Fibel, Rohrstock, Fleißbillett - Schüler und
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Fibel, Rohrstock, Fleißbillett - Schüler und
1 Manuskript Bayern2Radio 13./15.Januar 2003 Schulfunk Fibel, Rohrstock, Fleißbillett Schüler und Lehrer im 19. Jahrhundert Lehrer: He! Ist jemand da? Bäuerin: Was ist denn los? Ha! Der Lehrer! Was willst denn du? Lehrer: Wo ist der Joachim? Bäuerin: Kartoffel hacken. Lehrer: Also wenn er net krank ist, muss er in die Schul‘! Das weißt du doch, Bäuerin! Bäuerin: Dös geht net. Lehrer: Er muss in d‘ Schul‘, das ist Vorschrift! Bäuerin: Es geht net, weil z’vuil Arbet da is! Und übrigens des Schulgehn braucht’s net, sagt der Bauer! Lehrer: Wenn der Joachim den Hof kriegt, muss er doch rechnen können! Bäuerin: Was er wissen muass, woass er, sagt der Bauer. Mehr braucht’s net. Lehrer: Nachher sagst dem Bauern, dass der Joachim kein Entlass-Schein kriegt, dann kann er später nicht heiraten. Bäuerin: Geh! So was hab‘ i ja no nia g’hört! Sprecher: Es stimmt aber, denn 1802 wurde in Bayern die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Mit weit reichenden Folgen. Sprecherin: Aber nicht alle Kinder gehen zur Schule. Auf dem Land sind die Wege zu weit, oder die Eltern zu arm um die 24 Kreuzer Schulgeld im Quartal bezahlen zu können. Bei den Lehrern sieht es nicht viel besser aus, es gibt noch keine geregelte Ausbildung für sie. © Bayerischer Rundfunk 2003 2 Viele betreiben ihr Handwerk weiter, sind Schuster, Schneider oder Weber und übernehmen den Unterricht, obwohl sie selbst nur schlecht lesen, kaum schreiben und noch weniger rechnen können. Mit dem Stock aber können sie sehr gut umgehen. Jeder der zu dieser Zeit in die Schule gegangen ist und sich erinnert, beschreibt die gleiche Erfahrung: wenig gelernt und viel Prügel bekommen. Im Jahr 1819 beginnt in Regen, in Niederbayern, für Kajetan Schwertl die Schule. Er geht in ein Wirtshaus, wo die Gemeinde einen Saal angemietet hat, weil es noch kein Schulhaus gibt. Sprecher: Sechs Jahre hatten Schulpflichtige die Werktagsschule zu besuchen. Im Schnitt wurden 75 Kinder von einem Lehrer unterrichtet. Sprecherin: Kajetan Schwertl nimmt seine Schiefertafel unter den Arm und das ABC – Buch, das damals auch Fibel geheißen hat. Er schlägt das Büchlein auf und sieht keine bunten Bilder, sondern nur einzelne Buchstaben. Auf den nächsten Seiten folgen die Silben, dann einzelne Wörter und ganz zum Schluss kurze zusammenhängende Sätze. Drei bis vier Jahre brauchen die Schüler, bis sie lesen können. Schwertl hat später seine Erinnerungen aufgeschrieben (und er hört den Lehrer immer noch: Lehrer: Das nächste Wort liest - - -Schwertl! 1.Schüler: E, en, te, e – Ente Lehrer: Wer hat Enten auf dem Hof? 2.Schüler: Mir ham Anten! Lehrer: Enten! 2.Schüler: Na, Anten! Lehrer: Ente – sag ich! Sprich richtig nach! Sprecherin: Zuerst wird buchstabiert, dann werden die Silben einzeln gelesen, dann wird das Wort aus ihnen gefügt. Erst Jahrzehnte später setzt sich durch, dass die Schüler in der Fibel nur den Laut lesen – l – statt –el –und so schneller lesen lernen. Schwertl erinnert sich: Schwertl: Schreiben und lesen ging gut. Bald war ich so weit, dass ich aus der Bibel vorlesen durfte. Sprecherin: Damals muss noch in vielen Schulen die Bibel das Lesebuch ersetzen. Religion ist das wichtigste Fach, meistens vom Lehrer unterrichtet. Wenn der Pfarrer selbst kommt, wird © Bayerischer Rundfunk 2003 3 es ernst, nicht nur für die Schüler, auch für den Lehrer, denn der Pfarrer ist sein Vorgesetzter. Sprecher: Die Geistlichen hatten die Schulaufsicht. Das war in allen deutschen Ländern gleich, auch da, wo Protestanten die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, wie in Preußen. In Bayern hatten früher vor allem die Klöster Schulen unterhalten. Daraus erklärt sich der große Einfluss der katholischen Kirche auf das Erziehungswesen. Nach der Auflösung der Klöster übernahm der Staat die oberst Reformen durchführen konnte. Aber in den Schulen selbst hatte nach wie vor der Pfarrer das Sagen. Sprecherin: Die biblischen Geschichten gefallen den Kindern übrigens besser als die vielen schwierigen Sätze im Katechismus, die sie nicht verstehen und doch auswendig lernen müssen. (Schwertl erinnert sich an die quälenden Stunden, in denen der Lehrer abfragt: Lehrer: Wir sind stehen geblieben bei den Kennzeichen der Kirche. Vortreten der Reihe nach! Warum heißt die katholische Kirche apostolisch? 1. Schüler: Weil ihre Bischöfe die Nachfolger der Apostel sind. Lehrer: Die katholische Kirche heißt die allein selig machende - warum? 2. Schüler: Die katholische Kirche heißt die allein selig machende.....weil....weil..Au! Lehrer: Der Nächste! 1. Schüler: .....weil sie allein von Jesus Christus gestiftet ist, um die Menschen selig zu machen.) Schwertl: Erklärt wurde nichts. Sechs Mal die Woche ging es immer gleich, Schulgebet, dann trat jeder Schüler vor, um seine Lektion in Religion aufzusagen. Ging es nicht, half die Rute nach. Zweite Stunde war lesen, dann rechnen und wenn nachmittags Unterricht war, schreiben, Kirchenlieder auswendig lernen und singen. Einmal gab es eine Unterbrechung. Da kam ein fremder Herr zusammen mit dem Pfarrer in die Schule. Der Lehrer hatte seinen guten Rock an und verbeugte sich tief. Der fremde Herr sagte, er wolle uns prüfen und fragte, was wir über Moses wissen. Mein Nachbar erzählte ihm, wie Moses von der ägyptischen Königstochter im Binsenkörbchen gefunden wurde. Mich fragte er, was auf den Gesetzestafeln stand, die Gott dem Moses auf dem Berg Sinai übergeben hatte. Ich sagte ihm die 10 Gebote. Als er wieder ging, ermahnte er uns, gut zu lernen und lobte zwei von uns besonders. Der eine bekam ein Fleißbillett, auf dem stand in Blumen gerahmt „Lob des Fleißes und der Aufmerksamkeit“. Mir übergab er ein buntes Bild mit dem heiligen Georg drauf, der mit seinem Schwert auf den Feuer speienden Drachen losgeht. © Bayerischer Rundfunk 2003 4 Sprecherin: Schwertl geht ein Jahr länger als üblich zur Schule, weil er für die Handwerkslehre einfach noch zu schwach ist. Keiner der Schüler ist so mager wie er. Schwertl: Bei uns gab es kein Frühstück, denn meine Mutter war Hebamme und morgens selten zu Hause. Zu Mittag erhielt ich ein Schüsselchen Kaffee und eine Semmel um einen Kreuzer, abends den fünften Teil von einem Groschenwecken und ein kleines Haferl Bier. Sprecherin: Als Schwertl aus der Schule kommt, schlägt der Pfarrer der Mutter vor, der Bub solle doch Lehrer werden, weil er so brav und fleißig ist und leicht lernt. Er schreibt auch gleich an die Regierung des Unterdonaukreises in Passau und bittet, dass Kajetan Schwertl als Präparand oder Schullehrling zugelassen wird. Sprecher: Ein Präparand hatte sich drei Jahre bei einem Lehrer oder Pfarrer für die Aufnahme ins Schullehrerseminar vorzubereiten. 1824 war in Straubing ein Seminar eingerichtet worden und jeder, der Schullehrer werden wollte, musste es zwei Jahre lang besuchen. Sprecherin: Schwertl kommt nach Regen, zum Schullehrer Roth. Schwertl: Ich musste in der Schule täglich über 100 Federn schneiden, die Schüler lesen und Kopf rechnen lassen und Diktate korrigieren. Das ging so zwei Jahre, aber ich sah, dass ich auf diese Weise mein Ziel nie erreichen würde. Sprecherin: Schwertl hat Glück. Ein Geistlicher, Dekan Denk, früher Gymnasialprofessor in Regensburg, gibt ihm Unterricht in Aufsatz, Rechtschreiben, Rechnen und Geschichte. Es werden aber auch Kenntnisse in Geografie verlangt, und das ist in Regen schwierig. Schwertl: Es gab keinen Globus und keinen Atlas, auch in der Schule nicht. Ich musste auf die Kegelbahn in den Wirtsgarten gehen und eine Schreibkugel holen. Auf ihr zeichnete der Herr Dekan mit einem Stift den Äquator, beide Wende- und Polarkreise und die nötigsten Meridiane ein. Sprecherin: Im Herbst 1830 geht Schwertl nach Straubing. Mit ihm melden sich noch 105 Schullehrlinge zur Aufnahmeprüfung ins Schullehrerseminar. Aber nur 37 können aufgenommen werden. Schwertl glaubt, gut bestanden zu haben. Er misst der Frage, ob er die Verpflegungskosten bezahlen könne, keinerlei Bedeutung bei und beantwortet sie wahrheitsgemäß mit „Nein“. Als aber im Kreisamtsblatt die Namen der Präparanden stehen, die ins Seminar aufgenommen werden, ist seiner nicht dabei. Schwertl: Da zog ganz Regen über mich her. Es hieß, ich sei ein Schwindler und aus mir könne nichts Gutes werden. Aber ich ging zum Herrn Dekan und der fragte bei der Regierung an, ob ich die Prüfung nicht bestanden hätte. Zu meinem Trost kam die Antwort zurück, © Bayerischer Rundfunk 2003 5 dass ich unter den 37 der 14. war, aber nicht aufgenommen werden könne, weil ich mich als zahlungsunfähig erklärt hätte. Sprecherin: Der Dekan erreicht im ersten Jahr eine Sonderregelung. Schwertl darf in der Stadt wohnen und geht jeden Tag zu einer anderen Familie, wo er einen Freitisch hat, das heißt, umsonst zu essen bekommt. Im zweiten Jahr wird diese Erlaubnis widerrufen und er muss im Seminar wohnen, und zwar als Halbköstler, weil das Geld, das ihm die Familien statt der Freitische schenken, nicht ausreicht. Für die Halbköstler gibt es kein Frühstück und abends nur Suppe. Das Fleischgericht, das die Ganzköstler dazu bekommen, entfällt. Schwertl: An Fasttagen erhielten die Ganzköstler mittags zur Suppe drei Küchl und 18 Zwetschgen, die Halbköstler zur Suppe zwei Küchl und 9 Zwetschgen. Die Hausmagd griff in den gefüllten Hafen und zählte gewissenhaft 18 beziehungsweise 9 Zwetschgen auf den Teller und goss Brühe darüber. Sprecherin: Schwertl ist mit dem Essen zufrieden, im Unterschied zu manchem Ganzköstler. Er erzählt nur von dem, was ihm Freude macht, Musikunterricht und Theaterspielen. Von dem Schock, den er empfunden haben muss, als der Inspektor, also der Leiter des Seminars - ein Geistlicher - die Neuen mit der Hausordnung bekannt macht, redet er nicht. Sprecher: Aus den Verordnungen für Schullehrerseminare: Kein Seminarist darf sich ohne Erlaubnis des Inspektors aus dem Gebäude entfernen. Der Besuch von Wirtshäusern, das Tabakschnupfen und das Tabakrauchen ist verboten. In den Wintermonaten stehen die Seminaristen um 5 Uhr, im Sommer um 4.30 Uhr auf. Eine halbe Stunde später hat sich jeder zum Morgengebet in der Kapelle einzufinden. Dann erfolgt das Privatstudium bis 7 Uhr. Anschließend versammeln sich die Seminaristen auf ein Glockenzeichen im Speisezimmer zum Frühstück. Nach dessen Beendigung verfügen sich alle sofort in die Hauskapelle, wo sie zuerst einer religiösen Betrachtung, dann der heiligen Messe beizuwohnen haben. Von 8 Uhr bis 12 Uhr dauern die Lehr-und Übungsstunden. Um 12 Uhr wird nach dem Tischgebet das Mittagessen eingenommen. Nach dem Dankgebet ist Erholungszeit bis halb 2 Uhr. Bis 2 Uhr kann sich jeder auf den Unterricht vorbereiten, der bis 7 Uhr dauert. Um 7 Uhr wird nach Verrichtung des Gebetes das Abendessen eingenommen. Danach darf jeder Seminarist sich bis 8. 45 Uhr frei beschäftigen. Aber Karten- und Würfelspiele sind verboten. Dann folgen eine geistliche Lesung und um 9 Uhr das Abendgebet, sodann das Schlafengehen in geziemender Ordnung und Ruhe. Sprecherin: Minute für Minute findet alles unter Aufsicht statt, sogar das seltene Spazieren gehen. Schwertl passt sich an. Kritik übt er nicht, denn auch der Seminarleiter zahlt für ihn. Nur in einem einzigen Satz deutet er an, dass er diese an ein strenges Kloster erinnernde Tagesordnung als Zwang empfand. © Bayerischer Rundfunk 2003 6 Schwertl: Groß war das Verlangen nach Freiheit, und wir zählten im Jahr 1832 zuerst die Monate, dann die Wochen und später die Tage bis zum Austritt aus dem Seminar. Sprecherin: Schwertl erhält das Zeugnis „vorzüglich“ und die Bemerkung, dass er als Stadtlehrer befähigt sei. Er ist jetzt Schuldienstexspektant oder Schulgehilfe. Aber er wird nicht in eine Stadt sondern in das Dorf Wetzelsberg geschickt. Sprecher: Schuldienstexspektanten sind nach dem Seminaraustritt von der Kreisregierung an eine von einem tüchtigen Lehrer besetzte Schule zu weisen. Sie stehen unter der Aufsicht dieses Lehrers und haben sowohl in der Schule wie außerhalb seine Anordnungen zu befolgen. Schwertl: Bei meiner Ankunft wurde ich, es war schon 7 Uhr abends, sehr kühl empfangen. Nachdem ich gegessen hatte, wurde ich durch das Schulzimmer in meine unheizbare Schlafkammer geführt. Hier sah ich ein, wie schön wir es im Seminar hatten und wie öde und trostlos für einen jungen Menschen die Abgeschiedenheit auf einem Dorfe ist. Sprecherin: Schwertl muss also bei diesem Lehrer, der mehrere Kinder hat, wohnen und essen. Es geht mehr als sparsam her. Schwertl: Das Abendbrot bestand in der Regel aus gerösteten Kartoffeln oder Schmarrn mit saurer Milchsuppe. Wenn ich zu spät kam und sie hatten schon gegessen, war für mich nichts mehr übrig. Sprecherin: Ein und ein halbes Jahr muss Schwertl dort ausharren. Dann wird er nach Wiesenfelden versetzt. Schwertl: Der Lehrer war krank. Ich sollte ganz allein einer Schule von 160 Kindern vorstehen und den Organisten- und Messnerdienst in einer großen Pfarrei versehen. Um 7 Uhr musste ich das Erste läuten, dann in die Sakristei gehen und den Pfarrer anziehen, dann um die Kirche herum rennen und hinauf auf die Orgelempore und spielen und singen. Nach dem letzten Orgelton musste ich wieder in die Sakristei hetzen, um dem Pfarrer beim Ausziehen zu helfen. Dann erst konnte ich in die Schule zum Unterricht. Um 11 Uhr das Mittagläuten traf wieder mich. Noch anstrengender waren die Sonntage: Frühmesse, dann feierliches Hochamt, nachmittags Rosenkranz oder Vesper, und dazwischen mussten zwei Stunden lang die Sonntagsschüler unterrichtet werden. Sprecher: Die Sonn– und Feiertagsschule muss jeder Schulpflichtige nach der Entlassung aus der Werktagsschule bis zum vollendeten 16. Lebensjahr besuchen. Sprecherin: Nach einem weiteren Jahr wird Schwertl nach Bogen versetzt, wo es ihm gut gefällt. Nebenbei bereitet er sich auf die Abschlussprüfung vor, die er 1836 in Passau ablegen muss. Unter 103 Konkurrenten wird er der Siebte. Gern wäre er in Bogen geblieben, © Bayerischer Rundfunk 2003 7 aber nach drei Jahren muss er wieder seinen Koffer packen und in das Dorf Weng bei Landshut ziehen. Als er dort ankommt, fragt er gleich nach dem Schulhaus. Man zeigt es ihm. Schwertl: Es war das unansehnlichste Haus im ganzen Umkreis. Auf der Straßenseite hatte es eine alte verwitterte Holzwand. Die Haustüre war gegenüber auf der Südseite, sie war nur durch einen schmalen Weg von einem großen Misthaufen getrennt. Drei Schritte vor der Haustüre, am Misthaufen, stand der einzige Abtritt für Lehrer und Schüler. Zum Schulzimmer musste man eine enge Treppe hinaufsteigen. Mein Zimmer lag daneben. Durch die Spalten im Fußboden konnte ich in die Küche des Lehrers hinunter sehen und das Fenster war so klein, dass es zum Lesen oder Schreiben immer zu dunkel war. Sprecherin: Wieder muss Schwertl bei der Lehrerfamilie essen und wohnen. Aber er verschafft sich kleine Einnahmen, gibt den Kindern des Barons von Kramer Privatunterricht, macht den Gemeindeschreiber und den Hochzeitslader. Endlich 1841 wird er Schulverweser, das heißt, weil der Lehrer gestorben ist, unterrichtet er an dessen Stelle selbstständig. Sein Gehalt wird von 50 Gulden im Jahr auf 200 angehoben. Jetzt endlich kann er sich ein eigenes Bett kaufen. Das Revolutionsjahr 1848 erlebt Schwertl in Weng. Manche Volksschullehrer wagen es auf ihre miserable Lage aufmerksam zu machen. Schwertl erinnert sich an eine Diskussion mit einem Kollegen aus Landshut. Schwertl: Bei euch sollen Lehrer eine Bittschrift abgefasst haben. Hast du auch unterschrieben? Kollege: Oh mei... mein Schulinspektor ist der Stadtpfarrer bei St. Martin, ein Tyrann, der mir besonders aufsitzt. Ich bin ihm nicht fromm und unterwürfig genug. Aber ich habe fünf Kinder... was tu ich, wenn er mich hinaus wirft? Ich habe nicht unterschrieben. Schwertl: Das versteh´ ich... Kollege: Ich hätte es so gern getan! Es ist alles einfach unerträglich! Du kannst nichts selbst entscheiden, musst dauernd fragen, bitten, wirst nur gemaßregelt! Ohne die Erlaubnis des Pfarrers darf ich nicht bei dir übernachten! Ich darf seine Predigt am Sonntag nicht versäumen, muss die Sakramente regelmäßig empfangen, die Kinder in jede Schulmesse begleiten und in der Sakristei seine Launen ertragen. Außerdem kontrolliert er auch noch, was ich lese! Einmal habe ich mir Goethes „Werther“ ausgeliehen. Zufällig sieht er das Buch liegen. Da war der Teufel los! Unsittlich! Gottlos! Kirchenfeindlich! Für einen Erzieher der Jugend extrem ungeeignet und so weiter und so fort. Schwertl: Bei uns gibt‘s jeden Tag Bibel- und Katechismusunterricht, für naturkundliche Fächer bleibt da kaum Zeit. Statt der Pfarrer bräuchten wir gut ausgebildete Lehrer als Fachaufsicht, das wär’s! Kollege: In der Bittschrift wird die Trennung von Staat und Kirche verlangt. © Bayerischer Rundfunk 2003 8 Schwertl: Um Gottes willen - das erreichen wir nie! Kollege: Und dann heißt es: Nicht mehr Gemeindediener - Staatsdiener wollen wir sein! Diese ganzen Nebenämter Messnerdienste, Glockenläuten, Uhraufziehen – das muss alles weg! Schwertl: Schau mich an! Ich bin obendrein auch noch Bauer! Bei uns gehören 12 Tagwerk Grund zur Schule. Ich halte zwei Kühe, ein paar Schweine und Hühner! Kollege: Warum verpachtest du nicht? Schwertl: Weil da nicht das heraus kommt, was mir die Gemeinde als Lohn anrechnet. Der Staat müsste die Lehrer bezahlen! Kollege: Und außerdem wird eine bessere Ausbildung der Schullehrer gefordert. Schwertl: Da kann doch kaum jemand dagegen sein. Warum schauen denn die Pfarrer so auf uns herab? Weil sie studiert haben. In ihren Augen können wir nichts, sind nur eingebildete Stümper! Kollege: Sie haben uns doch selbst nichts beigebracht im Seminar! Nur beten und gehorchen bloß nicht selbstständig denken! Jede Neuerung ist in ihren Augen gottlos, revolutionär! Sprecherin: Schwertl äußert zwar unter Freunden seine Meinung, aber er unterschreibt keine der Bittschriften und tut sich öffentlich nicht hervor. 10 Jahre hat er als Schulgehilfe unter der Fuchtel verschiedener Lehrer gearbeitet und 8 Jahre als Schulverweser selbstständig unterrichtet. Er möchte endlich die Anstellung zum wirklichen Schullehrer erreichen und zwar in Weng. Also geht er zum Regierungsrat Kalchgruber nach Landshut. Schwertl: Auf meine Bitte erhielt ich die Antwort: „Der Schulposten in Weng ist schon vergeben. Sie kommen nach Walburgskirchen!“ Ich stellte die Frage, ob etwas schwer Wiegendes gegen mich vorliege und bekam zur Antwort: „Nein, nichts. Aber ich weiß, dass sie den ´Eilboten` gelesen haben.“ Das war eine liberale Zeitung aus München. Sprecherin: Schwertl wird zwar „wirklicher Schullehrer“ aber in einem Bauerndorf mit acht Höfen, strafversetzt. Andere Lehrer, die sich öffentlich engagiert hatten, werden entlassen. Statt auf ihre berechtigten Forderungen einzugehen, soll ihnen das Aufbegehren verleidet werden. In einer Verordnung der Regierung heißt es, dass die so genannten Lehrerindividuen mehr Kenntnisse besäßen als sie bräuchten. Wissensdünkel aber müsse vermieden werden, da er nur Anmaßung und Unzufriedenheit erzeuge. Deshalb © Bayerischer Rundfunk 2003 9 wird in den Seminaren der Wissensstoff zusammen gestrichen, und die kirchliche Schulaufsicht verschärft. Sprecher: Erst 1912 wurde die Ausbildung der Volksschullehrer an die Erfordernisse der Zeit angepasst und neu geregelt. Drei Jahre Präparandenanstalt und drei Jahre Seminar wurden zu einem sechsstufigen Lehrgang ausgebaut. Im Jahr 1918 wurde die geistliche Schulaufsicht beseitigt und durch die Fachaufsicht ersetzt. Die Verbindung zwischen dem Volksschuldienst und dem niederen Kirchendienst wurde gelöst. 1919 wurden die Volksschullehrer dann Beamte des Staates. Sprecherin: Die Erfüllung der großen Wünsche erlebt Kajetan Schwertl nicht. Aber er hat sich eingerichtet und freut sich an dem, was er erreicht. Er kommt wieder nach Weng zurück und kann mit 40 Jahren endlich heiraten.1869 wird er zum letzten Mal versetzt - nach Oberaltaich. Dort erwirbt er sich sogar bescheidenen Wohlstand. 1899 stirbt er. Schon 10 Jahre vorher hatte ihn die Gemeinde Oberaltaich zum Ehrenbürger erklärt „wegen seiner verdienstvollen Leistungen in der Schule und der liebevollen Behandlung der Kinder.“ © Bayerischer Rundfunk 2003