisation „Namibia Community Based Tourism
Association“, kurz NACOBTA.
1995 kamen mehrere Gemeinden, die sich bereits im Tourismus engagierten, auf die Idee, sich selbst zu organisieren. Denn obwohl Tourismusprojekte
der lokalen Bevölkerung rapide zunahmen, gab es bis dahin keinen Austausch
unter ihnen, geschweige denn eine gemeinsame Interessenvertretung.
NACOBTA wurde gegründet, Maxi Louis mit dem Aufbau der Organisation
beauftragt. Heute arbeiten fast 10 Leute in der kleinen Zentrale in Windhuk.
Sie kümmern sich um über 40 „Community-Projects“: Campingplätze, Rest
Camps, Informationsstellen, traditionelle Dörfer, Open-air-Museen und Handwerksbetriebe. Auch einheimische Reiseführer werden von der Organisation
vertreten. Das Geld für ihre Arbeit bekommen die NACOBTA-Mitarbeiter vor
allem von der Europäischen Union, vom World Wildlife Found (WWF) und
der Schwedischen Internationalen Entwicklungsgesellschaft (Sida).
Heute bekommt Maxi Louis viele Anfragen von Gemeinden, die auf dem
Gemeindeland ein touristisches Projekt aufbauen wollen. Die Organisation
gibt ihnen dann Hilfestellung, macht einen sogenannten „business plan“.
Machbarkeitsstudien werden angefertigt, Entwicklungsstudien zum jeweiligen Gebiet und dem touristischen Umfeld erstellt. Doch die Arbeit vor Ort ist
nicht immer ganz einfach, erklärt mir Maxi: „Oft stehen lokale Politiker der
Entwicklung der Projekte im Weg. Außerdem fehlt es an Unterstützung des
privaten Tourismussektors. Manchmal gibt es ethnische Probleme: Dann
wollen Einzelne in Gemeinden, die sich aus verschiedenen Bevökerungsgruppen zusammensetzen, nur mit ihren eigenen Leuten arbeiten. Und dann
die Politik: Wenn sie unterschiedlichen Parteien angehören, dann wollen sie
nicht mit anderen zusammenarbeiten. Das sind Probleme, die zuletzt häufiger aufgetreten sind. Und das macht es sehr schwierig für uns“.
Da die Einheimischen meist keine Ahnung davon haben, wie sie ihren
Tourismusbetrieb nach außen vertreten könne, übernimmt NACOBTA die
Vermarktung der Projekte. Broschüren werden gedruckt, Anzeigen geschaltet, Hinweisschilder an den Straßen aufgestellt. Vertreter von NACOBTA prä-
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sentieren ihre Produkte auf internationalen Tourismusmessen. Zudem plant
die Organisation ein nationales Buchungssystem für die verschiedenen touristischen Aktivitäten der „Community Tourism Projects“. Außerdem versucht
NACOBTA, wichtige Kooperationen zwischen den Gemeinden und der
Regierung, dem privaten Sektor oder Entwicklungsgesellschaften herzustellen: „Meistens sind diese Leute nicht in der Lage, mit anderen zu verhandeln.
Dann übernehmen wir das für sie, als Vermittler zwischen ihnen und professionellen Partnern“.
Doch das wichtigste Ziel der „Community Tourism Organisation“, erklärt
mir Maxi, ist die Verbesserung der touristischen Ausbildung. „Bisher ist die
Ausbildung der Mitarbeiter in fast allen Betrieben unzureichend. Die Gemeinden haben keine Erfahrung damit, wie man einen Tourismusbetrieb führt.
Außerdem müssen sie verstehen: Was ist überhaupt Tourismus, und warum
kommen die Touristen eigentlich hier vorbei?“ Ingrid Klein, als Direktorin der
Namibian Academy for Tourism & Hospitality (NATH) die meiste Zeit mit
Fremdenverkehrsausbildung beschäftigt, bestätigt das größte Manko im kommunalen Tourismus: „Die Tourismusausbildung ist äußerst wichtig. Denn wir
sind abhängig vom Tourismus. Wir brauchen dringend gut ausgebildete Leute
im ganzen Tourismusbereich. Und die meisten wissen eigentlich sehr wenig
darüber, was Tourismus beinhaltet. Wir fangen bei null an. Viele kennen
noch nicht einmal die lange Kette, die am Tourismus hängt, vom Reisebüro
über die Fluggesellschaften bis zu den Hotels. Denen geht dann während der
Kurse ein Licht auf, weil sie vorher die Touristen ganz anders eingeschätzt
haben“. So steht, neben der Schulung touristischer Grundlagen, die Entwicklung eines touristischen Bewusstseins an erster Stelle der Ausbildung.
Die Verhaltensstrukturen und Erwartungshaltungen von Touristen werden
deutlich gemacht, Strategien im Umgang mit Touristen vermittelt und die Vorund Nachteile des Tourismus aufgezeigt. Da die Einheimischen meist davon
ausgehen, Tourismus bedeute schnellen Verdienst ohne entsprechende Gegenleistung, müssen unrealistische Erwartungen von den Trainern relativiert
werden.
Langfristiges Ziel von NACOBTA sei nicht, erklärt mir Maxi Louis, den
Tourismus in Namibia zu ändern. „Aber ich will erreichen, dass die Gemeinden am Tourismus in diesem Land beteiligt werden. Bisher wurden sie dabei
vergessen. Und ich will erreichen, dass sie in Zukunft daran partizipieren. Ich
habe die Hoffnung, dass die Armut in diesem Land verschwindet. Und mein
größter Wunsch ist, dass jeder am Tourismus verdienen kann und es keine
Armut mehr gibt. Dann bin ich glücklich“.
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An der zweifelhaften Quelle
„Hello, you´re welcome to fill in this form for me and pay the entrance. The
entrance is 5 per person, 5 per car and 20 for the guide. You have two different options to go: The short way or the long way…” Die junge Frau hält mir
freundlich lächelnd einen Stift entgegen, nachdem sie mir die Regeln erklärt
hat. Sie sitzt unter einem von Holzbalken getragenen Rieddach. Neben ihr
zwei andere, junge Frauen. Eine von ihnen verkauft Halbedelsteine und
Holzschmuck. Im Schatten einer kleinen Hütte gegenüber sitzen mehrere
Männer und Frauen zusammen und unterhalten sich lebhaft. Eine von ihnen
heißt – wie ich später erfahre – Cynthia. Sie wird mich gleich zu einer der
bedeutendsten Fundstellen von Felsbildern im südlichen Afrika führen.
Ich bin in Twyfwelfontein, übersetzt „zweifelhafte Quelle“. Die ältesten
Felsgravuren, die man hier fand, sind vermutlich bis zu 6.000 Jahre alt.
Andere sind wohl wesentlich jünger. Doch so genau weiß man das nicht, denn
bisher gibt es noch keine sichere Datierungsmöglichkeit für diese in den
Stein geritzten oder aufgemalten Kunstwerke. Mehr als 2.500 von ihnen findet man hier auf engstem Raum. Die häufigsten Motive sind Giraffen, Elefanten, Strauße, Zebras und Nashörner. Daneben abstrakte Menschenkörper
und schwer zu entschlüsselnde Symbole.
Der Name Twyfelfontein stammt von einem Farmer, der das Land an der
Quelle im Süden der Kunene-Region 1947 erwarb. Weil die Quelle aber so
unzuverlässig war, verkaufte er die Farm bald wieder an den Staat, der sie den
Damara als Siedlungsgebiet überließ. 1976 erwarb der Damara Elias Aro Xoagub die Farm- und Weiderechte für das seit den 60er Jahren weitgehend
unbewirtschaftete Land. Da Xaogub in dieser Zeit am Bau mehrerer Lodges
in der Gegend beteiligt war, hatte er Anfang der 80er Jahre die Idee, in der
Nähe der Felsgravuren ein Touristencamp zu errichten. 1989 bekam er –
nach mehreren vergeblichen Anläufen – als erster Schwarzer im Damaraland
die Erlaubnis für den Bau.
An den Felsgravuren entstand ein Empfangs- und Parkbereich mit Picknickplätzen, Mülltonnen, sanitären Anlagen, Souvenir-Shop und eine Informationstafel mit der Geschichte und den wichtigsten Fundplätzen der Gravuren. Die ankommenden Touristen müssen sich in ein Besucherregister
eintragen und bezahlen eine geringe Eintrittsgebühr. Die Gravuren dürfen sie
anschließend nur mit einem einheimischen Führer besuchen.
Als Ausgangspunkt für die Erkundungen in Twyfelfontein errichtete Xaogub
am linken Ufer des Aba-Huab-Trockenflusses einen Campingplatz. Im Schatten
zahlreicher Akazienbäume finden sich schöne Zeltplätze, ausgestattet mit seperaten Wasseranschlüssen, Steintischen, Sitzgelegenheiten und Feuerstellen.
Alternativ zum Zelt kann in offenen Riedhütten, den sogenannten „bashirs“,
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übernachtet werden. Im zentralen Bereich finden sich Waschgelegenheiten,
Duschen, WC´s, ein Grillplatz mit Kochstelle und Picknickplätze und eine Bar.
Bald soll es hier sogar ein kleines Restaurant geben. Wasser wird regelmäßig aus
einem Bohrloch in Tanks gepumpt und von dort über ein unterirdisches Leitungssystem zu den Zeltplätzen und den sanitären Einrichtungen geleitet.
Für den Bau erhielt Xoagub in den ersten Monaten materielle Unterstützung
durch den World Wildlife Fund (WWF) und den Save-the-Rhino-Trust (SRT).
Die Entwicklungsgesellschaften engagieren sich stark im Damaraland, da sie
hier, zusammen mit dem nördlich gelegenen Kaokoland, das größte Potential
einer touristischen Entwicklung sehen. Nach einer EU-Studie wird einer weiteren Förderung des Tourismus in dieser Region, in der übrigens auch die Spitzkoppe liegt, höchste Priorität zugewiesen.
Da seit der Eröffnung des Camps 1991 die Besucherzahl ständig anwuchs, war
Xaogub bereits nach 5 Monaten in der Lage, laufende Kosten und Gehälter selbst
zu tragen. Aba Huab ist inzwischen eins der profitabelsten Projekte dieser Art in
Namibia. Dagegen reichen für viele andere Tourism Community Camps die Einkünfte kaum aus, um die laufenden Kosten überhaupt zu decken.
18 Leute arbeiten heute im Camp und 17 als Touristenführer an den Felsgravuren. Die meisten von ihnen stammen von Nachbarfarmen oder der 100 km entfernten Stadt Khorixas. Die jungen Leute waren vorher meist arbeitslos oder
haben auf den Farmen ihrer Eltern mitgearbeitet. Die Monatsgehälter der CampMitarbeiter liegen bei etwa 200 N$, zusätzlich bekommen sie freie Mahlzeiten.
Ihr Grundeinkommen liegt damit nur geringfügig unter den Gehältern, die in privaten Lodges gezahlt werden. Die meisten Touristenführer bei den Felsgravuren
erhalten kein festes Gehalt, sondern bekommen eine Gebühr für jeden Rundgang.
Und natürlich das Trinkgeld. „Es ist schwer, in unserer Region eine Arbeit zu finden“, sagt Cynthia, die Reiseführerin. „In meinem Ort gibt es keine andere
Arbeit. Das hier ist sehr wichtig für mich, auch wenn es nur für drei Monate ist“.
Die 19-jährige stammt aus Khorixas, einer trostlosen 7.000-Einwohner Stadt in
der Kunene-Region. Sie hat gerade ihre Schule beendet und sucht nun nach
Arbeit. Elias Aro Xoagub gab ihr die Chance, ein paar Monate in Twyfelfontein
zu arbeiten. Eine alte Führerin hat ihr dann die Gravuren und Felszeichnungen
erklärt, die sie jetzt wiederum den Touristen erklären soll. Nach drei Monaten
muss sie wieder gehen. Dann soll der nächste die Möglichkeit bekommen, Geld
zu verdienen. „Wenn ich zurückgehe“, sagt sie, „werde ich wohl wieder zu
Hause bleiben müssen. Ich werde es zwar versuchen, aber ich finde keine
Arbeit. Dies ist der einzige Job, den ich finden konnte“.
Doch trotz der positiven Effekte gibt es auch kritische Stimmen zu dem Projekt. Schließlich geht der Ertrag hier zunächst nur an eine einzelne Person, und
nicht – wie an der Spitzkoppe – an eine ganze „Community“. Meist knüpfen
lokale und internationale Hilfsorganisationen ihre Unterstützung an die Bedin-
Namibia
Markus Mörchen
gung, dass der Nutzen eines geplanten Projektes der gesamten Dorfgemeinschaft
zugute kommt. Doch die Tatsache, dass einzelne Personen stärker von „Community-Projects“ profitieren, steht dem Ziel einer „community participation“
nicht zwingend entgegen. Denn auch von Initiativen wie in Twyfelfontein können ganze Familien leben. Außerdem interessieren sich die Gemeinden oft erst
dann für den Tourismus, wenn ein Einzelner ihnen vorgemacht hat, das man
damit Geld verdienen kann. Zudem ist es schwierig, so haben die Erfahrungen
bei vielen ähnlichen Projekten gezeigt, die individuellen Interessen der Bewohner dorfähnlicher Gemeinden oder weit verstreuter Farmen in den Planungsprozess zu integrieren.
Bisher allerdings gehen die positiven Effekte des „Community Based Tourism“
kaum über das unmittelbare Umfeld der Projekte hinaus. Das Ziel der Regierung,
eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den ländlichen
Regionen zu erreichen, ist noch weit entfernt. Doch der Tourismus in diesen
Regionen ist ausbaufähig, sagt Burkhard Dobiey von der Konrad-Adenauer-Stiftung: „Es gibt ein gewisses Segment von Touristen, die nicht unbedingt in
Afrika nur in Herbergen der ersten Welt leben wollen. Da liegen Potentiale“. Vor
allem deshalb, da „Community Tourism Projects“ Arbeitsplätze ausgerechnet
dort entstehen lassen, wo sie aufgrund fehlender Infrastruktur, mangelnder
Marktnähe und daraus resultierenden hohen Transportkosten, auf andere Weise
nur schwerlich geschaffen werden könnten. So bietet der kommunale Tourismus
in vielen Fällen – zumindest für die direkt involvierten Einheimischen – eine
wirtschaftliche Alternative zur Weidewirtschaft, oder zumindest eine Ergänzung
der lokalen Wirtschaftsstruktur.
Ein anderes Ziel hat die Regierung schon jetzt erreicht: Sie fördert den kommunalen Tourismus, um das ökologische Bewusstsein der lokalen Bevölkerung
zu schärfen und eine entsprechende Verhaltensänderung herbeizuführen. Die Einsicht: Ohne die Partizipation der Einheimischen bleiben die Naturschutzmaßnahmen langfristig ohne Erfolg. „Tatsächlich“, sagt Maxi Louis von NACOBTA,
„hat der Tourismus einen positiven Einfluss auf die Bewahrung natürlicher
Ressourcen wie Natur und Tier: Da hat sich schon einiges getan: Wenn sie in den
Nordwesten fahren, dann sehen sie, dass sich der Tierbestand in den letzten Jahren deutlich erhöht hat. Und zwar deshalb, weil die lokale Bevölkerung nun selbst
auf diese natürlichen Ressourcen achtet“.
Julia Morgenthaler
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Ghana
vom 30. Juni bis 28. September 1999
Ghana
„Give me your money“ Ghanas sozioökonomische Probleme
16 Jahre nach der Strukturanpassung
Von Julia Morgenthaler
Ghana vom 30. Juni bis 28. September 1999,
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
Julia Morgenthaler
Ghana
Julia Morgenthaler
Inhalt
Zur Person
Der alltägliche Kampf um Geld
Das „wirtschaftliche Gesundungsprogramm“
Aufschwung?
Privatisierung
Perspektive eines Taxifahrers
Soziale Sicherheit?
Bildung und das System der erweiterten Familie
Landwirtschaft
Bergbau
Holz
Strom und Wasser
Von Zukunftsträumen und der Realität
327
Julia Morgenthaler
Ghana
Zur Person
Julia Morgenthaler, geboren am 04. September 1973 in Hagen, studierte
Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum
und an der Kansas State University. Seit 1993 freie Mitarbeit bei der Westfalenpost. Diverse Praktika beim ZDF und bei verschiedenen TV-Produktionsfirmen. Stipendien für Programme in den USA und in Finnland. Nach dem Studium
mit der Heinz-Kühn-Stiftung in Ghana.
Der alltägliche Kampf um Geld
Der Platz umfasst ungefähr zehn Hektar – das entspricht ziemlich genau der
Größe von vierzehn Fußballfeldern. Er eröffnet mir das wohl farbenprächtigste Durcheinander, das ich je gesehen habe: Hühnerfüße, überdimensionale
Schnecken, Schrauben, Unterwäsche, Seife, Uhren – und in dem Tumult
befindet sich doch jedes einzelne Teil an seinem gewohnten Standort. Lebensmittel hier, Werkzeuge dort, Elektrogeräte an der nächsten Ecke. Zwischendrin wimmelt es von Menschen, die hektisch ihren Verkaufsgeschäften nachgehen. Der „Central Market“ in Kumasi sprengt jegliche Vorstellung von dem,
was ein Markt bedeuten kann – an Fläche, an Angebot, an Leben. Ein Fortkommen scheint beinahe aussichtslos – Stehenbleiben, um sich Orientierung zu verschaffen, erst recht. Unendlich langsam schiebe ich mich mit dem
Strom der Menschenmasse durch die schmalen Gänge. Ein süßer, schwerer
Geruch liegt in der Luft; es ist sehr schwül. Als ich versuche, mich in dem
Getümmel zurechtzufinden, mache ich Bekanntschaft mit der offenen und
herzlichen Mentalität der Ghanaer. Die Leute zeichnen sich durch eine Hilfsbereitschaft aus, die mir in diesem Ausmaß zuvor noch nicht begegnet ist.
Viele lächeln, winken und grüßen. Bei genauerem Hinsehen fallen jedoch
auch tiefe Sorgenfalten auf den ansonsten so fröhlichen Gesichtern auf. Trotz
ihrer freundlichen Art können die eifrigen Händler ihre bedrückte Stimmung
nicht verbergen. Verzweifelt versuchen sie ihre Waren loszuwerden. Dabei
feilschen sie um jeden Pfennig, um das lebenswichtige Kleingeld für die nächsten Tage mit nach Hause zu bringen. „I make a special price for you. Buy
something from me. Give me your money“, sind wohl die Standardsätze, mit
denen sie versuchen, dem Käufer so viel Bares wie möglich aus der Tasche zu
ziehen.
Ada-Foah verkörpert das genaue Gegenteil von dem unruhigen Bild, das der
Zentralmarkt in Kumasi bietet. Das kleine Dorf am Fuße der Voltamündung zieht
seine Besucher in erster Linie während der Wochenenden an. Werktags ist es eher
ruhig. An jenem Montag morgen, als ich mich im Dorf umschaue, ist weit und
Ghana
Julia Morgenthaler
breit kaum ein Mensch zu sehen. Nur hin und wieder begegnen mir ein paar
Frauen, die kilometerweit schwere Töpfe oder Säcke auf ihren Köpfen schleppen. Plötzlich taucht eine Schar Kinder auf, die mir mit ausgestreckten Armen
hinterherlaufen. Dabei rufen sie mir mit einer bewundernswerten Ausdauer
immer wieder denselben Spruch zu: „Hello, hello, give me money. Give me your
money“. Offensichtlich die einzigen Worte, die sie auf Englisch beherrschen.
Morgens gegen 7:30 Uhr stehen die Autos auf Accras Straßen Stoßstange
an Stoßstange. Durch die heruntergekurbelten Scheiben dringen die Abgase
ohne Umwege zu mir ins Taxi herein. Für zahllose Körperbehinderte und fliegende Händler, unter ihnen etliche Kinder, bedeutet der dichte, sich nur
millimeterweise vorwärtsbewegende Verkehr die Haupteinnahmequelle des
Tages. Unter der grauen Emissionswolke zwängen sie sich zwischen den
Autos hindurch, laufen von Fenster zu Fenster und bieten von der Orange über
Turnschuhe bis hin zum Toilettenpapier ihre Ware feil oder betteln einfach um
ein paar Cedis. Ohne das Wort auszusprechen, machen sie mir unmissverständlich klar, was sie wollen: „Money“.
Das „wirtschaftliche Gesundungsprogramm“
Die „kleinen Leute“ auf Ghanas Straßen scheuen keine Mühen, um die nötigen Pfennige zusammenzukratzen, die sie brauchen, um sich über Wasser zu
halten. Die Politiker sind in dieser Hinsicht nicht viel anders: Die Regierung,
allen voran Präsident Rawlings, verbiegt sich so weit es eben geht, um von den
internationalen Geldgebern im Norden/Westen finanzielle Streicheleinheiten
zu erhalten. Seit mittlerweile 16 Jahren hängt das Land am Tropf der Bretton
Woods-Geschwister in Washington: Im Jahr 1983 führten der Internationale
Währungsfond (IWF) und die Weltbank ein „wirtschaftliches Gesundungsprogramm“ (Economic Recovery Programme) ein.
Als Ghana 1957 als erste der britischen Kronkolonien unabhängig wurde,
verfügte es als der „Black Star“ Afrikas über eine vergleichsweise gute Sozialstruktur. Politische und wirtschaftliche Fehlentwicklungen führten jedoch
in den 60er Jahren zu einem wirtschaftlichen Niedergang, der sich unaufhaltsam fortsetzte und zu Beginn der 80er Jahre seinen Tiefpunkt erreichte.
Das Land hatte mit schweren Ölkrisen, einer Jahrhundertdürre, stark fallenden Kakaopreisen (zwischen 1977 und 1982 um 62 Prozent) und einem
Rückgang der Exporterlöse zu kämpfen. Hinzu kamen die anhaltende Hochzinspolitik der USA, hohe Inflationsraten, sowie zunehmende Korruption im
Land, die für ein explosionsartiges Hochschnellen der Schulden mitverantwortlich waren. Als Nigeria Anfang der 80er Jahre auch noch 1,5 Millionen
Ghanaer auswies, fehlten Ghana selbst die elementarsten Grundbedürfnisse
329
Julia Morgenthaler
Ghana
wie Elektrizität, sauberes Wasser und freier Bildungszugang. In dieser Krisensituation verhießen die großzügigen Kredite des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank die letzte Rettung.
Allerdings gingen die Finanzexperten aus Washington nur unter einer
Bedingung auf das Ansuchen der ghanaischen Regierung um Hilfe ein:
Grundvoraussetzung war das „Economic Recovery Programme“, das sie
1983 zusammen mit der ghanaischen Regierung initiierten. Die Ziele des
sogenannten Strukturanpassungsprogramms waren klar definiert: Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit, Sanierung der Staatsfinanzen und ein
anhaltendes Wirtschaftswachstum. Die Rechnung war einfach. Die Strukturreform beinhaltet folgende Maßnahmen: Senkung staatlicher Ausgaben und
Subventionen (die Kürzungen betrafen in erster Linie den Sozialbereich),
Abwertung und Freigabe des Wechselkurses, Steigerung der Exportwirtschaft, Liberalisierung des Handels, Privatisierung der Staatsbetriebe und Zahlungsaufschub für die Schulden.
Die Prognosen der Kreditgeber waren eindeutig: Setzt das Strukturanpassungsprogramm um und es wird dem Land bald besser gehen. Seit mittlerweile 16 Jahren führt die Regierung jeden ökonomischen Schritt, jeden fiskalischen Zug auf Anweisung des Internationalen Währungsfonds und der
Weltbank aus. Wegen der strikten Umsetzung der Vorgaben aus Washington
wurde Ghana sogar als „Musterschüler“ bezeichnet.
Die Weltbankexperten sind sich einig, dass durch die von ihnen installierten Programme gesundheitliche Probleme eingeschränkt wurden und Nahrungsmittel, Wasserversorgung und sanitäre Dienste auch den ärmsten der
Bevölkerung zugute kamen. Das Pro-Kopf-Einkommen stieg von 1985 bis
1994 jährlich real um 1,4 Prozent und lag 1998 bei rund 450 US Dollar. 1999
betrug das Mindesteinkommen 2,10 DM pro Tag. Außerdem hat Ghana, auf
Geheiß des IWF, Ende 1998 im zweiten Versuch endlich die Mehrwertsteuer
(Value Added Tax, VAT) eingeführt. Damit werden langfristig – im Vergleich
zu den früheren „Sales Tax“ und „Services Tax“ – deutlich steigende Steuereinnahmen erwartet. Kurzfristig wurden diese Hoffnungen jedoch enttäuscht:
In den ersten drei Monaten des Jahres 1999 beliefen sich die VAT-Einnahmen
lediglich auf 16 Prozent, der für das gesamte Jahr veranschlagten 2,158
Milliarden US Dollar. Obwohl der bis 1991 anhaltende kurzfristige Aufschwung der Wirtschaft in den vergangenen Jahren insgesamt stagnierte,
dürften die internationalen Geldgeber für das Jahr 1999 mit der makro-ökonomischen Entwicklung ihres westafrikanischen Zöglings noch weitgehend
einverstanden sein: Die verfügbaren Statistiken der jüngsten Vergangenheit
zeigen das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 4,6 Prozent, die minimale Abwertung des Cedi und die Inflationsrate von 9,4 Prozent Ende Mai
1999, die innerhalb von zwölf Monaten um 13 Prozent gesunken war.
Ghana
Julia Morgenthaler
Aufschwung?
Ghana gilt also als das Musterland der Politik des Internationalen Währungsfonds. Es mag dahingestellt bleiben, wie es Togos westlichem Nachbarn
ohne die tatkräftige Unterstützung der internationalen Kreditgeber ergangen
wäre. Dennoch werden die Erfolge der Strukturanpassung offensichtlich
nicht an der Qualität des Gesundheitssystems, des Ausbildungswesens und der
Lebenssituation der Menschen gemessen, sondern daran, inwieweit der Staat
seine Schulden zurückbezahlt.
Was hinter den makroökonomischen Konzepten meist verborgen bleibt,
sind die realen Lebensbedingungen der Menschen. Hinter jedem Strukturanpassungsprogramm steht die Erwartung, dass bei anhaltendem Wirtschaftswachstum irgendwann einmal die gesamte Bevölkerung profitieren
wird. Doch selbst bei einem zur Zeit nicht erreichten Wirtschaftswachstum
von fünf Prozent jährlich hätte – laut Weltbankprognose – die ghanaische
Bevölkerung frühestens in 50 Jahren eine Chance, die absolute Armutsgrenze zu überwinden.
1995 lebten 43 Prozent der ländlichen und 27 Prozent der städtischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. 15 Prozent sahen sich nicht einmal in der
Lage, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Besonders in den ländlichen Savannengebieten (Upper East, Upper West, Northern Region) ist die Armut überproportional stark ausgeprägt.
Das Wirtschaftswachstum ist also bei weitem nicht robust genug, um sich der
hohen Armut im Land entgegenzustellen und den Lebensstandard des Großteils
der Ghanaer zu verbessern. Sogar die moderate Erholung der vergangenen
Jahre ist durch exogene Faktoren wie Dürren und Überflutungen bedroht, die
durch El Nino verursacht werden. Auch die fallenden Warenpreise – als ein
Resultat der schwachen globalen Nachfrage, die mit der Asienkrise in Verbindung gebracht wird – stellen einen Unsicherheitsfaktor dar.
Zwar ist das Bruttoinlandsprodukt gewachsen, 16 Jahre Strukturanpassung
haben sich jedoch noch nicht auf den Geldbeutel des Durchschnittghanaers
ausgewirkt. Im Gegenteil: In fast allen Bereichen ist es zu einer Verschlechterung
der sozialen Leistungen gekommen. Das Strukturanpassungsprogramm führte
zunächst zu einer astronomischen Teuerungsrate von rund 20 Prozent jährlich.
Außerdem stieg die Arbeitslosenquote drastisch an; derzeit liegt sie bei über 20
Prozent. 80 bis 90 Prozent der jungen Ghanaer finden keine feste Anstellung.
Und Arbeitslosengeld gibt es in Ghana natürlich nicht. Viele Jugendliche enden
deshalb in der Kriminalität oder Drogenabhängigkeit. Auch Mangel- und Fehlernährung nahmen mit der Strukturanpassung zu. In Zahlen: 1988 waren 8 Prozent der Kinder akut unterernährt, bis 1992 wuchs diese Zahl um die Häfte auf
12 Prozent an.
Julia Morgenthaler
Ghana
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
kam 1996 zu dem Schluss, dass immer noch zahlreiche sozio-ökonomische Probleme in der Entwicklung des Landes bestehen: Die ghanaische Volkswirtschaft wird auch weiterhin durch unzureichende infrastrukturelle Ausstattung im
Bereich des Transportsystems, der Telekommunikation, der Energieversorgung,
der Wasserversorgung; durch geringe Produktivität der Landwirtschaft; durch
unzureichende Qualifikation bei vielen Beschäftigten, sowie durch die zu
geringe Ausstattung sozialer Dienstleistungen (städtische und ländliche Wasserversorgung, Bildung, Gesundheit, Abfallentsorgung der wachsenden Städte)
bestimmt.
Privatisierung
Eines der Hauptanliegen der Strukturreform ist die Sanierung des öffentlichen Sektors, genauer gesagt die Privatisierung sogenannter unproduktiver
Staatsbetriebe. Aus volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten klingt das durchaus
plausibel. Zahlreiche Tätigkeiten im öffentlichen Bereich sollen abgeschafft
und die Arbeitnehmer im privaten Sektor wiederbeschäftigt werden. Da in den
Augen von IWF und Weltbank so ziemlich jeder Staatsbetrieb unproduktiv ist,
bedeutet dies fast ausnahmslose Privatisierung. Tatsächlich hat die Regierung
bereits etliche staatseigene Unternehmen dichtgemacht, ohne Rücksicht auf die
Arbeitnehmer. Zwar sind auch „freie Wirtschaftszonen“ geschaffen worden,
um Privatinvestitionen zu fördern. Dennoch hat die Sache einen Haken: Die ausländischen Investoren bleiben dem Land fern und die Privatisierung verläuft nur
äußerst schleppend. Bis 1990 wurden erst 34 von 235 Unternehmen privatisiert.
Traurige Statistiken beweisen, dass zwischen 1985 und 1990 über 89 Prozent der
235.000 Jobs verlorengingen. Da es kein soziales Netz gibt, das über eine Sozialversicherung funktioniert, haben die Entlassenen keine Einnahmen mehr. Als
Konsequenz der Restrukturierungsaktion können die Bretton Woods-Strategen
also wachsende Arbeitslosigkeit mit einem jährlich größer werdenden Verlust an
sozialer und ökonomischer Sicherheit verbuchen.
Auch Nyako ist von den Privatisierungsmaßnahmen nicht verschont geblieben.
Er dürfte ungefähr 60 Jahre alt sein. Seit 1996 verdient er sein Geld als Taxifahrer
am Industriestandort Tema. Früher hat er 20 Jahre in Ghanas größtem Hafen in
Tema gearbeitet. Schon in den 60er Jahren hat er angefangen in der staatlichen
Werft Boote zu bauen, hat sich mühsam bis zum Manager hinaufgearbeitet.
Zwischendurch war er in Finnland, Dublin und Nigeria stationiert. „Ich habe weit
über 100 Schiffe angefertigt. Für ein Boot brauchte ich 15 bis 18 Monate“,
berichtet Nyako mit leuchtenden Augen. Im Jahre 1989 hat die Regierung
jedoch beschlossen, diesen Industriezweig stillzulegen und zu privatisieren. Als
Ghana
Julia Morgenthaler
Folge wurden 250 Mitarbeiter entlassen. Darunter auch Nyako. Nyako ist verzweifelt und enttäuscht. Er versteht die Welt nicht mehr, die Politiker erst recht
nicht: „Nicht nur die Werft, sondern auch etliche andere staatliche Industriezweige sind von der Regierung nach und nach geschlossen worden. Das ist einfach von ein paar Politikern bestimmt worden und nun müssen zahlreiche
Arbeitnehmer darunter leiden“. In Temas Hafen, dem größten an der westafrikanischen Küste, schaukeln unzählige internationale und heimische Ozeanriesen im Takt der Wellen. Heute wird dort kein einziges Boot mehr von ghanaischen Unternehmern angefertigt. In der Werft werden lediglich noch einige
reparaturfällige Kähne von ghanaischer Hand geflickt. Den Schiffsbau haben
jetzt ausländische Firmen übernommen. Und die können Nyako nicht gebrauchen.
Perspektive eines Taxifahrers
Von den Versprechen der Washingtoner Wirtschaftsexperten hat Francis
„schon mal was gehört“ – gemerkt hat er vom Aufschwung allerdings noch nicht
besonders viel. Francis ist Taxifahrer in Accra. Für umgerechnet 3,50 DM fährt
er mich eine gute Stunde durch die ghanaische Hauptstadt, bis zum Büro des
Daily Graphic, der größten Tageszeitung im Land. Gut 20 DM muss er pro Tag
an den Taxiunternehmer abliefern. Hinzu kommen kleinere Reparaturen und
Benzin aus eigener Tasche. Die Einnahmen, die 20 DM täglich überschreiten,
darf er behalten. Außerdem erhält er etwa 62 DM monatliches Einkommen. Das
ist nicht viel, wenn man bedenkt, dass seine Unterkunft – ohne Strom und Wasser – allein etwa 15 DM im Monat kostet. Hinzu kommt, dass die Miete in Ghana
in der Regel zwei bis drei Jahre – teilweise sogar fünf Jahre – im voraus gezahlt
werden muss. Francis weiß nicht, wie er das schaffen soll. Er ist 40 Jahre alt, hat
eine 30jährige Frau und zwei Kinder im Alter von sieben und zehn Jahren. Seine
Frau erwartet in drei Monaten das dritte Baby. An Schulgeld muss Francis 100
Mark pro Term, also alle drei Monate, zahlen. „Der Arbeitsmarkt in Ghana ist
wirklich schlecht. Die Lebenssituation ist verheerend“, macht Francis seinen
Sorgen Luft. Die Strecke, die er fährt um den schlimmsten Verkehr zu umgehen
und so schnell wie möglich wieder für den nächsten Fahrgast frei zu sein, offenbart die Armut des Landes auf einen Blick. Der unasphaltierte, schlammige Weg
steht zur Hälfte unter Wasser. Geschickt versucht Francis die Schlaglöcher zu
umschiffen. Überall liegt Müll herum, darunter auch Plastiktüten mit Kot der
Bewohner aus den umliegenden Häusern. Bei einer besonders großen Unebenheit schlägt die Karosserie des Wagens hart auf den Boden. An Francis beklommenem Gesichtsausdruck kann ich seine Gedanken ablesen: „Hoffentlich ist
nichts kaputt gegangen, sonst muss der Wagen teuer repariert werden“. Die Fahrt
Julia Morgenthaler
Ghana
ist mühsam, das klapprige Taxi mit der zersplitterten Windschutzscheibe quält
sich nur langsam voran. Die Gelegenheit nutzen ein paar Straßenarbeiter, um
durch das Autofenster um Geld zu betteln. Francis setzt den Wagen zurück, um
einen zweiten Anschwung für ein besonders tiefes Schlammloch zu nehmen.
Geschafft.
Gerade als wir endlich wieder eine asphaltierte Straße unter den Rädern
haben, werde ich Zeuge eines Frontalunfalls: Einer der zahlreichen Kleinbusse,
die Ghanas Verkehrswege unter dem Namen „Trotro“ unsicher machen, fährt mit
voller Geschwindigkeit gegen einen Strommasten. Der schwere Pfosten stürzt
um, schlägt der Länge nach auf den vollbesetzten Wagen. Die Insassen zwängen
sich panikartig aus Türen und Fenstern – verletzt ist glücklicherweise niemand.
Die Passagiere sind mit dem Schrecken davon gekommen, hatten Glück im
Unglück. Nicht selten füllen derartige Unfälle die Titelseiten der großen Tageszeitungen. Regelmäßig wird dabei von Verletzten oder Toten gesprochen. Die
ausrangierten Klapperkisten, die meist mit japanischem Markenzeichen durch
die Gegend fahren und fachmännisch bepackt Platz für 18 Personen bieten, sind
mindestens in demselben miserablen Zustand wie die meisten ghanaischen
Straßen. Francis fährt kopfschüttelnd weiter. „Ich würde so gerne einmal sehen,
wie die Straßen in Deutschland aussehen“, wünscht sich der freundliche Taxifahrer. „Aber das werde ich in meinem Leben wohl nie schaffen. Deshalb bete
ich dafür, dass es einem meiner Kinder eines Tages gelingen wird nach Deutschland zu fahren. Ich habe gehört, dort bekommen sogar die Arbeitslosen Geld...?“
Soziale Sicherheit?
Nana ist Häuptling in Aseseeso. In dieser Rolle ist er unter anderem dafür
verantwortlich, Konflikte zwischen Dorfbewohnern zu schlichten und ihnen
bei anderen Schwierigkeiten aus der Patsche zu helfen. Das ist jedoch „nur“
sein Wochenendjob. Unter der Woche leitet Nana ein Straßenbauunternehmen.
Nicht ohne Stolz berichtet er, dass die neue Straße im Norden zwischen Bolgatanga und Tamale unter anderem seiner Initiative zu verdanken ist. Früher
hat der Stammesführer viele Jahre in London studiert. Aseseeso, das kleine
Dorf in dem er regiert, liegt in den Bergen der Region Greater Accra, etwa
anderthalb Autostunden von Accra entfernt. Rund 400 Einwohner haben hier
ihr Zuhause. Als ich Nana in seiner Hütte aufsuche, um mich ordnungsgemäß
als neuer Gast vorzustellen, machen mich ein paar Kinder darauf aufmerksam,
dass ich an der Eingangstür die Schuhe abstreifen soll. Das ist ungeschriebenes Gesetz. Genauso wie das lange Beinkleid – und bloß nicht die Beine
überkreuzen wenn der Häuptling zugegen ist. Ich versuche, all diese Regeln
zu beherzigen, bevor ich Nana traditionsgemäß die Flasche Schnaps über-
Ghana
Julia Morgenthaler
reiche, die ich im Gepäck habe und die schnell ihren Weg unter den Tisch findet – zu den drei übrigen Flaschen mit demselben Etikett. Im Raum sitzen
noch weitere Dorfbewohner, teilweise Mitglieder der Königsfamilie. Als ich
den Häuptling zu den Statistiken von Internationalem Währungsfond und
Weltbank befrage, wird der ansonsten sehr geduldig und verständnisvoll wirkende Mann beinahe ärgerlich. Von diesen Zahlen hält er nicht viel. Ich solle
mich bloß nicht davon blenden lassen. Diese Statistiken seien sowieso verdreht
und würden die reale Situation des Landes in keiner Weise widerspiegeln.
„Viele Menschen im Dorf wissen nicht, wovon sie leben sollen, merken
nichts vom Aufschwung“, erzählt Nana. In diesem Moment unterbricht ein
Klopfen an der Tür das Gespräch. Wie zur Bestätigung seiner Worte betritt
eine alte Frau den Raum und bittet den Häuptling um Geld für etwas Brot. Die
83-jährige ist hungrig, sie hat den ganzen Tag noch nichts gegessen. Nana
zückt sein Portemonnaie und gibt ihr 3,50 Mark – das reicht für die nächsten
Tage, um satt zu werden. Der Gang zum Häuptling ist für die abgemagerte
Frau die einzige Möglichkeit an ein paar Mark für Lebensmittel zu kommen.
Ein soziales Netz kann sich Ghana nicht leisten – trotz Strukturanpassung.
Oder gerade deswegen?
Auch wer krank wird und behandelt werden muss hat meist schlechte Karten. Auffallend oft begegnen mir in Ghana Menschen mit nur einem Auge,
fehlenden Fingern oder missgebildeten Beinen. Bei vielen dieser Krankheiten hätten bei rechtzeitiger Behandlung gute Heilungschancen bestanden.
Aber Medikamente, Krankenhausaufenthalte oder gar eine Operation sind für
viel zu viele Menschen schlichtweg unbezahlbar. Oft stellt schon die Entfernung zur medizinischen Versorgung ein schwieriges Problem dar. Sowohl
Ärzte als auch die gesundheitliche Infrastruktur sind städteorientiert. Nur 50
Prozent der auf dem Land lebenden Einwohner haben Zugang zu medizinischer Versorgung und nur drei Prozent der ländlichen Haushalte leben in
Kommunen, in denen ein Arzt zugegen ist. Deshalb hat Nana auch in Krankheitsfällen schon mehr als einmal mit den sauer verdienten Scheinchen aus
seiner eigenen Tasche ausgeholfen.
In Aseseeso verdienen sich die meisten Familien ihren Lebensunterhalt mit
der Landwirtschaft, aber die Ernte reicht gerade mal für vier Monate des Jahres. Sie bringt nicht das nötige Geld für Schule, Kleidung, Fahrgeld und
andere Dinge des täglichen Lebens. Selbst Hacken, Buschmesser und Saatgut werden immer teurer. Einige Menschen gehen barfuß aufs Feld, weil sie
sich nicht einmal für 1,50 DM ein Paar Schlappen leisten können.
Immerhin sind die Häuser in Aseseeso aus Stein, das ist verglichen mit den
Lehmhütten, die es besonders im Norden des Landes noch häufig gibt, schon
recht komfortabel. Wie sieht so ein schlichtes Steinhaus wohl von innen
aus? Die meisten Gemäuer sind leer, es gibt so gut wie keine Einrichtungs-
Julia Morgenthaler
Ghana
gegenstände darin. Oft liegen nur eine dünne Schlafmatte und ein paar Kleidungsstücke auf dem Boden. Unvorstellbar, dass diese winzige Schaumstoffmatte häufig sechs oder sieben Kindern einen Schlafplatz bietet.
Bildung und das System der erweiterten Familie
Im Zuge der Strukturanpassung muss die Rawlings-Regierung einen harten
Sparkurs fahren. Sparkurs bedeutete in erster Linie, die Ausgaben für den Bildungs- und Sozialbereich zurückzufahren. Für die Menschen in Ghana ist deshalb die „extended family“ die einzige soziale Sicherheit. Bei diesem System
werden die besserverdienenden Familienmitglieder zur Kasse gebeten, wenn ihre
Angehörigen sich nicht selber versorgen können. Die Familie dient als Institution, die den einzelnen Familienmitgliedern zu jeder Zeit sozialen Schutz
gewährleistet. Traditionsgemäß nehmen insbesondere alte und kranke, oder von
sozialer Isolierung betroffene Verwandte diese Hilfe in Anspruch.
Von dem System der erweiterten Familie kann auch Comfort ein Liedchen singen, die natürlich zu allererst für ihre eigenen Kinder sorgen muss. Für ihre drei
schulpflichtigen Nachkommen muss die Grundschullehrerin aus Bolgatanga pro
Quartal 850 DM Schulgeld berappen. Bildung wird immer teurer, Schulbücher
und -hefte sind schierer Luxus. Das zeigen die rückläufigen Einschulungsraten
und die Alphabetisierungsrate von 47,9 Prozent im Jahre 1997 nur allzu deutlich.
Mittlerweile gibt es mehr Analphabeten als vor 20 bis 40 Jahren. Gründe dafür
sind das hohe Schulgeld und der Bedarf an Kinderarbeit zur Sicherung des Einkommens. Viele Familien, insbesondere auf den Dörfern, schicken ihre Kinder
nicht in die Schule, weil das einfach zu teuer ist. 30 Prozent der Kinder in
Ghana besuchen nicht einmal eine Grundschule, ein Großteil davon sind Mädchen. Mit steigender Schulbildung nimmt die Anzahl der Jugendlichen, die
eine Schule besuchen, ab. Der Nachwuchs soll lieber im Haus helfen. Insbesondere die Mädchen sind wertvoll. Sie sollen möglichst früh verheiratet werden,
denn bei der Hochzeit muss die Familie des Bräutigams der Familie der Braut
Rinder, Ziegen, Hühner oder andere Naturalien schenken – das verlangt die Tradition. Die Anzahl und Art der Präsente variieren je nach Ansehen und Rang der
Familie. „Meine Nichte ist mit ihren gerade 15 Jahren schon seit über zwölf
Monaten verheiratet und hat eine Tochter. Sie stellt sicher keine Ausnahme
dar“, berichtet meine Freundin Gifty.
Comfort muss, neben ihren eigenen Kindern, auch die Familie ihres Schwagers durchfüttern. Schuld an dieser nicht gerade unerheblichen Belastung ist das
System der erweiterten Familie. Für sie bedeutet das, fünf weitere Mäuler zu stopfen und drei weiteren Kindern das beinahe unerschwingliche Schulgeld zu
bezahlen – die Familie ihres Schwagers ist nicht gerade klein. Comfort ist über
Ghana
Julia Morgenthaler
diese Situation nicht besonders glücklich, dennoch bleibt ihr keine andere Wahl:
„Wenn ich es nicht tun würde, würden mich die Leute ächten und denken, ich
wäre eine böse Frau“, erklärt sie und beugt sich ihrem Schicksal.
Landwirtschaft
Wenden wir uns ab, von den negativen Einzelschicksalen, und den positiven
Dingen zu, die zur Verbesserung in der Wirtschaft beitragen: Dem natürlichen
Potential des Landes, das in erster Linie in der Landwirtschaft, dem Bergbau, der
Forstwirtschaft, sowie dem Wasserkraftpotential des Voltastausees liegt. Vom
Export der wichtigsten traditionellen Güter Kakao, Gold und Holz bleibt das
Land bis heute abhängig.
Leider ist auch bei den Devisenbringern nicht alles Gold was glänzt. Zwar
gelang es Ghana durch die Strukturanpassungsmaßnahmen das internationale
Ansehen zu verbessern, doch es zeigten sich auch bald negative Folgen: Der Staat
fuhr ziemlich einspurig auf der Schiene der Exportförderung und schränkte seine
Ausgaben für die Landwirtschaft ein. Die Folge war abzusehen: Die landwirtschaftliche Produktion fiel zurück. Ausnahmen bilden lediglich so exportorientierte Produkte wie Kakao und Kaffee.
Das Entwicklungsland Ghana ist nach wie vor agrarisch geprägt. Die Landwirtschaft beschäftigt noch heute mehr als zwei Drittel der arbeitenden Bevölkerung und ist damit der wichtigste Wirtschaftszweig. 1998 steuerte sie mehr als
40 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt und rund 50 Prozent zu den Exporterlösen bei.
Bei einer Bustour von der Küstenstadt Accra zur burkinischen Grenze fällt mir
auf, dass die Fahrt quer durch das Land nur an sehr wenigen großen Feldern vorbeiführt. Die Erklärung dafür ist einfach: Die ghanaische Landwirtschaft ist überwiegend kleinbäuerlich geprägt. Die meisten Bauern sind Subsistenzbauern, versorgen sich in der Hauptsache selbst und bewirtschaften durchschnittlich nur
knapp 7 Hektar Land. Die Farmer produzieren hauptsächlich Grundnahrungsmittel wie Mais, Reis, Hirse, Cassava, Yams, Maniok, Kochbananen, Obst und
Gemüse für sich und verkaufen lediglich, was übrig bleibt.
Die wichtigste Pflanze ist und bleibt aber der Kakao. Das braune Genussmittel wird auf der Hälfte der agrarisch genutzten Fläche angebaut und bietet rund einem Viertel der Erwerbsbevölkerung Beschäftigung. Innerhalb
weniger Jahrzehnte wurde Ghana zum größten Kakaoproduzenten der Welt.
1936 steuerte das Land 40 Prozent zum Gesamtertrag bei. Mehr als 40 Jahre
blieb Ghana Marktführer. Mittlerweile belegt es hinter der Elfenbeinküste den
zweiten Rang. Die bittere Kakaobohne in süße Cedis zu verwandeln, bedeutet harte Arbeit für die ganze Familie. Nachdem die reifen Früchte vom
Julia Morgenthaler
Ghana
Baum geerntet sind, werden sie im Dorf getrocknet, zur Stadt gefahren und
dort in 33-Kilo-Säcke für den Transport abgefüllt.
Schon zu Zeiten der Kolonialisierung versorgte das Land, damals noch
unter dem Namen Goldküste, Europa mit Rohstoffen, wie beispielsweise,
Kakao für seine Luxusindustrie. Eigens für den Export legten die Bewohner
damals etliche Kakao-, Zuckerrohr-, Kaffee-, Tee- und Kautschukplantagen
an. Auch heute noch werden die unverarbeiteten Erzeugnisse ins Ausland verkauft, zurück kommen dann die gleichen Produkte – allerdings in Form von
Schokolade, Würfelzucker, Instant-Kaffee oder Autoreifen. Natürlich sind die
fertig abgepackten Endprodukte viel teuer als die unverarbeiteten Rohstoffe.
Dieses Paradoxum ist immer noch die stärkste Bremse für den ghanaischen
Fortschritt. Statt die kostspieligen Endprodukte selbst herzustellen, werden die
profitablen Bereiche der Wertschöpfungskette dem Ausland überlassen, weil
sich keine Investoren finden. Damit bleibt die Wirtschaft von den volatilen
Weltmarktpreisen für Agrarprodukte abhängig. 1998 führte Ghana 375.707
Tonnen Kakao zu einem Preis von 628,6 Millionen US Dollar aus – und
erzielte damit das beste Ergebnis seit 22 Jahren. Mit 27 Prozent steht der Rohstoff Kakao im Export hinter Gold an zweiter Stelle. Obwohl die Ernte
gegenüber den Vorjahren kräftig gewachsen ist, erhöhte sich der Exporterlös
nicht. Schuld daran sind die negativen Preisschwankungen auf dem Weltmarkt, die nicht zuletzt auf den scharfen Preisverfall im Zusammenhang mit
der Ostasienkrise 1997/98 zurückzuführen sind. Die Kakaopreise fielen in den
letzten Jahren tief in den Keller. Von Januar bis Juni 1999 schrumpften sie um
22 Prozent. Als Folge verlor Ghana innerhalb eines Jahres rund 5 Milliarden
Cedis Exporteinkünfte – die Einnahmen sanken von 49,9 Milliarden Cedis
Anfang 1998 auf 44 Milliarden Cedis Anfang 1999. Die Abhängigkeit von
den Bedingungen des sogenannt freien Marktes erlaubt den kleinen Subsistenzbauern keinerlei Bewegungsspielraum. Im Gegenteil: Sie müssen sich
brav fügen und hängen wie Marionetten an den Fänden der ganz Großen.
Bergbau
Nach der Landwirtschaft ist der Bergbau der zweitwichtigste Motor für die
ghanaische Wirtschaft. In den letzten Jahren schnellten die Wachstumsraten
in die Höhe: Ungefähr 30 Prozent der Gesamteinnahmen stammen aus diesem
Bereich. Dabei ging 1998 der Löwenanteil von 95,9 Prozent, mit einer
Summe von 687,8 Millionen US Dollar, auf das Konto des Devisenbringers
Nummer eins: Gold. Die übrigen 4,1 Prozent der Mineralienexporteinkünfte
brachten Diamanten, Bauxit und Mangan. Nicht zufällig wurde Ghana bis
1957 Goldküste genannt.
Ghana
Julia Morgenthaler
Der Goldbergbau befindet sich ganz überwiegend in den Händen ausländischer Konzerne. Auch die „Ashanti Goldfields Company Limited“ (AGC),
eine der reichsten und größten Goldminen der Welt, ging Mitte der 90er
Jahre zu 70 Prozent in ausländisches Privateigentum über. Bis 1994 war der
ghanaische Staat mit 55 Prozent noch Mehrheitseigner an AGC, von der
über 80 Prozent der ghanaischen Gesamteinnahmen stammten. 1995 löste der
britische Minenkonzern Lonroh den Staat als Mehrheitseigner ab und übernahm 55 Prozent der Anteile. Die dem Staat verbleibenden 20 Prozent lassen
entsprechend weniger Gewinne in die Staatskassen fließen.
Die „Ashanti Goldfields Company Limited“ ist in Obuasi angesiedelt.
Seit über hundert Jahren operiert die profitable Einzelgoldmine in diesem
Gebiet. Obuasi, 85 Kilometer südwestlich von der Ashanti-Hauptstadt Kumasi
gelegen, erhebt den Anspruch, die reichste ghanaische Stadt zu sein. Das sieht
man ihr allerdings nicht an. Selbst bei genauem Hinsehen lässt sich weder
Luxus noch Reichtum erkennen – abgesehen von den Villen, die meist von
Weißen bewohnt werden und sich außerhalb des Stadtzentrums befinden. Der
Anblick, der sich dem Besucher im Stadtkern bietet, weist vielmehr auf Notstand und Armut hin. Bei strömendem Regen fallen mir die katastrophalen
Verkehrswege besonders auf – die schlechtesten Straßen Ghanas haben ihren
Zustand nicht zuletzt den gigantischen Maschinen zu verdanken, die tagtäglich in Richtung Goldmine über sie hinwegrollen. Die überquellenden
Abflussrinnen und die heruntergekommenen Häuser im Stadtzentrum tragen
das Übrige zu dem desolaten Stadtbild bei.
Schon vor langer Zeit hat die ghanaische Regierung ein Gesetz erlassen, das
AGC erlaubt, den Boden nach dem begehrten Edelmetall zu durchforsten.
Werden die Goldsucher fündig, bedeutet das Pech für die Familien, die mit
ihren Hütten den wertvollen Grund blockieren. Das Unternehmen ist nämlich
befugt, die „Störenfriede“ kurzerhand umzuquartieren und für den Verlust
ihrer Heimat zu entschädigen. Die Unternehmer der AGC lassen sich deshalb
keine Chance entgehen und schreiten tatkräftig voran: In den umliegenden
Gebieten von Obuasi hat die „Ashanti Goldfields Company Limited“ bereits
weite Teile landwirtschaftlicher Anbaufläche und Wald gekauft. Im Tagebau
werden riesige Areale für die Goldgewinnung umgepflügt, ohne Rücksicht auf
Einzelschicksale. „Teilweise mussten ganze Dörfer umgesiedelt werden.
Aber den Menschen werden attraktive, neue Heime bereitgestellt, von denen
die meisten sogar viel besser in Schuss sind als die alten Häuser. Von den
Pflanzen, die bei den Ausgrabungen zerstört werden, bewahren wir einige
Exemplare auf und pflanzen sie dann später wieder neu“, verspricht Osei, PRMitarbeiter bei AGC. Ob die Umsiedler, deren Familienstrukturen durch den
Umzug zerrissen werden, wohl ähnlich denken?
Julia Morgenthaler
Ghana
Sobald Geld im Spiel ist, werden auch die guten Vorsätze in Sachen Umweltschutz schnell über den Haufen geworfen. Die riesigen Planierraupen versetzen
buchstäblich Berge, vernichten landwirtschaftliche Anbauflächen und Waldboden. Große Mengen an Quecksilber, das zur Trennung des Metalls eingesetzt
wird, sickern ungehindert ins Grundwasser und gefährden die Lebensgrundlage
der umliegenden Dörfer. Die versprochenen Kontrollen fallen aus. Ähnlich verhält sich die Lage im Norden des Landes. Nicht zuletzt der Goldrausch kleiner
privater Goldgräber und -wäscher in den Tongo-Bergen, nahe Bolgatanga,
hinterlässt tiefgreifende ökologische Schäden: Tausende Ghanaer graben dort
tiefe Stollen in den trockenen Lehmboden. Für die Fruchtbarkeit der Landschaft bedeutet dies das „Aus“. Dabei bringt das Goldschürfen nicht selten
anstelle der ersehnten Nuggets nur Krankheiten, Invalidität und manchmal sogar
den frühen Tod.
Hinzu kommt noch ein weiteres Debakel: Genau wie der Kakaopreis kippte
auch der Goldpreis in der Zeit von Januar bis Juni 1999 um 12 Prozent auf ein
Rekordtief von rund 250 US Dollar pro Feinunze, da das Gold seine Bedeutung
als Instrument zur Währungssicherung eingebüßt hat. Die zum Teil bereits
durchgeführten oder geplanten Goldverkäufe der Bank of England, der Schweizer Nationalbank und des Internationalen Währungsfonds, gepaart mit dem
anhaltenden russischen Goldausverkauf, haben insbesondere Ghana hart getroffen. Mit einem Goldpreis von 250 US Dollar pro Feinunze rentiert sich der Goldabbau bald nicht mehr. Verheerende Folge: Bei einer Produktionssteigerung
um 34 Prozent gegenüber dem Vorjahr, verschlechterte sich die Ertragslage des
Goldriesen „Ashanti Goldfields Company Limited“ so drastisch, dass der Konzern im Sommer 1999 über 2.000 Mitarbeiter entlassen musste. Kleinere Minen
stehen vor der vollständigen Schließung.
Holz
Ghana ist nach wie vor arm. Da Holz die dringend benötigten Devisen bringt,
wird es verkauft. Daran wird sich wohl auch in Zukunft nicht viel ändern. Der
externe Druck, die Schulden schnell abzahlen zu müssen, setzt das Land unter
Zugzwang alle natürlichen Ressourcen anzuzapfen. Auch die Holzindustrie bildet dabei keine Ausnahme. Und das, obwohl traurige Statistiken von Ghanas
Forstwirtschaftsdepartement belegen, dass nur noch etwa zwei Millionen Hektar des tropischen Regenwaldes übriggeblieben sind. Das sind etwa 25 Prozent
des ursprünglichen Bestandes. Über 70 Prozent der einst 8,22 Millionen Hektar
sind mittlerweile abgeholzt und in die Ferne transportiert worden. 1998 brachten die Exporteinnahmen aus der Holzkasse 171 Millionen US Dollar, das sind
etwa 11 Prozent vom gesamten Exportumsatz.
Ghana
Julia Morgenthaler
Insbesondere in den Regionen Brong-Ahafo, Westghana und Ashanti sind die
großen Holzfirmen ansässig. Dort begegnen mir immer wieder die schweren Sattelschlepper, die drei gewaltige Baumstämme bis zu den Sägewerken hinter sich
herziehen, um sie dort für den Export zu präparieren.
Hauptabnehmer der teueren Edelhölzer ist die Bundesrepublik Deutschland.
Vielleicht um das schlechte Gewissen dafür zu beruhigen, dass die deutsche
Industrienation an dem immer magerer werdenden Bestand der beeindruckenden Urwaldriesen eine nicht unerhebliche Teilschuld trägt, werden eifrig Entwicklungshelfer nach Ghana geschickt, die den tropischen Regenwald wieder
aufforsten sollen.
Einer, der von den reichen Holzressourcen des Landes und der Liberalisierung
des Handels als Folge des Strukturanpassungsprogramms offensichtlich profitiert, ist Gobby. Der Liberianer ist Direktor der Holzfirma „Prima Woods Limited“. Jährlich verarbeitet seine Firma etwa 2000 Bäume von 40 verschiedenen
Holzarten aus dem ganzen Land. Und das seit mittlerweile rund 40 Jahren. In dieser Zeit ist die Firma auf 500 Mitarbeiter angewachsen. „In der Holzindustrie in
Ghana sind rund 60 000 Menschen beschäftigt, aber ca. 2-3 Millionen weitere
Arbeitsplätze sind indirekt damit verbunden“, berichtet der Holzunternehmer.
„Außerdem werden mit dem Abtransport der Bäume aus den Wäldern auch
Lebensmittel in die kleinen Dörfer außerhalb transportiert. So haben auch die
Menschen in den abgelegenen Waldsiedlungen etwas davon.“
Aufgrund des Umweltschutzes darf der Liberianer heute allerdings verschiedene Holzarten nicht mehr exportieren. Genauso ist es verboten, unverarbeitetes Rohholz zu verschiffen. Darüber hinaus wurden bestimmte Forstgebiete zu
Schutzgebieten erklärt. Diese Vorschriften werden jedoch augenscheinlich nicht
allzu ernst genommen. Trotz dieser Maßnahmen hat der Raubbau am Regenwald
dazu geführt, dass bei Fortführung der Rekordeinschlagquoten von 1993/94, laut
einer Prognose des Ministeriums für Land- und Forstwirtschaft, die Mehrheit der
Tropenhölzer in zehn Jahren unwiederbringlich verschwunden sein wird.
Unter der „wirtschaftlichen Gesundung“ müssen also sowohl das Ökosystem,
als auch die Bevölkerung leiden. Die Regierung zahlt einen hohen Preis für die
finanziellen Zuschüsse des IWF: Die Entwicklung der Infrastruktur muss hinter den Bedürfnissen des Weltmarktes – z.B. Straßenbau für die Vermarktung von
Tropenholz – zurückstehen. Die Befriedigung von Grundbedürfnissen der Menschen ist allenfalls ein Nebeneffekt.
Strom und Wasser
Adwoa arbeitet in einem Kommunikationszentrum in Accra. Sie stammt aus
einem kleinen Dorf in der Nähe von Keta, an der Küste der Volta-Region.
Julia Morgenthaler
Ghana
Jeden Monat schickt sie ihrer Mutter 20 Mark. Mit dem Geld kommt die alte
Frau über die Runden, bis sie von ihrer Tochter die nächste Rate erhält. „Die
Leute in meinem Dorf brauchen nicht viel zu kaufen, sie pflanzen die meisten Dinge, die sie zum Leben brauchen, selbst an“, erklärt Adwoa nüchtern.
Wasser holen die Menschen nicht selten aus dem Fluss. Zwar existiert eine
Wasserstelle, das bedeutet aber noch lange nicht, dass es auch immer Wasser
gibt. Deshalb müssen die Dorfbewohner oft etliche Kilometer bis zum nächsten Fluss zurücklegen. Meist sind es Frauen, die sich lange vor Einbruch der
Dämmerung auf den Weg machen, um das lebensnotwendige Nass zu holen
und es eimerweise auf dem Kopf zu ihren Hütten zurückzutragen. Jeden Tag
dasselbe Spiel. Der Frage, ob das Wasser sauber genug sei, weicht Adwoa aus.
„Die Menschen sind es gewohnt es zu trinken“. Bisher ist der Zugang zu
„sicherem“ Wasser nur 35 Prozent der ländlichen Bevölkerung vorbehalten.
Nicht nur sauberes Trinkwasser ist Mangelware, auch Elektrizität ist für viele
Ghanaer schierer Luxus. Häufig dienen Kerosinlampen als Lichtquellen.
Obwohl, dank der Kredite von IWF und Weltbank, mittlerweile auch viele
kleinere Dörfer mit sogenannten „Basis lines“ verbunden sind – die dafür notwendige Technologie stellten übrigens europäische Firmen, das Geld floss also
gleich wieder in die Geberländer zurück – nutzen viele Menschen das Angebot aus finanziellen Gründen nicht. Und viele, die es sich leisten können, müssen dennoch in die Röhre gucken, weil ihnen Stromausfälle regelmäßig einen
Strich durch die Rechnung machen.
Dabei sollte der Volta-Damm gerade bei diesem Problem Abhilfe schaffen. Der
Staudamm in Akosombo ist das bei weitem teuerste Industrieprojekt, das Ghana
jemals auf die Beine gestellt hat. Kostenpunkt: 1,8 Milliarden Mark. Außerdem
mussten etwa 100 000 Menschen aus 670 Dörfern ein neues zu Hause finden.
Der damalige Präsident Kwame Nkrumah, der die „Gold Coast“ 1957 in die
Unabhängigkeit führte, rechtfertigte das gewaltige Vorhaben mit zahlreichen
Argumenten: Gesicherte Trinkwasserversorgung, verschiedene, vom Staudamm
profitierende Wirtschaftszweige, Bewässerung, Fischerei, Transport und vor
allem Stromerzeugung. 1961 wurde der erste Spatenstich vollzogen. Vier Jahre
später waren alle drei Teilprojekte abgeschlossen: Der 135 Meter hohe, 670 Meter
lange Staudamm nebst Kraftwerk in Akosombo, die große Aluminiumfabrik in
Tema und der moderne Hochseehafen, ebenfalls in Tema. Außerdem kann sich
Ghana nunmehr als stolzer Besitzer des größten künstlichen Stausees der Welt
bezeichnen, der eine Fläche von 8500 Quadratkilometern aufweist und sich von
Akosombo 400 Kilometer gen Norden erstreckt.
Seit den 60er Jahren ist der Voltastausee die einzige Energiequelle für das
ganze Land. Der größte Teil, der mit Wasserkraft erzeugten Elektrizität, geht an
die Aluminiumschmelze der „Volta Aluminium Company“ (VALCO), die von
„Kaiser Aluminium“ aus den USA kontrolliert wird.
Ghana
Julia Morgenthaler
Ghana produziert sogar so viel Strom, dass jährlich noch 1060 Megawatt in die
Nachbarländer Togo und Benin exportiert werden. Für Bares versteht sich.
Dabei wird in Kauf genommen, dass der Bedarf im eigenen Land zu kurz
kommt. So begann das Jahr 1998 mit einem Schock: Zwar hatten Experten seit
Jahren vor den Folgen der übermäßigen Wasserentnahme aus dem AkosomboStausee gewarnt. Trotzdem trafen plötzliche Stromabschaltungen Regierung,
Wirtschaft und Bevölkerung gleichermaßen überraschend. Die Stromproduktion
musste drastisch reduziert werden, weil der Wasserstand des Sees einen bedrohlichen Tiefstand erreicht hatte. Die Versorgung deckte gerade noch 50 Prozent
des Bedarfs. Die Energiekrise dauerte bis zur zweiten Jahreshälfte an.
Zwar ist die schlimmste Krise überwunden, trotzdem gehören Stromausfälle
immer noch zur Tagesordnung. Die Industrie klagt, die Bevölkerung schimpft.
Das einst als überdimensioniert beschimpfte Staudammprojekt erweist sich
mittlerweile als unzureichend für das Land. Seit den 60er Jahren nahm Ghanas
Energieverbrauch erheblich zu, der Bedarf wächst jährlich um etwa 13 Prozent.
Das hängt einerseits mit der wachsenden Bevölkerung zusammen: Als der Staudamm im Januar 1966 eingeweiht wurde, zählte das Land nur sechs Millionen
Einwohner, heute sind es mehr als dreimal so viele. Andererseits schlägt sich
auch das Wetter auf die Energieversorgung nieder: El Nino ist dafür verantwortlich, dass der Voltastausee langsam austrocknet und nicht mehr genügend
Wasser für die Stromerzeugung enthält.
Von Zukunftsträumen und der Realität
Zu Beginn des nächsten Jahrtausends will Ghanas Regierung einen langjährigen Traum verwirklichen: Die „Vision 2020“. Unter diesem Motto soll das
Land in den kommenden zwanzig Jahren die Schwelle zur sogenannten „MiddleIncome-Society“ überwinden. Doch bis dieses Ziel erreicht ist, muss noch ein
weiter Weg zurückgelegt werden. Realistisch betrachtet, müsste das Wirtschaftswachstum die 8-Prozent-Marke jährlich übersteigen und die Exportwirtschaft müsste um 10-12 Prozent im Jahr anwachsen, mit einer Verdoppelungsrate alle 6-7 Jahre. Grundvoraussetzungen dafür sind, nach Auffassung
verschiedener Wirtschaftswissenschaftler und Politiker, eine Diversifizierung der
Waren und Leistungen, die die ghanaische Wirtschaft wettbewerbsfähiger
machen soll, sowie der Zugang zu Technik und Bildung als zentrale Bedingungen, um Effektivität und Produktivität im Land anzukurbeln.
Bislang zeichnen sich jedoch andere entwicklungspolitische Prioritäten ab, die
sich in der Ausgabenpolitik des Staates widerspiegeln: In Accra werden beispielsweise Schnellstraßen gebaut, während gleichzeitig tausende von Kleingewerbetreibenden durch die Zerstörung ihrer Kioske buchstäblich auf der Straße
Julia Morgenthaler
Ghana
stehen. Dazu passt, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft. Eine dünne Elite bereichert sich schamlos und die Masse der
Bevölkerung wird immer ärmer. Während die spärlichen Einkommen breiter
Bevölkerungsschichten weiter sinken, wird der Zugang zu Bildungs- und
Gesundheitseinrichtungen für die meisten Ghanaer immer unerschwinglicher.
Allein die Tatsache, dass Ghanas Bevölkerungswachstum noch immer über
drei Prozent beträgt, und die Einwohnerzahl im Jahre 2020 voraussichtlich auf
36 Millionen anwachsen wird, lässt die „Vision 2020“ unwirklich erscheinen.
Der Gedanke daran, wie die Nation in nicht allzu ferner Zukunft den Sprung
aus der Kategorie der Entwicklungsländer bewerkstelligen soll, lässt mich insbesondere auf der Fahrt von der Küstenstadt Takoradi nach Accra nicht los. Eingepfercht in den übervollen Bus, der vom Standard der deutschen Pendants weit
entfernt ist, starre ich aus dem offenen Fenster. Der Ausblick, der sich bietet,
offenbart nicht gerade Vielversprechendes: Ohne Haltepunkte rauscht der Omnibus an den unscheinbaren Dörfern vorbei, die sich teils aus Lehmhütten, teils aus
heruntergekommenen Bretterbuden zusammensetzen. Auch für die Menschen,
die dort leben, gibt es keine Haltepunkte. Sie hausen in ärmsten Verhältnissen.
Meist sind es Frauen, die an der Straße sitzen und geduldig darauf warten, dass
sie durch den Verkauf von ein paar Eiern oder Broten etwas Geld mit nach Hause
bringen. Hinter ihnen liegen auf dem aufgeweichten Boden am Wegrand immer
wieder Wäschestücke zum Trocknen in der heißen Mittagssonne. Zwischendurch
rennen ein paar abgemagerte Ziegen umher. Mir wird klarer denn je zuvor, dass
die Maßstäbe der westeuropäischen, „heilen Welt“ hier keine Gültigkeit besitzen.
Wie soll es dieser arme westafrikanische Staat – dem es, wohl bemerkt, noch
um einiges besser geht als seinen Nachbarn – schaffen, sein Gesicht zu verändern? Um die Hürde „Entwicklungsland“ zu passieren, müssen nicht nur der
Lebensstandard und die Wohnsituation bei dem Gros der Bevölkerung verbessert werden, sondern geht es in erster Linie darum, das Bewusstsein der Menschen zu entwickeln – durch Bildung und Erziehung auf jeder Bevölkerungsebene.
Allein mit einer Strukturreformen ist dies offensichtlich nicht getan. Was
haben 16 Jahre Strukturanpassung bewirkt? Die Darlehen riefen einen Kreislauf
von noch höherer Zins- und Umweltbelastung, sowie größerer Armut hervor.
Ghanas wichtigste, natürliche Ressourcen werden derart rücksichtslos ausgebeutet, dass sich ein baldiges Ende des tropischen Regenwaldes längst angekündigt hat.
Die Reform gleicht also eher der Quadratur des Kreises: Die umfangreichen
Kredite, mit denen die Zahlungsunfähigkeit abgewendet wurde, haben die
Schulden auf das Dreifache anwachsen lassen. Die Konsequenz: Wo die hohen
Schuldenberge abgetragen werden müssen, produzieren der Staat und die Menschen vorwiegend für den Export statt ihre eigenen Lebensbedürfnisse abzusi-
Ghana
Julia Morgenthaler
chern. Falls der, von vielen Menschenrechtlern befürwortete, Schuldenerlass für
die ärmsten Länder der Welt wirklich kommen sollte, führen die neu gebauten
Straßen vielleicht irgendwann nicht mehr zu den Goldminen, sondern erreichen
die Menschen in ihren abgelegenen Dörfern.
Natürlich lassen sich nach 16 Jahren Strukturanpassung auch Erfolgsgeschichten festhalten, von Menschen, die vom Aufschwung profitiert haben:
Tropenholzhändler, Kakaoplantagenbesitzer, Beschäftigte im Goldbergbau.
Doch die Fragen lauten: Wie viele sind es? Und wie viele leiden immer noch?
Werden sich die Maßnahmen der Strukturanpassung eines Tages für alle Ghanaer
rentieren? Was hat sich für die Masse der Bevölkerung verändert?
Die Bilanz: In den Krisenjahren vor 1983 herrschte eine große Knappheit.
Damals, als das Land kurz vor dem Bankrott stand, waren Benzin, Seife, Stoff,
buchstäblich alles zur Mangelware geworden. Die Reformen haben dazu geführt,
dass die Geschäfte heute mit Waren gefüllt sind, die sich die meisten Menschen
nicht leisten können. Die Grundschullehrerin Comfort bringt die Sache auf den
Punkt: „Im Großen und Ganzen hat sich die Situation verbessert. Früher mussten
die Menschen für etwas zu essen sehr lange anstehen – das war wie im Krieg.
Viele bekamen gar nichts mehr ab, weil in den Läden einfach nicht genug vorrätig war. Heute gibt es wenigstens genug zu kaufen – wenn die Leute nur das
nötige Kleingeld haben. Das große Problem ist jetzt die Armut“.
Medase
Meinen herzlichen Dank möchte ich an die Heinz-Kühn-Stiftung richten,
die mir diesen ebenso wichtigen, wie interessanten Aufenthalt in Ghana ermöglicht hat. Insbesondere Frau Op de Hipt war als ständige und hilfreiche Ansprechpartnerin unentbehrlich. Ein ganz besonderes Dankeschön gilt auch den Mitarbeitern der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ghana, in erster Linie Herrn und Frau
Schellschmidt, die mich vor Ort bestens betreut haben und mir in jeder Situation
tatkräftig zur Seite standen. Medase!
Natalja Mukasejewa
aus Usbekistan
Stipendien-Aufenthalt in
Deutschland
vom 09. Juli bis 04. November 1999
Deutschland
Natalja Mukasejewa
„Deutschland und Usbekistan, heute und morgen“
Natalja Mukasejewa aus Usbekistan
Deutschland, vom 09.07. bis 04.11.1999,
betreut von der Heinz-Kühn-Stiftung
Deutschland
Natalja Mukasejewa
Inhalt
Zur Person
Die Ankunft
Die Hospitanz
Danke
351
Natalja Mukasejewa
Deutschland
Zur Person
Natalja Mukasejewa, geboren am 29. Dezember 1970 in Taschkent, Usbekistan, studierte Germanistik, Russisch, russische und ausländische Literatur.
Nach dem Studium arbeitete sie 3 Jahre als Deutschlehrerin an einer städtischen Mittelschule. Seit 1997 ist sie als Redakteurin, Übersetzerin und Moderatorin in der deutschen Abteilung von Radio Taschkent International tätig.
Die Ankunft
Vor fast vier Monaten bin ich in Deutschland angekommen. Ich erinnere
mich bis in die kleinsten Einzelheiten an mein erstes Treffen mit Frau Op de
Hipt, sowie an die Fahrt mit dem Auto nach Düsseldorf. Ich verliebte mich auf
den ersten Blick in diese wunderbare Stadt mit ihren kleinen Gehsteigen und
Gassen, gepflegten Vorgärten und sehr netten Menschen.
Aber einige Tage später musste ich nach Köln, wo mir Praktika beim WDR
und bei der Deutschen Welle bevorstanden. Mit der Ankunft in dieser Stadt
wechselte mein Alltag zunächst einmal seine Farbe von rosa in grau. Die
ersten Tage schienen mir finster und langweilig. Alles war für mich neu und
ungewohnt. Und mit der Zeit habe ich verstanden: Wenn man von Düsseldorf
sofort beeindruckt ist, muss man sich an Köln erst einmal gewöhnen! Doch
mit der Zeit gefiel es mir sehr, abends in der Umgebung vom Kölner Dom zu
bummeln und die Künstler, die wunderschöne Bilder auf den Boden malen,
zu beobachten. Nie vergesse ich meine Eindrücke von meinem ersten Besuch
des Kölner Doms: Herrliche Buntglasfenster, geheimnisvolles Blinken der
Kerzen im Halbdunkel, die versöhnlichen Gesichter der Menschen….. Der
Dom ist wahrlich das Heiligtum, der Stolz dieser Stadt. Und wenn ich heute
auf die Zeit zurückblicke, werde ich ein wenig traurig. Ich habe die Deutschen
und Deutschland besser kennengelernt. Ja, die Deutschen sind ein wenig
zugeknöpft, aber trotzdem sehr herzlich. Und noch etwas fiel mir auf, auch
wenn ich damit vielleicht ein Stereotyp zerstöre: Auch die Deutschen können
sich verspäten!
Die Hospitanz
Die Zeit meiner Hospitanz war sehr interessant und vielschichtig: Zuerst im
Studio Köln (WDR 2), dann im Funkhaus Europa (WDR 5) und zum Schluss
in der russischen Redaktion der Deutschen Welle. Auf diese Weise hatte ich
wunderbare Möglichkeiten, Menschen aus unterschiedlichen Nationen ken-
Deutschland
Natalja Mukasejewa
nenzulernen und Freundschaften zu schließen. Heute kann ich sagen, dass die
ersten drei Wochen, die ich im Studio Köln verbrachte, besonders wichtig und
nützlich für die Weiterentwicklung meiner Sprachkenntnisse waren. Während
der Redaktionskonferenzen, im Studio, oder der WDR-Kantine fing ich jedes
Wort auf, vielleicht, weil ich in erster Linie Philologin bin. Selbstverständlich
waren die Nachrichten und Verkehrsmeldungen vom Studio Köln sehr spannend und interessant für mich.
Anfang August, eine neue Umgebung, eine neue Lernstätte: Funkhaus
Europa – kosmopolitisches Radio für Nordrhein Westfalen. Hier arbeiten
Menschen aus unterschiedlichen Nationen: Deutsche, Franzosen, Italiener,
Serben, Kurden…… Sie alle sind so verschieden: Jedes Volk hat seine besondere Mimik, Gestik, seine eigene Art sich zu kleiden. Mit diesen Tagen verbinde ich heute auch etwas sehr buntes, vielschichtiges und angenehmes. Das
Praktikum beim Funkhaus Europa war vor allem sehr interessant für mich,
weil die Themen aus ganz verschiedenen Bereichen geschöpft wurden: Ferienjobs und Pflegeversicherung, Schulsystem und Mode, Bücher und Boxen,
Arbeitsrecht und Autokauf….. Die Liste ist beliebig erweiterbar. Wichtige Fragen der deutschen Innenpolitik werden aus europäischen Blickwinkeln
betrachtet: Wie bewertet man die Doppelpass-Diskussion in der Türkei? Welche Erfahrungen haben andere Länder mit dem Umbau des Gesundheitssystems?
Ich bemerkte, dass in den Programmen der Musik große Aufmerksamkeit
geschenkt wird. Modern, multikulturell, aus allen Kontinenten kommend:
Leichte, übermütige afrikanische und französische Lieder, leidenschaftliche
spanische und hinreissende türkische Melodien, und am ersten Tag der Hospitanz habe ich sogar ein Lied von der populären, usbekischen Sängerin Juldus Usmanowa gehört, die bei den Hörern unseres Senders sehr beliebt ist. Es
war wirklich sehr angenehm. Und dann erlebte ich noch eine Überraschung:
Zu meiner größten Verwunderung habe ich erfahren, dass es in Köln-Ehrenfeld eine ganz besondere Wohngemeinschaft, eine WG-Europa gibt. Hier
leben schon seit einem Jahr sechs junge Leute aus Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland, Polen und Irland zusammen. Voraussetzung dafür ist,
dass die jungen Leute den Journalisten des Senders jederzeit Zutritt zu ihrer
Wohngemeinschaft gewähren. Es werden zahlreiche Reportagen und Berichte
zu ganz verschiedenen Themen aus der WG produziert: Sport, Politik, Sex,
und, und, und…… Übrigens habe ich einige von diesen jungen Leuten kennengelernt: Sie sind gesellig und sehr selbstständig. Gerade das unterscheidet sie wahrscheinlich von ihren usbekischen Altersgenossen. Unsere Jungen
und Mädchen sind nicht so selbstständig. Ziemlich spät erst verlassen sie ihr
Elternhaus. Und einige, besonders Jungen moslemischer Herkunft, bleiben im
Elternhaus, selbst wenn sie ihre eigenen Familien gegründet haben. Ver-
Natalja Mukasejewa
Deutschland
wandtschaftliche Bande spielen eine große Rolle in unserer Gesellschaft.
Orient bleibt eben Orient!
Die letzte Station meiner Hospitanz war die russische Redaktion der Deutschen Welle. Ich brachte aus Usbekistan eine klare Vorstellung von dieser
Radiostation mit, weil ihre deutsch- und russischsprachigen Sendungen sehr
populär bei uns sind. Unter meinen Freunden und Bekannten gibt es auch
viele Stammhörer dieses Senders.
Das Credo der Deutschen Welle ist folgendes: Die Informationen und die
Kommentare nicht vermischen, nicht belehren und Meinungen nicht aufzwingen. Die Konsequenzen ziehen die Hörer selbst. Nach diesem Prinzip
werden hier nicht nur die Nachrichten, sondern auch alle Radiomagazine produziert. Die Deutsche Welle ist ein Auslandsdienst. Ihr Ziel ist, die Menschen
aus der ganzen Welt mit dem Leben in Deutschland bekannt zu machen.
Grundsätzlich unterscheidet sich der Arbeits- und Produktionsprozess nicht
so sehr von dem unsrigen. Radio Taschkent International arbeitet auch in dieser Richtung.
Danke
Ich muss bekennen, dass die Zeit in Deutschland sicher eine der anstrengendsten, aber auch spannendsten Lebensperioden für mich war. Das kann
man wahrscheinlich nur mit der letzten Prüfungsperiode an der Hochschule
vergleichen. Aber ich habe viel gelernt und viel erfahren. Besten Dank meinen Redaktionskollegen, die immer so wohlwollend, hilfsbereit und freundlich waren!
Danke sagen möchte ich auch allen Kollegen vom WDR 2 und WDR 5,
sowie Anne Lührs, die mich alle so herzlich und freundlich aufgenommen
haben. Und vor allem vielen Dank an Frau Erdmuthe Op de Hipt und an die
Heinz-Kühn-Stiftung.
Ilija Nikolovski
aus Makedonien
Stipendien-Aufenthalt in
Deutschland
vom 31. August 1999 bis 17. Februar 2000
Deutschland
Deutschland? Ja, danke!
Ilija Nikolovski aus Makedonien
Deutschland, vom 31.08.1999 bis 17.02.2000,
betreut von der Heinz-Kühn-Stiftung
Ilija Nikolowski
Deutschland
Ilija Nikolowski
Inhalt
Zur Person
Ein neues Motto, und wie es dazu kam
Danke
361
Ilija Nikolowski
Deutschland
Zur Person
Ilija Nikolovski, geboren am 10. Januar 1974, arbeitet seit 1993 als freier Journalist für eine Studentenzeitschrift in seiner Heimatstadt Skopje, seit 1994 auch
für verschiedene andere Zeitungen und Magazine; seit August 1996 ebenfalls
beim makedonischen Radio und Fernsehen. Im Rahmen seines Stipendiumaufenthalts der Heinz-Kühn-Stiftung absolvierte er ein zweimonatiges Praktikum in
der makedonischen Redaktion der Deutschen Welle in Köln.
Ein neues Motto, und wie es dazu kam
Es gibt keinen Menschen, der nicht träumen will und der nicht einen Zweck
in seinem Leben sucht. Jeder von uns hofft, dass er alles in seinem Leben erreichen kann. Manche möchten viel Geld und manche möchten Erfolg in ihrer Karriere. Wenn mich jemand fragte, was ich will, ohne Zweifel würde ich laut
sagen: „Erfolg in meiner Karriere“.
Als ich Kind war, wollte ich keinesfalls Journalist werden. Ich wollte als
Schauspieler, Sänger oder Rechtsanwalt arbeiten. Als ich mehr durch das Abenteuer, genannt „Leben“, über mich erfahren hatte, habe ich gelernt, dass Journalismus der Bereich ist, in dem ich das Beste von mir geben kann. Ich habe
keine Probleme beim Schreiben, und dabei gesehen, dass hier mein Talent liegt.
Vor 7 Jahren begann meine Journalistenkarriere. Mein erstes Engagement
hatte ich bei der studentischen Zeitschrift „Da Vinci“. Danach konnte ich
meine Karriere weiterentwickeln, durch die Mitarbeit in verschiedenen Zeitungen und Revuen. Anschließend bekam ich mein Engagement bei A1 TV,
sowie im Rundfunk. Während dieser Zeit erfuhr ich viel Bestätigung von meinen Kollegen und anderen, verantwortlichen Personen. Meine Erfahrungen
waren durchweg positiv.
Aber ich war damit nicht zufrieden. Ich wollte vorwärts kommen. So habe ich
begonnen Deutsch zu lernen. Das war sehr wichtig für mich, weil diese Sprache
meine große Liebe wurde.
All diese Dinge wusste Frau Trajkovska. Sie hat mir eines Tages Informationen über die Heinz-Kühn-Stiftung und deren Stipendiumsangebot gegeben. Es
war ein große Chance für mich, Deutschland besser kennenzulernen, und so habe
ich mich für dieses Stipendium beworben.
Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich am 30. August auf dem Düsseldorfer Flughafen ankam. In meinem Kopf herrschte ein ziemliches Durcheinander. Normalerweise sollte ich Frau Op de Hipt begegnen und dabei meine
Deutschkenntnisse aktivieren. Sie war da, vom ersten Moment an unglaublich
nett und hat mir gleich das erste Kompliment zu meinem Deutsch gemacht.
Deutschland
Ilija Nikolowski
Der nächste Tag war leichter. In Iserlohn habe ich knapp 50 Studenten aus der
ganzen Welt kennengelernt. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich die Möglichkeit, Menschen aus Afrika und Asien zu treffen. Diese Kontakte waren für
mich sehr wichtig und mit diesen Leuten halte ich auch weiterhin Kontakt.
Kurz gesagt, das Leben in Iserlohn, im Studentenwohnheim, war prima und ich
werde unsere Treffen in unserem Zentrum (unserer Küche!!) nie vergessen. An
einem einzigen Ort konnte ich die verschiedensten Essensvorbereitungen aus der
ganzen Welt sehen. Alle diese Kontakte fanden auf Deutsch statt und das war eine
sehr gute, praktische Übung für uns.
Der Unterricht in der Gruppe G3 beim Goethe-Institut war für mich sehr hilfreich. Die Methoden unserer Lehrerin und die 5 Stunden Unterricht täglich
erlaubten ein dynamisches Tempo. Die ersten positiven Ergebnisse habe ich
bereits nach 2 Wochen bemerkt. Ich hatte keine Angst mehr, deutsch zu sprechen.
Ich war nicht perfekt, aber nach jedem Gespräch verspürte ich mehr Sicherheit.
Zum Üben war vor allem die Mediothek eine große Hilfe.
Besonders nett waren Michael und Jan, unsere beiden Zivildienstleistenden.
Sie haben das Freizeitprogramm organisiert. Durch all diese Kontakte konnte ich
ein Gefühl für deutsche Kultur und Mentalität entwickeln.
Mein Lieblingsteil waren die Reisen im September und Oktober. Ich erinnere
mich gerne an Hamburg und den nördlichen Teil Deutschlands. Unvergesslich
waren auch die Reisen zur europäischen Kulturhauptstadt Weimar und Eisenach,
sowie zu meiner Lieblingsstadt Erfurt, die ich gerne noch einmal besuchen
möchte. Ebenfalls sehr sympathisch fand ich Amsterdam und natürlich die
Städte in Nordrhein-Westfalen, wie Düsseldorf, Duisburg, Bochum, Essen,
Hagen, Oberhausen, Dortmund, Aachen und Mönchengladbach. Auch München
und das Schloss Neuschwanstein haben wir besucht.
Am 27. Oktober hat der zweite Teil des Deutschkurses begonnen. Es war für
uns alle ein bisschen hart, weil wir wussten, dass nach unserem Kurs das Goethe-Institut in Iserlohn geschlossen würde. Aber das war kein Grund weniger
zu lernen, sondern spornte uns eher an, mehr zu tun. Außer Lernen war diese
Periode bis zum 17. Dezember gefüllt mit den verschiedensten Aktivitäten
wie: Sport, Kino, Stammtisch, Kneipenbesuchen und wieder Reisen.
Für mich war Berlin das größte Erlebnis, in erster Linie, weil ich zwei Tage in
dieser geschichtsträchtigen Stadt verbringen und dabei viele wichtige Sachen
sehen konnte. Nie vergessen werde ich das Brandenburger Tor, das rote Rathaus,
den Reichstag, den Alexanderplatz und den Potsdamer Platz.
Ebenfalls nicht vergessen werde ich den 17. Dezember. An diesem Tag habe
ich die Prüfung am Goethe-Institut mit der Note 2 bestanden. Natürlich war ich
sehr froh darüber, weil das für mich eine Belohnung für mein Engagement war.
Sankt Nikolaus und die Vorbereitungen für die Weihnachtsfeiertage waren
ebenfalls eine sehr interessante Periode. Ich hatte die Möglichkeit, deutsche Tra-
Ilija Nikolowski
Deutschland
ditionen zu erleben. Auf dem Weihnachtsmarkt, mit Glühwein, Kartoffeln und
Wurst konnte man die gute Atmosphäre fühlen. Alle Städte, besonders Essen und
Dortmund, waren sehr reich geschmückt.
Aus Iserlohn kamen ein paar Leute zu Besuch ins Goethe-Institut. Diese
Menschen hatten viele Geschenke für uns mitgebracht. Wir haben uns mit unseren Besuchern unterhalten und unsere eigenen Feiertraditionen mit den deutschen
verglichen. Die einzige Sache, die mir gar nicht gefallen hat, war, dass dieser
Markt sofort nach dem 25. Dezember geschlossen wurde. Ich war überhaupt
nicht froh, dass Sylvester so bald kommen sollte. Das Schließen des Institutes in
Iserlohn war schwierig, nicht nur für die betroffenen Menschen, sondern auch für
die Stadt.
Meine nächste Aufgabe wartete in Köln auf mich: Meine Arbeit bei der Deutschen Welle. Zuvor war ich noch in Münster und Luxemburg, während ich Sylvester in Paris verbrachte. Es war sehr spannend und interessant, überall so viele
neue Menschen kennenzulernen. Köln gefiel mir sehr, nicht nur die Menschen,
sondern auch das Stadtzentrum, die Museen und natürlich der Kölner Dom.
Die Arbeit in der Mazedonischen Redaktion war sehr interessant. Das Verhältnis zu den Kollegen war sehr gut und ich habe viele, neue Dinge gelernt. Es
war ein sehr gutes Gefühl, in so einem großen und berühmten Haus zu arbeiten.
Neben all den anderen Sachen die ich gesehen und gelernt habe, waren vor allem
die Ratschläge von Frau Steinmann sehr nützlich.
Die Wochenenden, während meiner Zeit in Köln, habe ich meistens mit Reisen verbracht. Ich war in Karlsruhe, Mannheim, Ludwigshafen, Frankfurt,
Koblenz und Kaiserslautern. Alle diese Städte waren sehr schön, aber am schönsten war Heidelberg. Auch Saarbrücken hat mir sehr gefallen, sowie in Stuttgart
der große, tolle Schlossplatz.
Danke
Ich möchte nochmal betonen, wie glücklich ich darüber bin, als Vertreter
Makedoniens ein Heinz-Kühn-Stipendium erhalten zu haben. Ebenfalls sehr
glücklich bin ich über die Möglichkeit, 5 andere Stipendiaten und sehr nette Personen aus Costa Rica, Sambia, Äthiopen, Mali und Mauretanien kennengelernt
zu haben.
Unser Kontakt untereinander war unglaublich gut, ebenso wie zu Frau Op de
Hipt und den anderen Mitarbeitern der Heinz-Kühn-Stiftung. Ihre Gastfreundschaft werde ich nie vergessen. Gerne möchte ich alle diese Leute noch einmal
treffen, vor allem aber möchte ich mich bei ihnen bedanken und ihnen Gesundheit, viel Glück und alles Gute für ihre Zukunft wünschen.
P.S.: „Deutschland? Ja, danke!“ ist mein neues Motto.
Martin Roos
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Madagaskar
vom 18. Oktober 1999 bis 15. Januar 2000
Madagaskar
Martin Roos
Manao ahoana i Madagasikara?
Wie geht es, Madagaskar?
Geschichten vom sechsten Kontinent
Von Martin Roos
Mit der Heinz-Kühn-Stiftung vom 18.10. 1999 bis zum 15.1. 2000 in
Madagaskar
Madagaskar
Inhalt
Der Haifischzahn
Jesus ist auch Madagasse
Da, wo der Stein steht
Voilà le Père
Mikado im Wald
Zeige nie mit dem Finger auf ein Chamäleon
König David
Der Dichter mit dem Löckchen
Tot und lebendig
Alles Märchen
Wer hat Angst vorm weißen Mann?
Zugfahren
Monsieur, Pousse-pousse?
Krank vor Madagaskar liegen
Ein Christkind namens Fara
Die Hoffnung heißt „morgen“
Salut Vazaha
La bonne
Misaotra – Danke
Martin Roos
Martin Roos
Madagaskar
Der Haifischzahn
Im Norden Madagaskars schenkte mir ein Mädchen einen Haifischzahn,
einen Talisman, den ich fortan um den Hals trug. Er half mir, einen Helden zu
treffen und das Christkind zu entdecken. Er half mir, König David zu sprechen,
Chamäleonjäger zu begleiten, Saphire zu suchen, Piratengräber aufzustöbern und
Robinson tanzen zu sehen. Er half mir, Gebirge zu besteigen, Wüste und Busch
zu durchschreiten und den Wind im Rauschen der Wellen zu fangen. Er half mir
auch, als ich krank war, und er half mir, als ich auf regenüberflutetem Lateritboden mit dem Minibus fast weggespült wurde. Nur einmal versagte er. Er
konnte den Tag nicht aufhalten, an dem ich Madagaskar verlassen musste.
Jesus ist auch Madagasse
Die Pension, in der ich wohne, wird nicht ausgeraubt. Als ich Père Raymond
einmal fragte, warum die Kirchgänger in Madagaskar‘s Hauptstadt Antananarivo,
kurz Tana, abends nach der Sechs-Uhr-Messe so schnell nach Hause gingen,
sagte er, sie hätten Angst, Diebe könnten in ihr Haus einbrechen. Ich habe dergleichen nicht befürchtet. Ob dies nun mit meiner Gutgläubigkeit oder mit meinem guten Glauben zusammenhinge, wollte ich Pére Raymond nicht fragen. Ich
bin nicht katholisch, nicht religiös, geschweige denn fromm.
Père Raymond Rambatoson ist Pfarrer der Gemeinde, in der ich wohne. Für
einen Madagassen ist er mit fast 1,80 Meter groß. Seine dunklen, kurzen
Haare haben sich bereits zu einem Kranz um das freundliche Gesicht gelegt.
Deutschland kennt er, hat dort Theologie studiert. In Tana hielt er einen Gottesdienst sogar schon mal auf Deutsch. Die deutschsprechende Gemeinde in
Tana ist so klein nicht. Es gibt mehr als ein Dutzend deutsche Entwicklungshelfer, Germanisten an der Universität und viele madagassische Studenten, die zum Teil ausgezeichnet deutsch sprechen. Das „Cercle GermanoMalagasy“ (CGM), das Deutsch-Madagassische Kulturcenter in Tana,
besuchen viele einheimische Schüler, die einen ansprechen, ob man sich mit
ihnen verabreden könne. Zum deutsch sprechen. Sagt man ja, sind manche so
begeistert, dass sie zu einem Treffen nicht nur kommen, sondern sogar pünktlich sind.
Pére Raymond predigt in der Eglise St. Jean-Baptiste, der roten Backsteinkirche, die, hoch gelegen auf dem Hügel nahe dem ehemaligen zentralen Markt Zoma, immer wieder als Motiv auf den Postkarten Tanas auftaucht. Die vier Gottesdienste, zwei madagassische, zwei französische,
sonntags morgens, sind immer voll. Die Leute kommen mit Kind und Kegel,
sind gut angezogen, höflich und singen sich voller Freude die Kehle aus
Madagaskar
Martin Roos
dem Hals. Vor allem am Heiligen Abend bewiesen sie es eindrucksvoll. Vier
Stunden lang lauschten, niesten, flüsterten, quatschten und klatschten sie
und ich auf engen Holzbänken. Mindestens acht verschiedene Chöre und
Gruppen sangen Gospel und Kirchenlieder. Während die Kinder in den ersten
Reihen ihre nackten Füße zur Musik wippen ließen, blinkte eine bunte Lichterkette auf einem kleinen Plastikweihnachtsbaum unter der Kanzel im Takt.
Junge Leute der Kirchengemeinde spielten die Weihnachtsgeschichte. Das
Publikum war begeistert, verteilte Szenenapplaus für den diktatorisch auftretenden Herodes, für Maria, für Josef und vor allem für den Star der Truppe:
Den Jesusdarsteller – ein echtes Baby, ein madagassisches. Als ich diesen
madagassischen Heiland sah, fiel mir auf, dass ich neben dem Herrn am
Kreuz der einzige „Vazaha“, der einzige Weiße, an diesem Abend war.
Um Mitternacht liefen wir in einem singenden Pulk die Gassen hinauf zur
Kathedrale, in der der Erzbischof von Tana, Kardinal Armand Gaëtan Razafindratandra, vor laufenden Fernsehkameras fast zwei Stunden nun für die ganze
Republik die Messe las. Gloria in excelsis deo. So heilig fühlte ich mich an
Weihnachten noch nie.
Da, wo der Stein steht.
Meine Pension liegt in dem Stadtteil Ambatomitsangana. Außer dem regelmäßigen Stromausfall gab es in meinem Haus noch nie etwas Düsteres. Nichts.
Gar nichts. Kommt man vom Zentrum, führt von der Hauptstraße ein kleiner Weg
nach rechts. Ein Weg aus rotem Laterit. Ein schmaler Weg, der bei Regen sehr
rutschig und fast unpassierbar wird. Er ist so unauffällig und für den Hauptverkehr so unbedeutend, dass ihn vor allem die Männer zu jeder Tageszeit als Toilette fürs kleine Geschäft nutzen.
Hat man ihn durchschritten, erreicht man nach fünfzig Metern meine Pension,
ein Haus aus Stein mit roten Holzverschlägen, einer Küche, einem Wohn- und
Esszimmer, drei Gästezimmern mit schlichter Möblierung und Fußböden aus
Palisander, zwei Hausmädchen, einem Nachtwächter und zwei Katzen.
Ambatomitsangana heißt wörtlich übersetzt „Da, wo der Stein steht“. Wo
dieser stehende Stein geblieben ist, weiß keiner mehr. Ambatomitsangana ist
heute ein großer Wohnhügel, einer von vielen in Tana. Wie in der ganzen
Stadt, feiern auch hier Hunde, Katzen, Hähne und Hühner nachts wilde Partys. Haben die Hunde aufgehört zu kläffen, schlägt die Stunde der Katzen, und
wenn die sich müde gejault haben, hat der Hahn schon längst von Ferne den
Ruf irgendeines Artgenossen vernommen und antwortet in schiefen Akkorden.
Dem madagassischen Durchschnittsschläfer scheint das nicht viel auszumachen. Gegen sechs, sieben Uhr abends wird es während der Regenzeit dunkel,
Martin Roos
Madagaskar
spätestens gegen 22 Uhr geht dann auch im Schlafzimmer das Licht aus, und
wenn die Sonne sich gegen fünf Uhr morgens zurückmeldet, ist auch der
Madagasse ein, zwei Stunden später wieder wach. Gefrühstückt wird französisch, Tee oder Café, Baguette, Butter, Marmelade, meistens Pflaumenmus.
„C’est tout“. Jeden Morgen. Seitdem ist mir klar: Wenn Gott wirklich in
Frankreich lebt, lässt er das Frühstück sausen und freut sich auf das Mittagessen.
Mittags und abends gibt es fast immer Reis, oft mit Gemüse oder Suppe,
manchmal in Kombination mit Zebu, Schwein, Pute, Ente, Huhn, Fisch,
Krabben, Krebsen oder Langusten, gegrillt, gebacken, gekocht. Oder auch mit
Früchten. Die reicheren Leute kaufen im Supermärkten wie „Champion“
ein, die Ärmeren auf dem Markt oder bei fliegenden Händlern. Fast jeden
Morgen um sieben nähert sich der Pension eine helle, quakende, laute Stimme.
Nicht weiblich, nicht männlich. Ein merkwürdiges Geräusch, als ob jemand
zum ersten Mal in irgendein Blechinstrument bläst. Es ist ein Händler, der
durch das Viertel zieht, um Blumen, Mangos, Bananen, Litschis, Erdbeeren
zu verkaufen. Vor allem vor Erdbeeren hatte ich Respekt. In der Zeitung war
zu lesen, dass sie mit Schweinemist gedüngt und daher mit Würmern verseucht seien. Als ich dann einmal abends bei meiner Vermieterin Aina Erdbeeren vorgesetzt bekam, war mir schon mulmig, bevor ich auch nur eine
gegessen hatte. Doch was einem schmeckt, bekommt einem meistens auch,
und auch deswegen konnte ich Wochen später wohl problemlos von den
Gerichten der kleinen Garküchen auf der Straße in Diego-Suarez essen.
Von meiner Pension bis zum Zentrum, der Avenue de l’Indépendence und
dem gleichnamigen Platz, lässt es sich leicht hinunterlaufen. Etwa zehn bis
fünfzehn Minuten zu Fuß. Nachts vermied ich Fußmärsche. Wie in den übrigen Stadtteilen Tanas, wirken die Straßen in Ambatomitsangana nach Einbruch der Dunkelheit nicht unbedingt einladend. Fast niemand ist zu sehen.
Nur ab und zu flackert am Straßenrand aus einer Tonne ein Feuer. Schaut man
genauer hin, sieht man ein paar Schatten um die Flammen herumspringen.
Irgendwelche armen Kerle, die kein Heim haben und sich nachts draußen in
Hauseingänge und Ecken kauern.
In Ambatomitsangana wohnen nicht nur arme Leute, Hunde, Katzen, Hühner und Stipendiaten. Auch der Sohn des alten „de Heaulme“ macht es sich
hier gemütlich. Er wohnt gegenüber meiner Pension in einem eher unauffälligen, weißen, viereckigen Haus. Die „de Heaulmes“ sind Franzosen, die
bereits zur Kolonialzeit auf der Insel lebten. Dem Alten gehört nicht nur der
Berenty-Nationalpark in Fort Dauphin, im Süden des Landes, sondern auch
noch diverse Immobilien, darunter ein Hotel und ein Restaurant. Ganz zu
schweigen von den Besitzungen seiner Kinder. Seine Tochter, beispielsweise,
führt das schicke und angenehme Hotel Lakana Vezo in Ifaty bei Tuléar.
Madagaskar
Martin Roos
Der Sportwagen des Juniors steht in Tana seit Monaten unbewegt vor seiner
Haustür. Angeblich ist der Schlitten zu tief gebaut und kann den löchrigen Weg
hinauf zur Hauptstraße nicht mehr passieren. Aina schimpft über ihn. Der junge
„de Heaulme“ hätte kein Benehmen, sagt sie, benimmt sich den Madagassen
gegenüber, als ob Frankreich noch der Kolonialherr sei. Fahre man beispielsweise
auf dem schmalen Lateritweg vom Haus auf die Hauptstraße, erzählt sie, gelte
die Regel, dass ausfahrende Autos vor einfahrenden Vorrang haben. „De
Heaulme“ halte sich nie daran und wolle immer Vorfahrt. Einmal, als sie sich
wieder mal mit den Autos auf dem Weg begegnet seien und keiner vor oder
zurück wollte, habe er ihr mit seinen Bekannten in der Regierung gedroht. Aina
ist immer noch erbost. Doch weiß auch sie, dass das Streitereien sind, wie es sie
auch in Frankreich oder im Rest Europas gibt. In Paris hat sie als Madagassin ihre
Ausbildung als Krankenschwester absolviert und gearbeitet. Nach zehn Jahren
kam sie in ihre Heimat zurück, wollte aber unter den schlechten hygienischen
Bedingungen der madagassischen Krankenhäuser keine Krankenschwester mehr
sein, erbte das Haus von ihren Großeltern und führt seitdem die Pension „Chez
Aina“.
In Tana gehe ich zu Fuß, nehme ein Taxi-Bé, einen kleinen Bus, oder fahre
Taxi. 5000 Franc Malgache kostet eine Taxifahrt durch die Stadt, keine zwei
Mark. Ohne Handeln geht nichts. Es gibt keinen Taxameter. Wenn man Pech hat,
zu touristisch aussieht oder sich einfach nicht aufs Handeln versteht, zahlt man
mehr, manchmal das Doppelte. Die Fahrt in solchen verrumpelten und verrosteten Autos ist ein Erlebnis. Es riecht oft übel, manchmal hat man das Gefühl,
dass das Auspuffrohr direkt mit der Lüftung verbunden ist. Die Nase aus dem
Fenster zu hängen, hat kaum Sinn. Draußen stinkt es nach einer Mischung aus
Abgasen, Urin, Kot und allerlei Küchengerüchen. Die Taxis, fast alles ausrangierte, französische Modelle, haben keine Gurte, keine Federung, die Polster sind
verschlissen, das Armaturenbrett abgerissen, die Türen klemmen fast immer.
Manche Scheiben sind gesprungen, zerschlagen oder fehlen ganz, und bei nicht
wenigen Taxis kann man durch die rostige Karosserie auf den Boden gucken. Oft
gibt es nicht einmal mehr ein Zündschloss. Dann wird per Kabel gezündet.
Manchmal fehlt Benzin. Ist auch der Reservekanister leer, wird der Fahrgast mit
Bedauern aufgefordert, ganz auszusteigen und ein neues Taxi zu nehmen; oder
er wird gebeten, bis zur nächsten Tankstation mitzuschieben. Dann wird getankt,
zwei, drei Liter, innerhalb von Sekunden, und die Fahrt geht weiter. Warum er
nicht mal mehr tanke, fragte ich einmal den Fahrer. „Damit abends nicht zu viel
oder am besten gar nichts mehr im Tank ist“, war seine Antwort.
Mundfaul sind die Fahrer nicht. Manche fragen einen aus, als ob sie noch nie
einen Weißen gesehen hätten. Alles wird gefragt. Zuallererst ob man Tourist sei.
Sagt man nein, ist man in ihrer Achtung bereits gestiegen. Wenn man dann zu
erkennen gibt, dass man kein Franzose sei, schauen sie einen an, als ob man eine
Martin Roos
Madagaskar
Prüfung bestanden hätte. Wenn ich dann sage, ich sei Deutscher, heißt es jedoch
nur „Aha“. Für sie liegt Deutschland irgendwo in Europa. Mehr wissen sie oft
nicht. Höchstens Hitler kennen sie.
Geschickt ist es, den Taxifahrer mit einem wohlklingenden „Manahoana“ –
„Wie geht’s“ zu begrüßen. Wenn man es noch schafft, anschließend „Ambatomitsangana“ auszusprechen, dürfte es keine Verhandlungen mehr über den Fahrpreis geben. „Manahoana“ und „Ambatomitsangana“ möglichst akzentfrei und
schnell nacheinander auszusprechen, hat mich viele Stunden gekostet. Für manche Fahrer war meine Kenntnis dieser beiden Wörter ein unfehlbarer Beweis,
dass ich schon seit langer Zeit in dem Land leben musste. Andere glaubten sogar,
dass ich fließend Madagassisch sprach. Ich musste dann nie mehr als 5000
Franc Malgache zahlen. Selbst wenn ich zugab, dass ich höchstens noch ein Wort
konnte, „veloma“ – „Tschüss“, wurde mir anerkennend zugenickt. Später lernte
ich auch mal einen ganzen, zusammenhängenden Satz auswendig, der großen
Erfolg bei den Taxifahrern hatte: „Fitiavanao ve nomenao aho, asambarana no
mitodika amiko“ – „Wenn du mir Deine Liebe schenken würdest, wäre ich sehr
glücklich“.
Nachts ist es in Tana nicht ungefährlich, insbesondere Taxifahrer sollen Opfer
von Überfällen sein. Sie nehmen deswegen zum Schutz eine Begleitperson mit.
Wer keinen Freund hat, fragt seine Frau oder Freundin, auch wenn das wohl
manchmal weniger sicher als vielmehr unterhaltsam ist. Nachts steigt man also
oft in ein Taxi, in dem vorne zwei Personen sitzen. Eine unangenehme Situation.
Zwei gegen einen. Sind die harmlos? Werden die mich übers Ohr hauen? Werden die mich überfallen? Oder werden die mich wirklich einfach nur nach
Hause bringen? Oft kam es mir aber so vor, als ob die zwei im Taxi erleichterter waren, mich zu sehen als ich sie. Ein Vazaha, eine Weißer, bedeutet kaum
Gefahr.
Mir allerdings nahm das nicht meine Bedenken. „Wie viele Tankstellen gibt
es auf dem Weg bis zu ihrer Pension?“, fragte mich einmal nachts ein Fahrer. Was
sollte diese Frage? Entscheidend ist doch wohl immer nur, wo die nächste ist,
dachte ich. Er wollte prüfen, ob ich mich auskenne. Vier, sagte ich, und ergänzte,
dass, falls er noch eine fünfte suchte, diese hundert Meter nach meinem Haus
gegenüber der großen Apotheke zu finden wäre. Er nickte und fragte noch einmal, wo ich genau hinwollte. „200 Meter nach der Brücke, neben dem Restaurant „Le Restaurant“, da lassen Sie mich raus“, sagte ich. Dann war Ruhe.
Auf der kleinen Brücke vor meiner Pension haben sich die Ärmsten des
Stadtteils hundehüttengroße Buden und Baracken aus Pappkarton, Blech, Brettern, Plastik und alten Leinen zusammengeflickt. Ich habe mich an den Anblick
gewöhnt. Tagsüber, wenn die Sonne auf die Lumpen scheint, sieht es noch trostloser aus. Ich kenne die Bewohner. Die Männer sind meistens betrunken. Es sind
sieben bis acht Familien, die in diesen Baracken leben. Manche von ihnen sind
Madagaskar
Martin Roos
Stadtnomaden, Wanderer, die durch den Staub und den Dreck der Straßen ziehen. Wie lange sie an einem Ort bleiben, wissen sie selbst nicht. Sie wohnen so
lange auf der Brücke bis sie wieder spurlos verschwinden. Alles in ihrem Leben
ist provisorisch, brüchig. Die meisten haben die dörfliche Armut hinter sich gelassen und sind in der Hoffnung in die Stadt gekommen, dass es ihnen hier besser
gehen wird. Nun hat sie die Stadt verschlungen. Sie ist ihre neue arme Welt.
Ich könnte in die sicheren Viertel, zum Beispiel nach Ivandry, ziehen, wo viele
Ausländer und Entwicklungshelfer ihre Büros haben. Oder nach Ambatobe,
Ambohibao oder in die Cité Planton, wo hinter großen Zäunen und Hecken, die
Konsule, Diplomaten, Vazahas, aber auch reiche Madagassen wohnen, die zum
Urlaub und Einkaufen gerne mal nach Paris jetten. Ein madagassisches Ehepaar,
das ich in Ambatobe kennenlernte, besaß acht Töchter, alle unter 18 Jahren, für
die sie bereits jetzt acht Häuser gebaut haben. Ein neuntes ist im Bau. Seit drei
Jahren. Nur das Feinste wird in dieser neunten Villa installiert, jedes Detail mit
europäischen Spezialisten besprochen. Selbst der Rasen wird nicht gesät, sondern irgendjemand hockt wochenlang im Garten, um mit der Hand Stecklinge
für eine schöne Grasfläche in den Boden zu drücken.
Ich wollte in Ambatomitsangana wohnen. In einer normalen, madagassischen Straße. In einem madagassisch traditionellen Haus. Anders konnte ich
das Gefühl, in Antananarivo zu leben, der „Stadt der Tausend“, die heute
schätzungsweise zwei Millionen Einwohner hat, nicht näher kennen lernen.
Voilà le Père!
Im Colbert ist die europäische Welt in Ordnung. Das edle Hotel liegt in einer
kleinen Seitenstraße in der Oberstadt Tanas gegenüber vom Hauptpostamt. Hier
trifft man Minister, Entwicklungshelfer, Journalisten, madagassische und ausländische Geschäftsleute. In der Patisserie nebenan essen Touristen beste französische Croissants und auf der Terrasse des Colberts warten madagassische
Damen auf Kundschaft. Aufpasser halten die Straßenkinder davon ab, sich vor
dem Hotel Bonbons zu erbetteln. 50 Meter weiter verkaufen junge Kerle auf der
Place de l’Indépendence die neuesten englischen, französischen, italienischen
und deutschen Zeitungen, die sie sich aus Flugzeugen vom Airport in Tana
haben besorgen lassen. Überall auf dem Platz sind Straßenkinder und Mütter mit
Babys, manche mit ihren eigenen, manche mit geliehenen. Sie alle betteln.
Auch die Kleinsten, zwei-, dreijährige. Beim Gehen müssen diese sich manchmal gegenseitig stützen, weil sie noch nicht richtig laufen können. Andere, vierfünfjährige, tragen ihre kleineren Geschwister auf dem Rücken. Ein Mann mit
gelähmten Beinen schleift sich mit seinen Händen über den Bürgersteig. Ein
anderer hat keine Beine mehr und schiebt direkt seinen Rumpf auf dem Stra-
Martin Roos
Madagaskar
ßenasphalt vor sich her. Wieder ein anderer lässt sich zum Betteln durch die Reihen der im Stau stehenden Autos von einem Freund auf dem Rücken tragen.
Blinde und zahnlose Sänger, Souvenirverkäufer, Schuster, Gemüsehändler und
Musiker hocken auf der „Escalier Ranavalona I“, der Treppe, die den ehemaligen zentralen Markt, den Zoma, mit der Oberstadt verbindet. Einer bläst Mundharmonika, auf dem Boden hockend. Seine spindeldürren Beine tragen ihn
nicht mehr. Die Mundharmonika ist auf der Gitarre befestigt, die in seinem Schoß
liegt. Obwohl er keine Hände hat, spielt er Mundharmonika und Gitarre zugleich.
Dort, wo andere Hände haben, laufen seine Arme in einem fingerdicken Fortsatz
zusammen. In den einen hat er sich eine Spange geklemmt und rattert damit über
die Gitarrensaiten. Mit dem anderen Arm stützt er sich auf den Gitarrenhals und
bedient die Tonart. Vor ihm liegt ein Hut. Auch die armen Passanten geben ihm
Geld.
Nur die wenigsten der Mütter, Kinder und Krüppel sind aufdringlich, keiner
von ihnen aggressiv. Sie wirken fast freundlich, und wenn man mit ihnen spricht,
lächeln viele und freuen sich. Die Straßenbewohner stellen sich gerne für ein Foto
auf, erwarten aber, dass sie dafür bezahlt werden. Die Kinder erkennen sofort,
wenn ein Vazaha neu in der Stadt ist. Dann holen sie ihre Geschwister oder
Freunde, stellen sich eng umschlungen in ihren Lumpen zusammen, strahlen und
rufen: „Photo, Photo“. Nur die wenigsten drücken dann nicht ab, erkennen
nicht oder zu spät die Perversität dieser Inszenierung eines idyllischen Elends.
Die Armen wohnen alle irgendwo auf der Place de l’Indépendence, in
Ecken und Nischen. Manche Kinder sind vor ein paar Jahren womöglich noch
zu Zaza Faly („glückliches Kind“) gegangen. Zaza Faly war ein deutsches
Kinderstraßenprojekt, ein Haus, etwa einen Kilometer von der Place de l’Indépendence entfernt, in dem die Kinder tagsüber zu essen bekamen, sich
waschen, Unterricht nehmen und spielen konnten. Ein Skandal, der bis heute
nicht geklärt ist, hat das Projekt zu Fall gebracht. Deutsche Mitarbeiter sollen Kinder sexuell misshandelt haben. Das Nachfolgeprojekt, ONG Manda,
das jetzt unter madagassischer Leitung steht, finanziell aber immer noch
von der Berliner Organisation des ehemaligen „Zaza Faly“ unterstützt wird,
ist kleiner. Etwa 40 Kinder werden tagsüber in dem Gebäude, in der Nähe der
Route de l’Université, betreut. Für die Straßenkinder der Oberstadt ist dieses
Gebäude zu weit weg. Und nur wenige kennen es. Dafür kennen sie alle Père
Pedro.
Wie jemand, der nach einer Axt greift, drückt Pedro Opeka einem die
Hand. Bei allem, was er sagt, funkeln lebhaft seine blauen Augen. Den kantigen Schnitt des Gesichts hat er von seinen slowenisch-argentinischen Eltern
geerbt. Seine Stimme ist dunkel und kräftig. Wenn er lacht, glänzt die obere
Zahnreihe in der Sonne. Allein sein grauer gepflegter Bart scheint nicht ganz
zu seinen kurzen, noch immer braunen Haaren zu passen. Er bewegt sich
Madagaskar
Martin Roos
schnell, ist voller Energie, gestikuliert dynamisch. Er ist schlank und wirkt
sportlich. Über dem blauen Hemd und dem roten Pullunder hängt an einer silbernen dünnen Kette eine kleines Kreuz.
Seit mehr als 30 Jahren ist Père Pedro in Madagaskar. Jetzt lebt er am östlichen
Rand Tanas. Vor zehn Jahren wohnten in dieser Gegend die Elendesten der
Armen, sie vegetierten vor sich hin, auf Müllhalden, zwischen Tierkadavern und
Seuchen. Sie kamen einst vom Land, aus Dörfern weit abgelegen der Hauptstadt.
Sie kamen mit dem Traum, in der großen Stadt ihr Glück zu finden. Doch sie
landeten auf den Müllhalden und begannen, sich irgendein Dach über den Kopf
zu bauen, irgendeine Hütte, eine Baracke, irgendeinen Winkel. Sie bastelten sich
ihre Bleibe mit dem, was sie auf den Müllbergen fanden. Ein Loch entstand
neben dem anderen, eine Hütte neben der anderen, ein Weg, eine Straße und noch
eine. Dann vielleicht eine Kreuzung, an denen die Wege und Straßen in verschiedene Himmelsrichtungen liefen und sich woanders neu verästelten. Ganze
Dörfer wuchsen aus dem Dreck, ohne einen einzigen Nagel, ohne einen einzigen Ziegel, ohne ein einziges Fenster mit Scheiben aus Glas.
Entsetzt über so viel Elend rief Père Pedro damals die „action humanitaire“ ins
Leben, ein Projekt, das einen nie für möglich gehaltenen Erfolg haben sollte.
Zwei kleine Dörfer mit soliden und sauberen Häusern aus Stein, gepflasterten
Straßen und Toiletten sind heute entstanden, Grundschulen und Mittagsküche für
Tausende von Kindern, eine Bibliothek, eine Krankenstation für ambulante
Behandlungen und sogar ein kleines Fußballstadion mit grünem (!) Rasen und
einem Fußballteam, in dem Père Pedro den Linksaußen spielt. Mehr als 18.000
Menschen leben in den beiden Dörfern. Ein drittes ist in Bau. Nur eine Kirche
mit Kirchturm gibt es noch nicht. „Das ist das letzte, was wir hier aufbauen werden“, sagt Père Pedro. Seine Gottesdienste finden regelmäßig in einer großen
Lagerhalle statt.
Tausende von Arbeitsplätzen sind in den riesigen Steinbrüchen und auf den
Anlagen für die Kompostierung des Mülls entstanden. Über 200 Mitarbeiter
braucht Père Pedros „Association Humanitaire“ für die Bereiche Verwaltung,
Gesundheit, Bildung und Schulwesen. Der Pater betont, dass dieser Erfolg nicht
nur Sponsoren aus dem Ausland, wie der Europäischen Union, zu verdanken ist,
sondern auch dem Aufbauwillen der Armen. Für sie ist Père Pedro der wahre
Held. Er hat sie aus dem Dreck geholt. Seine Initiative war es. Selbst die madagassische Presse hat ihn im vergangenen Jahr zum „Mann des Jahres“ gewählt.
Wenn Père Pedro so etwas hört, lacht er immer nur, beschämt und stolz.
Die Dörfer Akamasoa und Manantenasoa liegen mehrere Kilometer auseinander. Père Pedro besucht die Bewohner regelmäßig, oft im Wagen, mit einem
Nissan-Jeep, den Prinz Albert von Monaco gespendet hat. Überall, wo Kinder
stehen und den Pater sehen, winken sie ihm zu und rufen laut „Voilà le Père!“,
klatschen, hüpfen, schwenken die Arme und wiederholen „Voilà le Père! Voilà
Martin Roos
Madagaskar
le Père!“. Père Pedro lächelt, winkt zurück. Eine Frau kommt zu ihm ans Fenster
des Wagens, redet madagassisch auf ihn ein. Père Pedro hört zu, spielt dabei an
dem im Zündschloss steckenden Schlüssel herum. Die Frau redet aufgeregt,
beginnt fast zu weinen. Andere kommen dazu, schauen in den Wagen. Schließlich antwortet Père Pedro laut, energisch. Auf madagassisch. Die Frau hört zu.
Dann Schweigen. Dann beginnt sie wieder ihre Klage. Schließlich sucht Pére
Pedro irgendwas in dem Ablagefach neben dem Lenkrad. Er findet 5000 Franc
Malgache, keine zwei Mark, und gibt sie ihr. Die Frau nickt, verabschiedet sich
und geht. „Ihre Mutter ist sehr krank. Sie befürchtet, dass sie stirbt“, sagt Père
Pedro, „sie braucht einen Arzt und kann nicht bezahlen“. Er ärgert sich ein wenig.
Er kann nicht immer Geld geben. Es gibt einfach zu viele, die ihn fragen.
Manchmal auch ohne Grund. Trotz aller guten Taten und Hilfe bleiben die
Schwindeleien, Betrügereien und Diebstähle in den Dörfern nicht aus. „So ist das
halt, in der Hauptstadt und hier“, sagt er. Die Frau, die ihn um Geld gefragt hat,
besucht er zwei Stunden später. Die Mutter ist wirklich krank.
„Armut ist keine Sache des Zufalls. Armut ist eine traurige Realität“, sagt
Père Pedro und gibt Gas. „Vor allem die Kinder haben ein Recht auf Zukunft.
Sie müssen verstehen, dass Armut nicht das Ende bedeutet. Wenn man Hilfe
bekommt und sich aufrafft, kann man etwas verändern. Das haben viele bei
uns bereits verstanden“. In seinem Büro in Akamasoa, in der ein Schild mit
der Aufschrift „aimer, c’est partager“ – „lieben heißt teilen“, die einzige
Wanddekoration darstellt, wartet ein Kamerateam auf ihn. Das slowenische
Fernsehen. Jeden Tag hat Pére Pedro einen Presse- oder Besprechungstermin.
Er ist populär, und je größer seine Popularität wird, desto größer werden die
Wachstumschancen für seine Dörfer. Dass ihr Fortbestehen allein von ihm
abhängt, will er nicht hören. „Die Leute werden auch ohne mich überleben.
Es wird weitergehen“. Bevor er geht, drückt er einem noch einmal die Hand,
dass es kracht.
Mikado im Wald
Es gibt viele Gründe, nach Madagaskar zu reisen. Den zynischsten habe ich
in einem englischen Reiseführer gefunden. „Schauen Sie sich Madagaskar an,
bevor die Madagassen es zerstört haben.“ Tatsächlich ist das Land fast abgebrannt. Und das, was noch steht, brennt bereits oder wird bald brennen. Vom
Flugzeug aus kann man nachts auf der Insel überall Lichtflecken sehen. Es
sind keine Städte, die da leuchten. Es sind Feuer, riesige Feuer. Vor 1000 Jahren war Madagaskar noch von dichtem Primärwald bedeckt. Heute sind 90
Prozent der ursprünglichen Landfläche Steppe und Wüste. Jährlich werden
200.000 Hektar Naturwald weiter abgehackt und abgefackelt. Die Einheimi-
Madagaskar
Martin Roos
schen zerstören, um Bauholz zu gewinnen, Holzkohle herzustellen, oder
durch Brandrodung die fruchtbaren Anbauflächen zu erhalten. Außerdem halten die Dorfbewohner in vielen Regionen Wälder, Büsche und Bäume für die
bevorzugten Wohnstätten böser Geister, die nur durch das Feuer vertrieben
werden können und müssen.
Größer als dieser Aberglaube ist aber die Bequemlichkeit. Denn den Wald
zu plündern, ist für die Bauern die leichteste Art zu überleben und sich zu
ernähren. Holz ist günstiger als Strom von Elektrizitätswerken. Die wenigsten
haben ein geregeltes Einkommen, um den Strom und die dazugehörende
Ausstattung wie Lampe, Herd oder Kühlschrank zu bezahlen. Was vom Wald
schließlich übrig bleibt, sind artenarme Gebiete mit Sekundärvegetationen
oder riesige erodierte Landflächen.
Mit Pascal Lopez besuche ich ein Waldstück in der Nähe des Nationalparks
„Montagne d’Ambre“, südlich von Diego-Suarez im Norden der Insel. Im Rahmen seiner Promotion am Göttinger Institut für tropischen Waldbau, untersucht
der 30jährige Deutsche mit Förderung der Gesellschaft für technische
Zusammenarbeit (GTZ) seit über einem Jahr das Potential madagassischer
Sekundärwälder. Wälder, die nach großflächiger Zerstörung des ursprünglichen
Waldes entstanden sind. Pascal steckt selbstgewählte Flächen im Wald ab, vermisst die Bäume, ihre Höhe und beurteilt sie. Er will herausfinden, was man mit
Sekundärwäldern noch machen und wie man sie überhaupt bewirtschaften
kann. Ich begleite ihn auf einer Tour. Mit dem Jeep fahren wir durch sanfte
Hügelketten, auf denen sich zwischen vereinzelt stehenden, kleinen Bäumen das
Steppengras im Wind wiegt und weidende Zebus ihre Hörner sanft aneinanderschlagen. Irgendwo sehe ich Tania Blixen als Fata Morgana aufsteigen und
„Sehnsucht, Sehnsucht“ rufen. Madagaskar – wie ähnlich und doch so jenseits
von Afrika.
Als wir wenig später durch den Wald laufen, erreichen wir eine Anhöhe. Vor
uns ein Schlachtfeld. Überall liegen abgeknickte, abgehackte Bäume, wahllos
verstreut wie Mikadostäbchen auf einem Spieltisch. Ein Tornado hätte wohl
kaum ein schlimmeres Chaos hinterlassen. „Es wird immer weiter gerodet“, sagt
Pascal, „illegal“. Selbst Strafen halten die Einheimischen nicht von ihren Taten
ab. Wir kommen an einem Stapel frisch geschlagener Bäume vorbei. Irgendwo
ist ein Knacken zu hören, Bauern, die sich vor uns verstecken. Sobald wir
gegangen sind, kommen sie zurück.
„Man muss den Leuten, die hier wohnen, die Verantwortung für Flächen
geben und sie über eine effektive und sinnvolle Nutzung der Wälder aufklären“,
meint Pascal. Das sei die beste Lösung, um zu retten, was noch zu retten ist. Viele
Projekte, bei denen die GTZ mit dem „Ministère des Eaux et Forets“, der madagassischen Forstverwaltung, zusammenarbeitet oder sie berät, finden bereits statt.
Dazu zählen Seminare für Motivationsförderung, Entwicklung von Bewirt-
Martin Roos
Madagaskar
schaftungsplänen von Naturwäldern, Gründung von regionalen Fonds oder auch
eine Restrukturierung der Forstverwaltung. Dennoch. Gegen die Voraussage von
Spezialisten, dass in 30 Jahren auch der restliche Wald Madagaskars verschwunden sein wird, hat Pascal nichts einzuwenden. Auch gegen den Vorwurf, dass die internationalen Bemühungen um den tropischen Regenwald nicht
mehr als eine Bankrottverwaltung darstellen, wehrt er sich nicht.
Wir laufen weiter und kommen in ein dichteres Waldstück. Busch. Äste schlagen uns ins Gesicht, wir springen über Bäche und steigen über rutschige Steine
Böschungen hoch. Plötzlich türmt sich vor uns ein Baum auf, ein riesengroßer
Baum mit einer riesengroßen Wurzel. Ein Baum, der so hoch ist, dass man seine
Krone nicht sieht. Wir sind begeistert. Endlich ein richtiger Baum. Wir holen die
Kamera heraus und knipsen uns vor dem Regenwaldkoloss tot.
Zeige nie mit dem Finger auf ein Chamäleon
Wochen später fuhr ich in den Süden des Landes, in die Nähe von Fianarantsoa nach Ranomafana, einem von mehr als 50 staatlichen und privaten Nationalparks. In den Parks trifft man Forscher aus allen Erdteilen. Trotz aller Naturzerstörung ist Madagaskar immer noch die Insel der biologischen Superlative, ein
evolutionäres Laboratorium, ein sechster Minikontinent, ein Land, das die höchste Rate an endemischer Flora und Fauna besitzt. 64 Prozent aller Vogelarten, 81
Prozent seiner Blütenpflanzen, 98 Prozent seiner Palmen, 95 Prozent seiner Reptilien und fast 100 Prozent seiner Froscharten gibt es nur auf Madagaskar. Auf
der Insel zählt man 30 Lemuren-, über 50 Chamäleon-, 62 Schlangen-, 150
Frosch-, mehr als 3.000 Schmetterlings- und bis zu 12.000 Pflanzenarten.
Es war kurz vor Mitternacht als noch ein Jeep vor der kleinen Unterkunft, in
der ich in Ranomafana wohnte, vorfuhr. Zwei Engländer und ein Madagasse stiegen aus. Nach ihrem Gepäck zu urteilen, wollten sie wohl Monate bleiben. Die
bleichen Gesichter der beiden Weißen schienen nicht zu ihrem Safarilook passen zu wollen. Sie wirkten brav, wenig vertraut mit der Umgebung, gehetzt und
zuckend wie ans Ufer gespülte Fische. Ein Irrtum. Angus und Joe, zwei Zoologen der Universität London, sollten sich als harte Burschen im Busch, als
Kämpfer für Ruhm und Wissenschaft, als abenteuerliche Forscher auf der Jagd
nach dem glorreichen und seltenen „furcifer verrucosus“ entpuppen. Das „furcifer verrucosus“. Keine Ahnung, was das sein sollte. Irgendein Tier wohl, aber
Angus wollte mir kein Bild zeigen. Er zögerte, als ob er mir ein Geheimnis zu
verraten hätte. Dann holte ich meinen Reiseführer heraus und fand ein Foto des
Tiers. Ein Chamäleon. Für mich Vollblutlaien ein stinknormales Chamäleon mit
dicht aneinanderliegenden Zacken auf dem Rücken und einem Fortsatz über der
Stirn, der mich an einen Ritterhelm erinnerte.
Madagaskar
Martin Roos
Die beiden Engländer boten mir an, sie noch in der gleichen Nacht auf Chamäleonsuche zu begleiten. Wir zogen los. Auf die Hauptstraße, den Berg hinab
zum Ort Ranomafana. Es war nach Mitternacht. Die Sichel des Mondes lag auf
ihrem Rücken. Angus, Joe und ihr madagassischer Begleiter Guy trugen jeweils
eine Stirnbandlampe auf dem Kopf, die weit von der Hauptstraße in den Busch
strahlen konnte. Joe erklärte mir, dass ich stets auf etwas Weißes achten sollte.
Weiß sei nämlich das Chamäleon, wenn es schlafe oder sich ausruhe. Ich konnte
in der Dunkelheit fast überhaupt nichts sehen. Die zwei Engländer wurden
jedoch immer lebendiger, sprachen laut miteinander, diskutierten, wo sie wohl
am besten hinleuchten müssten, schmissen sich lateinische Chamäleonnamen an
den Kopf und ließen die Strahler ihrer Stirnbandlampen mit einer geschickten
Kopfbewegung immer wieder durch den Busch flitzen. „Look here“, rief Joe.
Alle starrten. Nichts. Nur ein im Strahler schimmerndes Blatt. „But here!“,
jetzt leuchtete Joe auf der anderen Seite irgendwo in die Dunkelheit. „Furcifer
pardalis! Furcifer pardalis!“ Ich sah nichts. Die anderen sprangen hinzu und
leuchteten die Stelle oben auf einem Baum ab. Joe rauschte bereits ins Gebüsch
und begann unter Knacken des Geästs den Baum hinaufzuklettern. Dann
raschelte es, minutenlang. Ein Fluchen. Irgendwas fiel herunter. Stille. Nichts
geschah. „Ich habe ihn“, rief er. Angus ließ von unten seinen Lichtstrahler durch
den Baum wandern. „Ja, es ist ein furcifer pardalis“, rief Joe begeistert. Ich versuchte das Tier in der Dunkelheit ausfindig zu machen und streckte meinen Finger suchend nach vorne. „Nicht mit dem Finger auf ein Chamäleon zeigen“,
meinte Guy plötzlich überaus ernst zu mir, „das ist fady!“
„Fady“ (madagassisch) kann „unheilvoll“, dann auch „tabu“ oder „verboten“
heißen. Für Madagassen ist vieles fady. Zebuköpfe und Hörner bedeuten fady.
Manche Lemurenarten gelten als fady, damit sie geschützt bleiben. Friedhöfe können fady sein, und es kann sogar fady sein über fady zu sprechen. Etwas gilt als
fady, das die Lebenskraft eines Menschen schwächt. So wie das Chamäleon, vor
dem in Madagaskar viele Angst haben. Aussehen und Gehabe dieser seltsamen
Schuppenkriechtiere beeindrucken, und manche weigern sich deshalb, das Tier
anzufassen oder einzufangen. Kinder rennen sogar weinend weg, wenn sie ein
Chamäleon sehen. „Auf das Chamäleon zeigen, heißt es provozieren“, erklärte
mir Guy, „wenn du schon auf das Tier zeigen willst, dann nimm die Faust“.
Joe war inzwischen von seinem Baum heruntergeklettert, sein Haar zerzaust,
sein Hemd eingerissen. „Furcifer pardalis“, rief er wieder. Er frohlockte. Kurz
darauf entdeckte Angus ein Chamäleon, wieder irgendwo im Gebüsch. Stunde
um Stunde verging. Sie entdeckten und fanden und saßen bis zum frühen Morgen in Busch und Bäumen.
Ich lief die ganze Zeit neben Guy her. Ich fragte ihn, wie es denn um seinen
Respekt vor dem Chamäleon stünde. Respekt ja, sagte er, aber Angst habe er vor
den Tieren nicht. Dass ein Biss des Chamäleons bei seinen Landsleuten als töd-
Martin Roos
Madagaskar
lich gelte, stimme einfach nicht. Er freue sich, ein Chamäleon zu fangen. Denn
mit ihm könne er schließlich die bösen Geister im Wald vertreiben.
König David
„Wie heißt du eigentlich?“ Ich nannte ihm meinen Namen. „Und du? Wie heißt
du?“ fragte ich. „Ah“, sagte er. Er schien sich über meine Frage zu freuen.
„Kennst du die Bibel? Das Alte Testament?“ Ich nickte. „Siehst du, ich heiße wie
eine der großen Figuren im Alten Testament“. Erwartungsvoll schaute er mich
an. Strahlend. Der schmächtige Mann wollte doch tatsächlich meine bescheidenen Bibelkenntnisse prüfen. Viel fiel mir nicht ein. Doch dass ein Madagasse
Moses heißen sollte, konnte ich mir einfach nicht vorstellen. „Du heißt David“,
sagte ich. David schaute stolz, als er seinen Namen hörte, lächelte und fegte den
Boden vor seiner Hütte weiter.
Drei große Zimmer mit jeweils acht Betten für Gäste hatte das Holzhaus. An
der Hauptstraße, die durch das dicht, tropisch bewachsene Tal führt, hundert
Meter vom Eingang des Nationalparks von Ranomafana gelegen, war es vorwiegend billige Herberge für Parkbesucher. Die Übernachtung kostete zehn
Mark pro Mann, inklusive Frühstück. In der Nacht zuvor schliefen sieben Gäste
in seiner Hütte. Das erste Achterzimmer hatte David allein für Johnny reserviert,
meinen madagassischen Fahrer und Reiseführer, das zweite nur für mich, und alle
anderen hatte er ins dritte Zimmer gestopft. Über diese Regelung schien sich
David mehr als wir, die wir ihm diese Aufteilung vorgeschlagen hatten, zu
amüsieren.
„Nein, ich muss nicht reich werden. Ich will gar nicht reich werden“, sagte er.
Auf der Straße ratterte mit quietschendem Hänger ein Lastwagen vorbei und trug
mit seinem Fahrtwind den Dreck, den David gerade weggefegt hatte, wieder zur
Hütte zurück. „Ich habe doch meinen Glauben. Ich bin Christ.“ Er schaute
mich eindringlich an. „Ja“, sagte er, „auf die christliche Heilserwartung baue ich
mein Leben“. Dann hielt er mit dem Fegen inne. „Glaubt man in Europa nicht
mehr?“ Ich zögerte. „Ihr Europäer wollt andauernd irgendetwas anderes. Andere
Uhren, andere Kleidung, anderen Schmuck. Und wenn es mit Gott nicht mehr
klappt, dann eben wohl auch einen anderen Gott.“ Ich schien ihm fast leid zu tun.
Dann fegte er fröhlich weiter und sagte: „Madagassen lieben es, etwas zu behalten, am besten etwas fürs Leben zu behalten.“ In den Hügeln, weit hinter ihm, sah
ich eine Rauchwolke aufsteigen. Irgendwo brannte wieder ein Stück Wald ab.
„Ich spreche von Gegenständen“, sagte David und zeigte mir seine Uhr. Die habe
er schon lange. „Aber ich spreche auch von Traditionen. Wechsel ist einfach nicht
gut“. Jetzt fegte er voller Elan den Dreck auf die Straße. „Gibt es nichts, über was
du dir Sorgen machen musst?“, fragte ich ihn. „Ich warte auf den Erlöser“. Er
Madagaskar
Martin Roos
meinte es ernst. „Hör zu“, sagte er, „hier in Ranomafana ist es schön. Ich bleibe
hier. Und wenn der Erlöser es bis hierher nicht schafft und nicht kommt, dann will
ich wenigstens für andere ein Erlöser sein.“ Das schien ihm als Schlusswort zu
gefallen. Schweigend schwang er den Besen über die Schulter und drehte sich
dem Haus zu. Dann nahm er den Besenstil wieder herunter, drehte sich um und
sagte: „Weißt du was?! Wenn heute neue Gäste kommen, werde ich sie alle wieder in ein Zimmer sperren. Dann habe ich nämlich schon wieder einen erlöst.
Dich von ihnen.“
Der Dichter mit dem Löckchen
Elie Rajaonarison trägt keinen Zopf, noch nicht einmal ein Zöpfchen, höchstens ein Löckchen. Und davon nur ein einziges, hinten am Hals, am Nacken, in
der Senke. Aber dieses Löckchen ist eines seiner Markenzeichen. Zumindest
wurde es mir so im CGM in Tana erklärt: „Suchen Sie den Dichter Elie? Sie werden ihn erkennen, der trägt so ein kleines Zöpfchen“. Nachdem ich ihn dann zwei
mal weder erkannt noch gefunden hatte, lud mich Monsieur Rajaonarison telefonisch zu sich nach Hause ein. Vielleicht lag es daran, dass ich in Fianarantsoa
seinen Freund, den Fotografen Pierrot Men, getroffen hatte, einen stillen, bescheidenen Mann mit chinesischem Vater und französisch-madagassischer Mutter.
Fast auf der ganzen Insel hängen seine Schwarz-Weiß-Fotografien: Männer in
einer Werkstatt von Manakara, Frauen aus Sahambava mit schlafenden Kindern
auf dem Rücken; Bilder von weißen Hemden, die zum Trocken am Strand von
Mananjary liegen, ein Pousse-Pousse-Fahrer einsam am Meer von Toamasina, ein
altes, in weiße Tücher gehülltes Pärchen vor den Häusern von Soatanana, Kinder in Befeta, die mit großen Augen gen Himmel blicken, Frauen, die in Manakara auf dem Kopf einen Fisch balancieren. Elie hätte mich aber vermutlich auch
ohne Referenzen eingeladen. Ich kaufte mir seinen Gedichtband „Ranitra“. Zur
Vorbereitung. Ich erwartete einiges von dem Besuch, denn immerhin ist der
Mann einer der bekanntesten zeitgenössischen Poeten Madagaskars.
Elie wohnt in Tanas Stadtteil Faravohitra, in einem schmalen, dreistöckigen
Haus mit grünen Fensterrahmen, das auf dem Weg hinauf zum abgebrannten
Palast der Königin liegt. Ein etwa zehnjähriges Mädchen öffnet mir die schmale
Eingangstür. In dem Zimmer, in das Elie‘s Tochter mich bringt, diskutiert ihr
Vater bereits mit drei jungen Männern – zwei Musikern und einem Dichter, wie
sich später herausstellt. Ein Sofa, ein Tisch, zwei Stühle, ein Regal, noch ein Tisch
und eine Ablage füllen den Raum so, dass man kaum hindurchlaufen kann. Zwei
Fenster bieten einen Blick hinunter auf Tana und den ehemaligen Zoma. Mit
einem Handzeichen gibt Elie mir zu verstehen, dass ich mich setzen und warten
soll. Dann redet er weiter, redet und redet, monologisiert. Andächtig sitzen die
Martin Roos
Madagaskar
drei Künstler auf dem zu kleinen Sofa, lauschen ihrem Meister. Für einen Madagassen spricht Elie ungewöhnlich laut, etwa wie ein Fußballfan, der von seiner
Lieblingsmannschaft berichtet. Elie ist nicht älter als 40 Jahre. Er trägt ein T-Shirt
mit irgendeinem Aufdruck, eine weiße, kurze Hose und ist barfuß. Ab und zu
schlürft er ein dampfendes Getränk, heißes Wasser mit Milch und Zucker. „In
meinem Haus gibt es keine Drogen“, sagt er, „gar keine, nicht einmal Zigaretten oder Bier.“ Dann tunkt er ein Stück Baguette in die Tasse und isst. Über der
verschlissenen Blümchentapete hängt Plastikefeu, quer über die Wand. In der
Ecke steht ein bis zur Hüfte reichender Christbaum, darunter eine Pralinenschachtel. Daneben ein kleines Regal, darauf lauter verstaubte Herumsteherchen,
ein paar Paperbacks und ein einziges gebundenes Buch, ein Band Tolstoi. Nach
20 Minuten verabschieden sich die drei jungen Gäste und gehen. „Salut, salut,
salut“ – „Veloma, veloma, veloma”. Elie‘s Tochter bringt nun auch mir von dem
Heißwassermilchtee. Ihr Vater will, dass sie mit mir deutsch redet. Sie lernt es
seit zwei Jahren auf der Schule. Wie viele junge Madagassen spricht sie neben
Madagassisch auch Französisch und lernt eine dritte Fremdsprache. „Wir müssen Sprachen lernen, um Madagaskar in der Welt bekannter zu machen“, sagt
Elie. „Wir müssen die jungen Leute dazu motivieren. Wir sind in einer Situation,
in der viele zweifeln. Das ist gefährlich. Die jungen Leute sind unsere Hoffnung.
Ein Volk, das zweifelt, ist ein Volk, das verliert“. Die Tochter schaut verlegen, sagt
auf Deutsch „Auf Wiedersehen“ und geht, sichtlich erleichtert.
Dann schlürfen Elie und ich zusammen unsere Milch. „In den vergangenen
acht Jahren hat sich in Madagaskar viel verändert“, sagt er, „ich mich aber
nicht“. Er blickt stolz. Sehr stolz. In Gedanken sehe ihn plötzlich in einer schaukelnden Piroge, auf stürmischer See, über zyklonverhangenem Himmel Fäuste
reckend brüllen: „Madagascar... belle des plus belles“, „Madagaskar, Schönste
der Schönen ...“, eine Verszeile aus einem seiner Gedichte. Ich erwache. Elie hat
ruckartig die Tasse abgesetzt, Tee kippt auf den Tisch. „Viel hat sich verändert.
Nicht nur zum Schlechten. Wir haben mehr Freiheit gewonnen. Man kann heute
Dinge finden, die es früher nicht gab. Und dazu zählen nicht nur materielle Dinge
wie Handy, Mountainbike und so was alles. Wer die Möglichkeit hat, kann sich
heute selbständig machen“.
Mir fällt der Zoom ein, das neue Einkaufszentrum am Rande der Stadt. Ein
schickes Einkaufszentrum europäischen Standards, aber auch mit europäischen
Preisen, die nur wenige Madagassen bezahlen können. Und ich erinnere mich an
den Slogan, mit dem der Zoom um Kunden wirbt: „Zoom, einfach anders“. Auch
fallen mir die Taxifahrer in Tana ein. Ich höre, wie sie über Präsident Ratsiraka
fluchen. Er sei und bleibe ein Diktator. Tue nichts für sein Volk. Als die Cholera
vor Monaten in Madagaskar ausbrach, habe er sich damit gerühmt, aus dem Ausland in seinem Privatgepäck Medikamente für 50.000 Bürger mitgebracht zu
haben. „Weiß der Herr Präsident denn nicht mehr, wie viele Menschen in seinem
Madagaskar
Martin Roos
Land wohnen?“, höre ich noch einen Taxifahrer sagen. Ein anderer beschwerte
sich, dass der fast blinde Ratsiraka wegen seiner Augenkrankheit sowieso fast nur
im Ausland sei, um Ärzte zu besuchen. „Der Präsident sieht halt nicht mehr, wie
schlecht es seinem Volk geht“, erklärte mir ein Madagasse. Manche sind so
erbost, dass sie sich sogar die Franzosen zurückwünschen. Sie wissen, dass ihr
System rückständig ist, zu vieles ist verfallen, sie würden gerne den europäischen
Standard leben. Vielleicht sind sie deswegen gegenüber Europäern so freundlich,
manchmal sogar naiv. Viele Madagassen haben eine Ausbildung als Ingenieur,
Arzt oder auch Rechtsanwalt, finden aber keine adäquate Arbeit. So fahren sie
lieber Taxi, weil das Taxi sie besser ernährt.
„Aber“, sagt Elie, „wir haben auch etwas verloren.“ Er schaut mich an: „Wir
haben unsere fanahy verloren“. Ich schaue ihn an. „Vielleicht haben wir sie
auch noch nicht richtig verloren. Aber wenn wir so weiter machen, sind wir
auf dem besten Wege, sie zu verlieren.“ Solche Sätze liebt Elie. Nicht den
Inhalt, sondern, dass er sie sagen darf. Und Elie darf viel. Er ist nicht reich,
doch bekannt. Er ist Denker, Mentor, Ansprechpartner und Dichter, obwohl
er die meisten Monate im Jahr nichts schreibt. Manchmal Jahre lang nichts.
Geld verdient er mit Seminaren an der Uni, an Instituten und Reisevorträgen.
Ende 1993 stieg er kurzzeitig sogar in die Politik ein. Während der Regierung
Zafy wurde er zum Generalsekretär im Kultusministerium ernannt. Damit war
er Nachfolger eines gewissen Monsieur Razafindramiandra, einem „Chevalier de l’Ordre National“, den alle nur unter dem Namen Moks kennen. Moks
wiederum gehörte, vor seinem Amtsantritt 1992, dreißig Jahre lang zum
Bonner Journalistenklüngel. Inzwischen hat er ein madagassisches Märchenbuch herausgegeben, eine Trilogie über die Kriminalität in Tana geschrieben, ist als Bürgermeister seines Dorfes Ambohidrabiby wegen mangelnder
Arbeitsmoral seiner Mitarbeiter zurückgetreten, besitzt drei Autos, davon
zwei kaputte und ein heiles, was er als Taxi vermietet und weswegen er sich
nun offiziell auch „Transporteur“ nennt.
„Pardon“, frage ich Elie, „bitte was ist das, fanahy?“ „Nun“, sagt er, „das
ist unsere Kultur, unser Geist, ja, man muss sagen, es ist unsere Seele.“ Elie
blickt ebenso begeistert wie bedeutungsvoll drein. Ich nenne ihm meine Einwände. Die Madagassen seien für europäische Verhältnisse doch immer noch
sehr beseelt, freundlich, ja geradezu sanft. Auch der Naturglaube der meisten
Madagassen, die Umbettung der Verstorbenen, bei der die Knochen der Toten
regelmäßig ausgebuddelt, geputzt, gefeiert, eingepackt und für ein paar Jahre
wieder begraben werden, zeuge doch durchaus noch von der Erhaltung der
Tradition und vor allem von Glauben. „Ja“, sagt Elie, „für die Vazaha sind die
Madagassen sanft. So lange sich Gäste bei uns gut verhalten, sind sie immer
willkommen. Aber ich rede von uns Madagassen. Wir bringen uns gegenseitig mehr und mehr um, moralisch, intellektuell. Mit Rufschädigung. Wir
Martin Roos
Madagaskar
bringen uns mit Worten um. Der Neid wird größer. Früher, zum Beispiel, hat
man geteilt, auch wenn man arm war. Heute ist das nicht mehr so. Jeder, der
ein wenig zu Geld kommt, wirtschaftet in seine Tasche. Die Großzügigkeit der
Seele fehlt. Fanahy war immer der Reichtum der Madagassen. Wir können uns
äußerlich verändern. Nichts dagegen. Aber im Inneren müssen wir doch
Madagassen bleiben?!“ Ich werde kleiner und kleiner, sehe Elie größer und
größer werden, auf eine imaginäre Kanzel hinaufschweben und seine Worte
auf mich herunterprasseln. Im Inneren Madagasse bleiben, madagassisch
sein. Was könnte das heißen? Ich kenne die Madagassen zu wenig. Viel fällt
mir nicht ein. Höchstens der madagassische Rum und das Ritual des Rumtrinkens. Vor dem Prost immer einen Schluck auf den Boden kippen. Das
weiht den Boden und ehrt die Menschen, die auf ihm stehen. Sehr madagassisch. Doch in Elies Haus gibt es ja keinen Rum. Vielleicht meint er das madagassische Entflammen von Zigaretten. Zigaretten werden in Madagaskar
noch einzeln verkauft. Streichhölzer und Feuerzeuge gibt es kaum. Auf der
Straße geht man von Raucher zu Raucher, spricht sich an, lässt den glimmenden Stengel zur Zigarette und Zigarette zum glimmenden Stengel wandern, zieht und geht seines Weges. Sehr madagassisch. Doch Elie, beispielsweise, raucht ja nicht. Vielleicht bedeutet madagassisch sein, madagassisch
schreiben. Dafür wäre allerdings die Analphabetenrate viel zu hoch. 2,5
Millionen Kinder werden in diesem Jahr Analphabeten sein. Im Jahr 2020 sollen es fast zehn Millionen sein. Vielleicht meint Elie die madagassische
Geduld, die die vielen Wartenden vor den öffentlichen Telefonzellen zeigen.
Tagsüber steht man vor den Zellen mindestens 20 Minuten, bevor man dran
ist. Ist man dran und ist besetzt, legt man auf und stellt sich wieder hinten an.
Und dann steht man wieder 20 Minuten. Sehr madagassisch. Aber Elie, zum
Beispiel, hat ja privates Telefon. Vielleicht ist es aber auch ein bestimmtes Verhalten, mit dem sich der Madagasse madagassisch zeigt. Untereinander sind
sie unterschwellig rassistisch und kompromisslos, was soziale Klasse und ethnische Abstammung angeht. 18 Ethnien gibt es, eine Homogenität unter diesen Gruppen aber nicht. Angenehm ist nur das Verhalten der Madagassen
gegenüber den Vazahas. Wo immer man Madagassen trifft, und sich mit
ihnen unterhält, entwickeln sie große Neugierde, und es kommt nicht selten
vor, dass sie sich aus den verschiedensten Gründen gleich noch einmal mit
einem treffen wollen.
„Hier hast du meine Adresse“, sagt Elie. Wir haben bereits das Haus verlassen und sind draußen auf der Straße, „besuche mich bald wieder“. Zum
Abschied drückt er mir mit beiden Händen die Hand, eine Geste der Freude.
Sehr madagassisch.
Madagaskar
Martin Roos
Tot und lebendig
Mamy Ka ist tot, und alle sahen, dass er tot war. Der Musiker, Maler und
Lebenskünstler, der weit über die Grenzen von Diego-Suarez bekannt war,
starb an Herzversagen. Man begrub ihn, und die Trauer war groß. Sechs
Monate nach seiner Beerdigung kamen alle, die ihn persönlich kannten, wieder zusammen. Sie wollten, dass er wieder unter ihnen weilt. Sie wollten wieder mit ihm trinken, mit ihm Gitarre spielen und singen. Sie wollten wieder
glücklich sein und beschlossen, ihn lebendig werden zu lassen.
Im Restaurant Libertalia, das an der Place Foch mitten in Diego-Suarez liegt
und Vazahas, Chinesen, Künstler und leichte Mädchen ebenso anzieht wie
Halunken und Polizisten, treffen sie sich. Spät am Abend. Familie und
Freunde. Sie kommen gerade von einer Soirée in der Alliance Francaise, in der
zum ersten Mal Bilder von Mamy Ka ausgestellt wurden. Die ganze Stadt war
dort zu Bier, Limonade, Snacks, Musik und Chansons eingeladen.
Im Libertalia, das Toto, dem Bruder Mamy Kas gehört, sitzen sie nun um
die Tische und trinken und singen und spielen Gitarre. Vazahas und Madagassen. Sie spielen und spielen und trinken und rauchen und klatschen zum
Rhythmus der Musik, voller Nostalgie, Freude, Tränen, Rausch und Alkohol.
Sie lassen sich nicht abhalten und nicht beirren. Selbst als einer aufsteht und
Tisch auf Tisch baut und hinaufklettert und steigt und steigt und fällt, kümmern sie sich nicht. Sein drogenbetäubter Körper fällt weich. Unverletzt. Sie
wissen es. Es ist eine Stimmung, wie sie wohl immer aufkommt, wenn sie
feiern, eine Stimmung ebenso bedrohlich und fahrlässig wie entspannt und
friedvoll, eine Stimmung, die zum Namen „Libertalia“ passt.
Libertalia hieß einst die sagenhafte kleine Republik Ende des 17. Jahrhunderts im Norden Madagaskars. In der geschützten Buch von Diego-Suarez hatten der Dominikanerpater Caraccioli, der Franzose Mission und der
Freibeuter Tom Tew einem Haufen von internationalen Seefahrern, Expiraten
und Sklaven ein Leben in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verschafft.
Es waren Leute, die sich in einem bunten Kauderwelsch verständigten und
unbeschwert mit Liebe, Leid und Laster in den Tag lebten. Irgendwann nahm
ihr Treiben überhand und sie wurden von den Einheimischen vertrieben.
Auch Swani sitzt im Restaurant Libertalia, die Frau Mamy Kas. Eine
Norddeutsche. Ich wohne bei ihr in Badamera, in ihrem kleinen Hotel, hundert Meter oberhalb des Strandes von Ramena, eine Autostunde über die holprige Straße von Diego-Suarez entfernt. Ihre beiden Kinder, Tochter und
Sohn, haben die vietnamesischen Gesichtszüge ihres Vaters Mamy Ka geerbt.
Swani führt nun alleine das Hotel mit dem schönen Garten, der Terrasse,
dem offenen Restaurant, den Zimmern und den einfachen Holzbungalows mit
Moskitonetzen. Vor mehr als 15 Jahren ist sie als junges Mädchen nach
Martin Roos
Madagaskar
Madagaskar gekommen. Als Reisende. Für Mamy Ka ist sie geblieben. Erst
jetzt, nach seinem Tod, will sie ihre fünf- und siebenjährigen Kinder einmal
nach Bremen mitnehmen. Die Kinder sprechen kaum deutsch, aber madagassisch und französisch. Trauer über den Tod Mamy Kas ist Swani nicht
anzumerken. Nicht, weil sie ihn nicht geliebt hat, sondern weil sie den
Umgang der Madagassen mit dem Tod und den Toten schätzt. Es ist ein respektvoller, fröhlicher und lebendiger Umgang. Die Famadihana, die Leichenwendefeier, die madagassische Tradition der Ahnenverehrung, ist kein
trauriges Fest. Es ist ausgelassen und heiter, aber auch teuer. Da zu diesen
Festen die ganze Großfamilie und das Dorf eingeladen werden, sind es oft
Hunderte von Gästen, die zu den Feierlichkeiten kommen. Deswegen findet
die Famadihana je nach Region und Familie auch nur alle fünf bis sieben Jahre
statt und nur im südlichen Winter, zwischen Juli und September.
Swani braucht keine Famadihana. Feste wie das im Libertalia sind gut. Als
wir am frühen Morgen in ihrem blauen R4 den Weg nach Badamera zurückfahren, ist sie zufrieden. Die Party macht Mamy Ka nicht lebendig, sagt sie.
Aber es macht die anderen lebendig. Und dass viel Rum getrunken wird, ist
normal. Denn in Madagaskar heißt es, auch die Toten mögen gerne Rum. Und
der Madagasse fürchtet nichts mehr, als die Toten zu enttäuschen.
Alles Märchen
Paul Congo saß hinter seinem Schreibtisch, als ich sein Büro mit der Aufschrift „Direction de la Culture“ im städtischen Verwaltungsgebäude von
Diego-Suarez betrat. Der Mann gilt als einer der größten Geschichten- und
Märchenkenner im Norden Madagaskars. Keine Legende, die er nicht kennt,
kein Ritual, das ihm noch nicht zu Ohren gekommen ist, kein Märchen, das
er nicht schon einmal erzählt hat. Ja, er soll selbst die Märchen kennen, die
noch nicht geschrieben sind. Schulklassen besuchen ihn, britische Ethnologen,
französische Anthropologen, amerikanische Studenten. Paul Congo, der
Mann, bei dem alles nur ein Märchen ist.
Als ich vor seinem Schreibtisch Platz nahm, blätterte er in einem Papierberg. Er schien eine Geschichte zu suchen. „Glauben Sie meinen Märchen
nicht“, sagte er und blätterte weiter, „denn sie sind alle wahr.“ Er schaute mich
ernst an, und doch schien es, als ob ein Lächeln um seine Augen huschte. Ich
fragte, ob seine Bemerkung ein Witz oder der Anfang eines neuen Märchens
sein sollte. „Mit Märchen kenne ich mich aus. Wissen Sie, ich kenne sogar ihre
Märchen“, sagte er. „Wie? Was?“, fragte ich, „meine Märchen?“ Dann gab er
mir ein beschriebenes Blatt Papier. Ich sah ihn an, dann die Bilder hinter ihm,
Tierbilder, ein Chamäleon, ein Huhn, ein Krokodil, ein Schwein, eine Ratte,
Madagaskar
Martin Roos
eine Katze, ein Hund – Gestalten madagassischer Märchen. Dann sagte er, ich
solle das Blatt mitnehmen, das Märchen lesen und morgen wiederkommen.
Dann verstünde ich besser, was er meinte. Ich dankte, ging und glaubte kein
Wort. Noch während ich zur Tür schritt, überflog ich die ersten Zeilen und las
folgendes:
„Paul Congo saß hinter seinem Schreibtisch, als ich sein Büro in Diego-Suarez betrat. Der Mann gilt als einer der größten Geschichten- und Märchenkenner im Norden Madagaskars. Keine Legende, die er nicht kennt, kein
Ritual, das ihm noch nicht zu Ohren gekommen ist, kein Märchen, das er nicht
schon einmal erzählt hat. Ja, er soll selbst die Märchen kennen, die noch nicht
geschrieben sind...“
Verblüfft schaute ich vom Blatt auf, sah zu Paul Congo. Das hatte ich
doch gerade erst erlebt! Wie konnte ich es jetzt lesen?! Er kam zu mir und
schob mich lächelnd weiter zur Tür. „Lesen Sie nur, lesen Sie nur“, sagte er.
Ich las weiter:
„Als ich vor seinem Schreibtisch Platz nahm, blätterte er in dem Papierberg.
Er schien eine Geschichte zu suchen. „Glauben Sie meinen Märchen nicht“,
sagte er und blätterte weiter, „denn sie sind alle wahr.“ Er schaute mich ernst
an, und doch schien es, als ob ein Lächeln um seine Augen huschte. Ich
fragte, ob seine Bemerkung ein Witz oder nur der Anfang eines Märchen
sein sollte. „Mit Märchen kenne ich mich aus. Wissen Sie, ich kenne sogar ihre
Märchen“, sagte er. „Wie? Was?“, fragte ich, „meine Märchen?“...
„Alles Märchen!“, unterbrach ich den Text und schaute Paul Congo fassungslos an, „mit wievielen Leuten haben sie schon dieses Spielchen
gespielt?“ „Kein Spiel, Monsieur, nur ein Märchen, ihr Märchen“, sagte er,
lachte, verabschiedete sich und schloss die Tür. Ich stutzte, las: „Dann gab er
mir ein beschriebenes Blatt Papier. Ich sah ihn an, dann die Bilder hinter ihm,
Tierbilder, ein Chamäleon, ein Huhn, ein Krokodil, ein Schwein, eine Ratte,
eine Katze, ein Hund – alles Gestalten madagassischer Märchen. Dann sagte
er, ich solle das Blatt mitnehmen, das Märchen lesen und morgen wiederkommen. Dann verstünde ich besser, was er meinte. Ich dankte, ging und
glaubte kein Wort.“
Wer hat Angst vorm weißen Mann?
Die Route zwischen Sambava und Andapa im Osten Madagaskars, ist eine der
schönsten der Insel. Am östlichen Rand der Hochebene von Ankaibe schlängelt
sie sich von der Küste knapp 100 Kilometer über die Berge und durch ein
fruchtbares Tal, eine riesige Reiskammer. Im Norden ragen die Spitzen des bis
zu 2133 Metern hohen Marojezy-Massivs empor. Noch haben Feuer und Brand-
Martin Roos
Madagaskar
rodung sich nicht an der tropischen Natur vergriffen, nicht am dichten Regenwald, nicht am Bergnebelwald. Es ist eine grüne Gebirgslandschaft, von deren
Wegen und mittleren Höhen die „Bäume der Reisenden“, die Ravenala, mit ihren
großen Palmenfächern den Reisenden einladend zuwinken.
Mühsam tuckerten wir mit einem alten Renault in Richtung Südwesten die
Straße mit ihren zahlreichen Pässen hinauf. Oft kamen selbstgebastelte Vehikel und Holzroller uns entgegen, auf denen die Kinder der am Wegesrand liegenden Dörfer aus Spaß die Straße hinunterrasten oder Bauern ihre Früchte,
Gewürze, Schweine und Hühner nach Sambava brachten. Die wenigen Lastwagen, die zwischen den beiden Orten ihre Waren transportierten, überholten uns rücksichtslos. Erst als ich mich ans Steuer unseres alten Wagens setzen durfte, verstand ich, warum mein Fahrer Tantely die ganze Zeit so langsam
gefahren war. Die Bremsen funktionierten nicht.
Vielleicht hatten wir es Tantelys Maskottchen zu verdanken, dass die alte
Karre dennoch unbeschadet den Weg hin und zurück überstand. Hinter seiner
Sonnenblende klebte ein vergilbtes Abziehbild eines Fußballers, der in
unnachahmbarer Eleganz den Ball führte: Franz Beckenbauer.
Die Dörfer, durch die wir fuhren, wirkten verschlafen. Ein paar Hühner
suchten pickend Essbares, zwei oder drei Zeburinder glotzten stumpf in die
Gegend, Hunde lagen faul am Straßenrand. Menschen waren kaum zu sehen.
Nur wenn wir anhielten, liefen ein paar Kinder zusammen, Erwachsene
schauten aus den Türrahmen ihrer Hütten. Sie hielten alle ein wenig Abstand,
ganz anders, als wir es von den Küstenbewohnern gewöhnt waren. Ein etwa
dreijähriges Kind saß neben einem riesigen Bambusbaum und schaute mich
mit großen Augen an. Als ich mich ihm näherte und die Kamera herausholte,
fing es laut an zu weinen. Es wollte nicht mehr aufhören. Auch als die Mutter angelaufen kam, beruhigte es sich nicht. Viele Kinder in den Bergen und
auf dem Land haben Angst vor den Weißen, den Vazahas. Ihre Eltern erzählen ihnen, dass der weiße Mann sie frisst.
Jeder, der von Andapa hinunter zurück zur Küste will, muss vor Sambava
den Schlagbaum passieren. Die Schranke stellt sicher, dass keiner illegal
Vanille transportiert. Uns ließ der Beamte unkontrolliert durch. Tantely kannte
ihn. Das 20.000 Einwohner große Sambava liegt an einer Flussmündung
und besteht aus zwei parallel zum Meer verlaufenden Straßen mit einem
Markt, einer Bank, einer Post, Tankstellen, drei Tante Emma Läden, ein paar
Reisebüros, ein paar billigen Hotels, zwei Discos und mehreren Gewürzhändlern, wie beispielsweise dem Vanilleproduzenten Fayol A.A. Makbouhhoussen, dessen Teilhaber eine deutsche Firma namens Aust & Hachmann in
Hamburg ist. Sambava ist neben Antalaha nicht nur Madagaskars Vanillehochburg, sondern die Stadt gehört auch zu den größten Vanilleanbaugebieten der Welt. Vanille ist neben Safran eines der teuersten Gewürze überhaupt
Madagaskar
Martin Roos
und bringt Madagaskar 30 Prozent seiner Deviseneinnahmen. Ein Kilo Vanille
erzielte zuletzt einen Großhandelspreis von etwas mehr als 30 Mark, Extrakt
aus Naturvanille kostet heute etwa 150 Mark pro Kilo.
Der größte Teil der madagassischen Vanille landet in Cola-Getränken und
amerikanischem Speiseeis. Damit die Produzenten im Ausland, die mit synthetischem Vanillin jahrelang die Produktion des natürlichen gefährdet hatten,
ihnen keine Angst mehr machen konnten, haben die Madagassen das Projekt
„Stabex“ ins Leben gerufen. Es soll die Qualität des Originalprodukts weiter
verbessern. In der Stabex-Versuchsanlage, nur ein paar hundert Meter von
dem winzigen Flughafen Sambavas entfernt, wird getestet, auf welchen
Wirtspflanzen und welchen Böden die Vanillefruchtkapseln am besten gedeihen, ohne dass die Wirte absterben.
Es war eine Wirtin, die mein kleines Hotel „Chez Ambassadeur“ in Sambava führte. Angeblich gehörte es tatsächlich, wie der Name schon sagt,
einem Botschafter, einem ehemaligen französischen. Gesehen habe keinen.
Überhaupt arbeiteten in dem Hotel nur Frauen. Eine von ihnen hieß Arlette,
und servierte den vier oder fünf Vazahas, die durchschnittlich in dem Haus
logierten, das Abendessen stets in einem blauen Kleid mit einer blauen Brosche und einem blauen Ring. Sprach man sie darauf an, errötete sie in ihrem
Blau und sagte: „Blau ist die Farbe Gottes.“ Arlette gab mir den Tipp, einen
ihrer Bekannten zu besuchen, René Bodimana. Als ich René besuchte, nahm
er zwei Kokosnüsse in die Hand, blickte sehr ernst und bat mich, ihn zu fotografieren.
René ist der verantwortliche Leiter von Soavoanio, einer der größten
Kokosplantagen der Welt mit 5000 Hektar Fläche. Zur Begrüßung hatte er
einen seiner Mitarbeiter vier Meter hinauf auf eine Palme steigen lassen, um
eine Kokosnuss herunterzuholen, die wir anschließend in seinem Büro auf der
Plantage leer tranken. Dann zeigte er mir die Arbeit der Kokosnusspflücker,
Teile der Plantage mit ihren afrikanischen und Goa-Zuchtpalmen, mit Hybriden, Mischlingen und kastrierten Kokospalmen, dann die Zuchtanlagen und
die Produktionsstätten für Öl und Fett. Um die gesamte Anlage zu besichtigen, hätten wir zwei Tage gebraucht. Soavoanio erstreckt sich von Sambava
Richtung Antalaha über ein Küstengebiet von 60 Kilometern Länge. 78 Prozent der Plantage sind staatlich, 22 Prozent privat. Jährlich werden 30 Millionen Kokosnüsse zu 3500 Tonnen Kopra Industrieöl, Seife, Bratfett, Tierfutter und Kosmetikprodukten verarbeitet.
Mehr als 1200 Menschen arbeiten auf der Plantage. Dazu kommen in den
Monaten Juni bis November 200 Saisonarbeiter. „50 Mark verdient ein Arbeiter durchschnittlich pro Monat auf unserer Farm“, sagte René, als wir gegen
Mittag vor der kleinen Ölfabrik standen. Wir schauten zwei Arbeitern zu, die
frisch vom Baum gepflückte, fußballgroße Nüsse mit der vollen Wucht ihres
Martin Roos
Madagaskar
Körpers auf einen kniehohen Eisenpfahl rammten, um die Außenschale aufzuschlagen. Sie standen da mit nacktem Oberkörper. Die Strahlen der Mittagssonne brannten. Schweiß rann ihnen über Schultern und Rücken. Der
Drei-Meter-Hügel aus zu schälenden Kokosnüssen neben dem Rammpfahl
schien kaum kleiner zu werden. War die Schale aufgeritzt, rissen die beiden
sie mit den Händen ab, bis die kleine braune Kokosnuss zum Vorschein kam.
Die zwei schufteten ohne Pause, ließen sich kaum ablenken. Das hätten sie
sich auch nicht leisten können. Denn sie mussten ihr Soll schaffen. 2500
Nüsse täglich.
„Die Arbeit ist nicht schlechter, als die Arbeit derjenigen, die die Nüsse vom
Baum pflücken“, meinte René, als wir die Plantage verließen, „sie ist vor
allem ungefährlicher.“ Schon so manche Nuss, die vom Baum fiel, hat die
Pflücker schwer verletzt, manchen sogar den Schädel zertrümmert. Eine
Helmpflicht gibt es nicht, nur einen einheimischen Arzt in Sambava, der
sich auf Unfälle dieser Art spezialisiert hat. Er soll gut verdienen.
Zugfahren
Die Nummer 431 des Passagierzuges ist nur Nostalgie. Es ist der einzige, der
am heutigen Tag zwischen Manakara und Fianarantsoa fährt, der überhaupt zwischen Küste und Hochland pendelt, auf der einzigen Bahnstrecke, die in Madagaskar überhaupt noch betrieben wird. Es ist sechs Uhr morgens in Manakara,
blauer Himmel, es ist warm. Die Schalter des Küstenbahnhofs, an der Ostseite
Madagaskars, haben seit einer Stunde geöffnet. Um 7.15 Uhr soll der Zug
abfahren. Fianarantsoa liegt fast 170 Kilometer und viele Tunnel und Pässe
entfernt, auf 1200 Meter Höhe im südlichen Hochland. Die Strecke führt quer
durch die halbe Insel an 36 Dörfern vorbei, die selbst mit dem Taxi-Brousse
manchmal nicht zu erreichen sind. Die Fahrt dauert mindestens zehn Stunden.
1927 begannen die Franzosen und die Chinesen die Bahnlinie zwischen den
beiden Städten zu bauen. Neun Jahre später fuhr der erste Zug. Die heutige,
französische Diesellok, eine BB 242, stammt aus den 70er Jahren. Die drei
Waggons sind noch älter. Für moderne Waggons gibt es kein Geld. Weil die
finanziellen Mittel fehlen, ist auch ungewiss, wie lange dieser Zug überhaupt
noch fahren kann. Sicher ist nur, dass das Ende jeden Tag erwartet wird.
Mehr als 200 Fahrgäste stehen Schlange vor den Gittertüren, die den
Zugang zu dem einzigen Gleis versperren. Als sich die Tore öffnen, drängelt
niemand. Jeder weiß, dass der Zug nicht pünktlich abfahren wird. Auf dem
Bahnsteig liegen Säcke mit Reis, fast 300 Tonnen Früchte, vor allem Bananen,
Benzinkanister, Hühner und Enten in Körben. Sie alle müssen noch eingeladen werden.
Madagaskar
Martin Roos
Wir haben Glück. Mit nur einer Dreiviertelstunde Verspätung fahren wir ab.
Ein Pfiff ist nicht zu hören. Mit einem Rucken setzt sich der Zug in Bewegung. Ich bleibe noch ein wenig an der offenen Tür des Abteils stehen, sehe
die zurückbleibenden Menschen. Sie winken wild, als ob es das letzte Mal sei,
dass sie diesen Zug fahren sehen.
Dann gehe ich auf meinen Platz, eine Bank mit rissigem, rotbraunem Plastikbezug. Im Waggon sind fast nur Vazahas, nicht viele. Es ist die erste Klasse.
35.000 Franc Malgache kostet das Ticket, etwa zwölf Mark. Das Interieur ist
jedoch nicht viel anders, als in den beiden anderen Waggons hinter uns, den
Wagen der zweiten Klasse. In der ersten Klasse zahlt man mehr Geld, weil weniger Leute, keine Hühner, keine Enten und keine Schweine mitfahren. Nicht zu
verstehen ist allerdings, dass der Preis für die ständig überfüllte zweite Klasse gar
nicht so viel billiger und für Madagassen enorm hoch ist. Acht Mark.
Am Fensterbrett neben mir klebt noch Wachs einer Kerze. Gestern kam der
Zug aus Fianarantsoa erst gegen Mitternacht in Manakara an. Elektrizität gibt
es im Abteil nicht mehr. Die Lampen in der Decke fehlen. Die Leute müssen
sich im Dunkeln selbst helfen. Manche Fensterrahmen sind nur notdürftig mit
einer Kordel befestigt. Sie klappern. Die Seitenwände sind ramponiert. Hier
und da hängen noch ein paar Gardinenstangen, ohne Gardinen. Das Gepäcknetz ist für die vielen Koffer der Vazahas zu klein. Die Taschen hängen oben
bereits halb über das Gepäcknetz hinaus. Früher oder später werden sie herunterfallen. Neben den Fensterscheiben sind kleine Schilder mit roten Lettern
befestigt: „Mampididoza“ – „Achtung Gefahr“. Diesen Hinweis zu verstehen,
könnte durchaus nützlich sein. Denn wer den Kopf während der Fahrt heraushält und ihn vor dem Tunnel nicht rechtzeitig wieder hereinholt, dürfte mit
Sicherheit zum letzten Mal aus dem Fenster geguckt haben. In den oft langen
Tunnels ist zwischen Waggon und Tunnelwand nur eine Handbreit Platz.
An engen Wegstrecken schlagen links und rechts Zweige durch die offenen
Abteiltüren und Fenster. Schnell fährt der Zug nicht. An manchen Passagen ist
man vermutlich zu Fuß schneller. Dennoch rattert er so laut und heftig über die
alten Schienen, als ob er jeden Moment entgleisen wollte. In Kurven quietscht
und krächzt er wie eine Kreissäge. Bei 30 Grad Steigung müssen die Räder noch
mehr kämpfen. Kein Foto lässt sich unverwackelt schießen, kein Wort deutlich
schreiben, keine Schriftzeile mit den Augen festhalten. Ich sitze am Fenster und
lasse meinen Finger auf der Scheibe mitfahren, sehe draußen die NadelbaumFiaos, die Büsche und Felder, die Jakaranda-Bäume, die Ravenala und die Flamboyants vorbeiziehen. Auf Bergkuppen liegen irgendwelche einsamen Hütten.
Auch Pfahldörfer. Manchmal kommen Kinder herausgeeilt und winken. Bauern
stehen in der Gegend herum, manche von ihnen vielleicht Nomaden, einen
Umhang über den Körper geworfen, einen Stab in der Hand. Hinter ihnen ein
paar Rinder. Alle schauen etwas ungläubig.
Martin Roos
Madagaskar
Immer wieder halten wir an kleinen Bahnhöfen. Bei der Einfahrt wirbelt der
Zug Staub auf. Die Einwohner winken uns begeistert zu. Die Bahnsteiglänge
reicht gerade für den Waggon der ersten Klasse. Von überall strömen Kinder,
Frauen und Männer zum Zug, tragen auf ihren Köpfen Früchte, in Körben Brot,
Langusten, Krebse bieten sie den Reisenden durch die Fenster zum Kauf an. Der
Zug ist für jedes Dorf, in dem er hält, die Attraktion des Tages. Er ernährt das Dorf
und seine Bewohner. Kinder stürmen die Abteile, setzen sich, quetschen sich
neben einem auf die Bank, wollen ein paar von meinen Litschis haben, sehen
mich mit der linken Hand schreiben, sagen „Oh Vazaha“, staunen, halten mich
für etwas seltsam, imitieren mich, lachen, springen wieder auf, rennen raus, laufen draußen den Zug entlang, rauf und runter. Die Waggons sind für sie wie Figuren und Elemente eines Karussells: Der kleine Elefant, der Delphin oder das
weiße Pferd, auf die sie immer wieder auf-, und von denen sie immer wieder
abspringen.
Vorne und hinten werden Bananen eingeladen. Erst wenn alles verstaut ist,
fährt der Zug weiter. Es ist egal, wie lange es dauert. Fahrgäste steigen zu, auch
in die erste Klasse. Sie füllt sich immer mehr mit Madagassen. Sie wissen, dass
der Schaffner bereits kontrolliert hat und ein zweites Mal nicht mehr kommen
wird.
Wir passieren Ambila, Fenomby und nach etwa 70 Kilometern Mahaboka. Es
ist bereits Mittag. Viele im Zug sind eingeschlafen, andere essen die gekauften
Früchte, Hühnerbeine oder den Fisch. Campingstimmung hat sich breit gemacht.
Die Koffer sind schon lange aus dem Gepäcknetz gefallen. Sie dienen nun zwischen den Sitzbänken als Fußstütze. Nach Manapatrana erreichen wir Tolongiona, ein Städtchen, das für seine Kaffeeproduktion bekannt ist. Wieder ist der
Bahnsteig voll. Wieder bieten die Einheimischen ihre Waren an. Verhungern würden wir in diesem Zug wohl nie. Die Vazahas wirken jedoch jetzt weniger kauflustig als zuvor. Sie sind müde und durchgeschüttelt. Mir gegenüber sitzen zwei
Madagassinen. Schon seit einer halben Stunde kauen sie an Langusten herum.
Neben mir, auf der schmalen Bank, ihre beiden Kinder. Sie sind eingeschlafen,
haben ihre Köpfe gegeneinander gelehnt. Ein Vazaha erzählt mir, dass wir mit
dieser Fahrt Glück hätten. Das letzte Mal habe er 54 Stunden in dem Zug verbracht. Lokschaden. Dabei habe man schon bei der Abfahrt in Fianarantsoa
gewusst, dass etwas schief gehen würde. Sie seien trotzdem losgefahren und auf
halber Strecke sei es dann passiert. Irgendeiner habe dann zurücklaufen müssen,
um das Ersatzteil zu holen. Die meisten Passagiere hätten einfach im Zug übernachtet. Nur die Vazahas seien davongelaufen. Einheimische hätten sie mit
Ochsenkarren zum nächsten Ort mit Taxi-Brousse-Station gebracht. Natürlich
gegen Bezahlung. Auch eine Panne des Zuges bringe den Madagassen eben Geld.
Wir schleichen über eine Brücke, unter uns die Weite des Tales, über uns der
Wasserfall von Mandriampotsy. Selbst für diejenigen, die wöchentlich die
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Madagaskar
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Strecke fahren, ist er immer wieder ein Ereignis. Als wir an den Reisterassen
und Teeplantagen von Sahambavy vorbeikommen, sind es nur noch wenige
Kilometer. Um 19 Uhr erreichen wir Fianarantsoa. Ohne Zwischenfall. Die
Madagassen verschwinden zu Fuß im Dunkel, die Vazahas in den Taxis.
Morgen fährt der Zug zurück nach Manakara. Höchstwahrscheinlich.
Monsieur, Pousse-pousse?
In Antsirabe wird heute nur noch gezogen. Deswegen müsste die zweirädrige, überdachte Polstersitzbank nicht Pousse-pousse (Schieb-schieb), sondern Tire-tire (Zieh-zieh) heißen. Früher wurde die madagassische Rikscha
von einem Mann geschoben und einem anderen, der zwischen den beiden
Holzstangen vorweg lief, gelenkt. Der Name Pousse-pousse hat sich erhalten.
In Antsirabe sind sie eine Selbstverständlichkeit und so populär, dass Taxifahrer kaum eine Chance haben. Nur ein paar Minibusse machen den Poussepousse-Fahrern ein wenig Konkurrenz.
Genauso unterschiedlich wie die roten, blauen, gelben oder grünen Poussepousses, sind die Fahrer. Manche rennen in Lumpen, manche bekleidet mit
langer Hose und Hemd, andere mit nacktem Oberkörper, wieder andere mit
und manche ohne Schuhe. Äußerlichkeiten entscheiden nicht über die Fahrqualität. Auch das Alter darf keine Rolle spielen. Der alte Mann, der einen
keuchend über die nassen Straßen zieht, will kein Mitleid. Der junge Fahrer,
der alle Wege wie ein Marathonläufer abrennt, erwartet kein zusätzliches
Trinkgeld. Ein Pousse-pousse-Fahrer verrichtet seine Arbeit pflichtgemäß. Für
ihn ist es keine Erniedrigung, Leute durch die Stadt zu ziehen. Das Poussepousse ist für ihn kein Anachronismus, kein Vehikel der Sklaverei. Die Lastenträger von einst, die Könige und Adlige auf Sänften durch die Straßen hieven mussten, haben nichts mit ihnen gemein. Für den Fahrer von heute ist das
Pousse-pousse ein Arbeitsgerät, um Geld zu verdienen.
Mit den kleinsten Pousse-pousses der Welt verdient Mamy Geld. Der diplomierte Biologe hat sich am Rande der Stadt mit seiner Miniaturwerkstatt einen
Namen gemacht. Seit 1984 ist der 32jährige selbstständig und bastelt gemeinsam mit sieben Familienmitgliedern Fahrräder, Motorräder und Pousse-pousses zusammen, die nicht größer als eine halbe Hand sind. Bei Reiseunternehmen ist er bereits bekannt. Fast jeden Tag kommen Taxi-Bés und spucken
Vazahas aus, denen Mamy mit sanfter Stimme jedes Detail seiner kleinen
Fabrikate erklärt. Er verwendet nur Recyclingprodukte. Aus alten Schuhsohlen werden die Reifen gemacht, aus Blechdosen die Felgen, aus Angelleinen
die Speichen, aus Telefondraht die Bremsen, aus Gummireifen die Pedale. Die
Arbeit ist mühsam. 40 Stunden braucht ein Arbeiter um 25 kleine Fahrräder
herzustellen. Doch es lohnt sich, und Mamys Ruhm wächst. Erst im vergan-
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Madagaskar
genen Jahr sollte er für ein belgisches Team, das an der Tour der France teilgenommen hatte, 1000 kleine Fahrräder herstellen. Stückpreis 25.000 Franc
Malgache, etwa neun Mark, viel Geld für Mamy und seine Familie. Auch für
ein kleines Pousse-pousse muss man soviel bezahlen – eine Winzigkeit gegenüber dem Preis des Originals. Das große Pousse-pousse kostet 1,5 Millionen
Franc Malgache, ungefähr 450 Mark.
Fast alle Pousse-pousse-Fahrer mieten sich ihr Arbeitsgerät. Fahren darf es
dann aber noch lange nicht jeder. Angeblich muss jeder Lenker einen Poussepousse-Führerschein machen. Doch auch als ich fragte, konnte mir niemand
einen zeigen. Allerdings versicherte mir jeder Fahrer, einen zu haben. Schließlich gebe es eine Spezialpolizei für Pousse-pousses, die so etwas kontrolliere und
auch Strafzettel verteile.
Nur die geschicktesten Fahrer überleben auf dem Pousse-pousse-Markt. Die
Konkurrenz ist groß und schläft fast nie. So rufen sie alle nach ihren Kunden,
schreien eine Nummer, „die Sieben“ zum Beispiel, „die Acht“, „die Fünf“,
ihre Nummern, die Nummer, an denen man sie erkennen soll, die man sich
merken soll, für jede Fahrt, für jede Route, für alle Zeit. Zusätzlich haben sie
Motive oder Slogans auf ihr Pousse-pousse gemalt wie „Obelix“ oder
„Thanksgiving“ oder auf hinten montierten Kennzeichen einen Namen
geschrieben. Meistens sind es Städtenamen wie „Ambanja“ und „Ambatolampy“ oder auch „Toulouse“ und „Lyon“. Einer heißt sogar „Berliner“.
Antsirabes Pousse-pousse-Fahrer folgen einem überall hin, ziehen ständig
ihren Karren hinter sich her. Folgen und verfolgen. Von Haus zu Haus. Von Straße
zu Straße. Von Gehsteig zu Gehsteig. Von Stein zu Stein. Als Vazaha hat man in
Antsirabe kaum eine Chance, ihnen zu entgehen. „Hallo, hallo, Monsieur, wollen Sie Pousse-pousse?“ „Nein, vielen Dank.“.„Monsieur, Pousse-pousse!“
„Nein.“ „Nein? Kein Pousse-pousse?“ „Nein, kein Pousse-pousse“. „Aber Monsieur, Pousse-pousse ist nicht teuer“. „Ja, prima, aber ich gehe lieber zu Fuß“.
„Oh, oh, Monsieur Pousse-pousse! Nicht teuer, nicht teuer“. „Ja, nicht teuer, habe
verstanden, will aber nicht“. „Sie wollen nicht? Monsieur, eine Stadtrundfahrt
vielleicht, nicht teuer“. „Nein, das habe ich schon gemacht. Keine Stadtrundfahrt“. „D’accord, dann eben was anderes. Vielleicht um den Häuserblock, nicht
teuer“. Der Fahrer strahlt. Ich sage nichts und gehe weiter. Mich treibt der Hunger. „Ah, oh-lálá, Pousse-pousse, Pousse-pousse“, singt er jetzt schon halb und
rennt hinter mir her. Ich sage: „Ja, ja, Pousse-pousse. Schauen Sie mal, hier meine
Füße und Beine, die haben mir meine Eltern geschenkt. Damit ich laufen kann
und deswegen gehe ich zu Fuß“. Das habe ich schon mehreren gesagt, um sie
abzuwimmeln. Er jedoch findet das komisch und scheint jetzt erst recht nicht
mehr von meiner Seite weichen zu wollen. Hüpfend zieht er nun seine Karre.
„Monsieur, wohin gehen Sie?“ „Da lang“, sage ich und zeige irgendwo hin. „Gut,
Monsieur, ich hole sie ab. Wann soll ich sie abholen?“ Ich schaue ihn fassungs-
Madagaskar
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los an. „Nein, ich brauche Sie nicht“ sage ich, „ich brauche sie nicht heute, ich
brauche sie nicht morgen. Ich brauche sie überhaupt nicht. Niemals und nirgendwo“. Dann gehen wir schweigend nebeneinander her. Dann wieder er:
„Monsieur, wo soll ich sie abholen?“ „Sie sollen mich nicht abholen“, sage ich.
„Soll ich Sie im Restaurant abholen?“ „Neeiin!“ „Gut, Monsieur, ich warte vor
dem Restaurant auf Sie“. Ich gebe auf, sage nichts mehr, gehe zum Restaurant
Diamant und höre beim Hineingehen nur noch wie er ruft: „Wenn Sie rauskommen, Monsieur, nennen sie nur meine Nummer. Dann bin ich da. Für Sie.
Bis gleich. Salut. Veloma“. Anderthalb Stunden später komme ich raus. Der Fahrer steht bereits vor mir. Hinter und neben ihm noch ein paar andere, die hoffen,
mich herumkutschieren zu können. „Monsieur, Pousse-pousse?“ fragt er strahlend. Ich sage: „Wie viel wollen Sie?“ „Oh, soviel wie Sie wollen“. „Deux
mille, 2000“, sage ich. Das sind keine 70 Pfennig. „Oh, Monsieur, oh, oh, oh,
nein, das ist zu wenig. 5000!“ „Kommt nicht in Frage. Wenn Sie nicht wollen,
dann nehme ich halt einen anderen Fahrer“. „Ohhh, Monsieur, Monsieur“. „Ja“,
frage ich, „was is’?“ „Gut“, sagt er, „2000“, und schon sitze ich in seinem
Pousse-pousse. In der Dunkelheit zieht er mich in seinem wackelnden Gefährt
über Schlaglöcher, durch Pfützen und über Sand. Die kleine Petroleumlampe
unter dem Pousse-pousse schwankt schwach leuchtend hin und her. Eine Viertelstunde lang. Noch immer ist es schwül, und der Fahrer schwitzt. Mal rennt er,
mal geht er, an der Kreuzung hält er kurz an, obwohl niemand und nichts kreuzt.
Kurze Pause. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Eigentlich müsste ich
ihm viel mehr für diese Fahrt geben. Doch wenn ich heute mehr gebe, wird er
morgen sicher noch mehr verlangen. Vor dem Hotel gebe ich ihm die 2000 Franc
Malgache. Er schaut mich ungläubig an. „Wieso deux mille Monsieur? Wir
haben doch dix mille vereinbart, 10.000“. Ich staune, erkläre, dass ich deux mille
gesagt hätte. Er meint hingegen, dix mille verstanden zu haben. Deux mille, dix
mille. Hin und her. Schließlich gebe ich ihm 5000. Er freut sich. Dann schlage
ich ihm vor, er soll mich morgen früh um fünf Uhr abholen und mich zur TaxiBrousse-Station bringen. „Gerne, Monsieur, fünf Uhr, morgen früh. Oui. Oui.
Salut Monsieur. Veloma“. Am nächsten Morgen warte ich auf ihn. Er kommt
nicht. Ich nehme schließlich einen anderen Pousse-pousse-Fahrer, irgendeinen
anderen der siebentausendachthundert Pousse-pousse-Fahrer von Antsirabe.
Krank vor Madagaskar liegen
Als ich mit Verdacht auf Malaria und Typhus krank wurde, war Madagaskar kein Paradies. Madagaskar war für mich aber auch zu keinem anderen
Zeitpunkt ein Paradies. Das Land hat zwar paradiesische Ecken, aber ein
Paradies? Es war für mich auch nie geheimnisvoll oder besonders exotisch.
Martin Roos
Madagaskar
Es war nur anders, nicht zu vergleichen mit der Welt, aus der ich kam. Jeder
Vergleich wäre auch falsch, und jede Vorstellung von einem Madagaskar, das
irgendwo weit entfernt irgendwas von einem Mary-Poppins-Zauberland hat,
ist auch falsch. Madagaskar ist einfach nur anders, man muss sich darauf einlassen, und wenn man es tut, geschieht Neues, es bleiben Gewohnheiten aus,
es verschwinden Meinungen, man ist überrascht von sich, von anderen, vom
Tag, von jedem Tag, von jedem neuen Tag, immer wieder. Das ist das Schöne.
Ich dachte, als ich krank war, an die Matrosen, denen es im japanisch-russischen Krieg 1904 vor der Nordwestküste Madagaskars gar nicht gut ging. Viele
starben nicht im Schlachtgemetzel, sondern an einer merkwürdigen Seuche.
Diese Seuche gab der Insel nicht nur den Ruf, „Grab des weißen Mannes“ zu
sein, sondern war auch der Anlass für jenes Lied, das für die meisten Deutschen
heute das einzige ist, was sie überhaupt von Madagaskar kennen. „Wir lagen vor
Madagaskar...“ Aber selbst dieses Lied informiert leider falsch. Denn für die Seeleute, die einst vor Madagaskar lagen, stellte sich später heraus, dass sie nicht die
Pest an Bord hatten, sondern Typhus.
Ein Christkind namens Fara
Der Kauf der Schuhe. Es riecht nicht nach Lebkuchen, nicht nach Spekulatius, nicht nach Glühwein. Nur ein paar grüne Plastikbäume, die mit ihren stacheligen, borstigen, langen Nadeln wie riesige Klobürsten aussehen, und ein paar
Weihnachtsmänner, die sich in roten Mäntelchen, Stiefeln und mit weißer
Gesichtsmaske auf der Avenue de l’Indépendence aufgestellt haben, erinnern
daran, dass es weihnachtet. Die madagassischen Weihnachtsmänner tragen
bunte große Schirme, die sie je nach Wetterlage, als Regen- oder Sonnenschirm
benutzen. Da stehen sie dann etwas gelangweilt und warten darauf, dass die Einwohner sich mit ihnen für ein paar Franc Malgache fotografieren lassen. Das
muss so sein, denn auch der Weihnachtsmann in Tana ist nicht sehr reich, und
wenn er schenkt, schenkt er meist nur den Kindern etwas.
Um ihm ein wenig zu helfen, habe auch ich Père Noel gespielt. Für ein Straßenkind, das ich seit Beginn meiner Zeit in der Hauptstadt kenne, und das mich
immer mit „Bonjour Monsieur“ begrüßt, wenn es mich auf der Place de l’Indépendence sieht. Es ist ein zwölfjähriges Mädchen und heißt Fara. Fara bedeutet
„Jüngste“ und vielleicht mag ich sie deswegen. Sie ist zwar rotzfrech, doch nicht
uncharmant. Natürlich zerlumpt, schmutzig und ohne Schuhe. Zehen und Nagelbetten sind völlig verwachsen. Obwohl ich Straßenkindern grundsätzlich kein
Geld gebe, ist sie die einzige, die etwas von mir bekommt. Wo soll man mit Geldgeben anfangen, wo aufhören? Gibt man einem, muss man dann allen geben?
Was ist gerecht, was ungerecht? Ist da überhaupt was gerecht? Lernen diese Kin-
Madagaskar
Martin Roos
der, indem man ihnen Geld gibt, nicht noch besser zu betteln? Bei Fara mache
ich eine Ausnahme. Um die 1000 Franc Malgache bekommt sie immer von mir,
nicht mehr als 30 Pfennig. Aber viel für sie. Eine Familie verdient knapp 80 Mark
im Monat, schon ein Stück Fleisch, 250 Gramm Zebu, kostet eine Mark, zuviel
für eine arme Familie, die acht- bis zehnköpfig ist. Die allermeisten sind arm und
kinderreich. Fleisch ist Luxus, den es höchstens einmal im Monat gibt.
Vor einer Woche hat mich Fara gefragt, ob ich ihr Schuhe kaufen könnte. Ich
sagte ja. Aber nur an Weihnachten, also heute. Heute am Heiligen Abend. Um 11
Uhr ging ich mit ihr los, sie wollte Turnschuhe haben, die ich ihr dann in irgendeinem verwinkelten Markt in der Nähe des ehemaligen Zoma kaufte. Für 40.000
Franc Malgache, keine 15 Mark. Als sie die Schuhe über ihre Füße zog, konnte
sie es nicht fassen. Erst hat sie sich kaputtgelacht, dann ernst geschaut, dann verlegen gelächelt. Wie auf Eiern wackelte sie in den Latschen. Als ob man einem
Bergsteiger Ballettschuhe angezogen hätte. Behutsam trat sie links und rechts mit
ihren Füßen auf. Immer wieder, und hielt die Hand vors Gesicht, um ihre Röte
zu verdecken. Die Schuhe, die sie so gerne haben wollte, waren ihr plötzlich
fremd. Aber halb lachend, halb strauchelnd, stammelte sie schließlich ein „Merci“
und konnte es einfach nicht fassen. Sie konnte es einfach nicht fassen.
Ich hoffe, ihre Schuhe werden nicht geklaut. Vielleicht verkauft sie sie auch.
Ich sagte ihr, dass ich wiederkommen werde, um zu kontrollieren. Dann
ging ich, und sie hinter mir her, ein paar Schritte Abstand, anders als beim Hinweg, bei dem sie mir eilig vorausgelaufen war. Beim Gehen schaute sie nun
auf den Boden, vielleicht auf ihre Schuhe. Ich blickte zurück, dann sah auch
sie hinauf zu mir, lächelnd und unendlich verlegen – mein kleines Christkind
namens Fara.
Schuhe im Sack. Wie Fara in das neue Jahrtausend gekommen ist, weiß ich
nicht. Heute sah ich sie wieder. Es ist der 6. Januar 2000. Heilige Drei Könige.
Von weiten rief sie mich schon. Sie hatte keine Schuhe an. Als ich fragte, wo sie
seien, zeigte sie auf die gegenüberliegende Straßenseite, auf einen schmutzigen,
kohleverrußten Sack. Ihr Kleiderschrank. „Dort sind die Schuhe“, sagte sie. Aufbewahrt in dem alten Sack. Bewacht von den anderen Bewohnern der Straße.
Heute würde sie sie nicht tragen wollen. „Warum?“, fragte ich. „Dann schauen
Sie sich doch mal meine Füße an. Viel zu schmutzig.“ Ich allerdings vermutete,
dass sie die Schuhe schon gar nicht mehr hatte. Ich fragte, wann sie die Schuhe
denn wieder einmal anziehen würde. „Morgen“, sagte sie „oder Freitag“. „Wieso
morgen oder Freitag?“, fragte ich. „Ach nur so“, sagte sie. Ich verabschiedete
mich und ging.
Mit Schuhen zur Schule. Morgen reise ich zurück nach Deutschland. Gestern
traf ich Fara zum letzten Mal. Ich sah sie in einem Hauseingang, mit ihren
Freunden Blätter eines alten Taschenkalenders sortieren. Fara hatte Schuhe an,
ihre Turnschuhe. Als sie mich sah, sprang sie auf und gab mir die Hand. Heute
Martin Roos
Madagaskar
ginge sie zu Schule. „Zur Schule!?“ Das überraschte mich. „Ja“, sagte sie, „von
acht bis zwölf und nachmittags noch einmal zwei Stunden“. Ich sagte, dass ich
das sehr gut fände und wollte wissen, wo die Schule sei. „Nicht weit“, meinte sie,
„da kann ich zu Fuß hingehen, nur fünf Kilometer“. „Fünf Kilometer! Das
nennst du nicht weit“, rief ich. „Gut, dass du nun Schuhe hast“. „Ja“, sagte sie,
„gut dass ich nun diese Schuhe habe“. Seit dem Kauf der Schuhe hatte mich Fara
nie wieder nach Geld gefragt.
Die Hoffnung heißt „morgen“
In einer Senke taucht die Silhouette von Ilakaka auf. Einst gab es in dieser Trockensavanne nur ein paar Lehmhütten, in denen wenige Eltern mit ihren Kindern
wohnten, die hinter Dornenbüschen und Termitenhügeln Verstecken spielten. Vor
nicht mehr als einem Jahr fand jemand Steine. Wertvolle Steine. Saphire. Schnell
brach das Fieber aus, und aus dem ganzen Land kamen sie, um sich anzustecken.
Sie gaben ihr altes Leben auf, brachten Eimer, Schaufel und Spaten mit,
bauten sich Häuser aus Pinienholz und buddelten um ihr Leben. Täglich
wächst nun die Hüttenstadt. Es gibt bereits eine kleine katholische Grundschule, eine Kirche, eine aus Brettern zusammengebaute Arena für den Hahnenkampf, eine Apotheke, eine Videothek, in der den ganzen Tag Actionfilme
laufen, ein paar Wundärzte, einen Zahnarzt, der seinen Patienten auf einem
ausrangierten Peugeot-Fahrersitz die faulen Zähne zieht. Und es gibt Nachtclubs, vor deren Türen die Huren über den sandigen Boden stöckeln. Immer
mehr Glückssuchende kommen. Über 100.000 Dealer und Digger hat das
Saphir-Fieber in den vergangenen Monaten bereits nach Ilakaka gelockt,
und mit ihnen kamen Banditen, Diebe, Killer und die Gendamerie. Es ist der
wilde Südwesten Madagaskars.
Barfüßig, den Spaten über die Schulter geworfen, schlurfen die Schürfer zu
ihren Schächten. Tausende von Löchern haben den Boden bereits durchsiebt.
Anderthalb Meter sind sie breit, manche sechs Meter tief, andere bis zu 20 Meter.
Es sind Tunnel, ein unterirdisches Netz aus Gängen, durch die sich die Arbeiter
den Weg mit Kerzenlicht leuchten. Vier Menschen sollen in den vergangen
Wochen schon verschüttet worden sein. Absperrungen rund um die Löcher und
Schächte gibt es nicht. Die Kinder laufen um sie herum, spielen Räuber und Gendarm. Wie viele von ihnen schon hineingefallen sind, weiß man nicht. Wieviele
Arbeiter verschüttet worden sind, auch nicht. Offiziell gab es bisher nicht mehr
als 30 Unfälle mit Todesfolge. Inoffiziell sind mindestens schon 100 gestürzt oder
lebendig begraben worden. Vor allem in den großen Minen, die bis zu 400
Meter lang und 60 Meter tief sind. In diese riesigen Gruben haben die Männer
vom Minengrund bis zum oberen Rand stufenweise Plateaus in einem Abstand
Madagaskar
Martin Roos
von etwa zwei Metern in den Sand gehauen. Von Plateau zu Plateau schleudern
sie die mit Sand gefüllten Säcke nach oben. Träger schleppen die Sandlast zum
gelben Fluss Ilakakas. Dort geht es an die Steinwäschersiebe.
Manche Suchende sind im Saphirdorf reich geworden. Zum Beispiel der
Bürgermeister, Monsieur Fernand René, der mit dem Fund von Saphiren
aus seiner Lehmhütte drei Steinhäuser und zwei Autos gemacht hat. Die
meisten Männer, die in den Schächten schaufeln, bleiben aber arm und müssen für einen Patron, einen Händler, arbeiten, der ihnen Tagesverträge anbietet. Das Grundgehalt ist fünf Mark pro Tag. Was sie finden, verkauft ihr
Patron. Vom Verkaufspreis kriegen die Schürfer nicht mehr als sechs Prozent.
„Neulich hat einer abends in der Bar geprahlt, dass er unten im Tunnel einen
Stein gefunden und behalten hätte. Den haben die Patrons dann so bedient,
dass er zwei Wochen lang keinen Spaten mehr in die Hand nehmen konnte“,
erzählt John. Der 25jährige John Heritina Rakotomamonjy hat sich, wie
viele andere, im ockerfarbenen Sandboden arm geschaufelt. Sein gesamtes
Geld, fast 500 Mark, investierte er in die Suche. Gefunden hat er nichts. Sechs
Monate lang. Jetzt jobbt er als Kellner und als Fahrer für Touristen, die den
Nationalpark von Isalo besuchen wollen, im wenige Kilometer entfernten
Ranohira. „Die Saphire sind die Hoffnung der Suchenden“, sagt John. „Inzwischen sind aber viel zu viele Leute gekommen. So viele Saphire können gar
nicht mehr im Boden sein, dass alle etwas finden.“
Viele Arbeiter scheinen anderer Meinung zu sein. Fragt man sie, ob sie heute
schon etwas gefunden haben, sagen sie: „Nein, aber morgen“. Fragt man sie ob
sie gestern etwas gefunden haben, sagen sie: „Nein, aber morgen.“ Fragt man sie,
ob sie überhaupt schon einmal etwas gefunden haben, sagen sie. „Ja sicher, und
morgen finden wir wieder etwas.“ Ihre Hoffnung heißt „Morgen“.
„Bei uns in Ilakaka gibt es nichts offiziell, aber unter der Hand gibt es alles“,
freut sich Gaolaza. Trotz seiner von Drogen rot unterlaufenen Augen und seiner
nervösen Gestik, versucht er wichtig zu wirken. Er ist Mitglied der Organisation
im „Comptoir de Saphir“, dem Markt, auf dem die Händler, vor allem aus Sri
Lanka, in ihren winzigen Verkaufständen mit Aufschriften wie „Big Boss
Saphir“ auf die lokalen Saphirverkäufer warten. Dort drehen die Händler die
Steine zwischen Daumen und Zeigefinger, leuchten sie mit einer Spezialtaschenlampe ab, registrieren Einschlüsse, Fenster, Blasen und Brüche. Je nach
Reinheit, Helligkeit und Härtegrad liegen die Preise zwischen zehn und 140.000
Mark pro Saphir.
Vor Gaolazas Büro, am Comptoir-Eingang, stehen zwei Soldaten mit
Maschinengewehren bewaffnet. Es ist nötig. Zu viele rennen vor den Verkaufsständen der Händler rum und tragen unter dem T-Shirt eine Pistole.
„Noch in 100 Jahren werden wir hier Saphire finden“, ruft Gaolaza und
schlägt mit der Hand so heftig auf seinen Bürotisch, dass der Stapel von Brie-
Martin Roos
Madagaskar
fen neben der Schreibmaschine umfällt. Ohne die Saphire würde Gaolaza
immer noch Zebus über die Savanne treiben. Er hat sich das verschafft, was
viele in Ilakaka wollen: Stellung und Respekt. Das große Geld in Ilakaka
machen jedoch die Grand-Patrons, die Großhändler, meist Europäer, die an
einem Tag bis zu 200.000 Mark für Steine ausgeben.
Plötzlich wird es vor dem Comptoir laut. Menschen strömen zusammen,
rennen durch das Tor auf den Saphir-Markt. Zwei Jeeps fahren durch die
Schranke. Auf der Ladefläche des Pickups stehen schwer bewaffnete Jungs.
Fünf Bodyguards mit Spiegelbrille. Den Kerl vorne im Wagen nennen alle
Monsieur Werner alias Werner Spaltenstein, Bauernsohn aus Zürich. Mit
seiner Cessna ist er vor einer Viertelstunde auf der holprigen Graspiste,
neben dem wenige Kilometer entfernten Nobelhotel „Relais de la Reine“,
gelandet. Von dort, über die Route Nationale 7, sind es nur ein paar Minuten
bis zum Comptoir. Jetzt stehen die lokalen Verkäufer vor Werners Kiosk
Schlange. Manche jubeln schon, freuen sich, ihre Steine zu einem guten
Preis zu verkaufen. Andere sind etwas nervös und beginnen zu drängeln. Ein
Gendarm mit gezückter Kanone sorgt für Ordnung.
Dass die Grand-Patrons alle nicht ganz koscher sind, wissen die kleinen
Schürfer und Händler, die hier kaufen und verkaufen. Sie fürchten sie. Wenn
beispielsweise der Name Zwetkow fällt, verstummen viele für einen Augenblick. Der 62jährige Eugen Zwetkow, gebürtiger Bulgare mit deutschem Pass
und Hemmingway-Bart, hatte schon Anfang der 70er Jahre in Sambia Edelsteine gesucht, später im sozialistischen Madagaskar Gold und Smaragdvorkommen aufgespürt. Dass er nun als Grand-Patron unbehelligt in Ilakaka wirken kann, ist kein Wunder. Seine guten Kontakte zu Präsident Didier
Ratsiraka, dessen Sohn Ilakaka praktisch gehört, machen es möglich.
100 Jahre lang wird Ilakaka wohl nicht ein Mekka für Saphirsucher bleiben.
Das zumindest meint die Presse in Tana. Für sie steht sogar fest, dass der größte
Teil des im Boden versteckten Schatzes bereits gefunden wurde. Manche Glückssucher sind schon weiter gezogen. In einem kleinen Dorf im Süden, bei Fort Dauphin, sollen die nächsten Saphire entdeckt worden sein. Ilakaka jedenfalls wird
so lange in aller Munde bleiben, bis der letzte Stein gefunden ist. Bis dahin wird
weitergesucht. Vielleicht lohnt es sich ja und man stößt eines Tages – wie der
Karikaturist der Tageszeitung „L’Express“, Elisé Ranarivelo, glaubt – auf andere
wertvolle Dinge: Knochen eines Dinosauriers.
Salut Vazaha!
Salut Vazaha, rufen, meistens fröhlich winkend, die madagassischen Kinder, wenn sie einen Weißen, einen Vazaha, am Strand oder durch ihr Dorf lau-
Madagaskar
Martin Roos
fen sehen. Salut Vazaha, rufen heiter die Strandverkäufer, wenn sie ihre
Muscheln und Holzschnitzereien den Weißen anbieten. Salut Vazaha, rufen
freundlich die Händler, wenn man ihren Laden betritt. Salut Vazaha, rufen
lockend die Prostituierten, wenn sie weiße Kundschaft sehen. Salut Vazaha,
rufen gehässig Madagassen, wenn sie Weiße nicht mögen.
Im Stadion
Im Sportstadion von Tana wird Rugby gespielt. Ich muss vor der Haupttribüne
entlanggehen, um zu einem freien Sitzplatz zu kommen. Oben auf den Rängen
sehe ich nur Madagassen, fast nur junge. Als sie mich erblicken, fangen sie an
zu johlen, auf mich zu zeigen, zu rufen: „Salut Vazaha“. Mir wird etwas unheimlich. Ich beschleunige meinen Schritt, eile die Ränge hinauf. Sie glotzen mir nach,
rufen immer noch. Als ich mich setze, stürmen drei, vier Jungs auf mich zu, setzen sich vor, hinter und neben mich. Ich schaue erstarrt. Sie lachen, sie lachen
mich an, halten mir Erdnüsse hin. Sie freuen sich. Sie freuen sich, mich zu sehen,
finden es schön, einen Weißen unter sich zu haben. Salut Vazaha.
Fußballplatz
Auf einem Platz in Tana, von dem die Rue Ravelojaona bis zum Rova, dem
abgebrannten Palast der Königin in Tana, hinaufführt, wird sonntags Fußball
gespielt. Der Platz ist löchrig, das wenige Grün, das auf ihm wächst, ist Unkraut.
Manche der Spieler tragen Fußballschuhe, manche nicht. Doch ob mit oder ohne,
der Ball rollt gut. Ein etwa vierzigjähriger Madagasse spricht mich an. Salut
Vazaha. Er fragt mich, was ich von dem Spiel halte. Er kennt Europa, hat in Straßburg studiert. Zahnarzt. In Madagaskar hat er keinen Job bekommen, kümmert
sich jetzt um die Jungs auf dem Platz. Hosen und Trikots habe er für sie bereits
besorgen können. Nun suche er noch einen Sponsor. Er schaut mich an. Festen
Blickes. Dann würden alle Fußballschuhe tragen können, sagt er. Salut Vazaha.
Deutschstunde
Madagassische Germanistikstudenten der Universität Tana erwarten mich
zu einer Seminarstunde. Als ich den Raum betrete, stehen 30 Mädchen und
Jungen auf und raunen mir unisono ein „Guten Tag“ zu. Auf ein Handzeichen
der Lehrerin setzen sie sich. Ich soll von mir erzählen, von meinen Eindrücken
in Madagaskar. Auf deutsch. Dann sind sie dran, auf deutsch, fragen mich. Ob
ich als Journalist meinen Traumberuf gefunden hätte. Wie demokratisch
denn nun mein Land nach der Nazizeit sei. Wie das in Deutschland mit der
Rente funktioniere. Was der neue Kanzler für einen Eindruck mache. Ob ich
wüsste, wie schwierig es in Madagaskar sei, einen seiner Ausbildung entsprechenden Job zu finden, wenn man nicht der richtigen Familie oder dem
richtigen Stamm angehöre. Irgendwann ist die Stunde zu Ende. Sie danken,
Martin Roos
Madagaskar
klatschen, ich gehe. Nur der beste von ihnen wird einmal mit einem Stipendium Deutschland besuchen dürfen. Salut Vazaha.
Kindermuscheln
Am Strand von Ramena, bei Diego-Suarez, stürmen drei kleine Kinder auf
mich zu und knien sich neben mich. Salut Vazaha. Die beiden Mädchen packen
Muscheln aus ihren Tüten, bieten sie mir an. Der zweijährige Junge kann sich vor
Lachen kaum halten und versteckt sich immer wieder hinter seinen Schwestern.
Sie malen sich Punkte mit meiner Sonnencreme ins Gesicht. Sie wollen, dass ich
ein Foto von ihnen mache. Ich mache eins. Sie jubeln. Dann gehen sie, lassen mir
die Muscheln als Geschenk. Salut Vazaha.
Bevorzugte Behandlung
Der Platz neben dem Fahrer im Taxi-Bé ist bequemer, breiter und teurer als
die restlichen Plätze hinten. Meistens wird er von einem Vazaha reserviert.
Auf der fast fünfstündigen Fahrt von Tamatave nach Soanierana-Ivongo sitze
ich vorne. Für den Platz habe ich vier Mal mehr als die anderen, die sich hinten quetschen, bezahlt. Sie gönnen ihn mir, ich bin Vazaha, ich habe bezahlt.
Hupend rast der Bus über Brücken, Straßen und Dörfer. Fast immer Vollgas,
um die Zeit einzuholen, die bei den ständigen Kontrollen der Polizei und bei
den zahllosen Busstopps verloren geht. Musik dröhnt aus dem Radio. Hinter
mir wird es immer voller. Die Leute liegen schon quer über- und untereinander. Mich lässt man in Ruhe. Salut Vazaha. Nur einmal bittet man mich, für
einen Fahrgast ein wenig zur Seite zu rücken. Dem Mann ist es sichtbar
unangenehm. Er entschuldigt sich und wechselt sofort den Platz, als hinten
etwas frei wird. Salut Vazaha.
Ihr habt es
Auf der Westseite der Insel Ste. Marie fragt mich ein achtjähriger Junge
nach Geld. Zwar freundlich, doch ohne Bitte und sehr hartnäckig. Als ich ihn
frage, wie er darauf käme, dass man als Weißer immer Geld geben müsse, sagt
er: „Ihr seid doch alle reich“. Warum er denn meine, dass alle Vazahas Geld
hätten. „Ihr habt es“. Ob er nicht glaube, dass man auch in Europa dafür arbeiten müsse. Er antwortet: „Ihr seid weiß, ihr seid reich, ihr habt Geld. Jetzt
könnt ihr uns doch davon auch etwas abgeben“. Salut Vazaha.
Piratenfriedhof
Nur über einen vierzig Zentimeter breiten Steg ist der Piratenfriedhof auf
Ste. Marie zu erreichen. Mehr als tausend Seeräuber sollen sich um 1800 in
den Buchten der Insel versteckt haben. „Salut Vazaha“, sagt der Junge, der auf
Besucher wartet und eine Führung anbietet. Ich gebe ihm etwas, damit er mich
Madagaskar
Martin Roos
nicht begleitet. Ich will den Ort, der offiziell fady ist, alleine finden. Ich balanciere über den Steg und verschwinde im Dickicht der kleinen Halbinsel. Erst
nach zehn Minuten finde ich an einem Pfad ein morsches Holzschild. Die
Buchstaben sind kaum zu erkennen. „Cimetière aux Forbans“ soll es wohl heißen, Piratenfriedhof, der Eingang. Zehn Meter dahinter die ersten Grabsteine. Einige sind zerbrochen, andere überwachsen, die wenigsten zu entziffern. Ich suche nach eingravierten Totenköpfen, versuche die Steine von
Ästen, Blättern und Moos zu befreien. Nichts zu finden. Die Sonne brennt, ein
Vogel zwitschert frech im Gebüsch. Ich bin enttäuscht und gehe. Fast falle ich
über eine im fußhohen Gras liegende Grabplatte. Ein Gesicht lacht mich an.
Es ist ein Totenkopf, ein Totenkopf mit einem höhnischen Grinsen. Salut
Vazaha.
Erdkunde
Von dem größten Dorf auf Ste. Marie, Ambodifotatra, laufe ich auf die Ostseite der Insel. Zwei Stunden zu Fuß. Ein achtjähriges Mädchen und ihr kleiner Bruder kommen hinter mir hergerannt. Salut Vazaha. Sie haben blaue Kittel an, Schuluniformen. Jeden Tag gehen sie diesen Weg. Eine Stunde zur
Schule hin, eine Stunde zurück. Andere Wege, andere Orte kennen sie nicht.
Während wir nebeneinander herlaufen, zeigt mir das Mädchen ihr Schulheft.
Sie ist stolz. In der Erdkundestunde hat sie heute Afrika kennengelernt und
gezeichnet. Mit bunten Stiften. Alle Länder mit allen Namen und alles auf
Französisch. Dann fragt sie mich, wo ich herkomme. Ich erzähle von Europa
und dem Land, das Deutschland heißt, von seinen Städten, von seinen Straßen, von seinen Kindern. Sie hört und fragt, und fragt und hört, bis wir das
Haus ihrer Eltern erreichen, eine Hütte am Weg. Salut Vazaha, sagt sie und
geht. Ihre Eltern schauen mich misstrauisch an. Ich gehe weiter, blicke zurück
und sehe, wie das Mädchen nicht aufhört zu erzählen.
Im Restaurant
Ein Restaurant in Ambodifotatra auf Ste. Marie ist dafür bekannt, dass man
lange auf das Essen warten muss. Es macht nichts. Ich habe Geduld und verstehe mich aufs Warten. Ich gehe hin, bestelle ein Menü. Das einzige, was es
noch gibt. Zebu, Kartoffeln, Gemüse. Ein erstes Getränk wird mir nach 20
Minuten gebracht. Es macht nichts. Ich habe Geduld und verstehe mich aufs
Warten. Es vergeht eine weitere halbe Stunde, ohne dass etwas passiert. Eine
Dreiviertelstunde, eine Stunde. Es macht nichts. Ich habe Geduld und verstehe
mich aufs Warten. Ich schaue nicht mehr auf die Uhr. Irgendwann kommt das
Essen. Ich habe in der Zwischenzeit so einen Hunger bekommen, dass ich noch
einen Nachtisch bestellen möchte. „Nachtisch?“, ruft die Kellnerin erstaunt.
„Hören Sie“, sagt sie, „das geht nicht, das schaffen wir jetzt leider nicht mehr“.
Martin Roos
Madagaskar
Es macht nichts. Ich habe Hunger und verschlinge mein Essen. Dann will ich
zahlen. Bis die Rechnung kommt, vergehen weitere 20 Minuten. Es macht was.
Ich habe keine Geduld mehr und verstehe mich nicht mehr aufs Warten. Das ich
erst am nächsten Morgen zurückkomme und zahle, macht nichts. Die Leute
haben Geduld und verstehen sich aufs Warten. Salut Vazaha.
In einem anderen Restaurant
In einem Restaurant in Fort Dauphin bestellen wir Cola. „Cola ist nicht
mehr da“, sagt der Kellner, „aber Fanta“. Wir nehmen Fanta. Bei einem zweiten Kellner bestellen wir das Essen, gegrillte Krabben und Krebse. „Gegrillte
Krabben sind nicht mehr da“, sagt der Kellner, „aber Krebse und Langusten“.
Wir nehmen Krebse und Langusten und noch eine Fanta. „Fanta ist nicht mehr
da“, sagt der zweite Kellner, „aber Cola“. Wir staunen und nehmen nun Cola.
Als die Langusten vom ersten Kellner gebracht werden, sagt er: „Krebse sind
nicht mehr da, aber gegrillte Krabben“. Wir essen Langusten und gegrillte
Krabben. Als Nachtisch bestellen wir flambierte Bananen und Mousse au chocolat. „Flambierte Bananen sind nicht mehr da“, sagt der erste Kellner, „aber
Mousse au chocolat“. Der zweite Kellner kommt zurück: „Mousse au chocolat
ist nicht mehr da, aber ein paar Bananen“. Wir nehmen Bananen. Dann wir
zahlen wir. Eine Rechnung, eine einzige. Bei getrennten Rechnungen wären
sicher ein paar nicht da gewesen. Salut Vazaha.
Robinson tanzt
Als ich mich in Hell-Ville, auf Nosy Be, von Pierre Robinson verabschiede, lädt er mich ein, ihn am nächsten Tag in seinem Haus auf der Insel
Nosy Komba zu besuchen. Ich kenne ihn gerade zehn Minuten. Pierre ist etwa
sechzig, Franzose, und lebt seit dreißig Jahren auf den Inseln Nosy Be und
Nosy Komba im Norden Madagaskars. Ein Fremdenlegionär ist er nicht,
sagt er. Der schlanke Mann mit dem ausgemergelten Gesicht und dem schütteren Haar wirkt in seiner langen Leinenhose, dem gebügelten Hemd, den
geputzten Schuhen und den dazu farblich abgestimmten Strümpfen durchaus
elegant. Am nächsten Morgen fahre ich mit dem Touristenboot nach Nosy
Komba. Ich verzichte darauf, mir die naschsüchtigen Lemuren der Insel
anzusehen, und suche Pierre. Einen Kilometer von dem Ankerplatz entfernt
treffe ich am Strand zwei Einheimische. Pierre lebe dort hinten in der kleinen
Hütte, sagen sie. Als ich vor dem Fenster stehe, sehe ich drinnen, in einem
schlichten Raum, einen Vazaha mit einer Einheimischen tanzen. Heiter,
rhythmisch, leichten Fußes. Es ist Pierre, nur mit weißen Shorts bekleidet.
Salut Vazaha, sagt er, Salut Vazaha, sagt sie, und bieten mir ein Bier an. Eine
halbe Stunde darf ich bei Robinson und Frau Freitag bleiben. Dann ruft mich
die Bootssirene zurück an Bord.
Madagaskar
Martin Roos
Am Hafen
Im Hafen von Hell-Ville ist der Teufel los. Mit einem Boot muss ich nach
Ankify, aufs Festland, übersetzen. Auf der Plattform vor der Anlegestelle laufen
und stehen Kofferträger, Boten, Vermittler, Taxifahrer, Bootsbesitzer, Ticketkontrolleure, Händler, Diebe und Betrunkene herum. Jeder will sich hier irgendwie, irgendwas verdienen. Der eine delegiert oder hantiert, der andere schleppt
und rennt, der nächste trägt und bringt und andere tun gar nichts. Die Passagiere
warten. Salut Vazaha. Als ich mein Ticket bezahlt habe, soll ich meine Tasche
abstellen. Sekunden später ist sie weg. Ich schaue mich nach dem Dieb um. Überall wird gerannt und geschoben, gefahren und gezogen, geschubst und gedrückt.
Die Tasche ist weg. Salut Vazaha. Dann werden die Passagiere auf die kleinen
Boote verteilt. Scheinbar wahllos. Auch ich sitze schließlich irgendwo in einer
dieser offenen Zehn-Mann-Schüsseln. Dann sehe ich meine Tasche. Sie schaut
aus dem Luk des kleinen Vorderdecks meines Bootes heraus. Ordnungsgemäß.
Salut Vazaha.
Das Zwanzigfache
Der Eintrittspreis für Einheimische, die die Nationalparks besichtigen wollen,
beträgt nicht mehr als eine Mark. Abgesehen davon, dass manche Madagassen
erst gar nicht in die Nähe von Nationalparks gelangen, ist für sie der Preis
immer noch hoch. Die Nationalparks können sich nur mit Hilfe der Eintrittsgelder für Ausländer finanzieren. Von den fast 11.000 Besuchern 1998 in Ranomafana, waren mehr als zwei Drittel Vazahas. Pro Nase zahlen sie fast 20 Mark.
Ein Preis, der als Spende zu betrachten ist. Salut Vazaha.
Am Schiffswrack
Die Fischerfamilie hat sich an das riesige Wrack des Schiffes gewöhnt, das ein
Zyklon, vor fünf Jahren, genau vor ihre vier Hütten an den Strand von Manakara
geworfen hat. Ein paar Wrackteile haben sie in ihre einfachen Behausungen eingebaut. Als Dach, als Tonne, als Stuhl. Als ich zu ihnen gehe, reparieren zwei
junge Männer ihre Netze, drei Frauen sitzen daneben, auf ihren Armen kleine
Kinder mit aufgeblähten Bäuchen und schlechten Zähnen. Ich setze mich. Salut
Vazaha. Sie lächeln und arbeiten weiter. Der Großvater kommt, der Wortführer.
Er gibt mir die Hand. Salut Vazaha. Er erklärt, dass in den beiden Pirogen, dort
hinten im Meer, seine Söhne sitzen. Sie sind heute bereits zum zweiten Mal draußen. Bisher haben sie nur Krebse gefangen. Der Großvater nickt mir freundlich
zu. Auch als ich gehe, fragt keiner von ihnen nach Geld. Salut Vazaha.
Kaffeebauern
Bei Manakara besuche ich eine Familie, die von der Arbeit auf einer Kaffeeplantage lebt. Salut Vazaha. Nur die Großmutter, die Töchter und Enkel-
Martin Roos
Madagaskar
kinder sind im Haus. Weil die Ernte in diesem Jahr schlecht war, sind die Männer unterwegs, um irgendwo anders Geld zu verdienen. Zehn Säcke à 30 Kilo
erntet die Familie normalerweise pro Saison. Dieses Jahr waren es nur fünf.
Ein Zyklon hat große Teile der Ernte zerstört. Nur 60 Mark haben sie jetzt verdient. Die Kinder mussten bereits die Schule abbrechen, weil sich die Familie die Hefte und Stifte nicht mehr leisten konnte. Jetzt arbeiten auch die Mädchen. Sie flechten kleine Teppiche aus Pflanzen. Zwei Tage brauchen sie für
einen. Für eine Mark soll er dann verkauft werden. Gegessen wird nur das,
was um die eine Hütte, in der die Familie wohnt, gratis wächst. Reis, Bananen, Litschis und Jackfruit. Der Großmutter gebe ich für ihre Mühe, mir alles
zu zeigen und zu erklären, ein wenig Geld. Dankbar verbeugt sie sich vor mir
mehrere Male. Salut Vazaha. Als auch die Tochter mich um Geld bittet,
schimpft die Großmutter sie furchtbar aus.
Grabwächter
Auf der Autoroute zwischen Isalo und Tuléar liegen, etwa 40 Kilometer vor
Andranovory, die Gräber der Mahafaly. Die schulterhohen Mauern der Grabstätten sind bunt, bemalt mit Soldaten, Gewehren, Panzern, Fischen, Walen
und Heldenmalereien. Die Grabstätten sollen den Reichtum und das Prestige
der Verstorbenen symbolisieren. Besuchen darf man diese gemauerten Mausoleen aber nicht. Sie sind fady, heißt es. Fady ist hier als „Schutz“ zu verstehen, denn in den vergangenen Jahren haben vor allem Touristen und Souvenirjäger die heilige Stätte beschädigt. Ein Mann steht mit seinem Freund vor
den Gräbern und hält Wache. Angeblich. Salut Vazaha. Nein, reinlassen will
er mich nicht. Es sei denn, ich gebe ihm eine Spende für die Renovierung. Und
seinem Freund auch. Neben ihm steht ein Eimer mit Farbe. Ich willige ein. Die
beiden bieten mir nun sogar eine Führung an. Sie werden richtig gesprächig
und bevor ich wieder verschwinde, trinken wir noch einen Schluck Rum. Salut
Vazaha.
Früchte der Baobabs
Wenige Kilometer vor Tuléar ist, am Rand der Nationalstraße, ein Schild mit
der Aufschrift „Andranomaitso“ befestigt. Es ist der Name von zwei Hütten,
die neben einem riesigen Baobab stehen. Dieser Affenbrotbaum ist ihr Kapital. Die Weißen, die halten, um den Giganten zu fotografieren, werden stets
stürmisch begrüßt. Salut Vazaha. Selbst von den Feldern kommen die Kinder
angerannt, atemlos, um in den wenigen Minuten, die der Vazaha vor den riesigen Bäumen verbringt, etwas von ihm zu erheischen: T-Shirts, Buntstifte,
Bonbons, Geld – die Früchte des Baobabs, die nicht auf ihm wachsen. Salut
Vazaha.
Madagaskar
Martin Roos
En panne
Das Taxi-Brousse zwischen Tuléar und Ifaty ist überfüllt. Mit Menschen,
Körben mit Bananen, Litschis und Brot, zahllosen Taschen und Koffern, Benzinkanistern, Bier-, Cola- und Limonadenkisten. Ich bin der einzige Ausländer.
Salut Vazaha. Immer wieder bleibt der Bus in der Sandpiste stecken. Alle Männer raus, Bretter unter die Räder und schieben. Dann alle Männer wieder rein und
weiter. Wenig später bleiben wir endgültig liegen, „en panne“, kaputt, Motorschaden. Brennende Mittagshitze. Eine Stunde Autofahrt liegt noch vor uns. Wir
nehmen unser Gepäck vom Dach und gehen zu Fuß weiter. Als wir den Lastwagen erreichen, den wir schon vom Bus aus gesehen hatten, hören wir, dass
auch er „en panne“ ist. In der Ferne wirbelt eine Staubwolke auf. Ein Jeep
nähert sich. Ich nehme mein Gepäck, laufe auf ihn zu. Nach kurzem Gespräch
nimmt mich der Fahrer mit. Sonst keinen. Salut Vazaha.
Rollentausch
Auf dem Rückweg von Ifaty nach Tuléar, ein paar Tage, später ist unser Jeep
„en panne“. Wieder Motorschaden, wieder Sandpiste, wieder Gluthitze. Kinder kommen angerannt: „Salut Vazaha. Donne-moi l’argent! Donne-moi TShirt!“ – „Gib mir Geld, gib mir T-Shirt“, rufen sie. Immer wieder. Schließlich sage ich zu ihnen: „Donne-moi l’argent! Donne-moi T-Shirt!“ Immer
wieder. Sie verstehen nicht. Verstummen. In der Ferne wirbelt eine Staubwolke auf. Ein Jeep nähert sich. Wir steigen ein. Die Kinder bleiben zurück.
Stumm. Salut Vazaha.
Weniger Lohn
Madame und Monsieur Ramangasalama wohnen in einem Haus auf dem
Campus der Universität von Tuléar, umsonst. Miete zu zahlen, können sie sich
nicht leisten. Nur Madame verdient zur Zeit Geld, als Lehrerin am Collège
Francais in Tuléar. Monsieur hat seinen Job als Dozent an der französischen
Schule verloren, nachdem er sich beklagt hatte, dass weiße Kollegen, die teilweise schlechter ausgebildet seien als er, grundsätzlich mehr Lohn kriegen
würden als madagassische Dozenten. Als er daraufhin sein Recht einklagte,
musste er gehen. Französisch sprechen sie zur Zeit nicht mehr so gerne.
Salut Vazaha. Mit mir reden sie lieber deutsch, fließend, akzentfrei. Sie haben
es beide während ihres Studiums in Deutschland gelernt.
Wellenritt
Hinter dem Horizont, der vom Café Pecheur, oben auf der Düne neben dem
Libanona Beach in Fort Dauphin, aus zu sehen ist, fällt jeden Abend galant die
Sonne ins Meer. Die Holzveranda des kleinen Cafés könnte der Panoramaplatz der Götter sein. Über mehrere hundert Meter rollen die Wellen unauf-
Martin Roos
Madagaskar
hörlich an den Strand. Die wenigen Besucher, die jetzt im Café sitzen, trinken
und genießen. In den Wellen unten tauchen zwei Delphine auf und beginnen
ihren Ritt über die Wogen. In aller Eleganz. In aller Ruhe. In aller Stille.
„Mann, det find ick irre“, brüllt ein Berliner neben mir. Salut Vazaha.
Radioshow
Sonntags abends läuft in Fort Dauphin die Brother-Radioshow. Ziel der Sendung ist: Musik. Hier darf jeder, der ins Studio kommt, einen Hit seiner Wahl auflegen lassen. Die meisten, die kommen, sind Vazahas: Belgier, Franzosen, Amerikaner, Engländer, Italiener oder Deutsche. Sie betreuen ein Forschungs- oder
Entwicklungsprojekt in der Stadt. Oft ist nur der DJ Madagasse. Salut Vazaha.
Die Gute-Laune-Show hat bei den Hörern Erfolg. Noch beliebter ist sie jedoch
bei den Moderatoren, denn der redaktionelle Ablauf ist Party pur: Den ausgewählten Song in der jeweiligen Landessprache anmoderieren, im Studio tanzen
und Rum trinken. Wenn keiner mehr kann, ist die Sendung zu Ende. Oft erst spät
in der Nacht, wenn die meisten Madagassen schon längst schlafen. Salut Vazaha.
Im Supermarkt
Der Supermarkt neben dem Anwesen des französischen Großgrundbesitzers
de Heaulme ist der modernste in Fort Dauphin. Die Luft, die sich drinnen
ansammelt, ist heißer, als die Mittagshitze draußen. Es gibt weder Ventilator noch
Klimaanlage. Ein Mann im Eingang quasselt unaufhörlich auf Französisch in ein
Mikrophon, macht Werbung für die Produkte. Quasseln für Vazahas. Die Frau an
der Kasse gibt statt Münzen Bonbons als Wechselgeld heraus. Auf sie freuen sich
draußen schon die wartenden Kinder des Dorfes. Salut Vazaha.
Regenflut
Als wir um 15 Uhr endlich im Minibus saßen, um nach Tana zurückzufahren,
war es zu spät. Der Regen hatte begonnen. Mit 30 Mitgliedern des „jeune chambre économique“, den madagassischen Wirtschaftsjunioren, hatte ich einen
Ausflug, etwa 20 Kilometer südlich der Hauptstadt, unternommen. Salut Vazaha.
Wir mussten jetzt zurück. Sonst wäre die Dunkelheit noch erschwerend hinzugekommen. Der Regen prasselte und schlug mit tausend kleinen Hämmerchen
gegen den Wagen. Im Bus erzählten sich die Madagassen Witze. Witze über das
Wetter. Nach zehn Minuten war der rote Laterit der Straße aufgeweicht. Regenwasser füllte die Furchen. Der Bus rutschte mehr als er fuhr, schlitterte den Weg
hinab. Den Weg hinauf drehten die Räder immer mehr durch. Dann die 30
Meter lange Anhöhe. Der Fahrer gab Gas, die Räder liefen heiß, Matsch spritzte
in alle Richtungen, auf halbem Weg blieben wir stehen, es ruckte, der Wagen
begann zu kippen und rückwärts zu rutschen. Der Fahrer lenkte gegen, dann verloren wir das Gleichgewicht, kippten, ein Schrei, jeder krallte sich in Erwartung
412
Madagaskar
Martin Roos
von splitternden Scheiben und Schlägen gegen den Körper irgendwo fest, verkrampft. Doch es krachte nicht. Wir kippten nicht. Der Bus war stehen geblieben. Irgendwo in der Schräge. Warum, wusste keiner. Alle raus. Wie aus vollen
Schläuchen schüttet der Regen nun auf uns nieder. Der Weg war inzwischen ein
Sturzbach. Schieben hatte keinen Sinn. Wir mussten warten. Die meisten rannten zu der Hütte eines Bauern, die für alle jedoch zu klein war. Als der Regen
nachließ, schoben wir den Bus den Hang hinauf. Alle Mann rein. Pitschnass.
Bereits kurz nach der Abfahrt begannen die Madagassen, sich wieder Witze zu
erzählen. Witze über das Wetter. Salut Vazaha.
Damenwahl
Auf der Insel Ste. Marie treffe ich in Ambodifotatra einen Luxemburger.
Neben ihm seine Freundin, eine Madagassin. Er hat sie gestern kennengelernt.
Am nächsten Morgen sieht sie mich am Hafen und hakt sich ohne zu fragen
bei mir ein. Salut Vazaha. Wo der Luxemburger ist, interessiert sie nicht
mehr.
In Ambatoloaka, auf Nosy Be, setzt sich ein madagassisches Mädchen neben
mich an den Tisch im Restaurant. Salut Vazaha. Sie bleibt mir den ganzen
Abend auf den Fersen. Drei Wochen später steige ich in Sambava, eine Flugstunde von Nosy Bé entfernt, auf der Straße in ein Taxi. Drinnen sitzt bereits eine
junge Dame. Salut Vazaha. Es ist das Mädchen aus Nosy Bé.
In Tana treffen wir in einer Disco drei junge Madagassinnen. Sie kennen uns.
Salut Vazaha. Sie haben uns in Fort Dauphin gesehen. Eine gute Flugstunde von
Tana entfernt. Sie waren dort in Begleitung einiger Vazahas. Seit ein paar Tagen
sind die Mädchen wieder zurück. Allein. Ihren Flug haben die Vazahas bezahlt.
An der Küste in Diego-Suarez kommt in einer Bar eine junge Madagassin
auf mich zu. Salut Vazaha. Sie ist hübsch. Sie fragt, wie lange ich bleibe. Ich
sage, morgen fahre ich. Sie schweigt, lächelt, verabschiedet sich höflich und
geht. Ich sehe sie nicht wieder.
In Tana treffe ich in einem Hotel eine Merina, eine Madagassin vom Hochland.
Salut Vazaha. Ich frage sie, ob sie sich mit mir zum Essen verabreden möchte.
Sie sagt ja. Zu dem Treffen ein paar Tage später kommt sie nicht. Ich rufe sie an
und frage, wo sie geblieben ist. Sie sagt, es schicke sich für eine Merina nicht,
mit einem vollkommen Unbekannten auszugehen.
La bonne
In Fort Dauphin suche ich ein Zimmer. An der Rezeption des Hotels Libanona komme ich mit Aimée, einer Madagassin, ins Gespräch. Sie hat ein Haus
aus Stein am Strand und bietet mir ein Zimmer an. Ich bin skeptisch, besich-
Martin Roos
Madagaskar
tige es, willige ein. Nun wohne ich dort zur Miete. Das Zimmer ist schlicht
möbliert, hat Vorhänge und einen Palisanderfußboden. Die Holztür mit den
Glasfenstern führt zu einer kleinen Veranda hinaus, unter deren Dach der
Wind des Indischen Ozeans pfeift und von der ich das Meer mit seinen tanzenden Gischtkronen sehe. Von der Veranda schaue ich hinunter auf die
„Bonne“, das Hausmädchen, das an dem Brunnen die Wäsche wäscht. Die
Sonne wärmt ihr die Stirn, die Augen, die nackten Füße. Seit Jahren arbeitet
sie schon in diesem Haus. Fast jeden Tag kommt sie und macht die Wäsche.
Für eine Stunde oder zwei. Und immer, wenn sie das letzte Hemd oder das
letzte Tuch aufgehängt hat, setzt sie sich auf den Boden, in den Schatten, den
die kleine Hütte neben dem Brunnen wirft, und streicht ihre bunte Schürze
über den Beinen glatt. Sie sitzt und blickt hinaus aufs Meer. Immer nur für
einen Augenblick. Ich kenne sie kaum. Wir sprechen so gut wie nie miteinander. Sie kann nur Madagassisch, und ich verstehe es nicht. Sie hat die Hände
in ihren Schoß übereinander geschlagen und ihren Kopf an die Hütte gelehnt.
Das fußhohe grüngelbe Gras weht im Wind. Die Luft ist bläulich milchig. Die
Wellen streicheln die Wolken und der Himmel das Meer. Es ist nur ein
Augenblick, doch ein Augenblick, so lang wie ein Tag. Irgendwo am Ende
oder irgendwo am Anfang der Welt. Salut Vazaha.
Misaotra – Danke
Für Betreuung, Begleitung, Hilfe, Gespräche, Großzügigkeit und Freundschaft danke ich Erdmuthe Op de Hipt und der Heinz-Kühn-Stiftung, Friedrich
Kramme-Stermose, Dominique Rakotomalala und der Friedrich-Ebert-Stiftung, Père Raymond Rambatoson s.j. und Père Pedro Opeka, Ellie Rajaonarison
und Moks N. Razafindramiandra, Christian Chadefaux, Hubert Rauch, Gabi
Kecker und Docteur Hantanirina Andrianasy, Bettina Fong Yam, Johnny Randrianaly und Franz Stadelmann, Aina und Vincent, Mina Falisoa, Pascal Lopez,
Jessica Martin, Florian und Sophie Ageorges, James Redshaw und Florence
Aimée Ravelomanana.
Claudia Ruby
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Madagaskar
vom 13 März bis 26 April 2000
Madagaskar
Die Arche Noah brennt
Von Claudia Ruby
Madagaskar, vom 13. März bis 26. April 2000,
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
Claudia Ruby
Madagaskar
Claudia Ruby
Inhalt
Prolog
Taxifahren bildet
Rückblick auf enttäuschte Hoffnungen
Die Arche Noah brennt
Ökotourismus – die Rettung für den Wald?
Es geht auch anders: Ambatolampy
„Unsere Zukunft sind die Kinder“
Die Puppenspieler von Mahajanga
Andasibe: Das erste Konzert im Wald
Andasibe: Das zweite Konzert im Wald
Sind Namen nur Schall und Rauch?
Nosy Be – das Mallorca Madagaskars
Wem gehört der Fisch?
Unterwegs: Von Toliara nach Antananarivo
Schluss und Dank
421
Claudia Ruby
Madagaskar
Prolog
„Madagaskar ist ein reiches Land. Eine Arche Noah voller Naturschätze.
Viele der Tiere und Pflanzen Madagaskars gibt es nirgendwo sonst auf der
Welt...… – Madagaskar ist ein armes Land – eines der ärmsten Länder der Welt.
Die Lebenserwartung liegt bei 56 Jahren, die Kindersterblichkeit bei rund 16 Prozent...... – Wie passen der überschäumende Reichtum der Natur und die grenzenlose Armut der Menschen zusammen? Gibt es für die Madagassen keine
Möglichkeit, Nutzen aus ihren Naturschätzen zu ziehen, ohne sie gleichzeitig zu
zerstören?“
Mit diesen Fragen bin ich nach Madagaskar gereist. Und wohl ein bißchen
auch mit der Überzeugung, zumindest einige Antworten schon zu kennen:
Man muß doch nur die Wälder nachhaltig nutzen, den Ökotourismus besser
organisieren.… – Aber das Ausmaß der Probleme hat mir viele Illusionen und
einfache Antworten geraubt. Was ich gefunden habe, sind eher Fragen als
Antworten.
Taxifahren bildet
Der erste Eindruck von der madagassischen Hauptstadt Antananarivo, kurz
Tana, war ein kurzer Alptraum. Am nächsten Morgen um sechs Uhr ging schon
der Flieger in den Süden Madagaskars, nach Mahajanga. Drei Tage habe ich das
Figurentheater Salohy bei einer Tour durch verschiedene Dörfer begleitet: In kürzester Zeit ein unglaublich intensiver Einstieg in das madagassische Leben.
Beim zweiten Mal ist Tana schon viel weniger erschreckend. Kann man sich
wirklich so schnell an Armut und Elend gewöhnen? Oder ist einfach meine Einstellung zu Madagaskar eine andere geworden, seit ich mit Jim und seiner
Truppe durch das Land gezogen bin?
Einer der ersten Eindrücke von Tana sind die Verkehrsstaus. Jeder Bewohner
der Hauptstadt kennt zumindest einen französischen Ausdruck: „Embouteillage“,
das Wort für Stau. Die Zahl der Autos nimmt ständig zu. Eine Rush Hour gibt es
nicht mehr, die Straßen sind beinahe den ganzen Tag verstopft. Zwischen den
Autos laufen Kinder herum und versuchen Postkarten, Äpfel, Bananen, Vanille
und andere Gewürze zu verkaufen. Die Luft ist schlecht, weiße T-Shirts sind nach
ein paar Stunden braun. Jedes dritte oder vierte Auto ist ein Taxi, das auf der
Suche nach Fahrgästen um die Häuserblocks kurvt. Für eine Fahrt innerhalb der
Stadt zahlen „Vazaha – Weiße“ je nach Verhandlungsgeschick zwischen einer
und vier Mark – ob man dann zehn Minuten oder eine Stunde unterwegs ist, spielt
keine Rolle. Unzählige Stunden habe ich in zerbeulten und klappernden R4-Taxis
verbracht und dabei viel über Stimmung, madagassische Politik und Mentalität
Madagaskar
Claudia Ruby
gelernt. Wirklich ungewöhnlich war ein bestimmt 60-jähriger Chauffeur, der
zwar fast keine Zähne mehr im Mund hatte, aber nahezu fehlerlos Schillers Glocke zitierte. Danach folgten weitere deutsche Gedichte über Rapunzel, Rhein und
Loreley, die ich noch nie gehört hatte. Das alles hatte er vor mehr als vierzig Jahren in der Schule gelernt und – im Gegensatz zu den sonstigen deutschen
Sprachkenntnissen – nie vergessen.
Meist läuft das Taxigespräch nach einem festen Muster ab. Zunächst das
„Woher und Wohin“ und dann die unvermeidliche Frage: „Wie gefällt Ihnen denn
Madagaskar?“ Die Antwort ist schwierig, denn nahezu alle Madagassen schimpfen über die Lage im Land, über Korruption und Kriminalität, gleichzeitig lieben sie ihre rote Insel und strahlen, wenn ich von wunderschönen Nationalparks
und netten Menschen schwärme. Nur sie selber dürfen kritisieren: Das die Politiker immer reicher und die Bevölkerung immer ärmer wird; dass die Preise für
Brot und Benzin steigen, ihre Löhne aber nicht. Fast alle schimpfen, alle sind
unzufrieden mit der Situation im Land. „Und, kann man dagegen nichts tun?“
Immer wieder habe ich diese Frage gestellt und meist nur ein einfaches „Nein,
das ist eben so“ zur Antwort bekommen. Das eigene Schicksal muß man erdulden, verändern kann man es nicht. Schwer zu akzeptieren für eine deutsche Journalistin, aber mit einem Blick auf die jüngere madagassische Geschichte vielleicht doch zu verstehen.
Rückblick auf enttäuschte Hoffnungen
Als Wahl zwischen Pest und Cholera bezeichnen viele Madagassen die
Abstimmung von 1996. Um das Amt des Staatspräsidenten bewerben sich der
Amtsinhaber Albert Zafy und der ehemalige Diktator Didier Ratsiraka.
Von 1975 bis 1993 hat Ratsiraka das Land gelenkt. In dieser Zeit wurden die
meisten Betriebe verstaatlicht, Französisch als Amts- und Unterrichtssprache
durch Malagasy abgelöst und etliche französische Unternehmer des Landes
verwiesen. Die „sozialistisch-revolutionäre Charta“ des ehemaligen Marineadmirals Ratsiraka, basiert auf den Gedanken von Mao-Tsetungs und Kim Il-Sung.
Seine Regierungszeit ist die Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs. Die Menschen hungern, die Analphabetenrate steigt und das Gesundheitssystem bricht
zusammen. Die Unzufriedenheit im Land wächst – genauso wie die Demokratiebewegung. 1991 ziehen monatelang jeden Tag Hunderttausende von Demonstranten durch die Hauptstadt und fordern politische Reformen. Ein acht Monate
dauernder Generalstreik legt fast das gesamte Land lahm. Alle Hoffnung richtet sich auf die Oppositionsbewegung und ihren Anführer, den Herzchirurgen
Albert Zafy, der 1993 mit 67 Prozent der Stimmen zum neuen Präsidenten
gewählt wird. Ratsiraka geht ins französische Exil.
Claudia Ruby
Madagaskar
Doch die großen Erwartungen der Bevölkerung werden schnell enttäuscht.
Zafy ersetzt die Anhänger Ratsirakas in Verwaltung und Wirtschaft durch
eigene Gefolgsleute. Die neue Elite ist völlig unerfahren. Sie nutzt die plötzliche Macht zur persönlichen Bereicherung: Amtsmißbrauch und Korruption
nehmen zu. „Das Land versinkt in noch größerer Armut und Chaos“, schreibt
Susanne Roessler in ihrem Reiseführer zur madagassischen Geschichte.
Nach drei Jahren spricht das Parlament Zafy das Mißtrauen aus und setzt Neuwahlen an.
Im Dezember 1996 kommt es zur Stichwahl zwischen Zafy und seinem Vorgänger Ratsiraka. Mit knapper Mehrheit holt die Bevölkerung den früheren
Diktator aus dem französischen Exil zurück. Das sie ihn nur fünf Jahre zuvor
unter größten Anstrengungen davon gejagt hat, spielt keine Rolle mehr. Ratsiraka
hat inzwischen Abschied vom Staatssozialismus genommen und möchte Madagaskar nun zur ersten „humanistischen und ökologischen Republik“ der Welt
machen.
Die Bevölkerung ist indessen so politikmüde geworden, dass sie die Wandlung ihres Präsidenten kaum zur Kenntnis nimmt. Nur eine Lehre haben die
Madagassen aus der Episode mit Albert Zafy gezogen: „In Zukunft wählen
wir Politiker, die schon an der Macht sind“, erzählt mir unter anderem ein
Taxifahrer. „Denn die haben ja schon für sich selbst gesorgt, und vielleicht tun
sie dann irgendwann auch mal etwas für unser Land“.
Die Arche Noah brennt
Würde morgen eine Sintflut bevorstehen, müßte Noah seine Arche auf
Madagaskar bauen. Nirgendwo sonst leben so viele einzigartige Tiere und
Pflanzen: Alle Lemuren, 99 Prozent der Froscharten und 80 Prozent aller Blütenpflanzen Madagaskars, gibt es an keinem anderen Fleck der Erde. Noch
immer werden neue Arten entdeckt, 1989 sogar ein neuer Halbaffe, der Goldene Bambuslemur. Doch viele Spezies werden aussterben, bevor sie je ein
Mensch zu Gesicht bekommt, denn die einst grüne Insel geht in Flammen auf.
Jedes Jahr im September und Oktober verdecken wochenlang schwarze
Rauchwolken den Himmel. Es ist die Saison der „feu de brousse“, der Buschfeuer. Kurz vor der Regenzeit setzen die Bauern die trockene Savanne in
Flammen. Die frische Asche düngt den Boden, und sobald die ersten Tropfen
fallen, sprießt neues Grün: Weidegrund für die Zebu-Rinder. Den Madagassen sind ihre Buckelrinder heilig. Traditionell dürfen sie nur zu besonderen
Anlässen getötet werden, zum Beispiel bei einer Totenfeier, als Opfer für die
Ahnen. Die Zebus sind ein Zeichen von Reichtum. Das fast alle Rindviecher
extrem mager und verhungert aussehen, spielt dabei keine Rolle. Je mehr Rin424
Madagaskar
Claudia Ruby
der ein Madagasse besitzt, umso angesehener ist er in der Dorfgemeinschaft.
Und bei den Bara, einem Volksstamm im südlichen Hochland, müssen sich die
jungen Männer vor der Hochzeit als Viehdieb bewähren. Erst danach werden
sie als Männer anerkannt, erst danach dürfen sie heiraten. Die Zentralregierung in Tana versucht mit drakonischen Strafen gegen diesen Brauch vorzugehen, bislang jedoch erfolglos.
Mittlerweile leben auf Madagaskar fast so viele Zebus wie Einwohner –
etwa 10 Millionen. Die Rinder überweiden die dünne Grasnarbe, das Feuer
gibt dem Boden den Rest. Die entblößte Erde wird mit dem nächsten Sturm
davongetragen. Der Regen reißt Schlamm und Geröll mit ins Tal, so das dort
die fruchtbaren Reisfelder versanden. Ist das Weideland nach einigen Jahren
völlig ausgelaugt, ziehen die Bauern mit ihren Rinderherden weiter und
brennen das nächste Stück Wald oder Savanne ab. Während meiner Zeit, im
März und April, war noch alles grün. Doch auch so kurz nach der Regenzeit
sind die Folgen der Brände nicht zu übersehen: Fingerförmig durchschneiden
tiefe Erosionsrinnen die Hänge. „Lavaka“ nennen Madagassen die ziegelroten Wunden der Berge. Aus der „île verte“, der ehemals grünen Insel, wird so
mit der Zeit eine verbrannte „île rouge“, eine rote Insel.
Aber nicht nur der Wanderfeldbau und die Buschfeuer zerstören den Wald.
Immer noch wird Tropenholz eingeschlagen – kleine Mengen legal, der Großteil illegal. Auch hochrangige Politiker verdienen an dem Geschäft mit den
edlen Hölzern. Schon deshalb kommt es fast nie zu Verurteilungen. Trotz bestem
Willen sind die Forstbehörden mit der Kontrolle komplett überfordert. In Morondava, im Westen Madagaskars, treffe ich Albert Zefania. Er hat in Göttingen
Forstwissenschaft studiert und leitet heute für das Ministerium „Eaux et Fôret“
die regionale Forstbehörde. Im letzten Monat habe er vier Holzschmuggler festnehmen lassen, erzählt Monsieur Albert stolz. Doch er weiß, dass immer wieder
Holzlaster ungesehen Edelhölzer, vor allem Palisander, aus dem Wald transportieren. Und auch Brandrodungen kann er nicht ganz verhindern. Zusammen
mit vier Kollegen ist er für eine Fläche von 46.000 qm verantwortlich – etwa so
viel wie das gesamte Bundesland Niedersachsen. Ein einziger Geländewagen
steht den Forstkontrolleuren zur Verfügung. Und nur in der Provinzhauptstadt
Morondava gibt es ein Telefon.
Jedes Jahr gehen 2.000 Quadratkilometer Wald in Flammen auf. Das entspricht etwa der Fläche des Saarlandes. Wenn die Zerstörung so weitergeht,
steht in 30 Jahren auf Madagaskar kein Baum mehr – so eine Rechnung der
Weltbank. Appelle nutzen da wenig: Wer Hunger hat, denkt nicht an Naturschutz. Der Wald muß Profit bringen, nur dann hat er eine Chance.
Claudia Ruby
Madagaskar
Ökotourismus – die Rettung für den Wald?
Knapp zwei Prozent der madagassischen Wälder sind heute als Nationalpark geschützt. Früher hat die Bevölkerung dagegen protestiert, weil sie den
Wald im Schutzgebiet nicht bewirtschaften darf. Regelmäßig brachen Feuer
aus. Mittlerweile wächst die Akzeptanz, denn die Touristen lassen Geld in der
Region. Allein der Parkeintritt kostet 50.000 Franc Malgache, etwa 17 Mark.
Einheimische zahlen nur einen Bruchteil der Summe. Rund die Hälfte ihrer
Einnahmen investiert die Nationalparkverwaltung ANGAP in kleine Projekte für die umliegende Bevölkerung. In Andasibe zum Beispiel, wird ein
Krankenhaus gebaut und eine Landwirtschafts-Kooperative unterstützt. Ranohira baut mit den Einnahmen aus dem Tourismus eine Schule. Einige Dorfbewohner arbeiten als Führer im Nationalpark. Für eine Tagestour bekommen
die Guides zwischen 15 und 30 Mark. Für Industriearbeiter wäre das ein halber Monatslohn. Doch die Einnahmen aus dem Tourismus fließen sehr unregelmäßig. Während der Regenzeit kommt manchmal wochenlang kein
Mensch. Viele Straßen sind dann völlig unpassierbar. Der Touristenstrom konzentriert sich auf einige wenige der insgesamt 13 Nationalparks: Andasibe
zählt die meisten Touristen, es folgen Isalo und Montagne d`Ambre. Nur
wenige, hartgesottene Naturfans besuchen einsame Paradiese wie die Masoala-Halbinsel, den Ankarana-Regenwald oder das Andringitra-Gebirge. Touristische Infrastruktur gibt es dort kaum, die Parks sind abgelegen und nur
schwer zu erreichen.
Insgesamt reichen die Einnahmen aus dem Tourismus bei weitem nicht aus,
um den Wald zu retten. Eigentlich sollte sich die Nationalparkverwaltung
ANGAP bereits im letzten Jahr vollständig selbst finanzieren. Erreicht hat sie
gerade einmal zehn Prozent Eigenfinanzierung. Um die Kosten für Unterhalt
und Pflege der Parks zu decken, müßte sich die Besucherzahl verzehnfachen
– von 80.000 auf 800.000 pro Jahr. Das ist unrealistisch und zumindest vorerst auch unmöglich, denn die touristische Infrastruktur würde einen solchen
Ansturm nicht verkraften. Der Tourismus allein kann die Arche Noah also
nicht retten. Zur Zeit finanziert das Ausland, vor allem die USA, den Unterhalt der Nationalparks. „Es geht ja schließlich um ein gemeinsames Erbe der
Menschheit“, sagt Tom Erdmann vom WWF. Die Arche Noah kann Madagaskar nicht alleine erhalten. Doch ob die Mittel aus den USA und Europa
wirklich kontinuierlich fließen, ist – zum Beispiel in wirtschaftlichen Krisenzeiten – mehr als fraglich. Nur knapp vier Prozent der madagassischen
Wälder sind heute durch Tourismus und ausländische Gelder gesichert. Was
aber wird aus den übrigen 96 Prozent außerhalb der Schutzgebiete?
Madagaskar
Claudia Ruby
Es geht auch anders: Ambatolampy
Nur zwei Stunden von Tana entfernt liegt das kleine Städtchen Ambatolampy im zentralen Hochland Madagaskars. Auf dem Weg dorthin fahren wir
durch Reisterrassen und Gemüsefelder. Aber auch unzählige entwaldete
Hänge liegen auf unserem Weg – eine Grassteppe mit einzelnen verkohlten
Bäumen. Genutzt wird das Land nicht, obwohl der Boden im Hochland oft
noch fruchtbar ist. Man könnte aufforsten, doch viele Projekte scheitern an
den unklaren Besitzverhältnissen. Das Land gehört in Madagaskar entweder
niemandem oder dem Staat. Privaten Grundbesitz gibt es kaum, ein Kathasteramt existiert nicht. Und genau das ist das Problem, denn niemand fühlt sich
für das Land verantwortlich, niemand will investieren. „Die Bauern sind
mißtrauisch“, erzählt Guido Besmer, Leiter des Forstprojekts von Ambatolampy. „Sie haben zu oft schlechte Erfahrungen gemacht“. Früher hat die
Bevölkerung aufgeforstet, doch anschließend schickte der Staat fremde Konzessionäre in die Wälder. Die Bauern verlieren doppelt bei diesem Spiel: Sie
werden nicht für ihre Arbeit bezahlt, und die Ernte fließt nicht in ihre, sondern
in fremde Taschen. Kein Wunder, dass viele Landbewohner von Aufforstung
heute nichts mehr wissen wollen.
Ändern könnte das nur eine Landreform. Doch die ist in Madagaskar – wie
in so vielen Entwicklungsländern – in weiter Ferne. Der Zentralismus läßt den
Regionen keine Luft zum Atmen. Alles was die Forstbetriebe im Land erwirtschaften, fließt in einen nationalen Waldfond. Für den Forst und die Region
sind die Gelder damit verloren. Zwar ist die Dezentralisierung mittlerweile
offizielle Politik – verordnet durch die Geldgeber IWF und Weltbank. Doch
vom Gesetz zur praktischen Umsetzung ist es ein weiter Weg. Das mußten die
Madagassen kürzlich bei einer internationalen Tagung zur Gemeindewaldwirtschaft erfahren: „Sie haben zwar mit Abstand die fortschrittlichsten
Gesetze“, sagt GTZ-Forstexperte Jürgen Gräbener, „hinken gleichzeitig aber
am weitesten nach, mit der Umsetzung“.
Seit 1997 soll ein neues Forstgesetz die nachhaltige Nutzung der Wälder
fördern. Kernstück ist die sogenannte „Gestion Locale Securisée“, die
GELOSE. Der Staat schließt Nutzungsverträge mit der Bevölkerung und
tritt seine Rechte – zumindest teilweise – ab. Die Anwohner pflanzen, pflegen
und ernten, zum Beispiel Holz, Medizinalpflanzen, Früchte und Honig. Dafür
müssen sie dann im eigenen Gebiet nachpflanzen und sich an den Forstkontrollen beteiligen. Für Jürgen Gräbener ein vorbildliches Gesetz – allerdings
mit einem entscheidenden Haken: „Es ist so kompliziert, dass es bisher keinen einzigen Vertrag gibt“. Der Abschied vom Zentralismus fällt beiden Seiten schwer: Dem Staat, der Geld und Einfluß verliert, aber auch den Regionen, die sich seit Generationen an den Obrigkeitsstaat gewöhnt haben.
Claudia Ruby
Madagaskar
Trotzdem gibt es einige wenige Modellprojekte, die zeigen, wie die neue
Forstpolitik in der Praxis aussehen könnte. Zum Beispiel die Forstunion
Ambatolampy. Seit 1988 bewirtschaftet die Bevölkerung mit Hilfe der GTZ
über 3.000 Hektar Staatswald in eigener Regie. Eine Hälfte ist intakter Naturwald, die andere Hälfte eine fast 30 Jahre alte Kiefernschonung. Ziel des Projektes ist es, den Wald zu erhalten und gleichzeitig die Versorgung der 18
umliegenden Dörfer zu sichern.
In der Vergangenheit sind viele Entwicklungsprojekte fehlgeschlagen, weil
sich die ausländischen Experten nicht um die eigentlichen Probleme der
Bevölkerung gekümmert haben. Und die drehen sich eben nicht um Wald und
Naturschutz, sondern um Landwirtschaft und Reisertrag. In Ambatolampy
fließen deshalb mittlerweile 70 Prozent der Projektgelder in Landwirtschaft
und Dorfentwicklung. „Das ist der beste Schutz für den Wald“, erklärt Projektleiter Guido Besmer.
Bei einer Dorfversammlung entscheiden die Bewohner über ihre Prioritäten. Das Projekt stellt vor allem technische Berater zur Verfügung. Und dann
werden Hecken gepflanzt, Fischteiche angelegt oder ein Sportplatz gebaut.
„Und so sieht das Ergebnis aus“. Stolz steht Besmer am sogenannten Aussichtspunkt und blickt auf die geordnete Agrarlandschaft unter ihm: Reisfelder, Hecken als Erosionsschutz und Äcker, auf denen Süßkartoffeln, Mais,
Maniok und Soja wachsen.
Im Naturwald sammeln die Menschen Brennholz, Medizinalpflanzen und
Früchte, die sie auf den lokalen Märkten verkaufen. Die lebenden Bäume sind
tabu. Und das ist auch ökonomisch sinnvoll, denn der Zuwachs ist, wie in den
meisten tropischen Wäldern, äußerst gering. Die Dorfbewohner können es
sich leisten, den Urwald in Ruhe zu lassen, denn direkt nebenan steht eine Kiefernaufforstung aus den 70er Jahren. Die schnell wachsenden Exoten bringen
heute Holz und Geld. Kontinuierlich wird nachgepflanzt, so das allmählich ein
typisch europäischer Altersklassenwald entsteht. Im letzten Jahr hat die Forstunion 50 Millionen Franc Malgache Gewinn gemacht: Rund 17.000 Mark.
Das klingt nicht viel, ist aber in Madagaskar ein kleines Vermögen.
Die Aussichten für Ambatolampy sind gut. Doch ob das Projekt wirklich
erfolgreich ist, zeigt sich erst, wenn sich die ausländischen Geldgeber zurückziehen. Die Nagelprobe für jedes Entwicklungsprojekt. Die Menschen müssen dann allein weitermachen, sagt Guido Besmer. Und das tun sie nur, wenn
sie das Gefühl haben, dass es sich um ihren Wald und ihre Interessen handelt.
Madagaskar
Claudia Ruby
„Unsere Zukunft sind die Kinder“
Jahrhundertealte Traditionen, wie Brandrodung oder Zebukult, ändern sich
nur langsam. Besonders in einem Land, das so mit seiner Geschichte und seinen Ahnen verbunden ist wie Madagaskar. Doch die Zeit wird knapp für die
Arche Noah im Indischen Ozean. Deshalb setzt der „World Wide Fund for
Nature“, WWF, seit mittlerweile 14 Jahren auf die Kinder. „Sie entscheiden
über unsere Zukunft“, sagt Bildungsreferentin Aimée Rabodomalala. An den
Schulen hat der WWF quasi die Umwelterziehung übernommen. Im Auftrag
der Regierung entwickelt er Unterrichtsmaterial und kümmert sich um die
Fortbildung der Lehrer. Besonders stolz ist Aimée Rabodomalala auf das
Schulbuch „Ny Voary“. Über drei Millionen Exemplare wurden gedruckt, fast
alle Schulen arbeiten damit.
Zum ersten Mal gibt es ein solches Buch auf malagasy, erklärt sie: „Wir
haben gemerkt, dass es wichtig ist, die Botschaften in der Muttersprache zu
übermitteln“. Noch vor wenigen Jahren mußten madagassische Kinder die
Entwicklung von der Kaulquappe zum Frosch am Beispiel der europäischen
Erdkröte lernen. Über einheimische Arten gab es einfach kein Lehrmaterial.
Mittlerweile ist das anders: Dank „Ny Voary“ erfahren zum Beispiel auch die
Kinder aus dem Hochland, welche wichtige Funktion die Mangrovensümpfe
an der Küste haben. Es gibt ein Kapitel über die faszinierenden Dornenwälder im Süden Madagaskars und Abbildungen von einheimischen Tieren und
Pflanzen.
„Die Kinder sollen aber nicht nur lernen, sondern auch praktisch etwas für den
Schutz der Umwelt tun“, erklärt Madame Aimée. Überall im Land entstehen
Ableger des „Club Vintsy“. Es gibt bereits über 50 dieser Umweltgruppen. Mitglieder sind vor allem Schulklassen, aber auch Vereine und sogar ganze Militäreinheiten. Die kleinen Umweltschützer engagieren sich für das Grün in ihrer
unmittelbaren Umgebung. Zum Beispiel in der Grundschule in Fianarantsoa: Wie
überall, toben in der großen Pause die Kinder über den Schulhof. Einige jedoch
schleppen kleine Gießkannen, andere harken die bunten Blumenbeete. „Früher
war das hier ein öder und trockener Platz“, erzählt die Lehrerin Marie-Claire
Ravaoarisoanandrasana. Doch dann haben die Kinder angefangen, Blumen zu
pflanzen und Gemüse anzubauen. Die Ernte wird verkauft und der Erlös wieder
in das Projekt investiert. „Wir pflanzen aber auch Bäume“, erzählt Madame
Marie-Claire und zeigt stolz auf einen begrünten Hügel am Stadtrand. Im letzten Jahr haben die Kinder ein Theaterstück aufgeführt, in dem es um Müll und
die Umweltprobleme einer Großstadt ging. Und die Pflanzaktion „un enfant, un
arbre – ein Kind, ein Baum“ ist mittlerweile im ganzen Land bekannt.
Alle drei Monate erscheint mit Unterstützung des WWF das Umweltmagazin
„Vintsy“. Mit einer Auflage von 25.000 ist es mittlerweile im ganzen Land
Claudia Ruby
Madagaskar
bekannt. Namenspate und Maskottchen der „Vintsys“ ist übrigens ein kleiner
bunter Eisvogel, den es nur auf Madagaskar gibt. „Die Arbeit der Jugendlichen
hat Erfolg“. Davon ist Madame Aimée fest überzeugt. Das Umweltbewußtsein
bei den Jugendlichen habe stark zugenommen. „Und was die Jungen lernen,
kommt irgendwann auch bei den Erwachsenen an“, sagt sie. „Bei uns lernen die
Eltern von ihren Kindern“.
Positive Trends – allerdings vor allem an den städtischen Schulen. Auf dem
Land kommt vieles nicht an, was in der Stadt bereits selbstverständlich ist.
Viele Eltern schicken ihre Kinder erst gar nicht zur Schule. Die Kleinen werden
auf dem Feld und zum Holzsammeln gebraucht. Aber auch qualifizierte Lehrer
sind auf dem Land Mangelware. „Wir brauchen dringend einen Englischlehrer“,
sagt die Direktorin der staatlichen Schule in Maevatanana, einem kleinen Ort im
Süden Madagaskars. Schon vor Monaten hat sie in der Hauptstadt einen Antrag
gestellt. Doch bis jetzt ist nichts passiert. Ursachen gibt es viele: In Maevatanana ist es fast immer drückend heiß. Es gibt keinen Strom und kein Telefon.
Kaum ein Lehrer will unter solchen Bedingungen arbeiten. Vor allem in ländlichen Regionen sinkt deshalb die Alphabetisierungsrate seit Jahren.
Die Puppenspieler von Mahajanga
„Schöne Matata“, säuselt Mino und umwirbt seine Frau. Doch sie weist ihn
immer wieder ab. „Nicht noch ein Kind,“ sagt sie. „Ein Baby trage ich noch
im Arm und das nächste schon im Bauch. Das kann ich nicht schaffen“. Für
Mino sind viele Kinder jedoch der „Segen des Herrn“. Der Streit zwischen
Matata und ihrem Mann ist ein alltäglicher Konflikt in vielen madagassischen
Familien. Doch dieses Mal wird er öffentlich auf dem Marktplatz von Maevatanana ausgetragen. Das Figurentheater „Salohy“ ist zu Gast in der 10.000Seelengemeinde zwischen Mahajanga und der Hauptstadt Antananarivo. Fast
der ganze Ort hat sich versammelt – Kinder, junge Mütter, ältere Männer und
Frauen. Alle verfolgen gespannt das Geschehen auf der Bühne: Was werden
Mino und Matata tun? Mit elegantem Hüftschwung betritt Mamatsenga die
Bühne. Die hübsche junge Madagassin weiß Rat: „Geht ins Gesundheitszentrum und lasst euch über Familienplanung beraten“, empfiehlt sie.
„Mamatsenga, Mamatsenga“, jubeln die Kinder und klatschen. Diese Puppe
lieben sie ganz besonders.
„Die Figuren sind unser Weg in die Herzen der Zuschauer“, sagt Jim Rakotoherinaina. Er ist der Kopf der Theater-Truppe, die 1996 als Teil des GTZGesundheitsprojektes im Norden Madagaskars entstand. Die Puppen tanzen und
lachen, aber sie sprechen auch über Themen, die eigentlich Tabu sind, zum Beispiel über Sexualität. In der madagassischen Kultur haben Puppen etwas magi-
Madagaskar
Claudia Ruby
sches, erklärt Jim. „Viele Menschen glauben, dass sie mit den Ahnen in Verbindung stehen und besonders weise sind“. Ratschläge würden deshalb eher
angenommen, wenn sie von den „Poupées magiques“ kämen. Tatsächlich ist das
Wissen über Familienplanung und Verhütung gerade im ländlichen Bereich
extrem gering. Nur rund zehn Prozent der Familien benutzen moderne Kontrazeptiva. Umfragen haben jedoch ergeben, dass etwa dreimal so viele gerne verhüten würden. „Familie und Traditionen stehen im Weg“, so die Ethnologin und
GTZ-Expertin Elisabeth Girrbach. Oft mangele es auch ganz einfach am Zugang
zu Verhütungsmitteln und an Informationen. Und dagegen wollen die sechs
Puppenspieler vom „Salohy-Theater“ etwas tun. Seit vier Jahren ziehen sie
durch Mahajanga, die zweitgrößte Provinz Madagaskars. Sie spielen Theater und
informieren beinahe nebenbei über Gesundheitsvorsorge, Hygiene, Impfungen, Familienplanung und die Arbeit der Gesundheitszentren. Mit Unterstützung
der GTZ sind in der Region 65 neue Stationen für die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung entstanden.
Auch Mino und Matata versöhnen sich schließlich und gehen gemeinsam zur
Beratung. Im Gesundheitszentrum wartet schon die „Sage Femme“. Die Puppe
im weißen Kittel zeigt dem Paar – und den gebannt zuhörenden Dorfbewohnern
– eine ganze Palette von Verhütungsmitteln. Auf einem großen Strohtablett kleben Spirale, Pille, Dreimonats-Spritze, ein Hormon-Implantat und Kondome. Bei
Madagassinnen ist die Dreimonats-Spritze besonders beliebt. 60 Prozent der
Frauen, die verhüten, entscheiden sich für die Spritze. „Sie hat ein positives
Image, ist bequem und vor allem müssen Ehemann und Familie davon nicht
unbedingt etwas mitbekommen“, sagt die Ärztin Huguette Rabenitany. Gerade
Männer stehen der Familienplanung noch immer skeptisch gegenüber. „Sie
sind eifersüchtig und haben Angst, dass ihre Frauen durch die Pille zu unabhängig werden“, vermutet Doktor Rabenitany.
Auf der Bühne geht das Spiel weiter: „So funktioniert das“, demonstriert die
„Sage Femme“ und streift das Kondom über einen Holzpenis. Einige Jugendliche im Publikum kichern verschämt, aber alle sind voll bei der Sache. „Das
schützt doppelt“, erklärt sie, „ihr werdet nicht schwanger und bekommt keine
Geschlechtskrankheiten“. Vor allem Gonorrhoe und Syphilis sind in Madagaskar weit verbreitet. Aber auch AIDS ist auf dem Vormarsch. Zwar gibt es keine
Pandemie, wie auf dem afrikanischen Kontinent, doch die Zahl der Fälle steigt
von Jahr zu Jahr. Das nächste große Problem sind ungewollte Schwangerschaften. Sechs Kinder pro Familie sind normal, die Bevölkerung wächst jährlich noch
immer um drei Prozent. Viele Madagassinnen bekommen schon mit 14 Jahren
ihr erstes Kind, und wegen der mangelnden medizinischen Versorgung sterben
noch immer viele Frauen infolge einer Geburt.
Können die Puppenspieler dagegen tatsächlich etwas ausrichten? Kommt
ihre Botschaft überhaupt beim Publikum an? Oder genießen die Menschen
Claudia Ruby
Madagaskar
einfach nur die Abwechslung im dörflichen Alltag? Jim will es genau wissen.
Zum Programm gehört deshalb das Gespräch mit den Zuschauern: „Habt ihr
verstanden, was die „Sage Femme“ erklärt hat? Gibt es noch Fragen?“ Ein
junges Mädchen möchte wissen, ob man von der Pille Krebs bekommt. Es
kursieren viele Gerüchte, weiß Jim. Immer wieder wird er damit konfrontiert.
Einige glauben zum Beispiel, dass die Weißen – die „Vazaha“, wie sie in
Madagaskar heißen – mit Verhütungsmitteln die schwarze Bevölkerung ausrotten wollen. „Einige Dorfvorsteher wollen uns nicht auftreten lassen, weil
sie glauben, dass unsere Botschaft gegen die Religion verstößt“, sagt Jim. In
solchen Fällen leistet er geduldig Überzeugungsarbeit. Manchmal hilft auch
eine Einladung zum Essen und Trinken. Doch so etwas kommt nur selten vor.
Die meisten Bürgermeister sind stolz, dass „Salohy“ in ihren Ort kommt.
„Trotzdem ist unsere Arbeit hart“, sagt Virginie Hantananahary. Sie spielt die
Puppe Mamatsenga. Bei manchen Tourneen sehen die drei Frauen und drei
Männer tagelang weder Bett noch Dusche. „Wir schlafen auf Matten am
Boden und werden von Moskitos zerstochen“, erzählt Virginie. Aber gerade
für die Menschen im Busch ist das „Salohy-Theater“ wichtig. Sie haben
sonst kaum Zugang zu Informationen. Es gibt weder Zeitung, noch Radio oder
Fernseher. „Alle sind wirklich begeistert, wenn sie die Puppen sehen“, sagt
Jim, „und das entschädigt uns für vieles“. Die Kinderaugen strahlen, und auch
Erwachsene denken beim Spiel wenigstens zwei Stunden nicht darüber nach,
woher der Reis für den nächsten Tag kommen soll.
Früher war Jim Schauspieler und Musiker. Das Figurentheater hat er von dem
deutschen Puppenspieler Gregor Schwank gelernt. „Erst jetzt habe ich das
Gefühl, etwas nützliches für mein Vaterland zu tun“, sagt Jim Ob er wirklich
glaubt, dass die Puppen das Verhalten der Menschen ändern können? Jim weiß
es nicht. Auf jeden Fall lernen die Menschen bei der Aufführung etwas über
Sexualität und Familienplanung. Das hat eine Untersuchung der GTZ ergeben.
Ein erster Schritt, findet Elisabeth Girrbach, doch auch sie weiß, dass zwischen
Wissen und Handeln oft noch ein weiter Weg liegt. Für die sechs Darsteller ist
das Figurentheater mittlerweile zum Hauptberuf geworden. Die GTZ ist längst
nicht mehr ihr einziger Auftraggeber. Für eine städtische Behörde haben sie ein
Stück über Abfallentsorgung geschrieben. Zu den Auftraggebern gehören UNICEF, die französische Entwicklungszusammenarbeit und andere internationale
Organisationen. Wenn das Gesundheits-Projekt ausläuft, soll die Theatergruppe
selbständig überleben können. Eine große Hilfe auf dem Weg dahin ist ihre Anerkennung als weltweites Expo-Projekt. Im August werden die „Poupées Magiques“ nach Hannover reisen. In der Afrika-Halle und auf der Bühne des „One
World Café“ sind Auftritte geplant. Seit Wochen basteln die Spieler dafür
besonders schöne Figuren in traditioneller madagassischer Kleidung. Die Reise
empfinden Jim, Virginie und die anderen als Belohnung für all ihre Mühen und
Madagaskar
Claudia Ruby
Strapazen im madagassischen Busch. Sie hoffen, dass der Expo-Auftritt ihre
Gruppe auch in Madagaskar noch bekannter macht. Trotzdem haben sie auch
Angst. „Wir haben gehört“, sagt Jim, „dass das deutsche Publikum ganz
besonders kritisch ist“.
Andasibe: Das erste Konzert im Wald
Biologen sind nach Entwicklungshelfern wohl die häufigsten Besucher Madagaskars. Überall trifft man sie: Insektenforscher, Primatologen, Herpetologen,
Botaniker. Ihr Mekka ist der Nationalpark Andasibe, auf halber Strecke zwischen
der Hauptstadt Antananarivo und der Ostküste gelegen. Die Fahrt von Tana
dauert etwa zwei Stunden. Im Hochland geht es durch ausgedehnte Reisfelder.
Je näher wir der Küste kommen, umso wärmer wird es. Zunächst wächst vor
allem Eukalyptus rechts und links der Straße, aber allmählich verändert sich der
Wald: Er wird üppiger, wilder und immer undurchdringlicher. Der Nationalpark
bei Andasibe ist zwar einer der kleinsten Madagaskars, aber er gilt als der artenreichste. Die spektakulärsten Bewohner sind die Indris, die größten Lemuren
Madagaskars.
Wer sie sehen und vor allem hören möchte, muss früh aufstehen. Um sechs
Uhr morgens treffen wir Julien Ramakutusile auf einem kleinen Parkplatz am
Waldrand. Im Nationalpark dürfen sich Besucher nur in Begleitung einheimischer Führer bewegen. Zielsicher klettert Julien die schmalen Pfade entlang und
tatsächlich, nach einer halben Stunde knackt es über uns im Geäst. In drei
Meter Höhe sitzt ein schwarz-weißes Fellbündel. Der Indri pflückt hier und da
ein paar Blätter ab, steckt sie in den Mund und kaut genüßlich darauf herum. Ein
zweiter Halbaffe springt mit großen Sätzen von Baum zu Baum. Auf dem
Rücken klammert sich ein Junges fest. „Indris bekommen nur alle zwei Jahre
Nachwuchs“, erklärt uns Julien. Bis die Jungen fünf Jahre alt sind, bleiben sie bei
ihren Eltern, dann suchen sie sich ein eigenes Revier. Wir sind so begeistert von
den Lemuren, dass wir gar nicht gemerkt haben, dass die Gruppe hinter uns
immer größer geworden ist. Mit zwei weiteren Führer sind eine englische Familie und ein französischer Urlauber eingetroffen. Und so stehen morgens um sieben, acht europäische Besucher mit drei Madagassen im Wald von Andasibe und
beobachten die Indris. Die Kameras klicken, und mit dem Mikrofon im Anschlag
warte ich auf das eigentliche Spektakel: Den Gesang der Indris. Das Wetter ist
trübe, wohl deshalb sind die Tiere heute ungewöhnlich spät. Aber schließlich
ertönt in einiger Entfernung leises Geheul. Über unseren Köpfen hören die
Indris auf zu fressen, und dann antworten sie. Markerschütternd, wie eine Sirene,
klingen ihre Rufe. Jeden Morgen verständigen sich die verschiedenen Gruppen
miteinander und grenzen so ihre Territorien ab. Nach etwa fünf Minuten ist die
Claudia Ruby
Madagaskar
Vorführung beendet. Die Indris knabbern weiter ihre Blätter, und wir machen uns
auf den Rückweg. Unterwegs erzählt uns Julien noch eine der unzähligen Sagen
und Legenden der Insel: Noch immer jagen viele Madagassen Lemuren für den
Kochtopf. Nur die Indris sind tabu oder „fady“, wie das auf malagasy heißt. Und
das hat seinen Grund, denn bei den Madagassen heißen die größten Lemuren
„Babakoto“. Baba bedeutet Vater und Koto war sein Sohn. Eines Tages ging der
junge Koto mit seinem Vater in den Wald um Honig zu sammeln. Sie kamen nicht
zurück, und bei der Suche fanden die Dorfbewohner nur zwei Indris – einen alten
und einen jungen, die neugierig von einer Astgabel auf sie herabblickten. Die beiden Honigsammler mussten sich in Indris verwandelt haben. „Deshalb werden
Indris nicht gegessen“, erklärt Julien, „wer dagegen verstößt, stirbt oder hat einen
Unfall“.
Andasibe: Das zweite Konzert im Wald
Die zweite Exkursion, ganz in der Nähe des Nationalparks von Andasibe,
beginnt kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Der abendliche Platzregen ist
gerade vorüber. Von den Blättern tropft noch das Wasser. Im Dschungel
dampft es wie in einer Waschküche. Ich bin mit dem deutschen Biologen
Frank Glaw unterwegs. Er ist Systematiker und an der Zoologischen Staatssammlung in München zuständig für Amphibien, Reptilien und Fische. Sein
Spezialgebiet sind die Frösche Madagaskars.
Langsam waten wir einen tropischen Bachlauf entlang. Nachts ertönt im
Regenwald ein faszinierendes Konzert: Grillen zirpen, Frösche quaken, ab und
zu heulen Lemuren und Eulen. In einiger Entfernung rauscht ein Wasserfall.
Glaws volle Aufmerksamkeit gilt den Fröschen. Hunderte von Tieren quaken
gleichzeitig. Sie sitzen im Wasser, am Boden, unter der Erde und etliche quaken
hoch oben in den Bäumen. Die meisten Stimmen kennt der Forscher, doch
plötzlich: Ein krächzendes krok, krok, krok. Wie angewurzelt bleibt er stehen und
knipst die Taschenlampe aus. Irgendwo im Blätterwald über uns sitzt ein unbekannter Frosch und quakt.
Schritt für Schritt nähern wir uns dem Geräusch. Ganz allmählich wird das
Quaken lauter. Der Biologe packt sein Mikrofon aus und drückt die Aufnahmetaste. Die Stimme hat er auf Band, doch jetzt gilt es, genau diesen Frosch zu fangen. Mit der einen Hand knipst er die Taschenlampe an, mit der anderen greift
er blitzschnell zu. Geblendet und starr vor Schreck landet der Frosch in einer
Plastiktüte.
Bei Fröschen ist die Stimme ein eindeutiges Erkennungszeichen. Die Männchen locken durch lautes Quaken nur die arteigenen Weibchen an. Verwechslungen darf es nicht geben. Bei ihrer Arbeit achten die Systematiker deshalb ver-
Madagaskar
Claudia Ruby
stärkt auf die Stimme. Gerade bei nachtaktiven Gruppen explodiert seither die
Artenzahl, zum Beispiel bei Fröschen, Eulen und sogar bei Lemuren. Allein auf
Madagaskar hat Frank Glaw in den letzten Jahren über 60 neue Froscharten entdeckt. Der Nationalpark Andasibe gilt als sogenannter Hot-Spot der Artenvielfalt. Auf kleinstem Raum quaken hier über 100 verschiedene Froscharten. Manche sind knallgrün mit großen, goldenen Augen, andere gelb mit kleinen, roten
Punkten, roten Fingerspitzen und einer durchsichtigen Bauchdecke, so das man
Herz und Gefäße pulsieren sieht. Andere tragen lauter kleine Stacheln. Sie
sehen aus wie grüne Igel.
Nach etwa vier Stunden ist die nächtliche Froschsuche beendet. Zerkratzt und
zerstochen kehren wir in die kleine Bungalowanlage „Feon ny yala“ zurück, was
sinnigerweise „Stimme des Waldes“ bedeutet. Für den Biologen geht die Arbeit
jetzt erst richtig los. Die Ausbeute sind nur fünf Tiere, doch entscheidend ist nicht
die Menge, sondern die Qualität des Fangs. „Je mehr Informationen, desto besser“, sagt Frank Glaw und notiert akribisch alles, was er über den Lebensraum
der Tiere weiß. Am nächsten Tag ist Fototermin. In möglichst natürlicher Umgebung knipst er die Frösche von allen Seiten. Zwar ist die Zeit der großen Sammelreisen mittlerweile vorbei, doch zwei Tiere von jeder neuen Spezies werden
auch heute noch in Alkohol eingelegt: Belegexemplare für das Museum in
Deutschland und für die Universität in Antananarivo.
Ob es sich bei dem nächtlichen Fang tatsächlich um eine neue Art handelt,
entscheidet erst die Computeranalyse in Deutschland. Aus den Tonaufnahmen
wird Glaw sogenannte Sona- und Oszillogramme erstellen. Für den Laien sind
die Klangbilder ein wildes Gekritzel, der Bioakustiker aber redet begeistert
über Frequenzen, Ruflängen und Intervalle. Am Sonagramm kann er den
neuen Froschruf exakt vermessen. Nur wenn sich auch hier deutliche Unterschiede zu bereits bekannten Vertretern ergeben, handelt es sich wirklich um
eine neue Art.
Sind Namen wirklich nur Schall und Rauch?
Für Biologen und Naturfreunde in aller Welt ist Madagaskar ein Paradies, eine
Insel der Superlative: Einzigartig sind die Lemuren. Aber auch die Hälfte aller
Chamäleonarten der Welt leben nur auf Madagaskar. Von den beeindruckenden
Baobabs, den Affenbrotbäumen, kommen sieben der insgesamt acht Arten auf
dem Minikontinent vor der afrikanischen Küste vor. Und während in ganz
Europa 14 verschiedene Froscharten quaken, sind es in Madagaskar über 200.
Doch Artenvielfalt kann man nicht essen. Der grüne Schatz in den Wäldern
ist für die Menschen vor Ort oft nur wertlose Wildnis. Daran möchte der
Anfang des Jahres gegründete Verein Biopat etwas ändern. Hinter Biopat ste-
Claudia Ruby
Madagaskar
hen die GTZ, sowie die großen zoologischen Museen in Deutschland – Alexander Koenig in Bonn, Senckenberg in Frankfurt und die Zoologische
Staatssammlung in München. Gegen eine Spende von 5.000 Mark vermittelt
der Verein Namenspatenschaften für neu entdeckte Arten.
Weltweit tragen alle Spezies einen einheitlichen Vor- und Nachnamen.
Der Vorname gibt die Gattung an und steht meist durch verwandtschaftliche
Beziehungen fest. Den Nachnamen können Wissenschaftler, die eine neue Art
beschreiben, frei wählen. Ein tennisbegeisterter Zoologe zum Beispiel, hat
eine Meeresschnecke auf den Namen Bufonaria borisbeckeri getauft. „Fast
alles ist möglich“, sagt Frank Glaw von Biopat. „Die Namenspaten können ein
ewiges Zeichen in den wissenschaftlichen Annalen setzen“.
Mit den Geldern will Biopat Forschung fördern und Naturschutz betreiben.
Etwa die Hälfte der Spenden erhalten die Wissenschaftler, die eine neue Art
beschreiben. Die andere Hälfte soll in die Ursprungsländer der neuen Arten
fließen. Der Verein will Flächen aufkaufen, Nationalpark-Ranger bezahlen
und die Forschung vor Ort fördern. In Madagaskar sucht Glaw nach geeigneten Projekten: „Wir werden nicht den ganzen Wald erhalten können“,
erklärt er. „Es geht darum, die Sahnestückchen unter Schutz zu stellen“.
Doch dazu müssen die Forscher wissen, welche Gebiete besonders wertvoll
sind. Sie müssen die sogenannten Hot-Spots der Artenvielfalt kennen. Mit
Hochdruck werden deshalb die madagassischen Wälder inventarisiert. Doch
die Mittel an den Universitäten sind knapp. Manchmal fehlt den Wissenschaftlern selbst das Spritgeld, um 100 Kilometer weit in den nächsten Nationalpark zu fahren. „Uns helfen schon kleine Summen“, sagt der Amphibienkundler Angelo Razafimanantsoa.
Biopat steht noch ganz am Anfang, doch allmählich fließen die Spendengelder. In den ersten drei Monaten konnten bereits zwölf Namenspatenschaften vermittelt werden. Auch Biopat wird die madagassischen Wälder
nicht retten können. Doch viele solcher Projekte leisten einen kleinen Beitrag.
Die Artenvielfalt bekommt auch einen ökonomischen Wert.
Nosy Be – das Mallorca Madagaskars
Nosy Be gilt als die Ferieninsel Madagaskars. Aber offenbar habe ich nicht
die Touristensaison erwischt, denn die meisten Plätze in der kleinen Maschine
von Tana nach Nosy Be sind leer. Auf dem Flughafen Fascène empfängt mich
tropisch-schwüle Luft und ein süßlicher Geruch. Später, auf der Fahrt in die
Hauptstadt Andoany, von den Franzosen Hell Ville genannt, wird der Duft
immer stärker. Wir fahren durch ausgedehnte Ylang-Ylang-Plantagen. Aus
den gelben Blüten der üppig wuchernden Bäume wird die Essenz für
Madagaskar
Claudia Ruby
besonders edle Parfums gewonnen. Ylang-Ylang-Duft gilt als sinnlich und
erotisch. Am Sonntag Nachmittag sind die Straßen von Hell Ville fast menschenleer – von mallorquinischen Verhältnissen keine Spur. Und auch die vielgepriesene „touristische Infrastruktur“ hat so ihre Lücken: Toilettenpapier und
Benzin sind zur Zeit knapp auf Nosy Be. Vor den Tankstellen bilden sich lange
Schlangen. Manche Taxen bleiben ohne Sprit auf der Straße liegen.
Die Natur auf Nosy Be ist traumhaft: Üppiges Grün, traumhafte Strände
und ein wunderbar blaues Meer. An die unangenehme Seite des Tourismus
erinnern die wenigen Hotelgäste am Strand von Ambondrona: Ältere Herren
mit schweizer Dialekt, begleitet von sehr jungen, knapp bekleideten Madagassinnen. Nosy Be entwickelt sich seit einiger Zeit zu einer neuen Hochburg
für den internationalen Sextourismus. Anders als in Thailand oder Kenia ist
AIDS noch relativ selten. Doch die Zahl der Fälle steigt.
Ich bin nach Nosy Be gekommen, um mir das Fischereiprojekt der GTZ
anzusehen. Die Westküste Madagaskars gilt als besonders fischreich, trotzdem
leben viele Fischer am Rande des Existenzminimums. Mit ihren Pirogen
müssen sie im unmittelbaren Küstenbereich fischen, und ihren Fang können
sie nur schlecht verkaufen. Es gibt keine Kühlkette. Transport und Vermarktung sind schlecht organisiert. Immer mehr Fischer geben auf und wandern in
die großen Städte ab. Endstation der Reise sind allzu oft die Slums von Tana,
Diego oder Mahajanga.
Die GTZ organisiert deshalb seit 12 Jahren im Hafen von Andoany ein Ausbildungszentrum für Fischer, das „Centre de Formation des Pêcheurs“, CFP.
In zweiwöchigen Kursen lernen die Küstenfischer mit modernen großmaschigen Netzen zu arbeiten. Es geht um nachhaltige Fangtechniken und biologische Grundlagen, wie den Lebenszyklus verschiedener Fischarten. Außerdem stehen Navigation, Fischverarbeitung und Vermarktung auf dem
Programm. Gerne hätte ich mir einen solchen Kurs angesehen, doch in diesem Jahr – es war mittlerweile Ende April – hat noch kein Kurs stattgefunden,
und auch im vorigen Jahr gab es lediglich zwei Ausbildungsgänge. Der
Grund: Es fehlt nahezu alles, was man für die Ausbildung braucht – Netze,
Haken und Schwimmer zum Beispiel. Die Stimmung ist entsprechend
schlecht. „Ich kann nichts tun“, klagt Alain Michel, der die Ausbildung organisiert, „das tut in der Seele weh“. Beinahe täglich wird er von Fischern
gefragt, wann es denn weitergeht“. Allmählich verlieren wir das Vertrauen der
Leute“, sagt er, und man sieht ihm an, wie schwer es ihm fällt, die Kollegen
immer wieder zu enttäuschen. Da spielt es schon fast keine Rolle mehr, ob nun
das Material zu spät bestellt wurde oder ob sich die Auslieferung durch den
madagassischen Zoll dieses Mal besonders lange hinzieht.
Weil zur Zeit keine Kurse stattfinden, steht am nächsten Tag ein Ausflug in
das Fischerdorf Antafiambotry auf dem Programm. Zwei Stunden fahren wir
Claudia Ruby
Madagaskar
mit dem Motorboot zu der Halbinsel Nosy Faly. Am Strand entladen einheimische Fischer gerade ihre Piroge. Die Netze sind prall gefüllt mit kleinen
Fischen. Es ist die Saison der Rastrelinge, einer Makrelenart. Das 500-Seelendorf lebt beinahe vollständig vom Fischfang. 1993 haben 20 Fischer einen
Kurs des CFP mitgemacht. Das Gelernte geben sie an ihre Kollegen weiter.
Bei den meisten Fischern steigen die Erträge, seit sie mit neuen Netzen und
modernen Methoden fischen. Einige konnten sich schon bald einen kleinen
Außenbordmotor für ihre Pirogen leisten. Vor zwei Jahren hat der Fischer Said
mit einem Projektkredit sogar ein eigenes Motorboot finanziert. In weiteren
zwei Jahren wird er das Darlehen zurückgezahlt haben. Stolz zeigt uns Said
sein Haus. Die Holzhütte steht auf einem Betonsockel. Er hat Geschirr
gekauft und Kleider für sich und seine Frau. „Said ist unser Vorzeigefischer“, sagt Alain Michel, „ein Vorbild für das ganze Dorf“. Michel strahlt,
denn jetzt weiß er wieder, wofür er eigentlich arbeitet.
Said hat es geschafft, doch nun braucht er dringend ein neues Netz. Das alte
hat er schon unzählige Male geflickt. Doch die GTZ-Mitarbeiter müssen ihn
wieder vertrösten. Niemand weiß, wann das Material endlich aus dem Zoll
kommt. Während ich mich mit Said unterhalte, bereitet seine Frau das Mittagessen vor. In der Nacht haben die Fischer ein Prachtexemplar aus der
Familie der Carangidae gefangen. Der Fisch wird über dem offenen Feuer
gegrillt, dazu kommen Reis und etwas Gemüse auf den Tisch. Besser kann es
in keinem Luxusrestaurant schmecken! Beim Essen erzählt Said von den Sorgen der Fischer. Denn nicht nur der Zoll, auch die industrielle Konkurrenz
machen ihm und seinen Kollegen zu schaffen.
Wem gehört der Fisch?
Said erzählt die Geschichte von seinem Kollegen Luc: Es hätte eine gute Nacht
werden können. Als Luc die Küste Madagaskars hinter sich lässt, steht der
Neumond schon als schmale Sichel am Himmel. Mit seiner Piroge segelt er aufs
offene Meer hinaus. Bald wird es stockfinster sein, optimal zum Fischen. Wie
unzählige Male zuvor, wird Luc die Nacht auf dem Wasser verbringen. Nur 100
Meter von der Küste entfernt bringt er sein Stellnetz aus. Der Fischer zündet eine
Signallampe an und legt sich schlafen. Am nächsten Morgen will er mit einem
prall gefüllten Netz zu seiner Familie zurückkehren. Doch in dieser Nacht
kommt alles anders. Kurz vor Mitternacht ertönt ein lauter Schiffsmotor. Wenige
Minuten später, ein kräftiger Rums. Die Piroge wankt, bricht und versinkt im
Meer. Alles was Luc besitzt, verliert er in dieser Nacht: Sein Boot und das
wertvolle Netz. Ein Krabbenkutter des madagassisch-französischen Konsortiums
„Pêcheries de Nosy Be“ hat das kleine Fischerboot gerammt.
Madagaskar
Claudia Ruby
Luc ist kein Einzelfall. Immer wieder kommt es zu solchen Unfällen – nicht
nur vor der Küste Madagaskars. Überall in den Tropen dringen Industrieschiffe – meist fahren sie unter ausländischer Flagge – in die Fanggründe der
einheimischen Küstenfischer ein. Manchmal enden die Kollisionen sogar
tödlich. Erst im letzten Jahr sei in der Nähe von Mahajanga ein Fischer bei
einem solchen Unfall ertrunken, erzählt Alain Michel. „Es gilt das Recht des
Stärkeren“. Wenn die Fischer den Kapitän des Krabbenkutters nennen können,
zahlt die „Pêcherie“ mittlerweile eine Entschädigung. Doch oft ist das in der
Dunkelheit nicht möglich.
In den südlichen Meeren konkurrieren ungleiche Partner: Auf der einen Seite
stehen die Küstenfischer. Für den eigenen Kochtopf nutzen sie alles, was ins Netz
geht, vom Hai bis zur Sardine. Auf der anderen Seite operieren Krabbenkutter
und riesige Fischtrawler aus Frankreich, Spanien oder Japan. Sie fangen Luxusprodukte für den Weltmarkt, vor allem Shrimps und Thunfisch. Das übrige
Meeresgetier geht als ungewollter Beifang wieder über Bord. Allein in den afrikanischen Gewässern dürfen mehr als 600 EU-Schiffe ihre Netze auswerfen.
Direkte Zusammenstöße mit den Pirogen dürfte es trotzdem nicht geben,
denn die Gesetze sind klar: Motorisierte Schiffe müssen in Madagaskar außerhalb der zwei Seemeilenzone bleiben. Der unmittelbare Küstenbereich ist für die
Boote der artisanalen Fischer reserviert. „Doch niemand hält sich daran“,
schimpft Alain Michel. Vor allem die Krabbenkutter fahren direkt in die Mangrove, weil es dort die meisten Shrimps gibt. Die Folgen sind katastrophal,
denn die Küstenwälder gelten als Kinderstube für unzählige Fischarten. Die
Jungfische landen als Beifang in den Netzen der Garnelenfischer und werden tot
wieder über Bord geworfen. Jedes Kilo Garnelen produziert fünf Kilo Beifang
– mehr als jede andere Art der Fischerei.
Weiter draußen vor der madagassischen Küste fischen europäische Trawler
Thunfisch. Die EU unterhält Fischereiabkommen mit insgesamt 15 Ländern
Afrikas, der Karibik und des Pazifik. „Cash gegen Fisch“ lautet das Geschäft.
Damit sie die Küstengewässer der Hungerstaaten ausbeuten darf, zahlt die EU
insgesamt 280 Millionen Euro pro Jahr. Viel Geld für die Entwicklungsländer,
doch die Bevölkerung hat nichts davon. In Gegenteil: Die einheimischen Fischer
kommen immer häufiger mit leeren Netzen nach Hause und der Geldregen versickert in den maroden Staatskassen. Von Nutzen ist das Geschäft jedoch für die
EU: Müsste sie den Fisch auf dem Weltmarkt kaufen, wäre ein Vielfaches der
Summe fällig.
Auf dem Rückflug von Nosy Be treffe ich die Mannschaft eines französischen
Trawlers. Nette junge Männer, die glücklich sind, dass es endlich wieder nach
Hause geht. Die letzten drei Monate haben sie an Bord verbracht und Thunfisch
gefangen – 1.000 Tonnen in 50 Tagen. Wie es denn mit der zehn Seemeilenzone
steht, frage ich. „Eigentlich müssten wir die einhalten“, antwortet der Kapitän.
Claudia Ruby
Madagaskar
„Doch auf dem Meer gibt es keine Grenzen. Wir fahren dorthin, wo die Fische
sind“. In den Fischereiabkommen werden zwar Fanggebiete und Höchstfangmengen festgeschrieben, doch in den meisten Entwicklungsländern gibt es
keine Fischereikontrolle. „Wir fangen soviel wie möglich“, sagt der Kapitän. Er
mache nur seine Arbeit, aber dann ergänzt er: „Eigentlich sind wir wohl Diebe,
Fischdiebe“.
Der Fischereisektor könnte in Ländern wie Madagaskar eine bedeutende
Rolle spielen. Es gibt mindestens 60.000 Fischer auf der Insel, insgesamt hängen mehr als 400.000 Menschen von der Fischerei ab. „Wer wirklich etwas für
unser Land tun will, muss die traditionelle Fischerei entwickeln“, fordert Alain
Michel. Doch der Regierung scheinen die Devisen aus dem Ausland und die
industrielle Fischerei wichtiger zu sein. Deshalb hat Michel manchmal das
Gefühl, gegen Windmühlen zu arbeiten: „Unfälle, wie der von Luc, machen die
Arbeit von Jahren zunichte“, schimpft er. Von den Politikern fühlt er sich im Stich
gelassen. „Sie tun nichts, um uns vor der industriellen Konkurrenz zu schützen“.
Ein einziges Schiff kontrolliert im Norden Madagaskars über 2.500 Küstenkilometer. Zwar fordern die Fischereiabkommen immer wieder eine effektive
Kontrolle, doch passiert ist bisher kaum etwas. Es mangelt an Geld und auch am
Interesse: „Beim Fischraub ist sich die ganze Welt einig“, sagt GTZ-Experte Lohmeyer. In Brüssel kämpft die „Coalition for fair Fisheries Agreements“, CFFA,
ein Zusammenschluss europäischer Umwelt- und Entwicklungsorganisationen,
für eine andere Fischereipolitik. „Wir brauchen einen Vorrang für die einheimischen Fischer“, fordert Koordinatorin Béatrice Gorez. „Die EU gibt mit der einen
Hand, was sie dann mit der anderen wieder nimmt“, kritisiert Martina Schaub von
Germanwatch. Auf der einen Seite beteiligt sie sich an Entwicklungsprojekten
für die traditionelle Fischerei, zum Beispiel am CFP in Madagaskar, auf der anderen Seite fangen EU-Trawler denselben Fischern ihre Lebensgrundlage weg.
„Das ist doch paradox“, so Schaub, „aber wenn es um wirtschaftliche Interessen
geht, hat Entwicklungspolitik eben keine Chance“.
Germanwatch fordert mehr Kohärenz in der EU-Politik. Die Fischereiflotte
müsse drastisch reduziert werden. Bereits heute sind weltweit 70 Prozent der
Fischbestände in einem kritischen Zustand, warnt die FAO. Das sich etwas
ändern muss, hat inzwischen auch die EU erkannt. Nach einem Beschluss des
Fischereirats sollen 30 Prozent der Flotte in den nächsten Jahren abgebaut werden.
Für Luc kommt diese Entscheidung allerdings zu spät. Er hat die Fischerei
inzwischen aufgegeben. Neue Netze und ein neues Boot konnte er sich nicht
leisten. Deshalb ist er mit seiner Familie in die Hauptstadt Antananarivo
gezogen. In dem Zwei-Millionen-Moloch will er jetzt sein Glück machen.
Madagaskar
Claudia Ruby
Unterwegs: Von Toliara nach Antananarivo
Wer nicht fliegen kann oder will, ist bei längeren Strecken auf ein TaxiBrousse, ein Buschtaxi, angewiesen. Eigentlich gibt es auch drei Bahnstrecken
auf Madagaskar. Doch seit einiger Zeit sind alle außer Betrieb. Seit dem
Zyklon im letzten Jahr ist auf der ganzen Insel kein Zug mehr gefahren. Wann
wieder einer fährt? Das kann mir keiner sagen. „Mora, mora – immer mit der
Ruhe“ – antworten die Madagassen auf solche, typisch europäischen Fragen.
Und mora, mora, viel Ruhe und Geduld, braucht man auch für die Fahrt mit
dem Buschtaxi. Um sieben Uhr morgens soll es losgehen. An der TaxiBrousse-Station herrscht reger Betrieb. Menschen laufen hin und her, Werber
versuchen Fahrgäste anzulocken, Kinder verkaufen Äpfel, Bananen, Baguette
und alles, was man sonst noch bei einer längeren Reise gebrauchen könnte:
Batterien zum Beispiel, Wäscheklammern und Kugelschreiber.
Der Fahrer begrüßt mich mit großem Hallo, mein Rucksack wird auf dem
Dach des Transporters befestigt und dann sitze ich neben einer jungen Madagassin auf einem Stein und warte. „Wann geht es denn los?“, versuche ich zu
erkunden. Doch mein Bemühen bleibt erfolglos. „Bald“, heißt es, „sobald das
Auto voll ist“. Das dauert dann schließlich zwei Stunden, und so gegen neun
Uhr fahren wir wirklich los. Eigentlich gibt es in dem Auto neun Sitzplätze.
Tatsächlich fahren etwa zwanzig Erwachsene und fünf Kinder mit. Auf dem
Dach türmt sich das Gepäck, darunter ein Korb mit Hühnern. Wir rattern die
Landstraße entlang, die bald in eine rote Schotterpiste übergeht. Aus dem Cassettenrecorder dudelt madagassische Musik. Der Vorrat scheint unerschöpflich, und ich bewundere die Madagassinnen, die trotz allem scheinbar ungestört schlafen können.
Viele fahren von Tuléar direkt bis Tana. Ich möchte unterwegs die Nationalparks Isalo und Ranomafana sehen und steige deshalb nach fünf Stunden
in Ranohira aus. Das Gebirgsmassiv ist überwältigend. Zwei Tage übernachte ich in der wildromantischen Isalo-Ranch. Doch irgendwann muss ich
weiter, und Ranohira hat eigentlich keine Taxi-Brousse-Station. Trotzdem
müssen alle Fahrzeuge aus dem Süden durch das Dörfchen, und so stehen täglich etliche Fahrgäste an dem inoffiziellen Halteplatz. Zusammen mit mir warten noch drei Deutsche, die eine Trekking-Tour hinter sich haben und etliche
Madagassen auf einen freien Platz Richtung Tana. Doch alle Autos, die vorbeikommen, sind bis auf den letzten Zentimeter vollgeladen mit Männern,
Frauen, Kindern, Hühnern und Gepäck. Vielleicht hatte Pierre doch recht, als
er mir riet: „Fahr durch, sonst bekommst du keinen Platz mehr“. Doch irgendwann hält ein Kleinbus, in den ich mich noch reinquetschen kann. Und die
drei Deutschen sehe ich einige Tage später in Fianarantsoa wieder. Auch sie
müssen also einen Platz ergattert haben.
Claudia Ruby
Madagaskar
Auf dem Weg in die Provinzhauptstadt Fianarantsoa halten wir in einem
kleinen Dorf, um zu tanken. Ich bleibe im Auto sitzen, als plötzlich ein Mann
mit seinem kleinen Sohn auf dem Arm aus einer Hütte gestürzt kommt, das
Kind an die Scheibe hält und „Vazaha, Vazaha“ ruft. Dabei deutet er mit dem
Finger auf mich. Der Vater ist völlig begeistert, dem Kleinen eine solche
Attraktion bieten zu können. Wahrscheinlich hat das Kind noch nie einen Weißen gesehen. Der Kleine guckt mit großen Augen, ist aber sichtlich weniger
erregt als sein Vater. Ich fühle mich ein bisschen wie der Affe im Zoo, bin das
aber mittlerweile aus ländlichen Gegenden schon gewohnt. „Vazaha, VazahaRufe“ sind der ständige Begleiter für alle weißen Besucher. Vor allem die Kinder sind unbefangen, neugierig, umringen mich und wenn sie ganz mutig sind,
tippen sie an meinen Arm. Oft habe ich es sehr bedauert, mich nicht mit ihnen
unterhalten zu können, denn in diesem Alter sprechen sie noch kein französisch und mein malagasy beschränkt sich auf „Guten Tag“, „Danke“, „Entschuldigung“ und „Auf Wiedersehen“. Manchmal wird es aber auch einfach
zu viel, und ich möchte flüchten – irgendwohin, wo ich mit meiner weißen
Haut nicht auffalle. Auf dem Land ist das unmöglich, in den Städten gibt es
solche „weißen“ Fluchtburgen. Fast alle Europäer brauchen sie von Zeit zu
Zeit. Trotzdem kann ich in diesen Häusern, Restaurants und Hotels nie vergessen, wie künstlich die Situation eigentlich ist – eben eine Flucht vor der
Realität da draußen.
Von Fianarantsoa aus mache ich einen Abstecher in den Nationalpark
Ranomafana – einen der letzten Bergnebelwälder der Welt. Die madagassische
Natur ist immer wieder traumhaft: Nebel hängt in der Luft, überall rauschen
Gebirgsbäche und Wasserfälle. Der Großteil des Parks ist völlig undurchdringlich. Nur in einem kleinen Teil hat die Nationalparkverwaltung ANGAP
Wege angelegt. Ich bin mit dem Führer Loret Rasabo unterwegs. Stolz erzählt
er, dass er vor einigen Jahren miterlebt hat, wie der deutsche Biologe Bernhard Meier in Ranomafana einen bis dahin völlig unbekannten Halbaffen entdeckt hat, den Goldenen Bambuslemur. Faszinierend ist nicht nur sein Aussehen, sondern auch seine Lebensweise. Der Goldene Bambuslemur frisst
hochgiftige Bambusschößlinge. Das darin enthaltene Cyanid würde einen
Menschen sofort umbringen. Der Lemur neutralisiert das Gift jedoch, indem
er mehrmals am Tag eisenhaltige Erde frisst. Loret zeigt mir die Fraßspuren.
Den Bambuslemur selbst sehen wir beide leider nicht, dafür aber vier andere
Lemurenarten, mehrere Chamäleons, Echsen und Frösche. Wie Andasibe ist
Ranomafana ein Hot-Spot der Artenvielfalt: Ein Drittel aller madagassischen
Vogelarten leben hier, über 90 verschiedene Schmetterlinge und 12 Lemurenarten, darunter das nachtaktive Aye-Aye und der Mausmaki. Viele Tiere
und Pflanzen sind wissenschaftlich noch nicht erfasst. Auf dem Rückweg nach
Fianarantsoa nimmt mich ein junger Franzose mit. Er hat einen Wagen mit
Madagaskar
Claudia Ruby
Führer und Fahrer gemietet. Und so genießen wir den Luxus, an besonders
schönen Stellen anhalten zu können. Wir bewundern die traumhafte Landschaft, gehen spazieren und diskutieren über Gott und die Welt.
Am nächsten Morgen sitze ich wieder im Taxi-Brousse. Mittlerweile bin ich
schon eine echte Expertin und habe mir am Vortag den Beifahrersitz reservieren lassen. Wieder geht es zur verabredeten Zeit nicht los, und irgendwann
bietet mir der Fahrer an, doch eine zweite Fahrkarte zu kaufen. Dann könne
ich ganz allein auf meinem Platz sitzen und wir würden auch sofort losfahren. Was sich nüchtern betrachtet entweder nach Touristen-Ausbeutung oder
nach europäischer Dekadenz anhört, sieht nach drei Stunden Wartezeit in glühender Hitze auf einem staubigen Parkplatz ganz anders aus. Sofort bezahle
ich die 15.000 Franc malgache, etwa fünf Mark, und los geht´s. Die Strecke
ist phantastisch. Wir fahren jetzt durch das zentrale Hochland. Hinter jeder
Wegbiegung gibt es etwas zu sehen: Rauschende Flussläufe, kleine Wasserfälle, ausgedehnte Reisfelder und immer wieder Zebus.
Die nächste und letzte Station vor der Hauptstadt ist Antsirabe. Das TaxiBrousse hält, und was dann passiert, habe ich noch nicht erlebt: Hundert – so
kommt es mir zumindest vor – Pousse-Pousse-Fahrer stürzen auf mich zu und
rufen: „Nimm mich, die 23. Nein, mich, die 7. Nicht vergessen, Madame, ich
heiße Joseph, Stephan, Jacques......». Ein bisschen bin ich durch Erzählungen vorgewarnt, und so schnappe ich möglichst schnell meine Sachen und steige in ein
Pousse-Pousse, die madagassische Variante einer Rikscha. Über zwei Rädern
befindet sich eine gepolsterte und überdachte Sitzbank. Vorne sind zwei lange
Holzstangen befestigt, mit denen der Fahrer sein Gefährt zieht. Alle PoussePousse sind bunt angemalt, sie tragen Namen und Nummern, zum Beispiel
Mahaty 181, Franz 24 oder New York 77. In Antsirabe gibt es keine Taxen. Alle
fahren mit den unzähligen Pousse-Pousse: Schulkinder, Hausfrauen, Geschäftsleute und natürlich die Touristen. Mein „Chauffeur“ rennt also los, und es ist ein
merkwürdiges Gefühl, von einem Menschen durch die Mittagshitze gezogen zu
werden. Andererseits schreibt Susanne Roessler in ihrem Reiseführer: „Wenn Sie
zu Fuß gehen, verdient er nichts, und Pousse-Pousse-Fahrer haben dafür kein Verständnis“. Wie wahr das ist, merke ich, als ich später aus dem Hotel komme und
wirklich laufen möchte, um die Stadt zu erkunden. Wieder stürzen mindestens
zwanzig Pousse-Pousse-Fahrer auf mich zu, und es ist fast unmöglich, sie abzuschütteln.
Der Konkurrenzkampf ist beinhart, denn meist sind die Gefährte nur gemietet. Die Fahrer müssen den Besitzern stolze Tagespreise bezahlen. Und die
bekommen sie fast nur dann rein, wenn sie ab und zu einen Vazaha kutschieren
können. Manchmal fordern die Besitzer ihr Gefährt schon nach einem halben Tag
zurück, um eine zweite Miete zu kassieren. Die Pousse-Pousse-Fahrer, die der
unteren sozialen Schicht angehören, haben dagegen keine Chance.
Claudia Ruby
Madagaskar
Am nächsten Tag geht es weiter. Fast alle 30 Minuten fährt in Antsirabe ein
Taxi-Brousse Richtung Tana ab. Nach nur zwei Stunden stehe ich wieder im
ewigen Stau der Hauptstadt. Und ich verstehe, was mir alle erfahrenen Madagaskar-Reisenden erzählt haben: „Die Fahrt mit dem Taxi-Brousse ist schrecklich, aber man darf sie sich nicht entgehen lassen“.
Schluss und Dank
Sechs Wochen Madagaskar sind wie im Flug vergangen. Was ich in dieser
Zeit begriffen habe, kann man aus keinem Buch lernen. Und man kann es
auch nicht in 30 Seiten niederschreiben. Vieles fehlt, zum Beispiel ein Bericht
über die Straßenkinder von Tana, die Geschichte von Pierre, dem Königssohn
und von Rajery, dem Musiker.
Für all diese Eindrücke danke ich der Heinz-Kühn-Stiftung, ganz besonders
Erdmuthe Op de Hipt und Ute Maria Kilian für ihre herzliche Betreuung vor,
während und nach meiner Reise
Herzlichen Dank auch an Friedrich Kramme-Stermose von der FriedrichEbert-Stiftung und an seine Frau. Es war sehr schön, in Tana eine feste
Anlaufstelle zu haben.
Außerdem danke ich den Mitarbeitern der GTZ in Madagaskar, die mich
bei meinen Recherchen oft mehr als üblich unterstützt haben.
Und „last but not least“ danke ich allen Madagassen, mit denen ich während
meiner Reise zu tun hatte, die mir geholfen haben und von denen ich lernen
konnte.
Allmuth Schellpeper
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Malawi
vom 13 März bis 26 April 2000
Malawi
Almuth Schellpeper
”Malawi – ein kleines Land übt sich in Demokratie”
Von Almuth Schellpeper
Malawi, vom 12.06. bis 11.09.1999
Malawi
Inhalt
Zur Person
Diktatorische Vergangenheit und Demokratie
Zum zweiten Mal an die Wahlurnen
Hochschule in Zeiten der Diktatur
Musik unter Banda
Frauen engagieren sich
Banda‘s Frauenorganisation
Kämpferische Nationalheldin
Selbständig mit Papier-Recycling
Frauenministerin neu im Amt
Journalistinnen mit einer guten Idee
Das Schweigen brechen – Kampf gegen Aids
Eine Million Malawier HIV-positiv
Jugendliche in Anti-Aids-Clubs
“Youth Ambassador” als Berater
Aufklärung über‘s Radio
Verstehen mit Hilfe von Theater
Einblicke ins Bildungssystem
Kostenlos lernen
Studieren an der Universität
Der Malawi-See – drittgrößtes Binnengewässer Afrikas
Eigenverantwortlicher Fischfang
Gemächliche Fahrt über den See
Almuth Schellpeper
Malawi
Almuth Schellpeper
Zur Person
Almuth Schellpeper, Jahrgang 1964, studierte Sozialpädagogik und Medienwissenschaft in Münster und Tübingen. Anschließend Volontariat beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart. Seit 1997 freie Hörfunk- und Fernsehjournalistin in Köln für öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten. Vorliebe für sozial- und
entwicklungspolitische Themen.
Diktatorische Vergangenheit und Demokratie
Zum zweiten Mal an die Wahlurnen
Am 15. Juni 1999 sollen zum zweiten Mal in der Geschichte Malawis
demokratische Wahlen stattfinden. Zwei Tage vorher lande ich in Lilongwe,
der Hauptstadt. Vor meiner Abreise schrieb mir die Leiterin des GTZ-Büros
in Malawi, ich hätte mir einen ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht, um ins Land
zu kommen – so kurz vor den Wahlen. Man wisse noch nicht, ob es Unruhen
geben würde. An die GTZ-Mitarbeiter sei die Empfehlung gegangen, an den
Tagen vor und nach den Wahlen keine großen Strecken im Land zurückzulegen. Auch ich solle vorsichtig sein. Ich bin unschlüssig. Natürlich kann ich die
Situation noch nicht einschätzen, bin aber sehr neugierig. In Lilongwe angekommen, nehme ich Kontakt auf zum Büro des Demokratisierungsprojektes
der GTZ. Wenn ich am Wahltag morgens um fünf Uhr an der Rezeption des
Lilongwe Hotels sei, dann könne ich mit internationalen Wahlbeobachtern
mitfahren. Ich bin zum vereinbarten Zeitpunkt da und besteige zusammen mit
Mikael Boström aus Schweden und Lanca Ngube aus Malawi einen Jeep. Die
Wahllokale öffnen um sechs, dann wollen wir in Nchisi sein, einer Gegend im
Nordwesten des Landes. Wir sind spät dran, der Fahrer rast über die roten
Sandwege, wir werden ordentlich durchgeschüttelt. Wir erreichen unsere
erste Wahlstation, ein Schulgebäude auf dem Land. Und dann sehe ich hunderte von Leuten, die Schlange stehen, geduldig darauf warten, ihre Stimme
abgeben zu können. Zum Teil sind sie schon seit vier Uhr morgens da, Frauen,
Männer, Junge, Alte. Nur wer sich vorher registrieren ließ, darf wählen, Mindestalter:18 Jahre. In der Schlange stehen auch Jungen und Mädchen, die
deutlich jünger aussehen. Das fällt auch einem der Wahlhelfer auf. Er fragt
einen Jungen nach seinem Alter, der behauptet er sei 18. Der Onkel wird gerufen, auch er sagt, sein Neffe sei volljährig. Einen Pass hat der Junge nicht, also
vertrauen die Wahlhelfer der Aussage des Onkels. Wir fahren weiter nach Kayoyo, zur nächsten Wahlstation. Hier bietet sich uns ein ähnliches Bild: Lange
Reihen Wartender. Die Wähler haben zwei Stimmen: Eine für den Präsidenten, die andere für den Kandidaten einer Partei. Doch zunächst muss jeder den
Almuth Schellpeper
Malawi
Zeigefinger der rechten Hand in Tinte tauchen. So soll sichergestellt werden,
dass niemand zweimal seine Stimme abgibt. Wir fahren zu einer dritten
Wahlstation. Mittlerweile ist es nachmittag, die meisten Leute haben bereits
gewählt, jetzt muß niemand mehr anstehen. Um sechs Uhr schließen die
Wahllokale, es ist dunkel geworden. Wir sind bei der Stimmenauszählung in
Vikula dabei. Bis ein Uhr nachts wird hier sortiert und gerechnet. Später
erfahre ich, dass das Auszählen in anderen Wahlbezirken zum Teil noch zwei
Tage länger gedauert hat. In Vikula gibt es keinen Strom, im Kerzenschein
arbeiten sich die Wahlhelfer durch die Stimmzettel. Von den über 500 Wahlzetteln sind angeblich nur fünf ungültig. Ich beobachte jedoch, wie Stimmzettel, die z.B. mit mehreren Kreuzen oder Fingerabdrücken versehen sind und
damit ungültig wären, zu einer der beiden großen Parteien gerechnet werden.
Die Wahlbeteiligung im Land ist insgesamt sehr hoch: 92 Prozent der registrierten Wähler geben ihre Stimme ab. Der Projektleiter des GTZ-Demokratisierungsprojektes schreibt später in der „Nation“, einer der großen Tageszeitungen in Malawi: Auch wenn es einige Unregelmäßigkeiten gegeben habe, sei
die Wahl ruhig und fair verlaufen, relativ gesehen. Man müsse schließlich die
Vergangenheit Malawis mitbedenken, Demokratie sei Übungssache. Auch die
zwölf internationalen Wahlbeobachter bestätigen eine fair verlaufene Wahl.
Die Malawier haben, wie schon bei der ersten demokratischen Wahl vor vier
Jahren, entlang der Regionen gewählt, d. h. der Norden stimmte am ehesten für
Aford (Allianz für Demokratie), die Mitte für MCP (Malawi Congress Party) und
der Süden des Landes für UDF (United Democratic Front). Für viele ist nicht das
Wahlprogramm entscheidend, sondern aus welcher Gegend die Kandidaten
stammen.
Das Wahlergebnis fällt denkbar knapp aus. Es findet ein Kopf-an Kopf-Rennen statt zwischen Bakili Muluzi von der UDF und seinem Rivalen Gwanda Chakuamba vom Bündnis MCP /Aford. Der frühere Präsident Muluzi gewinnt wieder die Wahl. Das bestreitet die Opposition; u. a. weil kurz nach der Wahl
hunderte von Kisten mit Stimmzetteln gefunden werden, die nicht ausgezählt
waren. Es gibt vereinzelt Unruhen, vor allem im Norden. Dort werden etliche
UDF- Anhänger, die ursprünglich aus dem Süden stammen, vertrieben, ihre Häuser zum Teil zerstört. Auch die Fensterscheiben einiger Moscheen gehen zu
Bruch. Der Grund: Präsident Muluzi ist Muslim, die Mehrheit der Malawier
bekennt sich zum Christentum.
Am Tag der Parlamentseröffnung erscheinen die Abgeordneten der Opposition
nicht zur Sitzung. Damit wollen sie unmissverständlich deutlich machen, dass sie
Bakili Muluzi als Staatspräsidenten nicht akzteptieren. Die Opposition wendet
sich sogar an das höchste Gericht. Auf den Straßen in Lilongwe begegne ich
einige Male erregten Demonstranten, die ihrem Ärger über das Wahlergenbis
Luft machen.
Malawi
Almuth Schellpeper
Laut Verfassung herrscht Meinungs- und Pressefreiheit im Land. Doch drei
gestandenen Jounalisten des staatlichen Rundfunksenders MBC (Malawi
Broadcasting Cooporation) wird gekündigt, angeblich weil sie die Meinung
der Opposition verbreitet hätten. Genaues weiß man nicht. Als ich eine langjährige Journalistin bei MBC auf die Kündigungen anspreche, schaut sie
mich an und sagt: “Ich weiß nicht, wer dahinter steckt”. Ich blicke sie an und
glaube ihr nicht. Es soll Spitzel geben in den Medien, vielleicht hat sie Angst,
mir zu sagen, was sie weiß. Dreißig Jahre Diktatur lassen sich nicht einfach
wegwischen.
Der Tag vor dem 22. Juni, dem offiziellen Unabhängigkeitstag, wird kurzfristig zum Feiertag erklärt: Die Leute sollen Zeit haben, nach Blantyre zu fahren, um dort den neuen Präsidenten zu feiern. Ich begleite zwei Reporter des
Staatsrundfunks ins Stadion. Die Feiern zum Unabhängigkeitstag wecken in
mir Bilder, die mich an frühere Zeiten Malawis denken lassen: Als Präsident
Muluzi das Stadion betritt, wird er umringt von rund 50 Partei-Frauen, die für
ihn singen und tanzen. Sie sind gekleidet in leuchtendes Gelb, der Farbe der
Regierungspartei UDF. Später landen Hubschrauber im Stadion, das Militär
führt Schießübungen vor, die Zuschauer springen vor Begeisterung von ihren
Plätzen auf. Das anschließende Fußballspiel findet lange nicht so großen
Anklang. So ähnlich, stelle ich mir vor, verliefen auch die Feierlichkeiten für
den Diktator Kamuzu Banda.
Hochschule in Zeiten der Diktatur
Es gibt heute in Malawi offiziell zwei Universitäten. Die eine ist ganz im
Norden des Landes, in Mzuzu, und befindet sich noch im Aufbau. Die andere
wurde bereits 1965, ein Jahr nach der Unabhängigkeit Malawis, gegründet
und besteht aus insgesamt fünf Colleges, verteilt auf mehrere Orte. Der
größte Campus befindet sich in Zomba, am Chancellor College, bekannt für
die geisteswissenschaftlichen Fächer. Hier wurde früher die Elite des Landes
ausgebildet. Auch heute noch hat jemand, der am Chancellor College seinen
Abschluss erwirbt, gute Chancen, später einen Job zu ergattern.
Edine Kayambazithu kennt die Universität in Zomba noch aus ihren eigenen Studentenzeiten. Seit 19 Jahren lehrt sie selbst dort. Sie glaubt nicht, dass
die Leute jemals aufgehört hätten, kritisch zu sein. Nur habe man während
Bandas Zeit nicht gewusst, wem man vertrauen könne und wem nicht. Selbst
als sie in den 80er Jahren für zwei Jahre zum Studium nach England ging, saß
ihr die Angst im Nacken, Spitzeln zu begegnen, erzählt sie. Als Edine Kayambazithu Mitte der 80er Jahre zum ersten Mal über Sprache forschen wollte,
wurde ihr das nicht erlaubt. Sich kritisch über Sprachpolitik zu äußern, war
damals unmöglich.
Almuth Schellpeper
Malawi
Kings Phiri gehört ebenfalls seit Jahrzehnten zur Universität: Zunächst als Student, dann als Dozent. Er ist Geschichtsprofessor in Zomba. Auch er beklagt,
dass unter dem alten System keine akademische Freiheit möglich war. Viele der
Studenten seien Spitzel gewesen, die für die Regierung gearbeitet hätten, erzählt
er. Manche seiner Kollegen seien damals verhaftet worden. Man habe nie
gewusst, ob man als nächster an der Reihe sei. Meistens seien die Polizeieinheiten
nachts gekommen, um einen abzuholen. Einmal entging auch Kings Phiri nur
knapp einer Verhaftung. Er hatte damals einer ausländischen Nicht-RegierungsOrganisation (NRO) geholfen, Familien ausfindig zu machen, die besonders an
Hunger litten. Eine Woche später wurde er zu einer Polizeistation gebracht und
verhört. Man ließ ihn zwar kurze Zeit später wieder frei, doch die Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht: Sie hatten ihn eingeschüchtert.
Ich möchte von Kings Phiri wissen, ob die Studenten früher anders gewesen
seien. Ja, sagt er, diziplinierter, konzentriert darauf, einen Abschluss zu machen,
besser gekleidet. Die Studenten heute dagegen seien aufmüpfig, das mache das
Unterrichten manchmal anstrengend. Doch sie seien aufgeweckter, an ihrer
Umwelt, an Alltagsproblemen, an Hintergrundinformationen interessiert, wollten die Welt verändern. Kings Phiri lacht, irgendwie hat er die Jahre der Diktatur überlebt. Manchmal, das gesteht er gerne ein, verspürte er damals den dringenden Wunsch, Malawi zu verlassen, doch er ist geblieben.
Musik unter Banda
Die Alleluya-Band, eine Musikgruppe aus Balaka, spielt eine Mischung aus
Reggae und traditioneller Musik, und das bereits seit 20 Jahren. Alle Mitglieder gehören zur katholischen Gemeinde in Balaka, einem kleinen Ort im
Süden des Landes.
An der Demokratisierung Malawis sei die Band auf ihre Weise beteiligt
gewesen, meint Steve Chimombo, Professor an der Universität in Zomba und
Herausgeber der Kulturzeitschrift „Wasi“. Er bezeichnet die Alleluya-Band als
Revolution von Balaka. Steve Chimombo ist sich sicher, dass die Gruppe dem
unterdrückten Volk damals Trost und Hoffnung gegeben habe, mit Botschaften aus der Bibel. Sie äußerten Kritik, zwar gut verpackt in religiöse Inhalte,
doch für alle verständlich. Erst 1994, kurz vor den ersten demokratischen
Wahlen, änderten sich die Texte, die Alleluya-Band begann über Armut, Waisenkinder, über das politische Klima zu singen. Ich besuche Lucius Banda,
einen der Gründer der Band, in Balaka. Heute ist er nicht mehr Mitglied, er hat
seine eigene Gruppe und ist damit erfolgreich. Lucius Banda erinnert sich an
die Zeiten des Regimes. Nur religiöse Texte seien damals möglich gewesen.
Doch auch das habe manchmal zu Schwierigkeiten geführt: Der Diktator
wurde oft mit Gott gleichgesetzt, d. h. wenn die Texte der Band zuviel Gotteslob enthielten, hätte das vom Regime als Beleidigung aufgefasst werden
Malawi
Almuth Schellpeper
können. Manchmal wurde die Band ganz bewusst schikaniert. Normalerweise
trat sie für zwei oder drei Stunden auf. Am Unabhängigkeitstag mussten die
Musiker jedoch den ganzen Tag lang vor betrunkenen Funktionären der
MCP-Partei spielen. Und sie wurden gezwungen, ein Lied über die Besitztümer Kamuzu Bandas zu singen: In Malawi gehöre alles ihm, unter anderem
die Frauen und auch die Alleluya-Band. In der Übergangszeit, als sich der
Wechsel von der Diktatur zur Demokratie vollzog, wurden die Bandmitglieder bedroht: Sie hatten Angst, dass ihre Häuser und das Studio zerstört würden. Oft verließen sie nachts mit ihren Familien ihre Unterkünfte, um
anderswo Unterschlupf zu finden.
Eines der Lieder, das das damalige Regime nach kurzer Zeit verbot, trägt den
Titel „Msimu“. Es thematisiert den Autounfall auf der Straße nach Mwanza, bei
dem 1983 vier Minister starben – ein Anschlag, für den die heimlichen Drahtzieher unter Banda verantwortlich waren.
Heute ist die Alleluya-Band nicht mehr so produktiv wie in den 80er und 90er
Jahren. Doch sie versammelt immer noch Hunderte zu ihren Konzerten. Und sie
spielt auch weiterhin in Kirchengemeinden, Krankenhäusern, Schulen und
Gefängnissen.
Frauen engagieren sich
Banda´s Frauenorganisation
In einer Diktatur werden meist auch die Rechte der Frauen mit Füßen getreten.
Kamuzu Banda bemühte sich, die Ansicht zu verbreiten, er achte Frauen in
besonderer Weise. 1986 gründete er die als unpolitisch geltende Organisation
„Chitukuko Cha Amai m`Malawi“ (CCAM), die offiziell wirtschaftliche Aktivitäten der Frauen fördern und karitative Aufgaben wahrnehmen sollte. Inoffiziell
musste jede Frau der CCAM beitreten, sonst galt sie als illoyal dem Regime
gegenüber. Alle Mitglieder wurden gezwungen, unentgeltlich für die Organisation zu arbeiten, die Erlöse aus Kunsthandwerk oder Feldarbeit flossen den
Machthabern zu. Am Unabhängigkeitstag mussten sich alle Frauen in einen
Stoff wickeln, auf dem Banda abgebildet war. Jedes Jahr wurde ein neues Muster gedruckt. Die Journalistin Gladys Khoza erzählt mir, dass der Diktator in Privathäusern kontrollieren ließ, ob die Frauen den aktuellen Stoff gekauft hatten.
Einmal kamen die Jungen Pioniere, eine spezielle Polizeieinheit des Regimes,
auch zu ihr nach Hause und fragten nach dem Stoff. Gladys Khoza wurde darüber so wütend, dass sie alle bis dahin gesammelten Stoffe mit Aufdruck von
Banda aus ihrem Kleiderschrank riss und sie den Kontrolleuren vor die Füße warf.
Zu offiziellen Anlässen sollten die CCAM-Frauen für Banda, seine Minister
und Parlamentsmitglieder tanzen. An Entscheidungen durften die Frauen nicht
Almuth Schellpeper
Malawi
mitwirken. Manche wurden dazu aufgefordert, als Spione zu arbeiten, sogar ihre
eigenen Ehemänner haben sie zum Teil bespitzelt. Die Organisation CCAM existiert noch heute, allerdings nicht mehr ausschließlich für Frauen.
Kämpferische Nationalheldin
Eine, die sich ihr Leben lang für Frauen- und Menschenrechte eingesetzt hat,
ist Vera Chirwa. Sie ist in Malawi eine Nationalheldin. Unter Banda wurde sie
zwölf Jahre lang gefangen gehalten, gedemütigt, gefoltert. Ihr Mann starb an den
Misshandlungen, die man ihm zufügte. Vera Chirwa überlebte. Trotz ihrer 67
Jahre ist sie immer noch sehr aktiv und es ist nicht leicht, einen Termin mit ihr
zu vereinbaren. Schließlich treffe ich mich mit ihr im Büro von „Malawi Carer“,
einer Menschenrechtsorganisation, die sie vor vier Jahren gegründet hat. Vera
Chirwa hat eine Wollmütze über den Kopf gezogen, sieht müde aus und hat
anfangs keine Lust, interviewt zu werden. Sie entgegnet mir gleich, sie habe nicht
viel Zeit. Nach einer Weile ist sie dann doch bereit, sich meinen Fragen zu stellen. Sie habe überlebt, sagt sie, weil der Glaube an Gott eine Tatsache für sie sei,
auch wenn sie tagsüber gefoltert wurde. In den 60er Jahren musste ihr Mann aus
Malawi fliehen. Vera Chirwa folgte ihm nach Tanzania, später lebten beide in
Zambia. Im Exil arbeitete Vera Chirwa als Rechtsanwältin und Juraprofessorin.
1981 wurden sie und ihr Mann entführt und nach Malawi gebracht. „Ich weiß,
warum ich ins Gefängnis kam. Banda war klar: Wenn er nur meinen Mann eingesperrt hätte, dann hätte ich für Schwierigkeiten gesorgt. Außerdem hatte
Banda Angst vor mir, weil er glaubte, ich hätte großen Einfluss auf die Frauen.
Deshalb entschied er, wir sollten entführt werden. Als wir nach Malawi kamen,
beschuldigte man uns des Verrats, was niemand beweisen konnte. Wir kamen vor
ein traditionelles Gericht ohne Rechtsbeistand und wurden so behandelt, als seien
wir Straftäter. Aber sie hatten keine Beweise. Es war schrecklich“. Sie bricht ihre
Erzählung ab, die Erinnerungen an die Inhaftierung lassen sie für kurze Zeit verstummen. Zwischen uns herrscht Schweigen. Dann fährt sie fort. Nach ihrer Freilassung 1993 gründete Vera Chirwa auch „Women´s Voice“, eine Vereinigung,
die sich mit Frauenbelangen befasst. Vera Chirwa wollte sich nicht zufrieden
geben mit der staatlichen Organisation CCAM und damit, wie Banda die Frauen
zu seiner eigenen Machterhaltung benutzte.
Mit ihrer Organisation „Women´s Voice“ hat Vera Chirwa vor der Parlamentswahl im Juni diesen Jahres Frauen ermutigt, die politsche Bühne zu betreten. Selbst fähige Frauen trauen sich oft nicht, zu kandidieren. Bei der ersten
demokratischen Wahl 1994 schafften es zehn Frauen ins Parlament, jetzt gibt es
immerhin 16 weibliche Parlamentsmitglieder, d. h. sie nehmen acht Prozent aller
Sitze ein. Vera Chirwa ist weiterhin zuversichtlich: „Wenn wir in Malawi eine
wirkliche Demokratie haben wollen, dann müssen wir die drei Feinde der
Menschheit überwinden: Armut, Ignoranz, Krankheit. Die Jungen müssen als
Malawi
Almuth Schellpeper
Team zusammenarbeiten, einmütig und mitfühlend. Dann wird Malawi eines
Tages ein Stern in dieser Welt sein“.
Selbstständig mit Papier-Recycling
Lindizga Buliani, Mitte vierzig, ist Unternehmerin. Sie leitet die einzige
Papier-Recycling-Firma in Malawi: “Paper Making Education Trust” (PAMET).
Als ich mich mit ihr verabrede, ahne ich noch nicht, dass sie fließend deutsch
spricht. In den siebziger Jahren flieht sie als junges Mädchen vor dem Diktator
Banda nach Deutschland, studiert hier Betriebs- und Agrarwirtschaft und kehrt
später wieder in ihre Heimat zurück. Mit Entschlossenheit setzt sie sich für die
Verbesserung des Lebensstandards ihrer Landsleute ein, vor allem für die Frauen
in Malawi.
In dem kleinen Hinterhof von PAMET arbeiten bei lauter Radiomusik neun
Angestellte: Sie schöpfen Papier, hängen die Bahnen zum Trocknen auf, fertigen
Briefumschläge, Schreibpapier, Fotoalben, Geschenkpapier, Bilderrahmen. Ich
laufe durch den Hof und werde von allen freundlich begrüßt, die Atmosphäre ist
entspannt. Lindizga erzählt mir, welche Ideen sie mit PAMET verfolgt: Sie entwickelt und vermarktet die Produkte, gleichzeitig gibt sie das Wissen um die Herstellung von Papier an Frauen weiter. Außerdem gewährt PAMET günstige
Kredite für die Grundausstattung, zum Beispiel Wannen und Siebe. Männer würden das Geld oft für Alkohol ausgeben, sagt Lindizga Buliani, Frauen könnten
das Geld besser zuammenhalten und finanzierten damit die Ausbildung ihrer
Kinder. „Wenn ich eine Frau unterstütze, dann kommt das der ganzen Familie
zugute“. Ich fahre mit Lindizga in die Umgebung von Blantyre. Hier auf dem
Land wohnt eine der Frauen, die bei PAMET gelernt hat, Papier zu recyceln. Wir
verlassen die geteerte Straße, die Wege werden immer schmaler. Schließlich halten wir vor dem kleinen Haus von Ezmir Zuze. Sie erwartet uns schon und
begrüßt uns freudestrahlend. Ezmir lebt hier zusammen mit ihren vier Kindern,
von ihrem Mann hat sie sich getrennt. In der Umgebung ist sie die einzige, die
Papier herstellt. Manche Nachbarn bewundern sie, wollen das Handwerk auch
lernen. Doch dann stellen sie fest, dass es nicht so leicht ist. Ezmir ist dabei
geblieben und sehr zufrieden mit ihrer neuen Selbstständigkeit: „Ich möchte
Papier herstellen, solange ich lebe. Und ich bete zu Gott, dass meine Kinder das
auch lernen können, denn es ist eine Arbeit, die einen befreit, da kann man alles
selber herstellen und niemand kommandiert mich herum“. Wenn sie genügend
Umschläge und Hefte produziert hat, dann steckt sie alles in eine Tasche, zieht
ihr blaues Kleid an und macht sich mit ihrer ältesten Tochter auf den Weg in die
Stadt, um ihre Produkte anzupreisen. Bisher mit Erfolg, denn Papier ist in
Malawi immer noch Mangelware. PAMET unterstützt auch interessierte Frauengruppen, die genossenschaftlich arbeiten. Sie teilen sich die Ausstattung und
den erwirtschafteten Gewinn. Gerade auf dem Land kann die Bevölkerung
Almuth Schellpeper
Malawi
nicht mehr vom Ackerbau allein leben. Frauen arbeiten zwar oft auf dem Feld
mit, das Land gehört jedoch meist den Männern, das erwirtschaftete Geld ebenfalls. Lindizga will erreichen, dass möglichst viele Frauen ihr eigenes Geld
verdienen. „Wir wollen, dass jede Frau, die wir schulen, in der Lage ist, ihr Leben
in die eigenen Hände zu nehmen, nicht auf jemanden warten zu müssen. Dieses
Bewusstsein sollen die Frauen entwickeln und weitertragen“.
Frauenministerin neu im Amt
Ich bin erstaunt: Ganz unbürokratisch verläuft die Terminvereinbarung
mit Mary Banda, der Frauenministerin Malawis. Noch nicht einmal ein Fax
verlangt ihr Sekretär von mir. Drei Telefonate und der Interviewtermin steht
fest. Am vereinbarten Tag komme ich pünktlich um neun Uhr in das Büro der
Ministerin. Der Sekretär entschuldigte sich: Nein, die Ministerin sei leider
heute Vormittag nicht anwesend, sie sei auf einer Beerdigung. Ich werde auf
den Nachmittag vertröstet. Als ich nach ein paar Stunden wieder das Büro
betrete, ist die Ministerin immer noch nicht da. Ich warte. Schließlich schlägt
mir der Sekretät vor, am nächsten Morgen wieder zu kommen. Ich lasse es auf
einen dritten Versuch ankommen. Und tatsächlich, dieses Mal habe ich Glück,
Mary Banda empfängt mich. Sie ist aufgedreht und redet wie ein Wasserfall.
Seit zwei Monaten ist sie jetzt Ministerin. Eigentlich ist Mary Banda Lehrerin, sie hat unter Bandas Regime eine private Schule für Mädchen und Jungen aufgebaut – allerdings unter Schwierigkeiten. Sie wurde bedroht, man
warf ihr damals vor, in Wettbewerb treten zu wollen mit der privaten Akademie des Diktators. Sie selbst verbrachte viele Jahre in Sambia, absolvierte dort
ihre Ausbildung und kehrte mit 27 Jahren, Anfang der 80er Jahre, zurück nach
Malawi. Bildung ist für sie heute der Schlüssel zu allem. Wenn die Frauen auf
dem Land alle Lesen und Schreiben könnten, dann wüssten sie auch um ihre
Rechte, sagt sie. Im Moment überarbeite die Regierung die Gesetze in bezug
auf Scheidung und Erbrecht. Geschieden zu sein bedeute heute nicht mehr
sein Gesicht zu verlieren. Ich frage Mary Banda, was sich seit Einführung der
Demokratie 1994 für die Frauen auf dem Land geändert habe (80 Prozent der
Bevölkerung lebt auf dem Land). Die Ministerin zählt auf: 2.000 Alphabetisierungskurse für Erwachsene, 8.000 Brunnenlöcher, keine Kleidervorschriften mehr: Frauen könnten z. B. auch Hosen tragen. Ich will Mary
Banda´s Euphorie bremsen und erzähle ihr von einem Erlebnis mitten in Blantyre, das mich schockiert hat: Es ist neun Uhr morgens, ich stehe in einem
Buchladen und suche mit meinen Augen die Buchrücken ab. Plötzlich höre ich
draußen Stimmengewirr, Rufe hallen durch die Straße, aufgeregt ziehen
Menschen am Schaufenster vorbei. Erstaunt erkundige ich mich bei der Verkäuferin, was da vor sich gehe. Sie erklärt mir, eine junge Frau sei auf der
Straße, die trage einen ziemlich kurzen Rock, das missfalle den Leuten. Sie
Malawi
Almuth Schellpeper
scheuchen die Frau vor sich her. Fassungslos trete ich hinaus, entdecke die
Frau, umringt von mindestens 50 johlenden Männern und einigen Frauen.
Jederzeit könnte die Stimmung umschlagen und die Menge gewaltätig werden. Die Betroffene verzieht keine Miene, blickt herausfordernd um sich
und geht schließlich in einen Laden, um sich ein Chitenje zu kaufen, ein traditionelles Tuch, das sich die Frauen um ihre Hüften schlingen. Als sie so
bedeckt wieder auf die Straße tritt, folgt der Mob ihr immer noch.
Auf dem Papier gibt es viele neue Freiheiten in Malawi, in der Praxis
wohl noch lange nicht. Die Einstellung der Leute ändere sich eben nur allmählich, entgegnet Mary Banda. Außerdem seien die Erwartungen der Leute
oft zu hoch: Mit dem Einzug der Demokratie könnten nicht plötzlich alle alles
erreichen.
Journalistinnen mit einer guten Idee
In Malawi, so erfahre ich noch in Deutschland, soll es einen Frauen-Radiosender geben, Radio Dzimwe. Dort möchte ich hin. Zunächst treffe ich mich mit
Aretha Kamwendo, einer jungen Journalistin beim staatlichen Rundfunksender
MBC. Sie ist Mitglied bei MAMWA, “Malawi Media Women´s Association”.
Bereits vor vier Jahren hatten die Journalistinnen von MAMWA die Idee, einen
Radiosender für Frauen ins Leben zu rufen. Aber erst im April diesen Jahres
konnte Radio Dzimwe auf Sendung gehen, gesponsert von der UNESCO. Die
Radiostation befindet sich in Monkey Bay, am südlichen Ende des Malawi-Sees.
Warum ausgerechnet in dieser Ecke des Landes einen Sender? Aretha erklärt mir:
Hier gibt es eine besonders hohe Analphabetenrate von Frauen. Mädchen, die in
dieser Gegend wohnen, werden oft sehr früh verheiratet, mit 10 oder 12 Jahren,
und gehen dann nicht mehr zur Schule. Ein Radio besitzen zwar nicht alle
Familien in Malawi, aber doch sehr viele. Und so wollte MAMWA über das
Medium Radio die Frauen erreichen. Als ich mich nach den Themen erkundige,
stelle ich fest: Es handelt sich nicht um einen reinen Frauensender, wie ursprünglich geplant war. Alle Themen, die eine Dorfgemeinschaft betreffen, kommen zur
Sprache: Cholera, Bewirtschaftung der Felder, Hühnerhaltung, traditionelle
Geburtshilfe, aber auch Kochrezepte, Aids und viel Musik. Aretha sagt, sie sei
zur Verantwortlichen für Radio Dzimwe gemacht worden. Einen Monat lang ist
sie in Monkey Bay gewesen und hat die sechs Ehrenamtlichen, die dort arbeiten,
eingewiesen. Zuvor hatten die Mitarbeiter einen 14-tägigen Kurs in Interviewtraining und Studiotechnik absolviert. Radio Dzimwe kann man im Umkreis von
rund 50 Kilometern empfangen. Fünf Stunden täglich wird gesendet, morgens
von 7 bis 9 Uhr und nachmittags von 16 bis 19 Uhr. Im Laufe des Gesprächs mit
Aretha wird deutlich: Dem Pilotprojekt mangelt es an Geld. Eigentlich hätte Aretha noch länger in Monkey Bay bleiben sollen, doch ihr Aufenthalt dort konnte
nicht mehr bezahlt werden. Angeblich hatte UNESCO auch ein Auto für die Mit-
Almuth Schellpeper
Malawi
arbeiter zugesagt, das ist in Monkey Bay nie gesehen worden. MAMWA versucht
jetzt, neue Geldgeber zu finden.
Auch wenn der kleine Sender nicht das verspricht, was ich erwartet hatte:
Ich bin trotzdem neugierig geworden und mache mich auf nach Monkey
Bay. Das letzte Stück Straße dorthin besteht eigentlich nur aus Schlaglöchern,
mühsam komme ich vorwärts. In Monkey Bay dauert es eine Weile, ehe ich
jemanden treffe, der weiß, wo sich das Studio befindet. Als ich ankomme, sind
die Türen verschlossen. Keiner der Mitarbeiter hat Telefon zu Hause, ich setzte
mich auf die Stufen und warte. Dann kommen sie: Justice, der Leiter und
Techniker, Julia, Rikki und Gertrude. Sie sind zwischen 20 und 24 Jahre alt
und wirken sehr routiniert: Keine Aufregung, alle wissen, was sie zu tun
haben. Keiner von ihnen wollte vorher Journalist werden. Doch als sie einen
Job suchten, entdeckten sie die Ausschreibung von Radio Dzimwe und bewarben sich. Bedingung: Abschluss der Sekundarschule, fließend Englisch und
eine lokale Sprache. Alle vier mögen ihren Job und sind überzeugt davon, dass
sie mit ihren Sendungen dazu beitragen, die Leute in der Gegend besser zu
informieren. Und dann beklagen sie sich doch: Sie erhalten nur 1.000 Kwacha pro Monat, umgerechnet 50 Mark. Sie haben kein Transportmittel, müssen manchmal lange Fußmärsche in Kauf nehmen, um zu ihren Interviewpartnern zu gelangen. Sie verfügen nicht über genügend Leerkassetten und
Aufnahmegeräte. Als ich mich auf den Rückweg mache, habe ich zwar keinen Frauensender kennengelernt, dafür aber vier junge, engagierte Radiojournalisten, die trotz wenig Equipment sechs Tagen in der Woche auf Sendung gehen.
Das Schweigen brechen – Kampf gegen Aids
Eine Millionen Malawier HIV-positiv
Die Immunschwächekrankheit Aids stellt eine immer größer werdende
Gefahr für die Entwicklung Malawis dar. Dem Land droht der Verlust der
Arbeiterschaft. Mindestens ein Viertel aller arbeitsfähigen Stadtbewohner
wird im Laufe der nächsten zehn Jahre an Aids sterben. Besonders hoch ist die
Todesrate bei Lehrern und Beschäftigten im Gesundheitswesen. In Blantyre
ist bereits jeder dritte Einwohner im Alter zwischen 15 und 49 Jahren HIVpositiv. Auch die Armee Malawis ist schwer betroffen: Jeden Monat sterben
dort mindestens 20 Soldaten an Aids, Tendenz steigend. Es gibt in Malawi
Zentren, in denen kostenfreie Aidstests mit Beratung angeboten werden.
Kondome sind nicht teuer und in Apotheken, Geschäften und Bars erhältlich.
Doch Aufklärungsmaßnahmen scheinen bisher wenig bewirkt zu haben. Darüber bin ich erstaunt und will mehr über die Hintergründe erfahren.
Malawi
Almuth Schellpeper
Zunächst unterhalte ich mich mit Martha, einer jungen Journalistin bei TV
Malawi. Sie ist die erste, die mit mir offen über Traditionen spricht, die den
HIV-Virus verbreiten: So erfahre ich, dass in Malawi ein junges Mädchen in
die Welt der Erwachsenen eingeführt wird, indem es z. B. von einem älteren
Mann entjungfert wird. „Damit soll der Weg für den Ehemann bereitet werden. Das ist eigentlich nichts anderes als Vergewaltigung“, bemerkt Martha.
Auch die Tradition der Witwenvererbung verbreitet Aids: Stirbt ein Mann,
wird dessen Ehefrau sofort an seinen Bruder weitergereicht. Bei traditionellen Heilern ist es üblich, zwei oder drei Schnitte in die Haut zu ritzen und dann
die Medizin in die Wunde zu reiben. Die Rasierklingen, die dazu benutzt werden, sind nicht steril und können ebenfalls die Krankheit weitertragen. Martha ist sich sicher, dass vor allem aber die Haltung der Leute das HIV-Virus
verbreitet. In den Bussen hat Martha schon öfters Gespräche zwischen
Jugendlichen miterlebt: „Sie sagen, man könne keine Süßigkeit eingewickelt in Papier genießen“. Die meisten würden keinen Aids-Test machen, weil
sie davon ausgingen, nicht krank zu werden. Außerdem wollten sie es auch gar
nicht wissen. Aids, erzählt Martha, ist immer noch ein Tabu in der malawischen Gesellschaft. Bei Begräbnissen würde der Pfarrer zum Beispiel niemals
erwähnen, dass der Verstorbene Aids gehabt habe.
Vor vier Jahren hat Martha zum ersten Mal einen Aids-Test gemacht. Damals
wollte sie eine Lebensversicherung abschließen, der Test war Bedingung.
Jugendliche in Anti-Aids-Clubs
An vielen Sekundar- und Primarschulen existieren heute Anti-Aids-Clubs,
rund 1000 im ganzen Land. Bereits 1992 hatte die UNICEF die Initiative dazu
ergriffen und die Idee in Malawi eingeführt. So wie einige Schüler sich nachmittags zum Sport treffen, diskutieren andere in einem eigenen Club über Aids,
verarbeiten das Thema in Theaterstücken und Gedichten oder malen Plakate. Mit
Patricia Msugu treffe ich mich im Büro von “Youth Arm Organisation” in Blantyre, einer Jugendvereinigung, die u.a. von der UN finanziert wird. Patricia, 20
Jahre, ist für einige der Anti-Aids-Clubs in ihrer Stadt zuständig. Als sie noch
selbst zur Schule ging, war sie die Vorsitzende eines solchen Clubs. Patricia ist
überzeugt davon, dass wenigstens ein paar Mitglieder in den Clubs ihr Verhalten ändern. „Am Anfang haben sie mich gefragt, warum man Kondome benutzen soll. Jetzt fragen sie, wie man sie benutzt, d. h. sie wollen Kondome selbst
benutzen“. Die “Youth Arm Organisation” will vor allem erreichen, dass Jugendliche sich verantwortlich verhalten, in bezug auf Sexualität, und sichere Sexualpraktiken anwenden.
Zusammen mit Patricia besuche ich einen dieser Clubs. Wir haben uns für
drei Uhr nachmittags angekündigt, nur allmählich finden sich die Schüler ein.
Schließlich sitzen wir in der Bücherei um einen großen Tisch herum, zusam-
Almuth Schellpeper
Malawi
men mit 12 Clubmitgliedern aus unterschiedlichen Klassen. Kings ist 17
Jahre alt. Er meint, der beste Schutz vor Aids sei, erst gar keinen Sex zu haben;
Kondome seien ja auch nicht ganz sicher. Die 18-jährige Julie meldet sich zu
Wort. Sie erzählt, sie habe bisher einmal mit ihrem Freund geschlafen. „Ich
hab´s nur getan, um ihn glücklich zu machen. Ich hatte Angst, ihn zu verlieren, wenn ich ablehne“. Ken, 17 Jahre, fügt hinzu, dass der Gruppendruck
manchmal ziemlich stark sei. Wenn man noch keinen Sex gehabt habe, würde
man von den anderen gehänselt. Alle in der Gruppe geben zu, Angst vor Aids
zu haben. Die meisten von ihnen kennen jemanden, der daran erkrankt oder
gestorben ist. Ken gibt sich trotzdem optimistisch: „Aids gab´s schon, als ich
auf die Welt kam. Ich versuche, kein Aids zu kriegen. Aber selbst wenn ich es
habe, ist das nicht das Ende der Welt. Ich kann weiterhin zur Schule gehen,
vielleicht lebe ich länger als jemand, der nicht krank ist“. Längst nicht alle
Teilnehmer verhalten sich so reflektiert. Der 15jährige Arbet zum Beispiel. Er
ist der festen Ansicht: Nur diejenigen, die sich in einer Beziehung misstrauen, benutzen Kondome. Außerdem sei Verhütung das Problem der Mädchen, ihn träfe keine Verantwortung. Arbet ist seit einem Jahr im Club, an seiner Haltung scheint sich nichts geändert zu haben.
“Youth Ambassadors” als Berater
In Blantyre und in der Hauptstadt Lilongwe gibt es Büros von MACRO,
“Malawi Aids Counseling and Resource Organisation”. Dabei handelt es
sich um Zentren, in denen Beratung und Aidstests kostenlos sind. MACRO
erhält finanzielle Unterstützung aus den USA und Großbritanien. Superior
Williams, Leiter des Zentrums in Blantyre, ist seit der Eröffnung 1994 mit
dabei. Rund 15 bis 20 Leute kommen pro Tag, meist wegen eines HIV-Tests.
Manche nehmen auch eine lange Anreise in Kauf. Vor dem Test sprechen die
Berater von MACRO mit ihnen: Was würden sie z. B. tun, wenn sie erfahren,
dass sie HIV-positiv sind? Verheirateten Männern oder Frauen raten sie, mit
dem Partner zu kommen. Der Leitgedanke bei MACRO: Menschen mit dem
HIV-Virus dabei zu unterstützen, positiv zu leben. Zu MACRO gehören auch
die “Youth Ambassadors”, eine Gruppe von 12 jungen Männern und Frauen,
die alle HIV-positiv sind. Sie arbeiten ehrenamtlich als Berater und diskutieren vor allem mit Jugendlichen in Schulen und Kirchengemeinden. Mike Kalimera ist einer von ihnen. Mit sanfter Stimme und erstaunlicher Offenheit
erzählt er mir von seiner Krankheit und den Ängsten, die er anfangs durchlebt hat. Mike ist 26 Jahre alt, seit drei Jahren weiß er, dass er Aids hat. Als
er damals davon erfuhr, war es für ihn schwierig, darüber mit seinen Eltern
und Freunden zu sprechen. „Ich glaubte, ich müsse sterben. Und ich dachte,
ich müsse unbedingt herausfinden, wer mir das Aids-Virus weitergegeben hat.
Erst hab ich die Krankheit verleugnet, aber nach zwei bis drei Wochen hab ich
Malawi
Almuth Schellpeper
angefangen, mich damit auseinanderzusetzen“. Mike hat eine Freundin. Er
erzählte ihr von seiner Krankheit. Daraufhin ging sie zum Test, sie ist HIVnegativ. „Wir benutzen immer ein Kondom. Für jemanden, der versteht,
wofür ein Kondom gut ist, für den ist ein Kondom kein Problem“. Mike
bemüht sich, einen gesunden Lebenstil zu führen: Ausgewogene Ernährung
und genügend Bewegung. „Früher hab ich bei jeder Anstrengung geschwitzt,
heute fühle ich mich besser. Und ich weiß, ich habe noch Zeit zu leben vor
mir“. Mike wirkt auf mich ausgeglichen und ruhig. Ich kann ihn mir gut in der
Jugendberatung vorstellen.
Aufklärung über´s Radio
Ein regelmäßiges Radioprogramm des staatlichen Senders MBC mit dem
Titel „Straight Talk“ spricht offen über Aids und alle Fragen, die die Hörer
zum Thema haben. Junge Leute zwischen 22 und 26 Jahren moderieren die
Sendung. Sie sind nicht angestellt bei MBC, sondern erhalten ihr Honorar
zum Teil von UNICEF. Manchmal wird ein Arzt als Experte ins Studio eingeladen, meist beantworten die Macher von “Straight Talk” aber selbst die
Fragen der Zuhörer. Ihr Rat, wie man es vermeidet, aidskrank zu werden: Sich
nicht auf sexuelle Abenteuer mit unterschiedlichen Partnern einlassen und Sex
erst ab 18 Jahren, wenn man fähig ist, selbstständig Entscheidungen zu treffen. Jeden Tag erhält “Straight Talk” Briefe von Jugendlichen. Noel Chingwene, seit drei Jahren dabei und Organisator der Sendung, liest einen der
Briefe vor: „Sehr geehrter Herr Doktor, ich habe eine Freundin, die ich sehr
liebe und der ich vertraue. Ich bat sie neulich, mit mir zusammen einen Aidstest zu machen. Sie wollte nicht. Also bin ich allein zur Klinik gegangen. Das
Ergebnis: Ich bin HIV-negativ. Kann ich weiterhin eine Beziehung mit ihr
haben? Ich mag sie sehr“.
Weil sich die „Straight Talk“-Moderatoren nicht scheuten, die Dinge deutlich zu benennen, durften sie eine Woche lang nicht senden. Nach vielen
Gesprächen mit MBC sind sie jetzt wieder regelmäßig zu hören, allerdings
mussten sie versprechen, eine gemäßigtere Sprache zu verwenden.
Verstehen mit Hilfe von Theater
Die Mitarbeiter des „story workshops“ in Blantyre wollen Alltagsprobleme mittels Theater anschaulich machen. Also recherchieren sie, schreiben
Stücke, lassen sie in Dörfern aufführen, nehmen alles auf Kassette auf. Später werden die Stücke im Radio gesendet. Vor einiger Zeit hat der „story
workshop“ ein Stück über Aids verfasst. Die Hauptperson ist eine Frau,
deren Ehemann viele Geliebte hat und mit mehreren Geschlechtskrankheiten
Almuth Schellpeper
Malawi
zu ihr zurückkommt. Die Frau weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Wenn
sie ihren Mann verlässt, dann fürchtet sie, hat sie niemanden mehr, der sie
unterstützt. Ihre Freundinnen raten ihr, zu gehen und sich mit kleinen Geschäften über Wasser zu halten. Es ist schwer für sie, sich zu entscheiden, doch am
Ende verlässt sie ihren Mann gegen alle Widerstände. Ich frage Marvin
Hanke, den Leiter des „story workshops“, ob das Ende der Geschichte eine
Aufforderung an die Frauen sei, sich scheiden zu lassen. „Nein“, entgegnet er,
„aber die Frauen haben ein Recht, Verantwortung für ihren Körper und ihre
Gesundheit zu übernehmen“. Seiner Meinung nach ist nicht die Einstellung
zu Aids das größte Problem, sondern der kulturelle Hintergrund. Eine malawische Frau müsse zum Beispiel gehorsam sein. Wenn sie ihrem Ehemann
nicht gehorche, dann verliere sie ihre Familie. Daher sei es sehr schwer für
eine Frau zu ihrem Mann zu sagen: “Wenn du mit mir schläfst, dann nur mit
Kondom”. Die Frau stehe also vor der schwierigen Entscheidung, bei ihrem
Mann zu bleiben, auch auf die Gefahr hin, Aids zu bekommen, oder zu gehen
und zu versuchen, irgendwie zu überleben. Das Team von „story workshop“
will seinen Zuhörern die Möglichkeit geben, sich mit den Hauptfiguren zu
identifizieren. Damit die Stücke möglichst realistisch werden, fährt ein Team
von vier Mitarbeitern über die Dörfer, diskutiert mit den Menschen, um auf
diese Weise mehr über ihre Ansichten und Ängste zu erfahren. Dieses Material ist später Grundlage für die Theater- und Hörstücke.
Einblicke ins Bildungssystem
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Nach den Wahlen 1994 führte die neue demokratische Regierung damals
den kostenlosen Besuch der Primarschule ein. Plötzlich gab es drei statt zwei
Millionen Primarschüler in Malawi. Über 20.000 unausgebildete Lehrkräfte
wurden eingestellt, viele mussten unter freiem Himmel unterrichten. Heute ist
etwa ein Drittel der 50.000 Primarlehrer fachlich nicht ausgebildet. Immer
noch fehlen genügend Lehrmaterialien und Klassenräume. Die Regierung hat
vor drei Jahren, zusammen mit internationalen Geldgebern, ein Soforthilfeprogramm auf die Beine gestellt, das Lehrer schnell und effektiv weiterbilden
soll. Die Kurse dauern zwei Jahre, finden in einem der sechs Lehrer-Ausbildungs-Institute statt und sind immer wieder unterbrochen durch praktische
Lehreinheiten. Die Ausbildung ist übrigens kostenlos, bis auf Schulbücher und
Hefte, die die Auszubildenden selbst kaufen müssen.
Ich möchte mir das College in Nguludi anschauen. Als ich einige Tage vor
dem vereinbarten Termin noch einmal anrufe, erfahre ich, dass ich doch
keine Möglichkeit haben werde, mit angehenden Lehrern zu sprechen. Eigent-
Malawi
Almuth Schellpeper
lich hätten die Auszubildenden nach ihrem zweiten Praktikum im August wieder für kurze Zeit selbst die Schulbank drücken und in den Wohnheimen leben
sollen. Doch zur Zeit gibt es kein Wasser auf dem Gelände, die Wasserpumpe ist defekt und der Regierung fehlt das Geld, um den Schaden zu
beheben. Für die Auszubildenden fällt der Unterricht deshalb in den nächsten
vier Wochen aus. Sie sollen erst Mitte September wiederkommen. Bis dahin
soll die Wasserversorgung wieder funktionieren. Dann allerdings werde ich
schon nicht mehr im Land sein. Deshalb entscheide ich mich trotzdem loszufahren, um wenigstens mit dem Leiter und einigen Lehrkräften zu sprechen.
Die Straße dorthin ist so schlecht, dass ich für 30 Kilometer eine Stunde
brauche. Dann erreiche ich das College, es gehört zur Missionsstation Montfort. Das Hauptgebäude liegt erhöht, mit wunderschönem Blick auf das
umliegende Land. Bruder Andrew Makocho erwartet mich schon. Er ist seit
vier Jahren Leiter des Ausbildungszentrums, lange Zeit war er selbst Lehrer
an verschiedenen Schulen, u.a. in Holland und Irland. Bruder Andrew erzählt,
die neue Regierung habe vor ihrem Antritt verkündet, sie wolle Bildungseinrichtungen unterstützen. „Wir warten auf das Versprechen, aber wann das
sein wird, wissen wir nicht“. Am Montfort College werden auch Blinde und
Taube zu Lehrern ausgebildet. Und trotzdem hat der frühere Erziehungsminister das College nur ein einziges Mal für 10 Minuten besucht, bedauert Bruder Andrew. Manchmal schreibt er in Zeitungen über die Missstände am
College, über fehlende Elektrizität, defekte Wassersysteme oder zu wenig
Essen. „Aber wir werden nur beschuldigt, mehr Geld zu verlangen. Die
Minister verstehen nicht wirklich, was hier vor sich geht“.
Zuletzt streikten die Lehrer in Malawi 1994. Damals bezahlte die Regierung
vielen ihr Gehalt nicht aus, gleichzeitig stiegen die Preise für die Lebenshaltungskosten. Unter Banda, erinnert sich Bruder Andrew, sei das Gehalt zwar
normalerweise pünktlich eingetroffen, aber man habe sowieso nicht viel kaufen können. Fernseh-und Videogeräte zu besitzen, sei schon ein großes Problem gewesen. Das Ansehen der Lehrer in Malawi sei im Vergleich zu früher
zurückgegangen. Früher habe die Dorfgemeinschaft dem Lehrer zum Beispiel
ein Haus gestellt. Heute bekommen Lehrer sehr niedrige Gehälter. Ein Primarlehrer verdient im Durchschnitt 1.400 Kwacha pro Monat, umgerechnet
etwa 70 Mark, ein Sekundarlehrer etwas 2.500 Kwacha, umgerechnet rund
130 Mark. In den letzten Jahren hat die Regierung die Gehälter nicht mehr
erhöht.
Später unterhalte ich mich mit der Lehrerin Mandrena Kahila, einer zierlichen, kleinen Person. Sie unterrichtet Gesellschaftskunde am College und
hat schon vorher viele Jahre an verschiedenen Schulen gearbeitet. Die Lehrpläne seien heute anders: Zum Beispiel sei jetzt das Thema „Aids“ darin enthalten und darüber könne sie offen mit ihren Schülern reden. Das wäre zu
Almuth Schellpeper
Malawi
Bandas Zeiten undenkbar gewesen. Soziale Missstände jeglicher Art habe man
nicht laut zur Sprache bringen dürfen. „Wir sind damit aufgewachsen,
bestimmte Dinge nicht in der Öffentlichkeit zu kritisieren. Das haben wir einfach vermieden. Ich habe zum Beispiel fünf Kinder. Und das wenige Geld,
was ich bekam, wollte ich für meine Kinder sparen. Hätte ich irgend etwas
gegen das Regime gesagt, wäre ich ins Gefängnis gekommen und meine Kinder hätten darunter leiden müssen“. Schließlich führt mich Mandrena Kahila
über das College-Gelände. Zunächst zeigt sie mir die Klassen- und Verwaltungsräume, dann gehen wir vorbei an den Wohnheimen, in denen während
der Theoriekurse über 500 Schüler leben. Etwas entfernt davon stehen die kleinen Häuser, die die Lehrer mit ihren Familien bezogen haben. In der Ferne
erkenne ich ein Dorf, im übrigen nur Felder und Wiesen und die holprige
Straße, die mich hierher nach Nguludi führte. Sie ist allerdings in der Regenzeit nicht befahrbar.
Studieren an der Universität
Es ist Mittag, die Studenten des Chancellor Colleges in Zomba sind entweder
in der Kantine oder tanken frische Luft. Zusammen mit den beiden Studentinnen Miriam und Angela, beide 19, sitze ich auf der Wiese vor ihrem Wohnheim.
„Mein Vater ist mein Vorbild. Er ist sehr erfolgreich, er ist zur Schule gegangen,
hat Pharmazie studiert. Ich bewundere meinen Vater sehr“. – „Mein Vorbild ist
meine Mutter. Sie schreibt gerade ihre Doktorarbeit in Ernährungswissenschaft,
obwohl sie arbeitet und drei Kinder hat. Die meisten afrikanischen Frauen
schaffen das nicht. Ich möchte gerne so wie meine Mutter werden“. Miriam studiert Betriebswirtschaft, Angela Chemie und Biologie. Ein Studium ist längst
nicht selbstverständlich für junge Frauen in Malawi. Studentinnen waren an der
Universität immer in der Minderheit, sie machen höchstens ein Viertel aller eingeschriebenen Hochschüler aus.
Das liegt vor allem an der traditionellen Gesellschaft in Ostfarika: Von Mädchen und Frauen wird nicht erwartet, dass sie eine akademische Karriere einschlagen. Sie sollen Geld verdienen und eine Familie gründen. Angela weiß sehr
wohl, dass es ein Privileg für sie ist, hier zu sein. Früher wurde an der Universität
in Zomba die Elite des Landes ausgebildet. Besser gestellte Familien schicken
ihre Kinder zum weiteren Studium ins Ausland: Nach Zambia, Südafrika, Großbritannien, in die USA. Denn in Malawi kann man bisher nur ein Vordiplom
erwerben, kein Diplom und keinen Doktortitel. Das Studieren an sich ist nicht
besonders teuer: 1.500 Kwacha verlangt die Universität von den Studenten pro
Jahr, das sind umgerechnet rund 75 Mark. Dafür stellt die Universität kostenlos
Zimmer im Wohnheim und das Essen in der Mensa zur Verfügung. Klingt
eigentlich gut. Doch es gibt vieles, was die Studenten verärgert. Deshalb
beschlossen sie zu demonstrieren. Das war vor einem Jahr. Angela ist immer
Malawi
Almuth Schellpeper
noch empört: „Die Studiengebühren sollten erhöht werden. Und in unserer
Fakultät gab es nicht genügend Chemikalien. Letztes Jahr hatten wir nur drei Mal
die Möglichkeit, praktisch zu arbeiten. Es war immer derselbe Versuch mit
denselben Chemikalien. Auch die Bücher in der Bücherei sind ein Problem.
Manchmal jagt die ganze Klasse hinter einem Buch her“. Außerdem waren die
Wohnheime in schlechter Verfassung, es gab zum Beispiel nur kaltes Wasser, das
Essen in der Mensa war miserabel und eintönig. Der Entschluss zu streiken
wurde gefasst. Eine Woche lang boykottierten die Studenten Vorlesungen und
Seminare. Die Verwaltung antwortete prompt: Sie schloss die Universität für vier
Monate. Mittlerweile ist das Essen abwechslungsreicher geworden, es gibt wieder warmes Wasser und einige Wohnheime sind restauriert worden. Doch noch
immer fehlt es an Lehrmitteln und Dozenten. Angela traut sich nicht mehr so
recht, zu protestieren: „Wir wollten für unsere Rechte kämpfen, aber jetzt kennen wir die Folgen. Deshalb warten wir lieber ab, was passiert. Das sie uns nach
Hause schicken, davor haben wir am meisten Angst“.
Der Malawi-See – Drittgrößtes Binnengewässer Afrikas
Eigenverantwortlicher Fischfang
Malawis Beitrag zur Expo 2000 in Hannover ist ein Fischerei-Projekt, das mit
Unterstützung der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) umgesetzt
und schon mehrere Jahre erprobt wird. Das Projekt soll als Modell zur nachhaltigen Bewirtschaftung der Gewässer dienen.
Der Fischreichtum hat den Malawi-See berühmt gemacht. Doch viele Arten
sind heute fast verschwunden, weil die Fischer mit immer engmaschigeren Netzen den See regelrecht geplündert haben. Seit den 70er Jahren wurden die
Fischbestände immer kleiner. Das liegt vor allem daran, dass die Bevölkerungszahl in Malawi gestiegen ist. Es gibt heute mehr Fischerfamilien als noch
vor 20 Jahren. Aber auch die Landwirtschaft hat zum Teil die Seeufer zerstört und
damit die Orte, an denen die Fische ihren Laich ablegen. Seit zwei Jahren existiert ein neues Fischereigesetz: Die Ufergemeinden sollen die Regelungen für den
Fischfang mitgestalten. Projektmanager für die Fischereibehörde im Süden des
Landes ist Sloans Chimatiro. In der Vergangenheit sei ausschließlich die Regierung für die Regeln verantwortlich gewesen. „Aber dann haben wir gemerkt, dass
es nicht so einfach ist, den Bewohnern der Stranddörfer klar zu machen, die
Regeln zu befolgen. Deshalb haben wir die Dorfgemeinschaften miteinbezogen.
Jetzt haben sie die Möglichkeit, auch eigene Vorschriften zu erlassen, die ihren
Bedingungen entsprechen“. Für viele Fischer war es schwierig, einzusehen,
dass sie ihre Fangmethoden ändern müssen. Heute werden von den Dorfgemeinschaften Komitees gewählt, die als Mittler zwischen der Regierung und den
Almuth Schellpeper
Malawi
Stranddörfern fungieren. Ihre Mitglieder sind meist selbst Fischer. Aufgabe des
Komitees ist es zum Beispiel, die Maschengröße festzulegen. Der Gebrauch von
Moskitonetzen ist verboten. Denn nur wenn die Maschen groß genug sind, können sich Jungfische freischwimmen und eine neue Generation wächst nach. Die
Komitees kassieren auch Gebühren für Fanglizenzen. Außerdem hat man sich
geeinigt, während der mehrmonatigen Schonzeiten kaum noch zu fischen. In dieser Zeit ist es für viele Fischerfamilien schwierig, weiterhin ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Doch wer die Gesetze verletzt, wird mit hohen Geldstrafen
bestraft, bis zu 10.000 Kwacha, das entspricht dem Jahreseinkommen eines
Fischers. Es ist auch schon vorgekommen, dass Fischer vom Strand verjagt oder
ihre Netze beschlagnahmt und verbrannt wurden.
Zusammen mit Marita Hummel, Mitarbeiterin der GTZ, und Josef Kasusweni,
Fischereiberater und gleichzeitig unser Dolmetscher, fahre ich zum Strand
Mpima. Es ist sechs Uhr morgens, die Sonne ist gerade über dem Wasser aufgegangen, die Fischer kehren mit ihren Booten zurück an den Strand. Viele Händler sind gekommen, um den Fisch ganz frisch einzukaufen. Der begehrteste Fisch
ist der Chambo, eine Buntbarschart. Doch meistens fangen die Fischer nur
noch kleinere Arten. Zwei der Fischer erklären sich bereit, mit mir zu sprechen.
Wir lehnen an einem umgedrehten hölzernen Boot, umringt von unzähligen Kindergesichtern. Whas Khoza ist schon viele Jahre Fischer. Mit dem Ertrag muss
er seine vier Kinder und sechs weitere Verwandte versorgen, manchmal ein
schwieriges Unterfangen bei einem überfischten See. Aber er meint, dieses
Jahr habe sich sein Fang verbessert. „Auch wenn wir wenig fangen, fahren wir
raus. Manchmal legen wir auch mehr Netze aus. Was sollen wir sonst machen?“
Molis Robert fährt ebenfalls täglich raus. Er besitzt ein eigenes Boot. Auf das
Komitee ist er nicht besonders gut zu sprechen. Sie würden ihm nicht wirklich
helfen, sondern nur sagen, welche Netze er benutzen soll und sie verlangten Geld
von ihm, das sie an die Fischereibehörde weiterleiten würden. Ich frage Maiko
Sambakosin, Komitee-Mitglied am Strand Mpima, warum sein Komitee keinen
so guten Ruf habe. Er erklärt mir, was er unter Hilfe versteht. „Wenn wir von
Unterstützung sprechen, denken die Fischer an finanzielle Hilfe, nicht an Hilfe
in bezug auf Beratung. Wir versammeln die Fischer am Strand, raten ihnen zum
Beispiel größere Maschen zu verwenden. Für sie ist das nicht viel, aber wir helfen ihnen damit natürlich trotzdem“.
Wir verlassen den Strand und fahren ins Dorf Ntambo. Im Schatten eines Baumes haben sich zehn Komiteemitglieder versammelt. Wir werden freundlich in
ihre Runde aufgenommen. Das Komitee trifft sich an diesem Vormittag, um die
jährliche Zeremonie zu besprechen, die den Anfang der Schonzeit markiert. Nur
eine einzige Frau ist mit dabei. Sie fährt nicht selbst auf den See raus, wie ich
erfahre, besitzt aber ein Netz und stellt acht Leute ein, die für sie arbeiten.
Fischerinnen sind in Malawi bisher sehr selten. Doch wenn Frauen Boote oder
Malawi
Almuth Schellpeper
Netze besitzen, werden sie von ihren männlichen Kollegen respektiert. In der
Fischverwertung dagegen arbeiten viele Frauen, sie räuchern Fisch und verkaufen ihn auf den Märkten. Und sie pflanzen Mais, Baumwolle und Tomaten an und
unterstützen damit ihre Familien in den Monaten, in denen nicht gefischt werden darf.
Josef Kasusweni führt uns am Nachmittag ins Dorf Chiwaula. Hier warten wir
auf den Dorfvorsteher, die wichtigste Person innerhalb einer Gemeinschaft,
ihm gebührt am meisten Respekt. An allen maßgeblichen Entscheidungen, die
sein Dorf betreffen, ist er beteiligt. Die Komitees müssen den Dorfchef für ihre
Sache gewinnen, sonst lassen sich die Regelungen für den Fischfang nicht
durchsetzen. Im Dorf Chiwaula hat das Komitee den Dorfvorsteher davon überzeugt, Vorsitzender zu werden. Endlich tritt Dorfchef Chiwaula aus seinem
Haus. Er ist ein fein gekleideter, älterer Herr im dunklen Anzug, der geduldig auf
meine Fragen antwortet. „Anfangs glaubten wir, das Komitee sei zu nichts
nütze. Aber jetzt wissen wir, dass es sehr hilfreich ist und wir können die richtige Sorte Fisch mit der richtigen Maschengröße fangen“, sagt er. Und er hoffe,
dass es bald wieder mehr Chambo gebe, das sei schließlich der berühmteste und
schmackhafteste Fisch in Malawi. Auch Projektmanager Sloans Chimatiro weiß,
dass die Meinung der traditionellen Dorfvorsteher bei Fragen des Natur- und
Umweltschutzes zählt. „Wir versuchen, an die Geschichte anzuknüpfen, an
eine Zeit, als die Dorfvorsteher diejenigen waren, die die alleinige Verantwortung
für die Nutzung der Fischvorkommen getragen haben. Die Dorfchefs sind auch
heute noch sehr wichtig. Sie sind die Wächter der Ressourcen, die zentrale
Kontaktstelle zwischen Dorfbewohnern und Regierung“.
Die strengen Bestimmungen und die Mithilfe der Komitees haben letztendlich
dazu geführt, dass die Fischerträge in Malawi seit drei Jahren tatsächlich allmählich wieder zunehmen.
Gemächliche Fahrt über den See
Es ist Abend auf dem Malawi-See. Das Passagierschiff Illala steuert den kleinen Hafen in Nkhata Bay, im Norden des Landes, an. Hier möchte ich zusteigen.
Eigentlich hätte das Schiff schon am Nachmittag da sein sollen, aber es hat sich
mal wieder verspätet. Fahrpläne sind nur grobe Orientierungshilfen. Mit mir warten hunderte geduldig darauf, endlich an Bord gehen zu können und für den Rest
der Nacht Schlaf zu finden. Doch zunächst werden Waren ein- und ausgeladen,
und das kann zwei bis drei Stunden lang dauern. Die Illala ist das einzige Passagierschiff, das zur Zeit auf dem Malawi-See verkehrt: Ein großer, etwas rostiger Dampfer, der bis zu 400 Personen transportieren kann und seit über 40 Jahren auf dem See verkehrt. Nur der Motor wurde vor ein paar Jahren ausgetauscht.
Auf der Brücke steht Kapitän John Mohango, in Shorts und Badeschlappen. Er
ist stolz auf seinen Beruf. “Mein Job ist in Malawi sehr selten. Wenn man die
Almuth Schellpeper
Malawi
Geschichte der Navigation auf dem Malawi-See betrachtet, waren anfangs alle
Kapitäne Weiße. Erst seit kurzem werden Malawier eingestellt“. Auf der Illala
kann man zwischen drei verschiedenen Decks wählen: Auf dem Oberdeck mit
Bar und Liegestühlen treffen sich vor allem rucksackreisende Europäer. Auf dem
Zwischendeck reisen die Erste-Klasse-Passagiere in eigenen Kabinen. Jede
Kabine ist ausgestattet mit Kojen, Schrank, Spiegel und Waschbecken und überall Lampen. Der Luxus vergangener Zeiten ist noch deutlich zu spüren. Vom
Zwischendeck führen steile Treppen zum unteren Deck. Hier reist die einheimische Bevölkerung, dicht gedrängt, meist mit viel Gepäck: Säcke mit Mais,
Pakete mit getrocknetem Fisch, Bündel mit Tabak, Zuckerrohr und Reis stapeln
sich. Auch Ziegen und Fahrräder sind an Bord. Die Illala ist schließlich vollgeladen und kann mit einem halben Tag Verspätung von Nkhata Bay ablegen. Sie
stampft ihrem nächsten Ziel entgegen: Likoma Island, der einzigen Insel im
Malawi-See, nahe an der Grenze zu Mosambik. Es ist mitten in der Nacht, als die
Illala ankommt. Auf Likoma Island gibt es keinen Landungssteg, die Illala geht
vor Anker, die beiden Rettungsboote werden heruntergelassen. Passagiere, die
aussteigen wollen, quetschen sich mit ihrem Gepäck in die kleinen Motorboote
und los geht´s in Richtung Festland. Mehrmals müssen die Boote hin- und herfahren. Dann wird der Anker gelichtet. Kapitän Mohango hat ein paar Stunden
ausgeruht, jetzt ist er wieder im Dienst. Seit drei Jahren fährt er als Kapitän auf
der Illala über den See. Er stammt aus Nkhata Bay und kennt den Malawi-See
sehr gut: „Mit Kanufahren hab ich angefangen. Ich bin ein guter Fischer und ich
bin mit allen Arten von Wind vertraut“. Wenn der See so friedlich daliegt,
glaubt man nicht, dass hier auch tosende Stürme hinwegfegen können, besonders
zwischen April und August. Doch nur ein einziges Mal ist bisher ein Passagierschiff gesunken, das war 1946.
Nkhota, die nächste Station ist in Sicht. Mehr als die Hälfte der gemächlichen
Reise ist geschafft. Das südliche Ende des Sees ist jetzt noch eine Tages-und
Nachtreise entfernt.
Katinka Schröder
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Malawi
vom 10. Juli bis 10. Oktober 1999
Malawi
Katinka Schröder
Demokratie kann man nicht essen
Zur Situation von Häftlingen und Arbeiterin in Malawi
Katinka Schröder
vom 10.07. – 10.10.1999,
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
Malawi
Katinka Schröder
Inhalt
Zur Person
Prolog
Zur Situation in malawischen Gefängnissen
Nichts zu verbergen
„Money makes the world go round“
„Früher ging es uns besser”
„Man fragt sich, ob das Teil der Strafe ist”
Kein Rauch ohne Feuer – Polizei und Gerichte
„Was für eine Art Demokratie ist das?”
Geld und Wille
400 Hektar Brachland – die Gefängnisfarmen
Strafe muss (trotzdem) sein
Gewerkschaften in Malawi
Von der Zwangsharmonie zur Unabhängigkeit
De-Industrialisierung und „Export Processing Zones“
Besuche in „Export Processing Zones“
Von der Sklaverei zum Landraub
Die Tabak-Sklaven
Eine starke Lobby
479
Katinka Schröder
Malawi
Zur Person
Katinka Schröder, geboren 1967 in Jugenheim/Hessen, lebt seit 1987 in Dortmund. Nach Buchhändler-Lehre in Aachen und Volontariat bei der Zeitschrift
PRINZ in Bochum, arbeitete sie dort bis 1991 als Redakteurin. Mit dem Honorar für ein Sachbuch („Sie radeln wie ein Mann, Madame”) wird die erste ausgedehnte Afrikareise finanziert. Von 1992 bis 1994 Reporterin für SAT1, seit
1995 freie Mitarbeit beim WDR. Von Juni bis Oktober 1999 als Heinz-Kühn-Stipendiatin in Malawi.
Prolog
„Wie, Du fährt nach Malaria?” Diese Frage hörte ich öfter, nachdem ich mein
Reiseziel genannt hatte. Malawi, umschlossen von Tanzania, Mozambique und
Zambia, knapp dreieinhalb mal so groß wie Nordrhein-Westfalen, ist für viele
„terra incognita“. Das hier der drittgrößte See Afrikas, der artenreichste der
Welt, liegt, lernt man im Erdkunde-Unterricht nicht. Nicht nur wegen seiner
schlechten Infrastruktur und der fehlenden Meeresküste ist das Agrarland, welches über keine nennenswerten Bodenschätze verfügt, touristisch kaum erschlossen. Von 1964, als aus dem britischen Protektorat ein unabhängiges Land wurde,
bis 1994 regierte ein Diktator, der auf neugierige Besucher aus dem Ausland
wenig Wert legte. Dr. Hastings Banda, der 1997 über 90jährig starb, hat seine
Untergebenen nicht nur gnadenlos ausgepresst, während seiner Herrschaft wurden auch Tausende politischer Gefangener interniert, gefoltert und getötet. Entwicklungshilfe floss dennoch reichlich, da Malawi während des kalten Krieges
eine strategische Bedeutung als anti-kommunistischer Schutzwall und Aufmarschgebiet der RENAMO hatte. Weil wegen des Bürgerkriegs in Mozambique
und der schlechten Beziehungen zum sozialistischen Nachbarland Tanzania die
kürzesten Wege zu den Ausfuhrhäfen am Indischen Ozean abgeschnitten waren,
paktierte Banda mit dem Apartheid-Regime in Süd-Afrika. Mit dem Zerfall der
Sowjetunion verlor der Westen das strategische Interesse an Malawi, interessierte
sich aber nun für die Menschenrechtsverletzungen im Lande. Unter aus- und
inländischem Druck stimmte der Präsident auf Lebenszeit einem Referendum zu,
bei dem das Volk 1993 die weitere Alleinherrschaft der Partei MCP ablehnte.
1994 fanden die ersten demokratischen Wahlen statt, die ein ehemaliger Weggefährte Bandas, der Geschäftsmann Bakili Muluzi, mit seiner United Democratic
Front (UDF), gewann. Das war auch das Ergebnis der Wahlen im Juni 1999.
Mich interessierten in Malawi zwei Fragen: Wie sieht es in den berüchtigten
Gefängnissen Malawis heute aus? Wie werden die jungen, malawischen Gewerkschaften mit der schlechten wirtschaftlichen Lage fertig?
Malawi
Katinka Schröder
Viele Menschen in Malawi haben mir geholfen, mein besonderer Dank gilt Dr.
Harald Braun und Anita Deppe für Hilfe in allen Lebenslagen, sowie den Journalisten Justice Kamakwa, Chimweme Ndalahoma und Dickson Kashoti für
Übersetzungen und Informationen.
Zur Situation in malawischen Gefängnissen
Nichts zu verbergen
Etwa 300 der 1.300 Insassen des „Chichiri Prison“ in Blantyre hocken auf
dem hartgestampften Erdboden im Gefängnishof. Demonstrativ haben sie uns
– einer Gruppe malawischer Nichtregierungsorganisationen, der ich mich
angeschlossen habe – zwei mit Kleidungsfetzen bedeckte Skelette vor die
Füße gelegt. Sie leben noch. Fliegen landen auf den Wunden, die Krätzemilben in ihr Fleisch gefressen haben. Ab und zu hört einer der Mithäftlinge auf
sich selbst zu kratzen und verjagt die Plagegeister von den Körpern.
Die katastrophalen Verhältnisse in malawischen Gefängnissen sind kein
Geheimnis. Als ich mich später offiziell als Journalistin um eine Besuchserlaubnis für das Central Prison in Zomba bemühe, wird sie sofort erteilt.
Während der Diktatur wäre das undenkbar gewesen. Selbst das Rote Kreuz
hatte keinen Zugang zu den Gefängnissen. Bandas „Malawi Congress Party“
kontrollierte die Wirtschaft, die Presse und das Privatleben. Männer, die
ihren Frauen verboten, für den Ngwazi – den Führer – zu tanzen, weil die Parteiveranstaltungen häufig für Seitensprünge genutzt wurden, landeten im
Gefängnis. Yao-Frauen, die aus traditionellen Gründen an bestimmten Festtagen Hosen trugen, wurden inhaftiert, weil Frauen Röcke zu tragen hatten.
Politische Gegner Bandas kamen bei mysteriösen Autounfällen ums Leben
oder verschwanden hinter Gittern. Malawis berühmtester politischer Häftling,
Machipisa Munthali, überlebte 27 Jahre Einzelhaft in einer 1,50 Meter langen
und 1 Meter breiten Zelle.
Die Zelle ist saniert worden und steht Besuchern des „Mikuyu Prison
Museum“ offen. Inzwischen herrscht Demokratie in Malawi. Die kann man
zwar nicht essen, wie viele Malawis sagen, aber man kann nun gefahrlos darüber spekulieren, wer Schuld daran ist, dass es nicht genug zu Essen gibt.
Freie Meinungsäußerung ist möglich, für Journalisten allerdings ökonomisch
riskant. Wer über politische Ereignisse im Inland berichtet, muss sich auf eine
Seite schlagen. Die beiden Tageszeitungen gehören Politikern rivalisierender
Parteien. Der Rundfunk, offiziell öffentlich-rechtlich, versteht sich als Organ
der Regierungspartei und der frischgegründete Fernsehsender beschäftigt
hauptsächlich Verwandte regierungsnaher Politiker und Funktionäre. Entlassungen und Verhaftungen von Journalisten, Lehrern und Gewerkschafts-
Katinka Schröder
Malawi
führern aus politischen Gründen gibt es auch unter der demokratischen
Regierung. Politische Häftlinge allerdings, sitzen in Malawis Gefängnissen
nicht mehr.
Drastisch gestiegen ist die Zahl der Gefängnisinsassen, von 3000, Anfang der
90er Jahre, auf heute 7000. Von 100.000 strafmündigen Einwohnern sitzen 117
im Gefängnis. Das ist eine vergleichsweise moderate Zahl. In zwei Drittel der
afrikanischen Staaten gibt es mehr Häftlinge. Auch der Vergleich mit reichen
Demokratien zeigt, dass Malawi ein verhältnismäßig friedliches Land ist: In
Deutschland sind 108, in Großbritannien 153, in den USA 806 von 100.000 strafmündigen Einwohnern inhaftiert.
Money makes the world go round
So friedlich wie bei meinem ersten Besuch ist Malawi allerdings nicht mehr.
Im Februar 1992, drei Monate bevor sich die Unzufriedenheit der Menschen mit
dem diktatorischen Regime in einem Generalstreik entlud, konnte ich im nächtlichen Blantyre unbesorgt alleine herumlaufen. In der mit damals etwa 600.000
Einwohnern größten Stadt Malawis gab es keine Straßenhändler, keine Straßenkinder, keine Slums wie ich sie in Kenia oder Tanzania gesehen hatte. Die
Straßen von Blantyre waren sicher, gespenstisch sicher. Ein Freund, der mich
damals nach Hause begleitete, fürchtete sich, mit mir gesehen zu werden. „Hier
laufen überall Spitzel ‘rum. Wenn sie mich mit einer Weißen sehen, denken sie,
ich könnte etwas Schlechtes über die Regierung sagen”.
„Lauf’ nachts bloß nicht alleine ‘rum”, ist der erste Ratschlag nach meiner
Ankunft im Malawi des Jahres 1999. Tagsüber sind die Straßen von Blantyre ein
lärmender Handelsplatz. Kleidung, Kugelschreiber, Kochtöpfe, Kohl – es gibt
fast nichts, was nicht auf den Bürgersteigen feilgeboten wird. Die Zulassung des
Straßenhandels gehörte zu den Wahlversprechen der Regierungspartei. Mit der
Demokratisierung setzte in Malawi die lange unterdrückte Landflucht um so heftiger ein, als die Landwirtschaft und der überfischte Lake Malawi seit Beginn der
90er Jahre immer weniger Menschen eine Existenz bieten können. Wie viele
Bewohner Blantyre heute hat, weiß niemand. Allein Ndirande, der am dichtesten besiedelte Stadtteil, soll in 10 Jahren um 100.000 auf 300.000 Einwohner
angewachsen sein. Viele Neuankömmlinge sind Waisenkinder, deren Verwandte
entweder nicht willens oder nicht in der Lage dazu sind, sie aufzunehmen.
Mit Malawi gehe es bergab, sagt der stellvertretende deutsche Botschafter
Michael Morgenstern: „Früher funktionierte hier alles, Telefon, Strom- und
Wasserversorgung”. Kriminelle tragen einen Teil dazu bei, dass sich das geändert hat. Ende August wurden 40 Prozent des Telefonnetzes in Blantyre wegen
Kabeldiebstahls lahmgelegt. Kurz zuvor hatte die Polizei eine Kupferschmelze
ausgehoben, die den Rohstoff unter anderem aus gestohlenen Telefonkabeln
gewonnen hatte. Vandalismus und Diebstahl habe die staatliche Telekom allein
Malawi
Katinka Schröder
im ersten Halbjahr ‘99 über 20 Millionen Kwacha (knapp 900.000 DM) gekostet, meldet die regierungsnahe Tageszeitung „Nation“. Auch Schrauben und
Leitungen von Strommasten seien vor Dieben nicht sicher, berichtet ein Mitarbeiter des Stromversorgers ESCOM.
Geschäftsleute und Reiche fürchten sich vor allem vor bewaffneten Kriminellen. Offizielle Statistiken gibt es nicht, doch einer Analyse von Medienberichten zufolge, meldete die Presse von Oktober 1998 bis Mai 1999 über 90
bewaffnete Raubüberfälle. Der größte Teil der von der Polizei beschlagnahmten
Waffen kommt aus Süd-Afrika, der Rest stammt hauptsächlich aus den Arsenalen des inzwischen befriedeten Mozambique. „Früher waren Waffen kein Problem”, erinnert sich der pensionierte Polizist Benson Ndalahoma, „heute höre ich
von ehemaligen Kollegen, dass sie Angst davor haben, im Dienst erschossen zu
werden”.
Die Auflösung der „Malawi Young Pioneers“ (MYP), der von Diktator Banda
vor allem zur Kontrolle der Landbevölkerung eingesetzten paramilitärischen Parteijugend, habe ein Sicherheits-Vakuum hinterlassen, das die Polizei nicht ausfüllen könne, sagt Undule Mwaksaungura vom „Centre for Human Rights and
Rehabilitation“. Einige der ehemaligen Ordnungshüter von der MYP sollen
ihren Lebensunterhalt heute als Kriminelle verdienen. Auch die Polizei wird verdächtigt, an Raubüberfällen beteiligt zu sein und Kriminelle zu decken. Bei drei
von zehn in Blantyre durchgeführten Gerichtsverfahren wegen bewaffneten
Raubüberfalls, seien aus Polizeistationen stammende Waffen involviert, berichtet eine Zeitung. Owen Njirongo, Reporter bei der „Nation“, würde es wundern,
wenn die Polizei nicht korrupt wäre: „Ein einfacher Polizist verdient 1000 Kwacha. Die Miete in einem miserablen Zwei-Zimmer-Haus zahlt zwar der Staat,
aber allein die Wasserrechnung beträgt 200 Kwacha, dazu kommen noch 600
Kwacha für einen Sack Mais.” Nach Abzug dieser Ausgaben bleiben von umgerechnet 45 Mark Gehalt noch sieben Mark.
„Money makes the world go round” verkündet ein Plakat der Malawi
National Bank am Kamuzu Highway in Blantyre. Legal an „Chizungu – Das
Geld der Weißen“ zu kommen, ist heute schwerer denn je. Die 67prozentige
Abwertung der Landeswährung im August 1998, der keine adäquate Anpassung der Gehälter folgte, macht das Leben selbst bei einem überdurchschnittlichen Einkommen kompliziert. Umgerechnet etwa 400 Mark verdient der Journalist Dickson Kashoti, und sagt, der einzige Luxus, den er sich
davon leisten könne, seien Freitags ein paar Flaschen Bier. Der von vielen
Arbeitgebern noch unterschrittene Mindestlohn beträgt ca. 25 Mark.
Eine Polizistin berichtet, aus Angst vor Diebstahl hänge in Ndirande niemand mehr seine Wäsche draußen auf. Die Armen bestehlen sich gegenseitig. In der Asservatenkammer der Polizeistation in Blantyre liegen viele
Dinge – ein Ventilator, eine Matratze, eine Decke, ein Stuhl, eine Bibel -, die
Katinka Schröder
Malawi
nicht so aussehen, als seien sie aus Villen entwendet worden. Unter einem
Schreibtisch steht ein Blecheimer voll Marihuana. Weil man nicht alle Menschen, bei denen man die Droge findet, ins Gefängnis stecken kann, entschied
der High Court, das zweithöchste Gericht, dass der Besitz von weniger als
einem halben Kilogramm auch mit einer Geldstrafe geahndet werden kann.
Gelöst ist das Problem damit nicht. Häufig berichten die Zeitungen über
Fälle wie diesen: Ein 20jähriger muss wegen Besitzes von 200 Gramm Marihuana für drei Monate ins Gefängnis, weil er 30 Mark Geldstrafe nicht aufbringen kann.
Auch auf dem Land habe die Kriminalität bedrohliche Ausmaße angenommen, berichtet ein Referent während eines Workshops zur Verbrechensbekämpfung: „Wasserpumpen, Dünger, Samen, die Ernte – es wird gestohlen,
was zu stehlen ist”. Streitigkeiten um Land seien ein häufiges Motiv für Totschlag, sagt Shinhead Mazengela, Anwalt bei der Menschenrechtsorganisation „Malawi Carer“. Vor allem im Süden hätten die Chiefs kaum noch „customary land“, das dem Volk gehört und nicht verkauft werden darf, zu
verteilen. Das einige der Chiefs korrupt seien, und mehreren Menschen Geld
für das selbe Stück Land abknöpften, verschärfe die Situation noch. Gegenüber Großgrundbesitzern würden die landlosen Habenichtse immer aggressiver, teils ermuntert von Politikern, die um ihre Stimmen buhlten. „Die
Menschen nehmen Land in Besitz, von dem sie meinen, es würde nicht
genutzt”.
„Früher ging es uns besser”
Von einer Kriminalität südafrikanischen Ausmaßes ist Malawi zwar noch
weit entfernt, doch es sieht so aus, als würden sich die Gefängnisse in Zukunft
eher weiter füllen als leeren.
Im Gefängnishof des „Chichiri Prison“ in Blantyre demonstrieren Häftlinge,
wie sie schlafen – einer hinter dem anderen hocken sie und verbringen so 13
Stunden eingeschlossen in der Zelle. Im „Chichiri Prison“ teilen sich bis zu 165
Häftlinge, im „Maulu Prison“ bis zu 109 Menschen eine 70 Quadratmeter große
Zelle. „Zomba Central Prison“, für 600 Häftlinge gebaut, beherbergt 2000.
Unter solchen Bedingungen verbreiten sich Krankheiten schnell. „Vorsicht”, ruft
der Wärter, als über mir, von der Galerie aus, ein Häftling einen Blecheimer in
den Mittelgang entleert: „Das ist kein Wasser, das ist Urin”. Mangels anderer
Gefäße wird der Eimer auch zum Wasserholen und Spülen benutzt.
Levious Mbunju, seit 1992 Untersuchungshäftling im „Zomba Central
Prison“, sagt: „Früher ging es uns besser. Es gab genug zu Essen, die Wasserversorgung und die Toiletten funktionierten, wir konnten unsere Kleidung weggeben und draußen flicken lassen. Auch den Wärtern ging es besser, sie hatten anständige Uniformen”.
Malawi
Katinka Schröder
Heute gehen viele Wärter mit privat erworbenen Schuhen zur Arbeit, weil
Stiefel nicht mehr zugeteilt werden. Die meisten Gefangenen laufen in Lumpen herum. Morgens kämpfen die 2000 Insassen des Gefängnisses um Wasser. Manchmal gibt es keinen Tropfen, weil die Tanks lecken. Die Toilettenspülungen sind kaputt, barfuß in den Fäkalien stehend verrichten die
Gefangenen ihre Notdurft. Da sie sich mangels Papier mit Lumpen und Ziegelsteinstücken säubern, sind die Toiletten hoffnungslos verstopft.
Henry Dickson, wegen Mordes zum Tod durch den Strang verurteilt und
1997 von Präsident Muluzi begnadigt, berichtet: „Als ich 1992 inhaftiert
wurde, bekamen wir Frühstück und Mittagessen. Reis gab es regelmäßig und
alle zwei Wochen Fisch oder Fleisch”. Seit 1994 gäbe es immer dasselbe und
manchmal ein oder zwei Tage lang gar nichts. Die tägliche Mahlzeit besteht
aus einer Schöpfkelle Bohnen und einer Pampe aus Maismehl, die viel zu
dünnflüssig ist, um die Bezeichnung „nsima“ – für Malawis das, was für Deutsche die Salzkartoffel ist – zu verdienen.
Unandi Banda, der während der Diktatur als politischer Häftling und 1995
wegen der Organisation einer Demonstration inhaftiert war, sagt: „Für politische Häftlinge war das Gefängnis früher die Hölle. Es gab Folter und man
hat uns absichtlich verfaulte Nahrungsmittel gegeben. Die Kriminellen dagegen wurden einigermaßen anständig behandelt. Heute dagegen können auch
kurze Haftstrafen schon tödlich sein”.
„Man fragt sich, ob das Teil der Strafe ist”
Seit 1992 wurde die Todesstrafe in Malawi nicht mehr vollzogen. Weil westliche Geldgeber wegen Menschenrechtsverletzungen den Geldhahn zudrehten,
war der greise Diktator Banda in den letzten Jahren seiner Regierungszeit milde
gestimmt. Sein demokratisch gewählter Nachfolger, Präsident Bakili Muluzi,
sicherte Amnesty International zu, keine Todesurteile mehr zu unterzeichnen.
Im „Zomba Central Prison“ starb in den ersten sechs Monaten des Jahres
1999 alle zwei Tage ein Gefangener. Kranke aus allen Gefängnissen des
Landes werden in das Hospital der Haftanstalt gebracht. „Die meisten kommen zum Sterben”, sagt Dr. Alban Jadidi, Leiter des Krankenhauses. In
Maula und Chichiri, den beiden anderen Groß-Gefängnissen Malawis, gibt es,
nach unterschiedlichen Angaben der Angestellten, ein bis vier Tote pro Monat.
Darüber können die Häftlinge in Maula nur lachen. „Hier stirbt fast täglich
einer”, sagen sie, und werfen den Behörden vor, die Angehörigen über den Tod
eines inhaftierten Verwandten nicht zu informieren. Wer weit von seinem Heimatort entfernt im Gefängnis stirbt, landet im Massengrab.
Dr. Jadidi ist der einzige studierte Mediziner in Malawis Haftanstalten,
seine beiden Mitarbeiter sind Krankenpfleger. Viel können sie nicht tun,
möglich ist nur eine klinische Diagnose. Wer Fieber hat wird als Malaria-
Katinka Schröder
Malawi
Patient behandelt, wenn Medikamente vorhanden sind. Ob es wirklich Malaria ist, kann Dr. Jadidi nicht feststellen, weil er kein Labor hat. Das staatliche
Krankenhaus in Zomba ist zwar besser ausgerüstet, aber auch hoffnungslos
überlastet. Ohnehin haben Häftlinge kaum eine Chance, dort behandelt zu
werden. Meist ist kein Auto für ihren Transport verfügbar und es fehlt an Personal zur Bewachung der Patienten. Von den 60 Wärtern, die sich in drei
Schichten um 2000 Gefangene kümmern, kann selten einer entbehrt werden.
Im Gefängnis-Hospital sind Medikamente Mangelware. Selbst für ausreichend Seife, unerlässlich für die Behandlung von Krätze, reicht das Geld
nicht. Mit Aspirin, Schmerz- und Schlafmitteln, den einzigen Medikamenten,
die meist ausreichend vorhanden sind, lassen sich die häufigsten Krankheiten
Malaria, Durchfall und Krätze nicht kurieren. Ein 16jähriger im Jugendtrakt
schildert die Hilflosigkeit der Krankenpfleger: „Wenn man Durchfall hat
und das richtige Medikament nicht verfügbar ist, dann geben sie einem
manchmal Schlaftabletten, damit sie ihre Ruhe haben. Sie können sich denken, was dann in der Zelle passiert”. Dank ausländischer Finanzhilfe kann
Tuberkulose behandelt werden. Eine spezielle Diät, unerlässlich für den Heilprozess, bekommen die Patienten aber nicht.
Um die mentale Gesundheit kümmert sich niemand. Die Jugendlichen
bekommen keinen Schulunterricht, viele werden als Analphabeten entlassen.
Seit 1993 haben die Häftlinge keinen Volleyball, keinen Fußball mehr gesehen. Die kleine Bibliothek wird zwar gerne genutzt, bietet mit 30 Büchern
aber wenig Auswahl. Nur 50 Insassen haben das Glück, in den Gefängniswerkstätten arbeiten zu können. Früher wurden in der Tischlerei Möbel produziert, die Schneiderei stellte Uniformen her. Doch die meisten Maschinen
sind kaputt, es fehlt Geld, um Stoff oder Holz zu kaufen. Dennoch werden in
Malawi oft Haftstrafen mit „hard labour“ verhängt.
Von den fast 2000 Menschen, die den ganzen Tag lang nichts anderes zu tun
haben, als auf den nächsten Tag zu warten, haben sich viele aufgegeben und
liegen apathisch im Dreck. „Sie hören auf, sich zu waschen, sie leben wie die
Tiere”, sagt Henry Dickson. Und Levious Mbunju fügt hinzu: „Eigentlich ist
das hier ein Irrenhaus. Die Leute sind unberechenbar. Kürzlich hat sich einer
die Axt geschnappt, die zum Holzhacken benutzt wird, und ist auf Mithäftlinge losgegangen”.
Während meines Besuchs im „Chichiri Prison“ erzählt ein Wärter von
einem einbeinigen Wahnsinnigen, der sich weigerte, dem Richter vorgeführt
zu werden. Drei Wochen später ruft ein Freund an: „Der Einbeinige ist tot, ich
habe gerade mit dem Polizisten gesprochen, der ihn erschossen hat. Er sagt,
es war Notwehr”. Die Kugel traf ins Herz.
Im Krankenhaus des Dr. Jadidi kommt der Tod langsamer aber mit ziemlicher Sicherheit zu früh. „Wie sollen sie hier gesund werden?”, fragt er
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Malawi
Katinka Schröder
angesichts der Menschen, die in einem fensterlosen Raum auf dem Boden liegen. In der Quarantänestation für Tuberkulosefälle holen sich die Patienten
leicht eine Lungenentzündung. Die beiden Krankensäle sind nicht viel besser
ausgestattet, es gibt zwar einige rostige Bettgestelle aber keine Matratzen.
An den allgegenwärtigen Mangel hat sich Dr. Jadidi gewöhnt, nicht aber an
die Sturheit der Behörden. 1997 schlug er 173 Totkranke zur Begnadigung vor.
Es dauerte ein Jahr, bis die notwendige Zustimmung des Präsidenten eingeholt war. Zwei Patienten wurden freigelassen, die anderen hatten zwischenzeitlich entweder ihre Strafe abgesessen oder waren gestorben. Dr. Jadidi zeigt
auf zwei bis zum Skelett abgemagerte Menschen, die in einer Ecke kauern,
und sagt leise: „Man fragt sich, ob das Teil der Strafe ist”.
Kein Rauch ohne Feuer – Polizei und Gerichte
Das fragt sich auch Mr. Sidira, höchster Richter in der Ost-Region. „Wir
sind an einem Punkt angelangt, wo fast jede Verurteilung einem Lebenslänglich
gleichkommt. Kaum einer verlässt das Gefängnis lebend und wer es überlebt,
dessen Gesundheit ist lebenslänglich ruiniert”.
Trotzdem ist Milde keine hervorstechende Eigenschaft malawischer Richter,
weiß der Anwalt Shinhead Mazengela von „Malawi Carer“. Im März 1999
interviewte er 42 im „Zomba Central Prison“ inhaftierte Jugendliche. Ein Drittel von ihnen habe mit dem Jugendstrafgesetz unvereinbar lange Haftstrafen
bekommen, oder wegen Geringfügigkeit des Delikts überhaupt nicht ins Gefängnis gehört. „Der krasseste Fall war ein 16jähriger, der wegen Diebstahl eines
Maiskolbens zu zwei Jahren Haft verurteilt worden war”.
Ein Urteil, das vor dem „High Court“ keinen Bestand gehabt hätte. Er ist unter
anderem dafür zuständig, alle Entscheidungen der ersten Instanz auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. In Malawi ist das keine Formalität sondern bitter
nötig, denn unterhalb des High Courts gibt es nur fünf Richter mit juristischer
Ausbildung. Die meisten Urteile werden von Laien-Richtern gefällt, die immerhin Haftstrafen bis zu sieben Jahren verhängen können. Viele von ihnen haben
während der Diktatur in den „Traditional Courts“ gewirkt, in denen Angeklagte
kein Recht auf einen Anwalt hatten. Anaklet Chipeta, Chef-Anwalt von „Legal
Aid“, einer dem Justizministerium unterstehenden Behörde, die mittellosen
Malawis Rechtshilfe leisten soll, hat die „Traditional Courts“ in schlechter Erinnerung: „Es gab dort diese Kein-Rauch-ohne-Feuer-Philosophie. Wer beschuldigt wurde, musste irgendwie schuldig sein”.
Nach dem Studium vieler Fälle kommt Anwalt Shinhead Mazengela zu dem
Schluss, dass sich daran wenig geändert hat :„Die meisten Richter haben überhaupt keine Ahnung vom Gesetz. Sie scheinen nach Lust und Laune zu urteilen,
nach dem Motto: Den kann ich nicht leiden, dem gebe ich zwei Jahre Gefängnis. Oder: Die Beweise reichen zwar nicht aus, aber er scheint schuldig zu
Katinka Schröder
Malawi
sein“. Schlecht geschulte Richter verschärften noch das Unrecht, das durch die
Methoden der Polizei erzeugt wird: „Noch immer wird mit Zigaretten-Folter und
Schlägen gearbeitet, um Geständnisse zu erzwingen”.
Während eines Workshops, bei dem es um die Frage geht, wie das Verhältnis
zwischen Bürgern und Polizei verbessert werden kann, wehrt sich Loti Dzonzi,
Forschungsreferent im Innenministerium, gegen den Vorwurf, die Polizei sei
grundlos brutal: „Das Problem ist, dass die Polizei mit gerichtskriminalistischen Mitteln völlig unzureichend ausgestattet ist, manchmal fehlt sogar das Pulver, um Fingerabdrücke abzunehmen. Ich will es nicht entschuldigen, aber
angesichts dieser Zustände ist es doch kein Wunder, dass versucht wird, Geständnisse zu erpressen”.
Einige Wochen später habe ich Gelegenheit, mir Polizeiarbeit aus der Nähe
anzusehen. Wegen eines angeblich abgelaufenen Visums werde ich um vier
Uhr morgens aus meinem Hotelzimmer-Bett heraus verhaftet und aufs Revier
gebracht. Es ist die Nacht der großen Säuberungsaktion, bei der allerdings nur
kleine Fische ins Netz von Polizei, Militär und Einwanderungsbehörde gehen
– illegale Prostituierte aus den Nachbarländern, Straßenhändler, die den legalen Erwerb ihrer Waren nicht belegen können, kleine Marihuana-Dealer,
Flüchtlinge aus der Republik Kongo. Ein Passfälscher ist der größte Fang in
der Gruppe von 100 Menschen, zu der auch ich gehöre. Ein Flüchtling aus
Ruanda, der sich zum wiederholten Male unerlaubterweise aus dem Lager entfernt hat, wird beim Verhör mehrmals geschlagen. Als wir alle im Hof versammelt sind, zeigt ein Kommissar seinem Untergebenen, wie man eine Pistole lädt, die dabei in unsere Richtung gehalten wird. Weil die beiden etwa 80
Meter entfernt sind, kann ich nicht beurteilen, ob die Waffe entsichert ist. Die
Männer um mich herum schauen besorgt, mir fällt der Häftling aus dem
„Chichiri Prison“ ein, der geschrieen hatte: „Schreib’ die Wahrheit, Polizisten erschießen einen, wenn man nicht gesteht”. Ich habe mir umsonst Sorgen
gemacht, wir werden anständig behandelt. Mit den weniger arroganten Polizisten, die nicht demonstrativ mächtig umherstolzieren, könnte man fast Mitleid bekommen. Sie arbeiten hart. Abends werde ich entlassen, und an der Bar
des teuersten Hotels am Platze sehe ich den Kommissar wieder, der den
ruandischen Flüchtling geschlagen hatte. Entspannt lächelt er mir zu und
strebt zur Bar, wo schon Kollegen sitzen und den Extraverdienst aus der
Säuberungsaktion in Alkohol umsetzen.
Wie viele Urteile von Richtern gefällt werden, die nicht erkennen können oder
wollen, dass die Beweislage nicht ausreicht, weil vielleicht ein Polizist schnell
einen Schuldigen brauchte oder seine Karriere durch eine Verhaftung beförderten wollte – Shinhead Mazengela schätzt, dass es viele sind. Den Prüfern am
„High Court“ entgehe nicht nur wegen Personalmangels so manches Unrechtsurteil: „Viele Urteile werden dem Gericht nicht zugesandt”. Aus eigener Initia-
Malawi
Katinka Schröder
tive Berufung einzulegen, ist den meisten Verurteilten unmöglich. Ein Anwalt ist
am „High Court“ zwar nicht vorgeschrieben, wegen der für Laien unverständlichen Prozeduren aber unumgänglich.
„Was für eine Art Demokratie ist das?”
Shinhead Mazengela schätzt, dass von den etwa sechs Millionen strafmündigen Malawis fünf Millionen nicht in der Lage sind, einen Rechtsanwalt zu
bezahlen. Mit sechs Anwälten ist das „Legal Aid Department“ hoffnungslos
unterbesetzt. Wer hier arbeitet, ist entweder ein Anfänger, ein Gescheiterter
oder ein Engel. Als Angestellte in einer Rechtsanwaltskanzlei können schon
Anfänger 600 Mark verdienen, die Anwälte der Armen bekommen nur ein
mageres Gehalt, je nach Dienstjahren zwischen 100 und 300 Mark.
Zur Zeit sind sie fast ausschließlich mit Mord- und Totschlag-Prozessen
beschäftigt. Diese müssen vom „High Court“ entschieden werden und wegen der
drohenden Todesstrafe muss dem Angeklagten ein Rechtsbeistand zur Seite
stehen. Verlorengegangene Akten, Personal- und Geldmangel verzögern die
Rechtsprechung. Zudem hat das alte Regime einen Haufen unerledigter Verfahren hinterlassen. Weil das Problem mit den zur Verfügung stehenden
Ressourcen nicht in den Griff zu kriegen ist, verhandelte das Justizministerium
im Oktober 1999 mit dem Anwaltsverein. Gegen eine reduzierte, vom Staat und
der britischen Regierung gezahlte Gebühr sollen private Anwälte die Verteidigung übernehmen.
Von den 3.000 Untersuchungshäftlingen in Malawi werden etwa 900 des
Mordes oder Totschlags beschuldigt. Laut Verfassung haben sie das Recht auf ein
Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Zeit. Was angemessen ist, darüber
schweigt die Verfassung. Nach der aktuellsten Bestandsaufnahme des „Malawi
Inspectorate of Prisons“ aus dem Jahre 1997 saß jeder achte Mordverdächtige
länger als vier Jahre in Untersuchungshaft. Für Levious Mbunju, seit 1992
inhaftiert, sind daraus mittlerweile sieben Jahre geworden. Er war in eine Massenschlägerei verwickelt, bei der ein Mensch getötet wurde. „Ich habe es nicht
getan”, sagt er, „ich bin am nächsten Tag zur Polizei gegangen, um meine Zeugenaussage zu machen. Das würde sich schon alles aufklären, hat der Polizist mir
gesagt. Seitdem hat man mich einfach vergessen.”
Die Unschuldigen – denn als solche haben Untersuchungshäftlinge zu gelten
– sind den selben lebensbedrohlichen Umständen ausgesetzt wie die Verurteilten. Verschärfend kommt für sie allerdings noch hinzu, dass für sie nicht die
Gefängnisverwaltung, sondern die Polizei zuständig ist. Doch die trägt zur
Ernährung der Untersuchungshäftlinge nichts bei. Wer keine Verwandten hat, die
das Essen vorbeibringen, wird aus dem mageren Gefängnis-Budget mit durchgefüttert. Wer als Untersuchungshäftling krank wird, kann auf eine vielleicht
lebensrettende Behandlung im Hospital noch weniger hoffen als ein Verurteil-
Katinka Schröder
Malawi
ter. „Es sterben immer mehr Untersuchungshäftlinge, weil die Polizei sie nicht
abholt und ins Krankenhaus bringt”, sagt Lazles Chikanamoyo, Leiter der Apotheke in „Maula Prison“.
Wer kein Geld hat, braucht sich keine Hoffnung auf einen baldigen Prozess zu
machen. Diese Erfahrung hat nicht nur der im „Zomba Central Prison“ inhaftierte
Levious Mbunju gemacht. 5000 Kwacha (220 DM) habe der Anwalt von Legal
Aid, der doch eigentlich kostenlos arbeiten solle, verlangt, um beim High Court
die Aufnahme des Verfahrens zu beantragen. Dieselbe Summe nennt der Sprecher der Untersuchungshäftlinge im „Chichiri Prison“: „Wo sollen wir dieses
Geld hernehmen? Die Demokratie in Malawi nützt nur den Reichen, wir Armen
werden links liegen gelassen. Was für eine Art Demokratie ist das?”
Geld und Wille
Es ist vor allem eine arme Demokratie. Malawi gehört zu den 20 ärmsten Ländern der Welt. Nur eine kleine Oberschicht lebt gut. Das vom Parlament genehmigte Budget für das Haushaltsjahr 1999/2000 sieht umgerechnet 4,5 Millionen
Mark für das leibliche Wohl des Präsidenten und seiner Gäste im „State House“
vor. Alle 23 Gefängnisse mit 7000 Insassen dürfen nur 3,5 Millionen Mark kosten. Aus diesem Ansatz müssen nicht nur die Ausgaben für die tägliche Ration
der Häftlinge bestritten werden, sondern auch die Gehälter der Angestellten und
sämtliche Betriebskosten. Der Ansatz kann sich bei schlechter wirtschaftlicher
Entwicklung auch verringern. Zugeteilt wird das Geld monatlich in nicht vorauszusagender Höhe. Im Namen der Regierung kann das „Prison Department“
keine Schecks mehr ausstellen. Das nennt sich „cash-budget“, soll der Eindämmung der Geldverschwendung dienen, ist aber nichts anderes als ein Euphemismus für chronische Unterfinanzierung. Der Staat springt nicht mehr ein, wenn
die Lieferanten nicht mehr liefern, weil sie ihr Geld nicht bekommen. Im Frühjahr konnte nur eine Finanzspritze der britischen Regierung eine Hungersnot in
den Gefängnissen verhindern.
Es mangele aber nicht nur an Geld, um die Zustände zu verbessern. Vor
allem am Willen fehle es, meint Richter Sidira: „Ich kenne keinen Abgeordneten, der sich für Gefangene einsetzt. Sie glauben, an solche Leute sollte man
kein Geld verschwenden”. Auch sähen viele Menschen, die selbst wenig
haben, nicht ein, warum von dem Wenigen auch noch den Verbrechern gegeben werden sollte. Wegen der ablehnenden Haltung der Bevölkerung mache
auch das Programm „Gemeinnützige Arbeit statt Haft“ nur langsame Fortschritte.
Die Stimmen der Häftlinge zählten auch bei der zweiten demokratischen Wahl
nicht. Kurz vor dem Wahltermin im Juni 1999 verkündete die Wahlkommission,
man habe es nicht rechtzeitig geschafft, die Gefangenen zu registrieren. Die
Wahlen wurden zu großen Teilen von der EU finanziert, das Geld reichte nicht.
Malawi
Katinka Schröder
Zur Misere in den Gefängnissen hat nicht zuletzt beigetragen, dass sich die
junge Demokratie bemühte, einem Image gerecht zu werden, dass es sich nicht
leisten kann. Kurz nach seinem Sieg in den ersten freien Wahlen 1994 ließ der
Präsident drei berüchtigte Gefängnisse, in denen während der Diktatur politische
Häftlinge einsaßen, schließen. Neue Haftanstalten sind seitdem nicht gebaut worden, obwohl sich die Zahl der Gefangenen seit Ende der Einparteienherrschaft
verdoppelt hat.
400 Hektar Brachland – Die Gefängnisfarmen
Welche Rolle ein unreflektiertes Verständnis der Menschenrechte beim
Niedergang der Gefängnisfarmen gespielt hat, ist umstritten. Ich habe hierzu
viele Meinungen gehört, ohne das sich ein klares Bild ergeben hätte. Unani
Banda, der 1992 aus dem Exil in Südafrika zurückkehrte um ein demokratisches Malawi aufzubauen, gibt sich und seinesgleichen die Schuld. „Um der
internationalen Gemeinschaft zu gefallen, haben wir gefordert, die Zwangsarbeit auf den Gefängnisfarmen abzuschaffen, ohne über die Konsequenzen
nachzudenken”. Die Farmen seien geschlossen worden, das System der
Selbstversorgung zusammengebrochen.
Ein Wärter im „Maula Prison“ meint, das Rote Kreuz trage daran eine Mitschuld: „Die kamen 1992 und haben den Gefangenen erzählt, sie brauchten
keine Zwangsarbeit zu leisten. Daraufhin haben sich die Häftlinge geweigert,
auf den Farmen zu arbeiten. Heute, wo es nicht genug zu Essen gibt, flehen
sie uns an, wieder dort arbeiten zu dürfen”.
Machatine Mojo, stellvertretender Leiter des „Prison Farm Department“,
widerspricht beiden Versionen. Zwar hätten sich Gefangene nach Besuchen
von Mitarbeitern des Roten Kreuzes geweigert zu arbeiten, doch das sei nicht der
Grund für die schlechte Ertragslage. Auch seien die Farmen nie geschlossen worden, vielmehr habe eine Dürre in den Jahren 1992 bis 1994 für schlechte Ernten
gesorgt. „Schon früher reichten die Erträge der Gefängnisfarmen nicht aus, um
alle Gefangenen das ganze Jahr lang zu ernähren. Vor 1992 wurden für 3.000
Gefangene 300 Tonnen Mais gebraucht, produziert wurden aber nur 40 Prozent,
also 120 Tonnen. Heute müssen wir 7.000 Gefangene ernähren und brauchen
dafür mindestens 450 Tonnen. 50 Prozent kommen von Gefängnisfarmen, mit
225 Tonnen produzieren sie heute also mehr als früher”.
450 Tonnen Mais für 7.000 Häftlinge – das wären knapp 20 Gramm
„nsima“ mit einem Energiegehalt von 75 Kilokalorien pro Tag und Häftling.
Da ein durchschnittlicher Bewohner der Ersten Welt bereits während achtstündiger Nachtruhe 500 Kilokalorien verbraucht, kann an dieser Zahl etwas
nicht stimmen.
Der Blick in die Kochtöpfe der Gefängnisküchen von Maula und Chichiri
zeigt, dass die Häftlinge etwas mehr erhalten, doch bei weitem nicht genug. In
Katinka Schröder
Malawi
den Stahlkesseln der beiden Gefängnisse werden nach offiziellen Angaben täglich 1,45 Tonnen Mais und 350 Kilo Erbsen oder Bohnen für insgesamt 2.350
Häftlinge gekocht. Jeder erhält demnach 60 Gramm „nsima“ und 5 Gramm suppiges Gemüse, was zusammengerechnet etwa 230 Kilokalorien entspricht.
Unvorstellbar, dass ein Mensch von dieser Ration überleben kann. Ebenso
unvorstellbar andererseits, dass die 50 Menschen, die um die Mittagszeit vor dem
„Chichiri Prison“ darauf warten, Verwandten oder Freunden Essen bringen zu
dürfen, das Problem lösen können. Es bleibt mir ein Rätsel, warum ich so
wenige Häftlinge sah, die offensichtlich dabei waren zu verhungern.
Den Ertrag aller neun Gefängnisfarmen in diesem Jahr schätzt Machatine
Mojo auf 400 Tonnen. Mehr ist zur Zeit nicht drin, denn von den 500 Hektar
Farmland können aus Geldmangel nur 75 Hektar für den Anbau von Häftlingsnahrung und 25 Hektar für die kommerzielle Landwirtschaft, deren Erlöse wieder dem Gefängnis-Etat zufließen, verwendet werden. „Wenn wir nur mehr
Geld für Dünger und Farmmaschinen hätten – wir könnten auf lange Sicht bei
der Versorgung der Häftlinge viel Geld sparen”, klagt Machatine Mojo.
Mag sein, dass die Gefängnisfarmen dank der Finanzhilfe von der Europäischen Union heute mehr produzieren als früher, wie er behauptet. Ich habe nur
eine Farm besucht und einen anderen Eindruck gewonnen. Auf der „Mpyupyu
Prison Farm“ wird ein Drittel des fruchtbaren Landes für den Anbau von Mais,
Gemüse und Tabak genutzt. „Vor 1992 wurde hier mit weniger Häftlingen mehr
produziert. Sie mussten länger arbeiten, Menschenrechte wurden ja nicht beachtet. Außerdem gab es zwei Traktoren”, sagt der stellvertretende Gefängnisleiter
Frederick Kainja. Von 350 Häftlingen arbeiten zur Zeit nur 100 auf der Farm,
allerdings schaffen sie wegen der schlechten Ernährung nur vier Stunden Arbeit
am Tag. Selbst wenn das gesamte Land genutzt werden könnte, fehlte es an Personal um die Arbeiter zu bewachen. John Chimodzi, seit einem Jahr Leiter dieser Farm, kann den diesjährigen Ertrag noch nicht abschätzen, doch er dürfte
wohl ähnlich niedrig ausfallen, wie bei seiner letzten Dienststelle in Kasungu:
„Dort haben wir 1998 1,2 Tonnen Mais produziert, 1994 waren es 2,8 Tonnen”.
Zu schaffen macht dem Farmleiter auch, dass bereits dreimal Gemüse gestohlen
wurde, seit er hier ist. Beim letzten Mal seien die Kohlköpfe nur entwurzelt aber
nicht mitgenommen worden. „Die Leute in der Umgebung neiden uns das
unbenutzte Land”, so erklärt er sich das. Seine drei Kinder, die mich fröhlich
begrüßen, haben Hungerbäuche.
Strafe muss (trotzdem) sein
„Wir sind nicht hier, weil wir zu Nahrungsmittelentzug verurteilt wurden”, sagt Chimwemwe Mputahelo, Sprecher der Untersuchungshäftlinge im
„Zomba Central Prison“, „ wir sind hier, weil uns die Freiheit entzogen
wurde. Das ist schlimm genug”. Welchen Zweck eine Haftstrafe unter diesen
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Malawi
Katinka Schröder
Bedingungen habe, sei ihm nicht klar. Ginge es darum, die Menschen zu
reformieren, würde eine Woche in dieser Hölle ausreichen; ging es um Buße,
habe es keinen Sinn, die Menschen für harmlose Straftaten mit dem Leben
bezahlen zu lassen. Als Beispiel nennt er Barton Mkandawire, einen ehemals
staatlich angestellten Buchhalter, der wegen Diebstahls von 21.000 Kwacha
(knapp 1.000 DM) zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde. Ich treffe den
32jährigen im Gefängnishospital, er hat sich mit Tuberkulose angesteckt.
„Manchmal bin ich kurz davor wahnsinnig zu werden, wenn ich daran denke,
dass ich wahrscheinlich bald sterben werde”, sagt er. Warum habe man ihm
nicht erlaubt, das Geld in Raten zurückzuzahlen, anstatt ihn auf Staatskosten
durchzufüttern? Vielleicht hätte er dann weiter das Schulgeld für seine beiden
Schwestern bezahlen können. Wäre es nicht Strafe genug gewesen, ihn zu entlassen?
Warum Haft unter solchen Bedingungen trotzdem sein muss, erfahre ich auf
einer von Deutschen und Briten besuchten Party in der Diplomatenstadt
Lilongwe. Zu 18 Monaten Gefängnis sei jemand verurteilt worden, weil er
einen Rückspiegel gestohlen habe, erzähle ich der Freundin eines deutschen
Unternehmers. Sie reagiert schnell und kühl: „Nur so lernen sie, mit dem Stehlen aufzuhören”.
Gewerkschaften in Malawi
Von der Zwangsharmonie zur Unabhängigkeit
31 Jahre lang, bis zur Gründung des „Malawi Congress of Trade Unions“ im
Jahr 1995, wirkten die Gewerkschaften unter der Fuchtel der allein herrschenden Partei. Es galt ein Streikverbot, unabhängige Tarifverhandlungen gab es
nicht. Der „Trade Union Congress of Malawi“ war ein zahnloser Tiger.
Dennoch hat ein Mann aus der Gewerkschaftsbewegung, ähnlich wie Frederick Chiluba in Zambia, eine wichtige Rolle beim Übergang von der Diktatur zum Mehrparteiensystem gespielt. Bereits als junger Politiker war Chakufwa Chihana wegen seiner radikalen Einstellung zu Arbeiterrechten bei dem
Regime in Ungnade gefallen. Nach sieben Jahren Haft und anschließendem
Exil kehrte er 1988 nach Malawi zurück, wobei ihm seine Rolle als Vorsitzender des „Southern African Trade Union Congress“ eine gewisse Immunität
ab. Drei Wochen nach dem 8. März 1992, jenem Tag, an dem in den Kirchen
des Landes der regimekritische Hirtenbrief der katholischen Bischöfe verlesen worden war, reiste Chihana nach Zambia und verkündete in einem BBCInterview, er wolle den Diktator mit einer Partei der demokratischen Allianz
herausfordern. Bei seiner Rückkehr nach Malawi wurde er am Flughafen festgenommen und inhaftiert. Die Opposition hatte ihren Märtyrer, die Verhaftung
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Malawi
machte weltweit Schlagzeilen und erhöhte den Druck, den die internationalen Geldgeber auf die malawische Regierung ausübten.
Anfang Mai 92 erlebte die Republik Malawi den ersten Streik ihrer Geschichte.
Ausgehend von der Textilfabrik David Whitehead in Blantyre, breitete er sich
über die Industriebetriebe der Hauptstadt Lilongwe, die staatliche Zuckerfabrik
in der Zentralregion und die Tee- und Tabak-Plantagen im Süden des Landes aus.
Selbst die Angestellten der staatlichen Fluggesellschaft, der Eisenbahn und der
Banken in Blantyre und Lilongwe schlossen sich an. Die zwei Tage dauernden
Straßenkämpfe mit der Polizei kosteten 38 Menschen das Leben, doch die in
Jahrzehnten der Diktatur gezüchtete Kultur aus Angst, Opportunismus und
Schweigen war gebrochen worden. Und das nicht durch die Gewerkschaften,
sondern durch Arbeiter, die aus eigener Initiative und auf eigenes Risiko gehandelt hatten.
Das die ehemalige Gewerkschaftsführung noch in der Umbruchphase kuschte,
ist ein schweres Vermächtnis für die jungen Gewerkschaften. Die MCTU habe
aus der Vergangenheit eine Lehre gezogen, sagt ihr Generalsekretär Francis
Antonio: „Traue keinem Politiker, sie versprechen viel und halten nichts”. Auch
mit der von Chakufwa Chihana geführten Partei AFORD, der drittstärksten
Fraktion im Parlament, möchten sich die Gewerkschaften nicht gemein machen.
Ohnehin hat Chihana heute selbst im Norden, seiner Heimatregion, einen
schlechten Ruf. Natürlich wählen die Menschen hier AFORD, so wie die im
Süden UDF wählen, doch selbst in Mzuzu, der Hauptstadt des Nordens, wird
über seinen diktatorischen Führungsstil und seine Doppelmoral gelästert.
Aus der Umklammerung einer Partei haben sich die malawischen Gewerkschaften befreit. Nun haben sie es mit einer Regierung zu tun, die in ihnen vor
allem eine Bedrohung sieht. „Unser Präsident hat wegen seiner gewerkschaftlichen Aktivitäten seinen Arbeitsplatz verloren”, führt Francis Antonio
als ein Beispiel an. Nach 21 Jahren bei der staatlichen „Malawi Tourism
Development Investment“ wurde Ken Mhango 1998 entlassen, weil er durch
die Übernahme der MCTU-Präsidentschaft angeblich Vertragsbruch begangen hätte. Warnungen des Arbeitgebers, wie etwa „Beiße nicht den Finger, der
dich füttert”, seien vorausgegangen und das Staatsoberhaupt persönlich,
damals zusätzlich Minister für staatliche Beteiligungen, habe gespottet: „Wie,
Du stehst noch auf der Gehaltsliste?” Nach seiner Entlassung hetzte die
regierungsnahe Presse, Mhango dürfe als Arbeitsloser nicht der MCTU vorstehen und leugnete dabei das in der Verfassung verbriefte Recht auf freie
Assoziation. Nach meiner Abreise erklärte das Arbeitsgericht die Kündigung Mhangos mit Verweis auf dieses Recht für unzulässig.
Es gibt noch weitere Beispiele dafür, dass das Verhältnis zwischen Regierung
und Gewerkschaft gespannt ist. 128 Arbeiter, die für höhere Löhne und bessere
Arbeitsbedingungen bei der „National Seed Company“ gestreikt hatten, wurden
Malawi
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fristlos gekündigt und die Eisenbahngesellschaft hat vor ihrer Privatisierung drei
bei ihr angestellte Gewerkschaftsfunktionäre entlassen.
Das ist schon finanziell ein Problem, denn hauptamtlich angestellte Funktionäre können sich die Gewerkschaften in Malawi nicht leisten. Sie sind auf
ausländische Unterstützung, unter anderem von der deutschen FriedrichEbert-Stiftung, schwedischen, norwegischen und englischen Gewerkschaftsverbänden, angewiesen. Etwa 15 Prozent der Arbeitnehmer seien organisiert, aber nur fünf Prozent davon zahlten ihre Beiträge regelmäßig, sagt
Francis Antonio. Da viele Arbeitnehmer kein Konto haben, ist es mühsam, die
Beiträge einzutreiben. Die hohe Arbeitslosigkeit – offizielle Statistiken gibt
es nicht, doch sollen etwa 70 Prozent der Erwerbsfähigen ohne Anstellung
sein – verschärft die Lage. Außerdem gibt es nur wenige Arbeitnehmergruppen – im öffentlichen Dienst, im Transportwesen und bei der Post – die
starke Blöcke bilden können und mächtig genug sind, überbetriebliche Tarifverhandlungen durchzusetzen.
Die, welche die Unterstützung der Gewerkschaften am nötigsten bräuchten
– Plantagen-Arbeiter, Hausangestellte und Beschäftigte in den „Export Processing Zones“ – sind wegen des überreichen Angebots an Arbeitskräften,
ihrer Armut und schweren Erreichbarkeit wegen, am schwierigsten zu organisieren.
De-Industrialisierung und „Export Processing Zones“
Die mit dem Status einer „Export Processing Zone“ verbundenen Subventionen sind in Malawi nicht an einen Produktionsstandort gebunden. Einzige
Bedingung für den Erhalt einer EPZ-Lizenz ist, dass die Firma ausschließlich für
den Export produziert, damit der Wettbewerb auf dem einheimischen Markt nicht
gestört wird. Denn EPZ-Unternehmen können konkurrenzlos günstig produzieren. Sie sind von der 38-prozentigen Körperschaftssteuer ausgenommen
und zahlen keine Importzölle für Maschinen, Rohstoffe und Zwischenprodukte.
Zur Zeit produzieren in Malawi 16 EPZ-Firmen, deren Mutterunternehmen
aus Süd-Afrika, Taiwan und anderen asiatischen Staaten stammen, für den
Export in afrikanische Nachbarländer und nach Europa. Zwölf davon stellen
Bekleidung her, zwei sind im Schnittblumen-Geschäft, eine verarbeitet Vermiculit, ein unter anderem zur Dämmung und Plastikherstellung verwendetes
Mineral, eine produziert Möbel.
Im Prinzip sollten die EPZ-Firmen nicht nur verlängerte Werkbänke ausländischer Unternehmen sein, sagt Watipaso Mkandawire von der „Malawi Investment Promotion Agency“ (MIPA), die für die Ausstellung der Lizenzen zuständig ist. Man hoffe, die Handelsbilanz zu verbessern, indem Rohstoffe, anstatt zu
Schleuderpreisen ins Ausland verkauft zu werden, im Land verarbeitet würden.
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Malawi
Außerdem sollten einheimische Unternehmen als Zulieferer von Vorprodukten
profitieren. Beide Rechnungen seien zumindest für die Textilindustrie bisher
nicht aufgegangen, obwohl Malawi ausreichend Baumwolle produzieren könne,
bedauert Watipaso Mkandawire: „Es gibt nur einen einzigen einheimischen
Stoffproduzenten, der die Nachfrage nicht bedienen kann. Deshalb importieren
alle EPZ-Firmen die benötigten Vorprodukte, vom Garn bis zum Knopf ”.
Mkandawire leugnet nicht, dass es Betrüger gegeben habe, die EPZ-Unternehmen nur gegründet hätten, um ihre in Asien fertig produzierten Textilien als
‘Made in Malawi’ zollfrei nach Süd-Afrika, Zimbabwe und Europa exportieren
zu können. Die Bedingungen für die Zollfreiheit – eine 25-prozentige Wertsteigerung des Produkts durch Veredelung in Malawi – seien nicht erfüllt worden. Inzwischen habe man in Absprache mit Süd-Afrika, dem wichtigsten Einund Ausfuhrland für malawische EPZ-Produkte, wirksame Kontrollmechanismen eingeführt. „Angesichts der Schwierigkeiten, die selbst der hochentwickelte
Zoll in Europa mit dem Quotenschwindel hat, ist es zwar vorstellbar, dass es hier
und da noch Betrug gibt. Doch im großen und ganzen haben wir das Problem
gelöst”, meint Watipaso Mkandawire.
1995, als in Malawi erstmals Lizenzen für die EPZ-Produktion vergeben
wurden, hagelte es Kritik von der Weltbank und dem Internationalem Währungsfond, denn Exportsubventionen sind ein Verstoß gegen die Regeln der Welthandelsorganisation. Darüber habe er angesichts der Wirtschaftspolitik in
Europa, wo Firmen sogar Geld für die Schaffung von Arbeitsplätzen bekämen,
nur lachen können, erinnert sich Watipaso Mkandawire. „Das ärgerliche an
dieser Kritik ist, dass uns niemand gesagt hat, wie wir ohne diese Subventionen
Arbeitsplätze schaffen und mehr Devisen erwirtschaften sollen. Ohne diese
Anreize sind in Malawi produzierte Güter nicht wettbewerbsfähig. Wir können
es uns nicht erlauben, nur noch zu importieren”.
Als „Extreme Suffering for African People” bezeichnete ein malawischer Journalist die ESAP, die seit den 80er Jahren von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfond aufoktroyierten Strukturanpassungsprogramme. Exportorientierung, Liberalisierung und Reduzierung des Haushaltsbudgets, wozu
auch die Streichung von Subventionen für die Kleinbauern gehörte, haben dem
Land nicht den erhofften Aufschwung gebracht.
Seit der weitgehenden Abschaffung protektionistischer Importzölle durch
bilaterale Abkommen innerhalb der „Southern African Development Community“ (SADC), unter anderem mit den wichtigsten afrikanischen Handelspartnern Zimbabwe und Süd-Afrika, findet in Malawi eine schleichende De-Industrialisierung statt. Die Transportkosten für importierte Produktionsmittel sind
höher als in den Nachbarländern, die Infrastruktur ist miserabel und durch die
Währungsabwertung sind die Preise für Rohstoffe, Transport, Energie und Wasser gestiegen, während die Kaufkraft gesunken ist. Mit hohen Einfuhrzöllen auf
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– abgesehen von Dünger – fast alles, was für die Herstellung landwirtschaftlicher
oder industrieller Güter benötigt wird, würgt der fast bankrotte Staat die einheimische Industrie ab, während fertige Produkte aus Süd-Afrika und Zimbabwe
zollfrei auf den malawischen Markt gelangen. Wie schlecht es um das produzierende Gewerbe steht, zeigt die während meines Aufenthaltes verkündete
Schließung von Brown & Clapperton. Mangels Aufträgen musste die Firma, die
in Malawi ein Monopol für die Installation von Produktionsmaschinen hatte, aufgeben.
Welche Folgen der freie Wettbewerb zwischen dem kleinen Land ohne nennenswerte Bodenschätze und Zugang zum Meer und den geografisch begünstigten und besser entwickelten Handelspartnern Süd-Afrika und Zimbabwe hat,
lässt sich auf den ersten Blick im Supermarkt erkennen: Geflügel, Eier und Marmelade – einst in Malawi produziert und sogar exportiert – stammen aus SüdAfrika oder Zimbabwe; Körperpflege- und Waschmittel sind „Made in South
Africa“, der multinationale Konzern Unilever verpackt sie in seiner malawischen
Niederlassung nur neu; genauso macht es auch BAT. „Life“, die bis vor einem
Jahr in Malawi hergestellte Zigarettenmarke, wird nun aus Süd-Afrika importiert.
Es ist betriebswirtschaftlich günstiger, den Rohstoff, und danach das fertige Produkt, Tausende von Kilometern weit zu transportieren, als die Zigaretten im
Erzeugerland, dem zweitgrößten Tabak-Exporteur Afrikas, zu produzieren.
Die „Export Processing Zones“ gehören zu den verzweifelten Versuchen, die
De-Industrialisierung Malawis aufzuhalten. 10.000 Arbeitnehmer, schätzt Watipaso Mkandawire, werden in EPZ-Firmen beschäftigt, davon vier Fünftel in der
Textilindustrie. Billige Arbeitskraft alleine, die das Land im Überfluss habe, ziehe
heute keinen Investor mehr an, sagt er. Zusammen mit den großzügigen Subventionen allerdings, habe sie eine große Rolle bei der Entscheidung der zwölf
Textilhersteller und -handelsketten aus Süd-Afrika, Taiwan und anderen asiatischen Ländern gespielt, in Malawi EPZ-Niederlassungen zu gründen: „Die
Textilindustrie ist sehr arbeitsintensiv. 2.000 Leute in Süd-Afrika anzustellen, wo
der Mindestlohn bei etwa 14.000 Kwacha (ca. 600 DM) liegt, oder sie hier in
Malawi zu beschäftigen, wo ein Näher 2.000 Kwacha (ca. 90 DM) verdient, ist
schon ein großer Unterschied. Das rechnet sich trotz der erhöhten Transportkosten für den Export”.
Es rechnet sich noch besser, wenn man weiß, dass Arbeiter in den „Export Processing Zones“ weitaus weniger verdienen. Das monatliche Einkommen in den
EPZ-Unternehmen liegt je nach Qualifikation zwischen 700 und 1.500 Kwacha.
Eine soziale Absicherung ist darin nicht enthalten, sieht man einmal davon ab,
dass ein Arbeitnehmer einen gesetzlichen Anspruch auf einen Tag Lohnfortzahlung im Krankheitsfall hat, allerdings nur jeweils einmal in zwei Wochen. Die
EPZ-Unternehmen zahlen zwar mehr als den gesetzlichen Mindestlohn von 550
Kwacha, doch der ist eine schlechte Messlatte. Augustine Bobe vom „United
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Malawi
Nations Development Programme“ hat ausgerechnet, dass ein Arbeiter, der den
Mindestlohn bekommt, 28,77 Tage arbeiten muss, um ausreichend Mais für die
Ernährung einer vierköpfigen Familie zu kaufen.
Von 800 Kwacha, der niedrigsten Lohnstufe beim EPZ-Textilhersteller Bentex, könnten sich die Arbeiter gerade mal die Miete für eine elende Ein-ZimmerHütte und das Essen leisten, sagt der Näher Joseph. Er verdient 1.060 Kwacha
und hat ein eigenes Haus. Selbst ihm aber fehle das Geld, um Second-Hand-Kleidung zu kaufen. In seinem sauberen blauen Hemd und der grauen Polyesterhose
sieht er eigentlich ganz ordentlich aus. „Das ist alles auf Kredit gekauft, wir nennen das „Katapilasi“. Ein Freund leiht dir Geld, vielleicht 50 Kwacha, damit Du
Dir ein Shirt kaufen kannst. Wenn Du Deinen Lohn bekommt, zahlst Du ihm 75
Kwacha zurück. Obwohl Du den ganzen Tag arbeitest, hast Du immer Schulden,
immer Probleme. Leben kann man das nicht nennen”.
Jeden Morgen bricht er gegen fünf Uhr im Dunkeln auf, damit er um sieben
Uhr in der Fabrik ist. Mit dem Sonnenuntergang um halb sechs ist er dann wieder daheim. Heute fahre ich ihn nach Hause. Selbst mit dem Auto brauchen wir
eine halbe Stunde, denn etwa fünf Kilometer außerhalb des Zentrums von Blantyre beginnt eine tückische Sandstraße, danach droht ein buckliger Feldweg den
Boden des Autos aufzuschlitzen. Endlich sagt Joseph vor einem Haus aus
Lehmziegeln „Stop”. Mit seiner Frau teilt er eine Wohnküche, natürlich ohne
Wasser- und Stromanschluss, sowie das durch einen Vorhang abgetrennte Schlafzimmer. Beiläufig erzählt er, ihr sechs Monate alter Sohn sei vor kurzem an
Tuberkulose gestorben.
Besuche in „Export Processing Zones“
Seit einem halben Jahr versucht die Textil-Gewerkschaft Mitglieder in
Export Processing Zones zu gewinnen. Bisher erfolglos. Die Arbeitnehmer
seien bereit, sich zu organisieren, doch nicht nur die Arbeitgeber blocken. „Die
Regierung hat mit den EPZ-Firmen Sondervereinbarungen getroffen”, vermutet Francis Antonio. Kurze Zeit später bekomme auch ich diesen Eindruck.
Mit Pecy Banda, George Kapalanga und Charles Mikunde, drei „Organizern“ verschiedener Gewerkschaften, mache ich mich auf den Weg zu einigen
EPZ-Firmen in Blantyre.
Unsere erste Station ist Bentex. Ein kleiner Wächter in Camouflage-Uniform öffnet das Tor und salutiert. Wie gut, dass ich ein Auto habe. Mit einem
Auto genießt man Vertrauen. Meine drei Begleiter müssen sich normalerweise
in Minibusse quetschen, und, wenn der Betrieb außerhalb liegt, noch kilometerweit laufen, um dann am Tor unter Umständen abgewimmelt zu werden.
„Der Boss ist nicht da”, sagt ein anderer Wächter, der den Eingang zum
Büro bewacht. Pecy Banda bittet darum, mit der Sekretärin einen Termin
absprechen zu dürfen. Während wir warten, kommt sein Kollege vom Tor auf
Malawi
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uns zu und murmelt zweideutig: „Wenn ich eine Waffe hätte, ich würde die
Bosse feuern. Das sind Räuber”. Nach einer Viertelstunde erfahren wir von
seinem Kollegen: „Die Sekretärin ist nicht bereit, mit ihnen zu sprechen”. Für
meine Begleiter nichts Neues. Es ist bereits der dritte Besuch hier, bei dem
eine Terminabsprache scheitert. Einige Tage später machen wir einen zweiten Versuch bei Bentex und werden zum Geschäftsführer vorgelassen. Was er
von Gewerkschaften halte, wolle er mir nicht sagen, und eine Besichtigung der
Fabrik sei generell nicht zulässig, weil das die Arbeiter nur verwirren würde.
Immerhin schlägt er einen Termin in zwei Wochen vor, dann sei sein Boss aus
Süd-Afrika zurück. Was daraus wurde, weiß ich nicht, denn meine Zeit ist
bereits für die Gefängnis-Recherche verplant.
Unsere zweite Station ist die Textilfabrik Crossbow. Charles Mikunde hatte
mir Hoffnung gemacht, hier ein Interview mit dem Arbeitgeber führen zu können. Dies sei die einzige EPZ-Firma, die nicht grundsätzlich gewerkschaftsfeindlich sei und alle Arbeiter wollten sich organisieren. Wir haben Glück, der
Mann, der uns freundlich begrüßt, ist der Boss höchstpersönlich. Als er
erfährt, um was es geht, zieht er sich in die Tiefen seiner Lagerhalle zurück
und ruft: „Ob ich hier Gewerkschaften zulasse, muss ich mir erst noch überlegen”.
Den dritten Versuch machen wir bei Chilimba Garments. Bei diesem Textilhersteller hatten Arbeiter vor einigen Monaten in einem Wutausbruch Nähmaschinen zerstört und Feuer gelegt, weil die versprochene Lohnerhöhung
nicht gezahlt worden war. Die, denen man nicht gekündigt habe, wollten nun
geschlossen der Gewerkschaft beitreten, hatte Charles Mikunde mir erzählt.
Wir gehen eine Rampe hinauf und blicken in eine Halle, in der etwa 20 Männer damit beschäftigt sind, Blusen und Kinderkleider für den Export nach SüdAfrika zu verpacken. Zeit, mit einem der Arbeiter zu sprechen, bleibt nicht.
Freundlich aber bestimmt werden wir in das Büro des Personalchefs gebeten.
Büro? Es ist ein Verschlag mit wackliger Sitzbank und alterskrummem Tisch.
Die Tür ächzt in den Angeln, als ein etwa 30jähriger Mann im verblichenen
Kittel, dem eine nur noch aus Flicken bestehende Hose um die Beine schlottert, den Verschlag betritt: „Guten Tag, ich bin der Personalchef. Was kann ich
für Sie tun?”
Charles Mikunde kennt den Mann bereits von zwei früheren Besuchen. Er
war nicht besonders kooperativ gewesen und hatte ihn beim letzten Mal an die
Chefsekretärin verwiesen, die sehr deutlich geworden war: „Wir wollen die
Gewerkschaft hier nicht”. Die schriftliche Bestätigung, um die er gebeten
habe, sei bisher nicht eingegangen. Damit könnte Charles Mikunde beim
„Labour Office“ Beschwerde einlegen. Die Regierungsbehörde ist unter
anderem dafür zuständig, die Einhaltung aller den Arbeitsmarkt betreffenden
Gesetze zu fördern und zu überwachen. Das „Labour Office“ muss ein-
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schreiten, wenn ein Arbeitgeber einer Gewerkschaft den Zutritt zum Gelände,
oder Angestellten das in der Verfassung verankerte Recht, sich in der Gewerkschaft zu organisieren, verweigert.
Auch heute sei der Boss nicht da, bedauert der Personalchef. Mister Shi, der
zweite Mann in der Firma, spreche leider kein Englisch. Wir sind also umsonst
gekommen. Immerhin erfahren wir vom Personalchef, dass das Management es
für legitim halte, die Arbeiter erst gar nicht entscheiden zu lassen, ob sie Mitglied
einer Gewerkschaft werden wollen. Kürzlich sei ein Mann vom „Labour Office“
da gewesen: „Der hat gesagt, wir bräuchten hier keine Gewerkschaft, weil wir
doch bereits ein Arbeiter-Komitee haben”.
Noch deutlicher wird Watipaso Mkandawire von der MIPA: „Wir wollen nicht,
dass die Arbeiter in den EPZ ausgebeutet werden, deshalb schlagen wir vor, Arbeiter-Komitees zu gründen. Aber wir wollen auch nicht, dass die Leute sich ihre
eigene Zukunft verderben. Sie sehen nur „Oh, diese Firma macht eine Menge
Geld“, aber sie sehen nicht die Kosten, die dahinterstecken. Sie glauben, wenn sie
Mitglied einer Gewerkschaft werden, könnten sie mehr und mehr verlangen”.
Richtig daran ist, dass nur die Gewerkschaften durch den „Labour Relations
Act“ gesetzlich verankerte Rechte haben, gleichberechtigt mit dem Arbeitgeber
zu verhandeln und für Lohnverhandlungen Bilanzen einzusehen. Im Gegensatz
zu den Arbeiter-Komitees können sie außerdem ihre Mitglieder bei Arbeitsprozessen vertreten. Falsch ist die indirekte Behauptung, Gewerkschaften in Malawi
seien streikwütig. Sie sind eher übervorsichtig, was sicherlich damit zusammenhängt, dass sie es sich noch nicht leisten können, streikende Mitglieder finanziell
zu unterstützen. Bei zwei Betriebsversammlungen war ich dabei und erstaunt, wie
bescheiden die Forderungen waren, die gestellt wurden. Nie fehlte die mit Pathos
vorgetragene Mahnung an die Arbeiter: „Seid fleißig und lasst euch nichts zu
Schulden kommen. Sonst können wir nichts erreichen”.
Dass die Arbeiter-Komitees den Gewerkschaften vorgezogen werden ist um so
paradoxer, als gerade in den nicht gewerkschaftlich organisierten „Export Processing Zones“ Streiks und Streikandrohungen häufig sind. Joseph, Mitglied im
Arbeiter-Komitee einer EPZ-Firma, beschreibt, warum sie oft die einzige Sprache seien, die Arbeitgeber verstünden: „Wenn der Chef etwas von uns will, müssen wir uns sputen. Wenn wir ihn um etwas bitten oder ein Problem besprechen
wollen, warten wir lange auf einen Termin”. Streiks sind nicht nur üblich um
Lohnerhöhungen durchzusetzen. Gestreikt wird auch, um Forderungen nach
Einhaltung der gesetzlicher Kündigungsfrist oder Lohnfortzahlung im Krankheitsfall Nachdruck zu verleihen.
Das Behörden wie MIPA oder das „Labour Office“ gewerkschaftsfeindlichen
EPZ-Firmen Rückendeckung geben, ist weniger aus der Angst vor Streiks zu
erklären. Vielmehr scheint es darum zu gehen, die Unsicherheit aufrechtzuerhalten. Ein illegaler Streik, ob wegen einer umstrittenen Lohnerhöhung oder
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klarer gesetzlicher Verstöße des Arbeitgebers, ist nervenaufreibend. In einem Land,
in dem es weder Sozialhilfe noch Arbeitslosenunterstützung gibt, ist es riskant, seinen Job zu verlieren.
Von der Sklaverei zum Landraub
Als David Livingstone Ende 1861 die erste europäische Expedition an den
Lake Malawi leitete, beschrieb er die Gegend um Nkhotakota als einen „Ort von
Gesetzlosigkeit und Blutvergießen……. buchstäblich übersät mit menschlichen
Knochen und verwesten Körpern”. Im 19. Jahrhundert war die Stadt der größte
Sklavenmarkt des Landes, Abfertigungsstation für jährlich bis zu 20.000 Menschen, die von hier aus mit Dhaus über den See und anschließend über Land zum
Indischen Ozean gebracht wurden.
Auf dem Gelände der alten Missionsstation steht noch der Feigenbaum, der
David Livingstone und Chief Jumbe vor 136 Jahren Schatten gespendet haben
soll. Livingstone war zurückgekehrt, um dem Sklavenhändler afrikanisch-arabischer Abstammung das lukrative Geschäft auszureden. Vergebens. Erst in
den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts unterschrieb der alternde Chief einen Vertrag, der ihm im Gegenzug für die Abschaffung der Sklaverei den Schutz der Briten garantierte.
Mit der Kolonisierung begann eine neue Art der Sklaverei. Land, das bisher
allen gehört hatte und von Dorfvorständen verteilt worden war, wurde nun von
Europäern gekauft oder für lange Zeit geleast, um „cash crops“ wie Tee, Kaffee,
Baumwolle, Zucker und Tabak anzubauen. Die folgende Landknappheit machte
es leichter, an billige Arbeitskräfte heranzukommen. Zusätzlich wurde eine
Steuer eingeführt, die nur zahlen konnte, wer einer Erwerbsarbeit nachging.
Mit der Unabhängigkeit änderte sich die Politik für kurze Zeit zugunsten der
kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Doch bereits 1968 begann Malawi der von der
Weltbank geforderten Orientierung auf den Anbau von „cash crops“ auf Großfarmen bereitwillig zu folgen. Bis 1992 durften Kleinbauern keinen Tabak, das
lukrativste „cash crop“ Malawis, anbauen. Die malawische Elite aus Wirtschaft,
Politik und Verwaltung wurde ermuntert, Plantagen zu gründen. Große Teile des
so genannten „customary land“, das auch heute noch unverkäuflich ist, wurden
für wenig Geld auf 20 bis 99 Jahre verpachtet. Die Regierung verpflichtete Banken dazu, den neuen Farmern günstige Kredite zu geben und besteuerte zu
ihrem Vorteil die kleinbäuerliche Landwirtschaft. Die „Agricultural Development
and Marketing Corporation“, die zum Schutz der Kleinbauern vor den Schwankungen der Weltmarktpreise gegründet worden war, kaufte deren Produkte zu
Preisen unterhalb des Weltmarktniveaus. Die Profite flossen wieder als Kredite
an die Plantagen. In den 80er Jahren war die Landverteilung so ungerecht, wie
sie es zur Zeit des britischen Protektorats gewesen war. Mit dem einzigen Unterschied, dass nun hauptsächlich afrikanische Großgrundbesitzer ihre Landsleute
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Malawi
ausbeuteten. Einige Zahlen verdeutlichen die Entwicklung: 1968 hatten 71 Prozent der Landbevölkerung mehr als zwei Hektar Land zur Verfügung, 1978 waren
es nur noch 13 Prozent. 1987 gehörten 0,27 Prozent der Bevölkerung fast 20 Prozent des fruchtbaren Landes. Je länger der kleinbäuerliche Sektor finanziell und
infrastrukturell vernachlässigt wurde, desto größer wurden die Einkommensunterschiede. 1980 teilten sich die etwa 4000 Plantagen 20 Prozent des Einkommens aus der gesamten landwirtschaftlichen Produktion, 1995 waren es 45
Prozent. Mit dieser scheinbar höheren Produktivität war die ungleiche Verteilung
des Landes immer gerechtfertigt worden. Das dies eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ist, die sich durch die Vernachlässigung und Übervorteilung der
kleinbäuerlichen Landwirtschaft bewahrheitet und nicht naturgesetzlicher
Zwangsläufigkeit entspringt, hat eine Schar von Agrar-Ökonomen am Beispiel
vieler Länder bewiesen. Anfang der 80er Jahre, so geht aus einer von der UN und
der malawischen Regierung durchgeführten Studie hervor, wurden mindestens
40 Prozent des Plantagen-Landes nicht genutzt.
Die erste demokratisch gewählte Regierung hat eine Landreform angekündigt.
Die hierfür durchgeführten Studien habe ich während meines Aufenthalts
zusammengebettelt und kopiert (im zuständigen Ministerium gab es keine
Kopien). Sie sind aber leider auf dem Postweg nach Deutschland verloren
gegangen. Im Gegensatz zu anderen Ländern der Dritten Welt würde eine Neuverteilung in Malawi nicht bedeuten, dass Plantagenbesitzer enteignet werden
müssten, da die meisten das Land nicht käuflich erworben sondern gepachtet
haben. Ob die Weltbank und der Internationale Währungsfond für die sicherlich
fälligen Kompensationszahlungen, welche die enteignete Landbevölkerung
natürlich nicht erhalten hatte, Kredite gewähren, wage ich allerdings stark zu
bezweifeln.
Die Tabak-Sklaven
Abgesehen von dem Feigenbaum erinnert heute nichts an die grausame Vergangenheit. Nkhotakota ist eine geschäftige aber gesichtslose Straßensiedlung.
Trotzdem finde ich, dass hier etwas Böses in der Luft liegt. „Blödsinn”,
herrscht mich mein Übersetzer Zagwa Zata an, „glaubst Du jetzt auch schon
an Geister?” Eine andere Antwort hatte ich von jemandem, der „Was geschehen ist, ist geschehen“ heißt, auch nicht erwartet.
Wir sind nach Nkhotakota gekommen, weil es hier viele Tabak-Plantagen gibt.
Das Geschäft mit dem braunen Gold bringt Malawi 65-70 Prozent seiner Exporteinnahmen. Rafael Sandramu hatte angeboten, mir einige Farmen zu zeigen. Er
ist Generalsekretär der „Tobacco Tenants and Allied Workers Union of Malawi“.
Außerdem arbeitet er in der 1995 gegründeten Missionsstation des katholischen Ordens „Salesianer Don Bosco” in Nkhotakota. Die „Brüder“ unterstützen ihn bei seinen Aktivitäten für die Gewerkschaft. Er kann ihr Telefon, den
Malawi
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Computer und den Kopierer nutzen und im Hof steht eine missionseigene MZ,
ein recht geländegängiges Motorrad, mit dem Sandramu die „Tabac-Estates“
abknattert, um Arbeiter zu organisieren. Heute ist es zu spät um aufzubrechen,
außerdem hat Sandramu noch eine Sitzung. Nachdem er uns unsere Zimmer in
der Mission gezeigt hat, verschwindet er.
Gerne würden wir zum Abendbrot ein Glas Bier trinken, wir trauen uns aber
nicht, weil „Bruder“ Paul aus Polen, der 36-jährige Leiter der Missionsstation,
am Tisch sitzt. Weit gefehlt, nach dem Essen bietet er uns einen Brandy an,
den er mit Cola mixt. Das Glas ist noch halbvoll, da erzählt er uns die schaurige Geschichte von einem Inder, dem vor einigen Wochen tagsüber und auf
offener Straße alle Finger der rechten Hand abgehackt worden seien. Das Glas
ist noch nicht leer, da beschreibt er, wie kürzlich die Missionsstation von Dieben belagert wurde. Danach haben die „Brüder“ auf den drei Meter hohen
Mauern, welche die Missionsstation umgeben, Glasscherben angebracht.
Nkhotakota bleibt unheimlich.
Am nächsten Morgen brechen wir mit Rafael Sandramu zur Tabak-Plantage
Malizanitu auf. Während der Fahrt bemerke ich zum ersten Mal den langen
Narbenknubbel auf seinem linken Unterarm. So einen hätte er auch noch am
Bein, sagt er, von einem Motorradunfall. Er glaube an einen Anschlag, aber
beweisen könne er das nicht. Einen Tag vor dem Unfall waren 32 Arbeiter von
einer 110 Kilometer entfernten Tabak-Farm in sein Büro gekommen. Drei
Tage Fußmarsch brachten sie hinter sich, um ihn um Hilfe zu bitten. Der
Landbesitzer hatte sie nach der Ernte von seiner Farm verjagt und nun hatten
sie nichts mehr zu Essen. Am nächsten Morgen machten sich Bruder Paul und
die Arbeiter im Pick-Up, Sandramu auf dem Motorrad, auf den Weg zu der
Plantage. Unterwegs passierten sie eine Tankstelle. „Dort stand ein mir unbekannter Mann, der seinen Geländewagen tankte. Ein auffälliger Wagen, wie
es ihn hier in der Gegend nicht so oft gibt. Ich denke, er hat den Zweck unserer Reise erkannt”. Die Verhandlungen mit dem Landbesitzer waren fruchtbar. Er versprach, die Arbeiter weiterhin mit Nahrung zu versorgen. Abends,
auf dem Heimweg, kam Sandramu der Geländewagen entgegen, den er an der
Tankstelle gesehen hatte. „Mit der Lichthupe hat mich der Fahrer absichtlich
geblendet. Ich konnte dem Schlagloch nicht mehr ausweichen, danach war ich
bewusstlos”. Fast wäre er noch von seinem Retter überfahren worden, der ihn
ins Krankenhaus brachte.
Ob es ein Anschlag, oder ein Unfall war – Sandramus Einsatz für die TabakArbeiter scheint auch sonst nicht ungefährlich zu sein. Ein Farm-Manager habe
die Hunde auf ihn gehetzt, ein anderer sei mit dem Holzknüppel auf ihn losgegangen. Nach diesen Geschichten bin ich froh, auf Malizanitu weder den FarmManager noch den Besitzer anzutreffen. Letzterer arbeitet beim Finanzministerium in Lilongwe und ist gerade auf Geschäftsreise in Süd-Afrika. Den Tabak,
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den seine Arbeiter gepflanzt und geerntet haben, hat er zwar schon versteigern
lassen, doch sie haben noch kein Geld gesehen. Ungeduldig erwarten sie seine
Rückkehr, denn sie haben keinen Mais mehr. Zur Zeit ernähren sie sich von wildwachsenden Okra-Schoten und Wurzeln. Das ist die erste Klage, die ich höre,
nachdem Sandramu eine Schar zerlumpter Männer und Frauen aus den versprengt liegenden Grashütten zusammengetrommelt hat.
Zenanzio January, ein hagerer 40-jähriger mit wenigen, schwarzen Zähnen,
arbeitet seit 1979 auf Tabak-Plantagen. Wie viele hier, hat er sein eigenes
Stück Land verlassen, weil er es aus Geldmangel nicht kultivieren konnte.
Und wie viele hier, hat er davon geträumt nach ein paar Jahren Arbeit auf
fremder Scholle zurückzukehren. Doch daraus ist nichts geworden: „Seit ich
diese Arbeit tue, habe ich, abgesehen davon, dass ich nicht verhungert bin und
mir ein paar Lumpen kaufen konnte, nichts erreicht”.
Die meisten Menschen, die auf Tabak-Farmen arbeiten, bekommen keinen
Lohn. Sie sind Scheinselbständige aus denen oft Schuldknechte werden. Auf
Kredit verkauft ihnen der Landbesitzer Samen, Dünger, Hacken und den
Mais, den sie zum Überleben brauchen. Dafür verpflichten sie sich, den von
ihnen angebauten Tabak an den Landbesitzer zu verkaufen. Was nach Abzug
der Kredite übrigbleibt, ist ihr Gewinn.
Ein tückisches System, denn die Abrechnung ist völlig intransparent. Der
24-jährige Austin Kaunda, der erst seit einem Jahr auf Malizanitu arbeitet, hat
auf zwei anderen Farmen schlechte Erfahrungen gemacht: „Dort gab es keine
Gerechtigkeit. Wenn die Bosse sahen, dass reichlich Tabak wuchs, haben sie
die Kosten für die Kredite erhöht, damit wir keinen Profit machen konnten”.
Er rechnet vor: 1998 kostete ein Sack Dünger im Laden 800 Kwacha. Der
Landbesitzer verlangte 1.500 Kwacha. Für einen Eimer Mais berechnete er
statt 80 Kwacha 250. Aus 45 Kwacha für eine Hacke wurden 100. Auf der
ersten Farm hat Kaunda 1.700 Kwacha (1997: 100 US Dollar) Gewinn
gemacht, auf der zweiten 4.000 Kwacha (1998: 95 US Dollar). Was es dieses
Jahr geben wird, weiß er noch nicht, aber wie seine Mitarbeiter auf Malizanitu rechnet er mit dem Schlimmsten, nämlich gar nichts zu bekommen.
Einige hier haben mehrfach versucht aus der Schuldknechtschaft auszubrechen. Wie Dickson Josef sind sie mit dem, was sie kriegen konnten, nach
Hause zurückgekehrt. „Aber nachdem ich den Transport bezahlt hatte und
anfing Lebensmittel zu kaufen, gab es wieder nur die Armut. Also sagte ich
zu meiner Frau und meinen Kindern: „Lasst uns wieder auf eine Tabak-Farm
gehen”. Dorthin zu gelangen ist einfach, denn es gibt Agenturen, die vor allem
im dichtbevölkerten Süden arbeits- und landlose Dörfler anwerben und mit
Trucks kostenlos zur Plantage transportieren. „Sie haben mir gesagt: Auf dieser Farm wirst Du Geld verdienen. Deine Armut wird ein Ende haben. Der
Farmbesitzer versprach, den Tabak zu einem fairen Preis zu kaufen und uns
Malawi
Katinka Schröder
die Lebensmittel umsonst zu geben. Als die Ernte dann gut war, weigerte er
sich den Tabak zum vereinbarten Preis zu kaufen. Er beleidigte uns, was wir
denn wollten, wir wären doch als arme Schlucker zu ihm gekommen. Dabei
haben wir doch die ganze Arbeit gehabt. Wir überlegten also, was zu tun sei
und stellten fest, dass wir keine andere Wahl hatten, als weiterzumachen”. Den
Transport nach Hause gibt es nicht mehr umsonst. Ein andere Methode, um
die Arbeiter bis zur nächsten Saison auf der Plantage zu halten, beschreibt
Koltrida Smoke: „Wenn die Zeit kommt, da der Tabak verkauft wird, schließt
der Boss das Schuldenbuch und gibt uns nichts mehr zu Essen. Aber es gibt
auch einige gute Landbesitzer. Sie fangen ein neues Schuldenbuch an, so das
wir etwas zu Essen haben, bis wir wieder anfangen, Tabak anzupflanzen”.
Der Besitzer von Malizantu scheint nicht zu den Guten zu gehören. Drei Tage
später kehren wir zurück, um zwei Säcke Maismehl vorbeizubringen. Koltrida
Smoke strahlt: „Gott segne Dich. Wir wären heute hungrig ins Bett gegangen”.
Der Boss hatte noch immer keinen Mais gebracht.
Mit 40 Hektar ist Malizanitu eine kleine Farm. Katote II hat 250 Hektar und
scheint besser organisiert zu sein. Es gibt zwei Verwaltungsgebäude und einen
Speicher, der randvoll mit Mais gefüllt ist. Die Arbeiter bauen ihn an und dürfen ihn dann zu Wucherzinsen auf Kredit erwerben. Steve Thompson, der gutgekleidete Buchhalter, hält es nicht für nötig, dass sich die Gewerkschaft hier
engagiert. Den Arbeitern gehe es gut, im letzten Jahr hätten sie durchschnittlich
15.800 Kwacha (700 DM) Gewinn gemacht. Später flüstert mir Sandramu zu:
„Das war eine Lüge, der höchste Gewinn war 5.000 Kwacha (220 DM)”.
Die 72 Arbeiter auf Katote II kommen alle von weit her, aus den südlichen
Bezirken Mulanje und Dedza. Warum sie aus bis zu 500 Kilometer entfernten Ortschaften geholt würden, frage ich den Buchhalter. „Die Leute hier am
See sind faul, die sind lieber Fischer. Die Leute aus Dedza oder Mulanje arbeiten hart und sie verstehen etwas vom Tabakanbau”. Wären die Bedingungen
besser, würden sicherlich mehr Leute aus der Gegend hier arbeiten wollen,
hält Rafael Sandramu dagegen, der See sei ziemlich leer gefischt. Im Süden
und in der Zentralregion fänden die Agenten allerdings weitaus verzweifeltere
Menschen, die man außerdem noch besser ausbeuten könne, weil sie sich die
Heimreise nicht leisten könnten.
Nach einem halbstündigen Fußmarsch, vorbei an abgeernteten Tabakfeldern
und verkohlten Baumstümpfen, erreichen wir die Grashütten der Arbeiter. Wir
finden nur ein paar Frauen mit Säuglingen, die anderen sind bei den Saatbeeten. Dort werden gerade die kleinen Tabakpflanzen, unter Stroh vor der
sengenden Sonne geschützt, gegossen. Unter den dreißig Arbeitern sind zehn
Kinder im Alter zwischen 8 und 16 Jahren. Weil sie noch nicht so schwer tragen können, sind sie dafür zuständig, Wasser aus dem Fluss in die Gießkannen zu schöpfen. Warum er an diesem Morgen nicht in der Schule sei, fragt
Katinka Schröder
Malawi
mein Übersetzer einen der Jungen auf Chichewa, denn Englisch kann keiner
der Tabak-Arbeiter. Der Junge fällt ins Wasser und die anderen lachen schadenfroh: „Du hast wohl Angst vor der weißen Frau, was?” Trotzig sagt er:
„Wer lacht, ist ein Arschloch ... Ich gehe nicht zur Schule wegen des Burley.
Burley-Tabak anzubauen ist ein Job und ein Job bedeutet Geld. Ich bin 16
Jahre alt”. Drei jüngere Kinder, denen wir dieselbe Frage stellen, wären lieber in der Schule. Aber das sei heute nicht möglich gewesen, weil sie dreckige
Kleidung anhätten, sagen sie unisono. Diese Ausrede scheinen sie häufiger zu
benutzen. Die beiden 14-jährigen sind in der dritten Klasse, der 12-jährige ist
in der zweiten. Er sagt: „Wenn ich groß bin, will ich Lehrer werden. Wenn ich
das nicht schaffe, dann möchte ich Fahrer sein oder Büroangestellter auf
einer Tabak-Plantage. Ich will auf keinen Fall machen, was meine Eltern
machen”. Warum nicht? „Weil das ein unangenehmer Job ist”.
Eine starke Lobby
4.700 Arbeiter hat die „Tobacco Tenants and Allied Workers Union“ bereits
organisiert. Wie viele es gibt, kann Sandramu nur grob schätzten. Vielleicht
300.000? Selten zahlt einer den Jahresbeitrag von 50 Kwacha. Doch die TabakArbeiter schätzen die Organisation. Endlich haben sie jemanden, an den sie sich
wenden können. „Ich war bei einigen Verhandlungen zwischen der Gewerkschaft
und Farmbesitzern dabei. Am Ende haben die immer nachgegeben und bezahlt”,
sagt Zenanzio January, einer der Arbeiter auf Malizanitu.
Rafael Sandramu kann mit seinem Motorrad nicht überall sein. Er würde gerne
die Verhältnisse grundsätzlich ändern. Sein Lieblingsplan ist es, eine gemeinnützige Bank aufzubauen, die Arbeitern, die eigenen Landbesitz haben, Kredite
für Samen und Dünger gibt. Dann würden es sich die Landbesitzer wohl zweimal überlegen, wie sie die Menschen behandeln. Woher er das Geld nehmen soll,
weiß er allerdings nicht.
Theoretisch hat die „Tobacco Tenants and Allied Workers Union“ schon viel
erreicht: In diesem Jahr wurde sie von der Tabakpflanzer-Vereinigung TAMA als
Tarifverhandlungspartner akzeptiert, deren Mitglieder sich außerdem verpflichteten, keine Kinder mehr auf ihren Farmen zu beschäftigen. Die Unterschrift ist bisher das Papier nicht wert, auf dem sie steht. „Es ist wirklich die Ausnahme, dass uns ein Plantagenbesitzer erlaubt, mit den Arbeitern zu sprechen und
sie über ihre Rechte aufzuklären”, sagt Rafael Sandramu.
Sandramu und die MCTU kämpfen gegen eine mächtige Lobby. Denn die
meisten Tabakfarmer sind Politiker, höhere Verwaltungsangestellte oder Mitarbeiter in Ministerien. Seit 1994 schmort der „Tenant Labour Protection Act”
beim Justizministerium, das alle Gesetzesvorlagen prüft, bevor sie ans Parlament weitergeleitet werden. „Seit fünf Jahren gibt es von dort keine Reaktion, obwohl wir jedes Quartal nachfragen”, sagt „Labour Officer“ Southwood
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Malawi
Katinka Schröder
Ngooma. „Es ist ungewöhnlich, dass es so lange dauert”. Diplomatisch ausgedrückt. Das Gesetz würde aus den Schuldknechten Menschen mit Rechten
machen. Schriftliche Arbeitsverträge wären obligatorisch, genauso wie Entschädigungen bei krankheitsbedingtem Vertragsabbruch und die Bereitstellung sauberen Trinkwassers. Die Naturalkredite müssten zinslos vergeben und
ordnungsgemäß quittiert, die von der Regierung vorgegebenen Kaufpreise für
den Tabak eingehalten und sofort bezahlt werden.
Selbst wenn alle Tabakplantagen-Besitzer Engel wären, könnten viele von
ihnen steigende Kosten nur schwer verkraften. Durch die zunehmenden Plantagen-Pleiten werde der Druck auf die Arbeiter noch erhöht, sagt Rafae