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Harald Hartung Der Tag vor dem Abend Aufzeichnungen Harald Hartung Der Tag vor dem Abend Aufzeichnungen WA LL ST EI N V ER LAG Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Wallstein Verlag, Göttingen 2012 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf unter Verwendung einer Fotografie von watch face and spiral, © alexnika Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen ISBN (print) 978-3-8353-1110-7 ISBN (eBook, pdf) 978-3-8353-2309-4 Ich verstehe das Leben nicht, aber ich behaupte auch nicht, es sei unmöglich, daß Gott etwas davon versteht. Jules Renard 1998 Wien (März) Das Mädchen in der Toreinfahrt, das sein Gesicht begeistert in die Sonne hält. Jetzt erst spüre ich die märzliche Wärme und nehme meine Mütze ab. Wiener Schmäh. »Jetzt geht’s los!« murmelt der altgediente Kellner in dem für die Größe seiner Schnitzel bekannten Lokal, und einer eben eindringenden Gruppe von Gästen entgegentretend, sagt er zu mir gewandt: »Sie sind ein neutraler Beobachter!« Auf einer Bank in dem kleinen Sigmund-Freud-Park. Die Votivkirche vor mir, von Heinrich Ferstel historistisch im Stil französischer Kathedralen entworfen, gehört zu jenen Kirchen, die nach dem Tode Gottes erbaut wurden. In Sachen Architektur kam Nietzsches Diktum zu spät. Als bedürfte es noch eines Beweises für die Gottes-Verlassenheit des Bauwerks, hängt an der eingerüsteten Fassade ein riesenhaftes Transparent mit der Aufschrift: Das beste Eis Österreichs! Eskimo An den Litfaßsäulen kleben die Plakate mit den lachenden Nonnen, Werbung für »Nonnsens«, »das kranke Schwestern-Musical«. Und dann der Buchladen, der sich »Bateau Livre« nennt. Der Kalauer, Entlastung der Melancholiker und Depressiven, ist durch die Werbung verdorben. 7 Kunsthistorisches Museum. Vor Bellottos Veduten fallen mir Zeilen aus Hofmannstals Anatol-Prolog ein: »Seht … das Wien des Canaletto, / Wien von siebzehnhundertsechzig.« Bellottos »Blick vom Oberen Belvedere«, 1759/60 gemalt, zeigt jenes Wien, das wir lieben, in nuce; wenig kam hinzu, wenn man recht bedenkt, und der Krieg zerstörte vieles. Doch ist die Essenz Alteuropas in den großen Veduten (Venedig, Warschau, Dresden, Wien) aufbewahrt. Es liegt ein schon abendliches Licht auf ihnen, auch eine gewisse Schwärzung der Konturen. (Nicht zu vergessen, daß Bellotto auch Zerstörtes malte; so die Ruine der Dresdener Kreuzkirche, wofür preußische Kanonen die Vorlage lieferten.) Nähert man sich von der Strudlhofstiege dem barocken Palais Liechtenstein, hat man wiederum einen echten Bellotto vor Augen. Hier, wo die Sammlung Ludwig untergebracht ist, fällt auf, wie eindimensional die Moderne, sei sie abstrakt oder fotorealistisch, im Kontext einer großen Tradition wirkt. In der Radkappe von Don Eddys fotorealistischem Volkswagen spiegelt sich die Welt – als Parkplatz. Eine »Huldigung an das Quadrat« ist das Produkt eines seriellen Exerzitiums. Es hängt hier ein wenig schief. Es ist, als habe man die Korrektheit eines Josef Albers korrigieren wollen. Liegt es an den Gold- und Silberauflagen der Bilder, an den fernöstlichen, mykenischen, skythischen Schmuckmotiven dieser Malerei? Im Klimt-Saal des Oberen Belvedere bin ich unter den vielen Enthusiastinnen für eine ganze Weile der einzige Mann. Wenn die eine Frau besonders ausladend gestikuliert, darf man sicher sein, daß die Freundin an Gesten spart. 8 Im Beisl der einsame glatzköpfige Alte mit seinen enorm straffen Kaumuskeln – ein wahrhafter Athlet der Gourmandise. Eine Fiakerin! Meine erste Fiakerin! Kaum habe ich mich recht gewundert, sehe ich eine zweite, und schon mustere ich die wartenden Kutscher mit dem kalten Blick der Sta tistik. Der junge Mann, der mich durch sein Betteln geradezu überrumpelt und, während er davonhüpft, mir einen charmanten Blick zuwirft, wie um mich für meinen Verlust zu entschädigen. Nicht die Kirchen besuche ich, aber Keller wie den Urbanioder den Zwölf-Apostel-Keller, wie sie Reinhold Schneider frequentierte. Der Melancholiker vertiefte dort, wie er bekannte, seine Kenntnis österreichischer Weine und fand genug Licht, um schreiben zu können. Ich komme über den Grünen Veltliner nicht hinaus, denke aber gern an den frommen Mann, der nicht glauben konnte. Denke an sein Paradox: »Man muß beten, auch wenn man es nicht kann.« Schneider konnte jedoch für andere beten, was vielleicht tröstet. Letzter Tag im März, und ich bin der Mann mit dem billigen Blumenstrauß und der Urkundenrolle in Händen, der, die Technische Universität hinter sich, an der Hardenbergstraße die Autopulks passieren läßt und eigentlich für immer dort stehenbleiben möchte. Ich habe noch die Stimme Libuše Moníkovás im Ohr, die im Januar, erst zweiundfünfzigjährig, gestorben ist. Sie 9 wirkte so stark, als könne ihr nichts passieren. Vor Jahren wollte sie mich mit dem Rat ermuntern, ich müsse entschieden mutiger werden. Wie zur Bekräftigung fügte sie hinzu: »Sehen Sie, ich lebe mit zwei Männern.« Endlich bei Chardin. Nachdem ich am Louvre, vom Pont des Arts kommend, beim Versuch, den stark befahrenen Quai du Louvre zu überqueren, der Länge nach über die Fahrbahnteilung hingeschlagen und überflüssigerweise, wie mir schien, ins Hospital gebracht und von einem Arzt versorgt worden war, stehe ich zwei Stunden später, einen Wattepfropfen mit gestocktem Blut in der Nase, vor den geliebten Chardins und habe plötzlich einen ungemeinen Sinn für die Rot- und Brauntöne seiner Stilleben, und immer noch im Ohr die an F. gerichtete Frage des Sanitäters: »Hat Ihr Mann immer eine so dicke rote Nase?« Kürzlich bei einer Lesung sah ich auf dem Teppichboden eine große flugunwillige Fliege, die sich den Füßen eines Herrn näherte und unter seinem etwas angehobenen linken Schuh verschwand. Nach einer Weile schlug der Herr die Beine übereinander, doch die Fliege blieb verschwunden. Erst nachdem er in seine vorige Position zurückgekehrt war, kam sie hervor und nahm, wenn auch langsamer als zuvor, ihren Weg wieder auf, überquerte die Gasse zwischen den Sitzreihen und gelangte in die Nähe eines Paars hochhackiger Damenschuhe. Auch hier schien sie das Bedürfnis zu haben, unter eine Schuhsohle zu geraten. Ich zwang meinen Blick zum Podium, und als der Applaus einsetzte, lag etwas schwarz und reglos zu Füßen der Dame. Das Zweitgesicht. Ich träume einen Saal, eine Bühne. Leute tanzen heran, halb vermummt, einige davon in Pelzen. Ich bemerke, daß sie ihren Nacken einziehen, um etwas zu 10 v erbergen: nämlich ihr rückwärtiges, ihr zweites Gesicht, das völlig unbewegt ist und die Grimassen des Vorder gesichts nicht mitmacht. Bin in einer Wohnung, in der allerlei Tiere gehalten werden; auch Ratten, für die an den Wänden Leisten und Noppen angebracht sind, damit sie sich dort halten können. Ich sehe die Exkremente in den Ecken und finde, die Tierliebe der Besitzer geht zu weit. Da erst bemerke ich, wie hübsch die Ratten sind; einige haben gestromte und getigerte Köpfchen. Wie kleine Löwen! denke ich. Ob es nicht eine zweite Biographie gibt, von der uns bruchstückweis der Traum erzählt? Da sind uns Menschen nah, die uns im wirklichen Leben nie begegneten. Nach dem Erwachen ist ihr Fluidum noch zu spüren und macht uns Sehnsucht nach diesem anderen, diesem ungelebten Leben. Heute, beim Betreten eines Busses, sah ich plötzlich meine Mutter oder doch, nachdem der Schock vorbei war, eine etwa siebzigjährige Frau, die bis in Blick und Gestus die fast vollkommene Wiedergängerin der Toten war. Einen Moment dachte ich, die Frau würde mich ansprechen. Was vorausgesetzt hätte, daß ich die Replik ihres Sohnes wäre, so sie einen hätte. Steakhaus. Die dicke Frau am Nebentisch, die die ganze Zeit so merkwürdig gelächelt hat, fängt an zu brabbeln, und aus dem anschwellenden Sprachgeräusch der Einsamen höre ich immer wieder die Folge »Menschenfresser« und »Ihr seid Menschenfresser« heraus. Dann jedoch, nach einer Pause, kommt mit hoher Stimme etwas, das ich so verstehe: »Aber ich habe ihn doch geliebt.« Worauf die Frau herzhaft rülpst und in ihr voriges Lächeln zurückfällt. 11 Literaturhaus. Wieder einmal hat sich ein Kollege dafür bedankt, daß man zu seiner Lesung kam. Noch sind die Autoren nicht dazu übergegangen, in ihre Bücher in ge wissen Abständen einen Dank fürs Lesen einzufügen. Er müßte von Kapitel zu Kapitel länger und inniger werden. Eine Amsel, die die Signaltöne von Handys imitiert. Man wird einst die Melodien der Vögel speichern und ihnen die vergessenen vorspielen. Venedig (Juli) Die junge Aufseherin im Dogenpalast zu dem ebenso jungen Mann, der sich auf den Marmorstufen fläzt und wissen will, warum er das nicht tun soll: »Non è bello!« Er hat verstanden und steht auf, denn er möchte, wie jedermann, bella figura machen. Campo S. Polo. Der Alte auf der Bank nebenan, auf dessen Hand ein Spatz zirpt, der sich streicheln läßt. Eine Bank weiter das blonde Mädchen, das etwas in ein Heft schreibt; und die Fußball spielenden kleinen Jungen, die zwischendurch an den eisernen Brunnen treten, sich die Haare klatschnaß machen und mit profihaftem Ernst zu ihrem Spiel zurückkehren. Als ich weitergehe, sind die Jungen fort, das Mädchen hat eine ganze Seite gefüllt, und von des Alten Hand kommt noch immer das feine Zirpen. Als ich zugleich mit dem jungen Paar auf den Campo Ghetto Nuovo trete, fällt mir der schwarze Adler und das Wort Bundeswehr auf dem Leinenbeutel des jungen Mannes ins Auge. Die beiden sprechen unverkennbar amerika12 nisch und treten vor die Bronzereliefs Arbit Blatas’, die an der Mauer des Campo an die Deportation der Juden Venedigs erinnern. In das große Kirchenschiff von Madonna dell’Orto dringt das Gurren der Tauben nur gedämpft herein – ein Rufen wie von unerlösten Seelen an jemand, der genauso hilflos und mit sich selbst befaßt ist wie der Besucher. Es ist ein kleiner, fast armseliger Trauerzug (paar Leute in Alltagskleidung), der sich von der Chiesa Ospedaletto her Richtung Kanal bewegt. Der Sarg, auf einem Wägelchen aus Stahlrohren, wird auf das bereitstehende Boot verfrachtet, der Blumenschmuck noch einmal geordnet. Nun folgt die Trauergemeinde dem Priester aufs Boot, das schnell Kurs auf die Friedhofsinsel San Michele nimmt. Die Frau, die vor der Reise noch Hemden und Blusen bügelte, hat ein Problem: Beim Kaffeetrinken, nämlich bei jeder Papierserviette mit der Aufschrift der Marke Hausbrandt, peinigt sie der Zweifel, ob sie daheim das Bügeleisen ausgeschaltet hat. Vor allem: sie darf es ihrem Mann erst nach der Reise sagen. Nach einem Tag wechselhaften Wetters steht eine einzelne Wolke über dem Canal Grande, die Riesenportion einer golden angehauchten cremigen Masse, mit burgunder- und brombeerfarbenen Schichten unterlegt. Der Kellner vorm Ristorante deutet auf das Phänomen und ermuntert die Touristen, von ihren Kameras Gebrauch zu machen. Etwas abseits stehen drei Männer, die von der Wolke keine Notiz nehmen. Sie lutschen selbstvergessen an ihren Eishörnchen, wie an einem unerschöpflichen Vorrat. 13 Pensione Seguso. Beim Abschied bezeichnet Signora Nicoletta die enorme Scirocco-Schwüle als »decadente e thomas manico«. Camilla Spaeth. Ich komme an dem leergeräumten Schaufenster vorüber. Auf der Scheibe steht mit gelbem Pinsel: Camilla tschüss. Die letzte Buchhandlung am Kurfürstendamm hat aufgegeben. Vor Mitternacht eröffnet uns der Freund, dessen Frau sich kürzlich von ihm getrennt hat, daß er mit keinem Menschen auf der Welt tauschen möchte; und so freuen wir uns mit ihm und vor allem darüber, daß er die Kränkung, verlassen worden zu sein, überwunden hat. Noch lange nach Mitternacht beharrt er auf seinem Glück. So sehr, daß wir uns fast gekränkt fühlen. Wenigstens mit uns sollte er doch tauschen mögen, denken wir. Ein Autor, der noch eine winzige Korrektur vornimmt, ehe er den ganzen Satz löscht – sollte man den nicht auch fromm nennen? Außen Marmor, innen Gips. Lese erst jetzt Karl Corinos Buch über Stephan Hermlin und stoße dort auf Hermlins Vers: »Was ich ganz scheine, dessen bin ich bar.« Dazu erwähnt Corino eine Äußerung des Dichters, der (nach dem Zeugnis Christa Wolfs) über diese Zeile einmal sagte: »Wenn von allen meinen Gedichten nichts übrig bleiben sollte, eine Zeile habe ich geschrieben, die vollkommen wahr ist.« – was nichts anderes ist als das Eingeständnis, sich lebenslang maskiert zu haben. Der es ausspricht, ist das lyrische Ich in dem »Sonett nach Michael Drayton«, also in der Nachdichtung des Werkes eines andern. Die 14 Wahrheit erscheint somit doppelt maskiert. Übrigens rächt sie sich an der Kunst. »Was ich ganz scheine, dessen bin ich bar« – das ist als Formulierung ziemlich verschmockt. Doch warum sollte die Wahrheit nicht einmal mit Gips vorlieb nehmen? Der junge Autor verabschiedet sich mit dem Satz: »Beim nächsten Mal müssen wir auch von Ihnen sprechen.« Statt mich gekränkt zu fühlen, nehme ich seine Worte als Zeichen, daß ich nichts Törichtes gesagt habe. Davon erwacht, daß der Operateur, der eine Art Strumpf über seinem kahlen Schädel trägt, anordnet, man werde mir diese alte Wunde aufreißen. Ich bemerke, daß er das buchstäblich meint und nicht gesonnen ist, sich durch meinen Einwand, ich sei völlig wohl, an der Ausführung seines Vorsatzes hindern zu lassen. Pontresina (Juli) Regentag. Am Haken hängen Anorak, Wanderhut und Spazierstock wie Bestandteile einer Allegorie, die ihren Sinn verloren hat. Parabel. Der auf dem Rücken mit den Beinchen rudernde Käfer hat vielleicht die Aussicht, an einem Steinchen Halt zu finden, um wieder auf die Beine zu kommen. Die Chance jedoch, doch noch von einer größeren Macht gerettet zu werden, ist vertan: der Wanderer meint bereits zu weit zu sein, um umzukehren. Wolken. Das majestätische Löwenhaupt über dem Talausschnitt ist eine Stunde später der Kopf eines gigantischen 15 Silberpudels. Als müsse das Naturschöne sich von seiner Würde erholen und das Genre wechseln. Rosegtal. Im Schatten einer Arve schaue ich auf die nach dem Regen angeschwollenen Gletscherbäche in der geröllübersäten Ebene. Die Brücke über den Hauptbach ist intakt. Doch steht, wer sie passiert hat, vor einem wilden Seitenarm, aus dem nur wenige Steine ragen. Wie halten es die Wanderer mit dem Hindernis? Einige kehren sofort um, andere marschieren ohne Zögern durch die Strömung. Die kühnen Balancierer entrichten ihren Tribut und treten ein-, zweimal ins Wasser. Die Weisen waten, Schuhe und Strümpfe in Händen, durch die Furt. Nun aber erscheinen einige Mountainbiker, genauer eine ganze Biker-Family, vor dem Hindernis. Der Vater in leuchtendgelber Montur zögert nicht, sondern traversiert geschickt, schräg mit der Strömung das kräftig ziehende Wasser. Die orangerote Mutter tut es ihm nach kurzer Überlegung nach, und nun fordern die Eltern mit Gesten und Rufen ihren Grünfrosch, einen etwa siebenjährigen Jungen, zur Nachahmung auf. Der schiebt sein Rädchen noch ein paar Zentimeter vor, aber zum Aufsteigen reicht es schon nicht mehr, er fängt an zu weinen. Es braucht eine Weile, ehe die Eltern einsehen, daß sie nichts auszurichten vermögen. Der Vater watet durch den Bach zurück und holt erst das Rädchen und dann, huckepack, den Sohn. Der weint nicht nun mehr, hat aber ein paar Steine aufgesammelt, die er nun, von Vaters Rücken, ins Wasser und so ziemlich in die Richtung wirft, wo die Mutter am anderen Ufer auf ihn wartet. Der Schrei. Aus den Tagebüchern Hans Erich Nossacks (13. 7. 1970): »Fragte den alten Usinger: Wann gebietet der Anstand, mit Schreiben aufzuhören? Er schrie: Nie!« 16